Demokratie in der Krise? - Zeitschrift DEUTSCHLAND ...
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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft 79–2020 Demokratie in der Krise? www.lpb-bw.de due79_cover_satzlauf2.indd 2 11.05.20 13:45
Heft 79-2020, 1. Quartal, 37. Jahrgang Thema im Folgeheft (November 2020) »Deutschland & Europa« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Das Corona-Virus Baden-Württemberg herausgegeben. und die Folgen Chefredaktion Jürgen Kalb, j.kalb@t-online.de Ralf Engel, ralf.engel@lpb.bwl.de Redaktionsassistenz Sylvia Rösch sylvia.roesch@lpb.bwl.de Beirat Günter Gerstberger, im Ruhestand, Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart Renzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt Lothar Schaechterle, Professor i. R., Staatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studienhaus Wiesneck Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium Wertheim Dunkle Wolken über der gläsernen Kuppel des Deutschen Bundestages im Reichs- Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale tagsgebäude in Berlin, 8.10.2017 © picture alliance/Süddeutsche Zeitung für politische Bildung Baden-Württemberg Jürgen Kalb, Studiendirektor i.R., Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Anschrift der Redaktion Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart Telefon: 07 11/16 40 99-45 Fax: 07 11/16 40 99-77 Gestaltung Titel VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart / Jürgen Kalb Gestaltung Innenteil Schwabenverlag AG Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 79 Druck Neue Süddeutsche Verlagsdruckerei, Ulm 89079 Ulm »Deutschland & Europa« erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,00 EUR Jahresbezugspreis: 6,00 EUR Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redak- tion wieder. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek- tronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Titelfoto: dpa, picture alliance, 2017 Auflage dieses Heftes: 16.000 Exemplare Redaktionsschluss: 18.4.2020 ISSN 1864-2942 Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.deutschlandundeuropa.de due79_cover_satzlauf2.indd 3 11.05.20 13:45
Inhalt Inhalt Demokratie in der Krise? Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Geleitwort der Kultusministerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1. Die Pandemie »Covid-19« (das Corona-Virus) als Herausforderung für freiheitliche Gesellschaften Jürgen Kalb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Herausforderung oder Krise: Wie gefährdet sind die liberalen Demokratien? Wolfgang Merkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 3. Westliche Demokratien zwischen Partizipation und Wohlstand Herfried Münkler . . . . . . 16 4. Demokratien und Autokratien: Ein vergleichender Überblick Manfred G. Schmidt . . . . . . 26 5. Die Gefährdung der Demokratie in Deutschland: Krise oder Alarmismus? Eckhard Jesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 6. Populismus – vom Verdammen zum Verstehen Dirk Jörke/ Veith Selk . . . . . . . . . . . . . . . 46 7. Soziale Bewegungen von rechts und links Karin Priester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 8. Politisch motivierte Gewalt: Gefahrenpotentiale, Wechselwirkungen und Interaktionen 1 Uwe Backes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 9. Verlorene Mitte? (Anti-)demokratische und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland Beate Küpper / Andreas Zick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 79 ..................................... 88 D&E Heft 79 · 2020 Inhalt due79_inhalt_satzlauf2.indd 1 11.05.20 13:41
Vorwort des Geleitwort der Herausgebers Ministerin für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg Die Corona-Pandemie dominiert seit März 2020 nahezu die ge- In Zeiten der globalen Bedrohung durch die aktuelle Corona-Pan- samte Berichterstattung: Grenzschließungen, Versammlungsver- demie stehen die liberalen Demokratien vor besonderen Heraus- bote, Ausgangsbeschränkungen, Verkaufs- und Öffnungsverbote forderungen. Staaten wie die Volksrepublik China reklamieren – die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger wurden in den bereits für sich, die Pandemie effektiver bekämpfen zu können. letzten Wochen in fast allen westlichen Demokratien so massiv Seit Mitte März 2020 haben die Bundesregierung und die Regie- eingeschränkt wie nach keinem Terroranschlag, wie überhaupt rungen der Länder sowie die Parlamente rasch – und mit zum Teil noch nie in Friedenszeiten. Die Krise ist die Stunde der Exekutive, erheblichen Einschränkungen der Grundrechte ihrer Bürgerinnen des Staates: Schutz, Sicherheit, Seuchenbekämpfung – das sind und Bürger – zum Schutz vor der Ausbreitung der Pandemie in seine klassischen Aufgaben, das ist der Kern seiner Legitimation. Deutschland agiert. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat Umfragen zeigen, dass die getroffenen Maßnahmen samt der die bisher getroffenen Maßnahmen befürwortet und in einem Akt Grundrechtseinschränkungen von der übergroßen Mehrheit der der Solidarität bereitwillig und konsequent umgesetzt, obwohl Bevölkerung für richtig empfunden werden. Disziplin und Solida- damit gravierende Einschnitte in das wirtschaftliche und gesell- rität machen sich breit, auch und gerade in liberalen Demokra- schaftliche Leben verbunden waren und sind. tien. Aber es regt sich auch Widerstand. Gerade in solchen Notsituationen zeigen sich deutliche Unter- Dabei werden nach einigen Wochen bereits die mittel- und schiede zu autokratischen Systemen. Die sachliche und offene langfristigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme Diskussion über die gesundheitlichen, gesellschaftlichen, wirt- überdeutlich. Wie schnell kann das wirtschaftliche Leben, das schaftlichen und politischen Risiken bleibt dabei in Demokratien die Existenz von Millionen Menschen sichert, wieder in Gang die zentrale Aufgabe der gewählten Volksvertreterinnen und kommen? Wie hoch sind die gesundheitlichen Risiken? Wie soll Volksvertretern und der Zivilgesellschaft, notfalls auch der Ge- die Refinanzierung der Hilfsprogramme aussehen? richte bzw. des Bundesverfassungsgerichts. Nur so kann sich auf Dauer die Legitimität einer politischen Ordnung beweisen. Im Unterschied zu autokratischen Regimen erwägen in liberalen 2 Demokratien die tragenden politischen Kräfte keineswegs, die Angesichts der aktuellen Situation, aber auch durch die Diskus- Verantwortung der gewählten Parlamente und Regierungen oder sion um die politische Bildung und mögliche Defizite in dieser gar die der Gerichte infrage zu stellen. Debatten und Diskussio- staatsbürgerlich wichtigen Debatte insgesamt, kommt der De- nen sind aktuell mehr gefordert und erwünscht denn je. Es sollte mokratiebildung an Schulen eine noch bedeutendere Rolle zu. die Stunde der Zivilgesellschaft sein. Andererseits äußern sich in Zur Stärkung der Demokratiebildung hat das Kultusministerium freien Gesellschaften stets auch Stimmen, die vor allem Angst, Baden-Württemberg deshalb einen »Leitfaden Demokratiebil- Verschwörungstheorien und »Fake News« verbreiten. dung« entwickelt, der Schulen eine verlässliche Orientierung hierfür darstellt und verbindlich ab dem Schuljahr 2019/2020 um- Die zehn Autorinnen und Autoren der aktuellen Ausgabe von D&E, zusetzen ist. die sich hier mit der Frage »Demokratie in der Krise?« auseinander- setzen, verfassten zwar ihre Beiträge, bevor es Mitte März 2020 zu Die hier aktuell vorliegende Ausgabe von D&E enthält zahlreiche den massiven globalen Grundrechtseinschränkungen kam. Ihre Beiträge und Unterrichtsmaterialien zu Bedrohungen der libera- weitsichtigen Analysen muten dennoch ungemein aktuell an. len Demokratien und diskutiert kontrovers Wege zur Erhaltung und Festigung demokratischer Partizipation und der Garantie von Politische Bildung und Demokratiebildung erweisen sich gerade Menschen- und Bürgerrechten. Die sachliche Diskussion über in solchen Krisenzeiten zur Legitimierung liberaler Demokratien den richtigen und verantwortungsvollen Weg aus der Krise ist da- als unverzichtbar. bei wesentlicher Teil schulischer Demokratiebildung. Lothar Frick Jürgen Kalb Dr. Susanne Eisenmann Direktor LpB Baden-Württemberg, Ministerin für Kultus, der Landeszentrale Chefredakteur von Jugend und Sport für politische Bildung »Deutschland & Europa« des Landes Baden-Württemberg Baden-Württemberg Vorwort & Geleit wort D&E Heft 79 · 2020 due79_inhalt_satzlauf2.indd 2 11.05.20 13:41
DEMOKRATIE IN DER KRISE? 1. Die Pandemie »Covid-19« (das Corona-Virus) als Herausforderung für freiheitliche Gesellschaften JÜRGEN KALB D er renommierte Berliner His- toriker Paul Nolte sprach Ende März 2020 bereits davon, die Co- rona-Pandemie bedeute eine »his- torische Zäsur«. Die Folgen würden dramatischer sein als wir uns das heute ausmalen könnten. Gleich- zeitig gab er sich sicher, dass das liberal-demokratische System in Deutschland nicht ernsthaft ge- fährdet sei. Dazu brauche es aber zur Rettung der Demokratie einer »lebendigen und kritischen Zivil- gesellschaft«, die nicht in Gehor- sam erstarre oder gar konformis- tisch werde. Das Ausmaß der Corona-Pandemie war bei Redakti- onsschluss Mitte April 2020 den in dieser Ausgabe von D&E schreib- enden Autorinnen und Autoren noch nicht bekannt. Anfang Mai 3 2020 haben sich die Ereignisse je- doch bereits dramatisch entwi- ckelt: Weltweit hohe Infektionszah- len und Mortalitätsraten, Schulen Abb. 1 »Freiheit oder Gesundheit?« © picture alliance / dieKLEINERT.de / Kostas Koufogiorgos, 2020 und Hochschulen wurden weltweit geschlossen, Ausgangsbeschrän- kungen und -verbote, Versamm- heißt es, bis zu 70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland könn- lungs- und Demonstrationsverbote brachten das gesell- ten mit dem Corona-Virus infiziert werden. Es sei allerdings un- schaftlich-kulturelle, aber auch das wirtschaftliche Leben klar, über welchen Zeitraum dies geschehen werde. Da es bislang weitgehend zum Erstarren. Dagegen zeigte die Politik durch- keine spezifischen Medikamente und keine Impfungen gegen das aus ihre Handlungsfähigkeit, wenn auch in den einzelnen Na- Corona-Virus gibt, führt die Pandemie bisweilen weltweit zu einer tionalstaaten und politischen Ordnungen durchaus unter- hohen Zahl an teils schweren Erkrankungen und Toten. Dies kann schiedlich. Das Thema dieser Ausgabe von D&E »Demokratie rasch zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen, da es in der Krise?« gewinnt dabei an enormer Brisanz. Welches po- insbesondere Intensivstationen mit komplexen Beatmungssyste- litische System kann besser mit dieser Pandemie umgehen? men für schwer Erkrankte bedarf, wie es beispielsweise bereits in Sind die liberalen Demokratien in der Lage, ihre Überlegen- Italien, Spanien, Großbritannien und den USA zu beobachten ist. heit gegenüber autokratischen Systemen zu beweisen? Es Deshalb ist derzeitig primär das Ziel, die Ausbreitung des Virus zu sind die auch für die Zukunft zentralen Fragen nach der Effek- verlangsamen, damit nicht zu viele Menschen gleichzeitig schwer tivität und Legitimation der liberalen Demokratien gegenüber erkranken. ihren autokratischen Herausforderungen. Seit dem 22. März 2020 haben sich die Bundesregierung und die Landesregierungen auf weitreichende Beschränkungen sozialer Kontakte geeinigt. Politisch ist diese Krisensituation zunächst die »Die Corona-Pandemie« Stunde der Exekutiven (Vgl. Wolfgang Merkel und Michael Zürn). Da- bei werden derzeit die einschneidenden und auch die Grund- Das neuartige Corona-Virus trägt die offizielle Bezeichnung rechte beschränkenden Maßnahmen von den Bürgerinnen und »SARS-CoV-2«. Es ruft die Krankheit mit dem offiziellen Namen Bürgern nicht nur akzeptiert und eingehalten, sondern auch, wie »Covid-19« hervor. Ab Januar 2020 hatte sich das Virus von der Umfragen zeigen, zum übergroßen Teil gutgeheißen. Stadt Wuhan in der chinesischen Provinz Hubei her ausgebreitet Aktuelle Fallzahlen zum Corona-Virus in Deutschland veröffent- – inzwischen weltweit. Die Weltgesundheitsorganisation WHO licht täglich das Robert-Koch-Institut (RKI). Internationale Zah- hat die Ausbreitung des Corona-Virus schließlich am 11. März 2020 len bereitet unter anderem die Weltgesundheitsorganisation zur »Pandemie« erklärt, also zu einer weltweiten Epidemie. Bei WHO in einer interaktiven Grafik auf. Die renommierte US-ameri- dieser Pandemie überträgt sich das neuartige Virus vor allem von kanische Johns-Hopkins-University stellt ihre Recherchen stets Mensch zu Mensch. In Schätzungen des Robert-Koch-Instituts aktualisiert auf einer interaktiven Karte im Internet dar. D&E Heft 79 · 2020 P a n d e m i e » C o v i d - 19 « (d a s C o r o n a - V i r u s ) a l s H e r a u s f o r d e r u n g due79_inhalt_satzlauf2.indd 3 11.05.20 13:41
JÜRGEN KALB Das rasch durch den Bundestag modifizierte »Infektionsschutzgesetz« (IfSG) gilt bundes- weit einheitlich und bisher richten sich die Maßnahmen der Behörden insbesondere nach diesem Gesetz. Die Katastrophen- schutzgesetze der Länder sind erst dann an- wendbar, sofern sich die Lage zur Katastro- phe zuspitzen sollte. Die Bundeswehr kann im Rahmen der Amtshilfe heute schon tätig werden, etwa im Sanitätsbereich oder zur logistischen Unterstützung. Im Extremfall kann sie auch im Inland und gemeinsam mit der Polizei eingesetzt werden, um die öffent- liche Ordnung zu bewahren oder wieder- herzustellen, etwa wenn geplündert wird oder Krankenhäuser belagert werden. In den »Notstandsgesetzen«, die bei ihrem Entste- hen 1968 noch heftig umstritten waren, ist das geregelt. Dazu zählen die GG-Artikel 35, 87a und 91. Gleichzeitig kursieren insbesondere in den Abb. 2 »China außer Kontrolle« © Gerhard Mester, 2020 sozialen Medien zahlreiche Gerüchte, Falsch- meldungen und Verschwörungstheorien über das Corona-Virus. Notstandsverordnungen zu regieren, weitgehend ohne parla- Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat deshalb in englischer mentarische Kontrolle, ohne zeitliche Begrenzung, dafür mit der Sprache eine eigene Seite zur Aufklärung von Mythen über das Garantie, dass bis auf Weiteres keine Nachwahl mehr die knappe Corona-Virus veröffentlicht. (www.who.int/emergencies/diseases/no- Zwei-Drittel-Mehrheit der Regierungskoalition gefährdet. Das al- vel-coronavirus-2019/advice-for-public/myth-busters) Zu den häufigs- les, natürlich, um die Corona-Epidemie zu bekämpfen. Viktor Or- ten Fragen hat das Robert-Koch-Institut ein FAQ bereit gestellt: bán hat schon lange vor dem Ausbruch der Corona-Epidemie von www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html einer »illiberalen Demokratie« geträumt. Er hat keine Gelegenheit ausgelassen, die EU zu verhöhnen und die autoritären Herrscher in Peking oder Moskau zu hofieren. Auch jetzt preist er die Hilfe, Chinesische Lösungsansätze die sein Land aus China erhalte, und attackiert die »Querulanten« aus Brüssel: Es sei nicht die Zeit, juristische Fragen zu erörtern. Obwohl das Corona-Virus seinen Ausgangspunkt in China hatte, Orbán weist dabei ebenso wie die polnischen Regierungsvertreter scheint die Pandemie inzwischen in China eingedämmt zu sein. von der PIS jede Kritik an seiner Selbstermächtigung mit dem 4 Nicht wenige Beobachter aus Europa oder den USA hegen jedoch Hinweis zurück, ähnliche Maßnahmen seien auch in Deutschland Zweifel an den dort veröffentlichten Zahlen. Überhaupt: Könnte oder Frankreich ergriffen worden. Spannend bleibt, wie sich die und sollte China ein Vorbild in der Seuchenbekämpfung sein? Die Europäische Union zu diesen Entwicklungen in den Mitgliedstaa- Volksrepublik China ist unbestritten eine unnachgiebige Dikta- ten auf Dauer verhalten wird. tur, die Menschen verfolgt, nur weil sie anderer Meinung sind, die ihr Volk überwacht und mit einem »Social-Scoring-System« kont- rolliert. Journalisten, die unabhängig recherchieren wollen, wer- Die Entwicklung in Deutschland den des Landes verwiesen oder inhaftiert. Die chinesische Infor- mationspolitik dient in erster Linie der Legitimation der Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind so flächende- Herrschenden. Aber auch in anderen autoritären Regimen Eurasi- ckend, so umfassend und so radikal die verbrieften Grundrechte, ens steht die Legitimation der starken Männer im Fokus, deren die das Grundgesetz in den Artikeln 1–19 garantiert, einge- Machtanspruch sich aus dem zentralen Ver- sprechen »Ich beschütze euch« speist. Der chi- nesische Staatspräsident Xi Jinping hat das verstanden und geht ohne Rücksicht mit drastischen Maßnahmen gegen die Verbrei- tung des Virus und die freie Berichterstat- tung darüber vor. Seine Amtskollegen in Thai- land und auf den Philippinen hatten die Pandemie zunächst verharmlost, reagieren aktuell aber umso unnachgiebiger gegen- über Kritikern. Ist dieses Modell auch unsere Zukunft? Soll China zu unserem Vorbild wer- den, weil es angeblich die Corona-Krise er- folgreich, weil totalitär gemeistert hat? Nachahmer in »illiberalen« Demokratien in Ungarn und Polen Das ungarische Parlament hat im März 2020 ein Gesetz beschlossen, das es dem Regie- rungschef Viktor Orbán erlaubt, fortan mit Abb. 3 »Reine Vorsichtsmaßnahme! Ansteckungsgefahr!« © Gerhard Mester, 2020 P a n d e m i e » C o v i d - 19 « (d a s C o r o n a - V i r u s ) a l s H e r a u s f o r d e r u n g D&E Heft 79 · 2020 due79_inhalt_satzlauf2.indd 4 11.05.20 13:41
schränkt worden. Diese Freiheiten der Bürge- rinnen und Bürger werden zudem auf vorerst unabsehbare Zeit in bisher unvorstellbarer Weise beschnitten und aufgehoben. Anläss- lich des siebzigsten Geburtstags im Jahre 2019 hätte das kaum jemand für möglich ge- halten. Die amtlich verordnete Aussetzung von Menschen- und Bürgerrechten gilt als Preis für die Rettung von Menschenleben. Und in der Tat gibt es aktuell eine große Be- reitschaft der Menschen in Deutschland, durch das Ertragen dieser Maßnahmen So- lidarität zu zeigen mit den Risikogruppen. Heribert Prantl hat diese Situation in der Süd- deutschen Zeitung mit drastischen Worten beschrieben: »Die Schulen, die Kirchen, die Thea- ter, die Kinos, Museen, die Säle und Stadien, die Kaufhäuser, Kindergärten, die Gasthäuser und Sportstudios, die Kultur- und die Einkaufszentren sind leergeräumt, die Volkshochschulen und die Abb. 5 »Corona-Hilfspakete« © Gerhard Mester, 2020 Veranstaltungskalender auch. Die Bewegungsfrei- heit der Menschen wurde massiv eingeschränkt, die Gewerbefreiheit ist Ökonomische Folgen ausgesetzt, das Recht auf Eigentum ist suspendiert, Freizügigkeit gibt es nicht mehr, es gibt deutschlandweit Kontaktverbote und Kommunikati- Nicht nur politisch und gesellschaftlich entstehen durch die Pan- onssperren, Hausarrest für die Bevölkerung. Das soziale und das wirt- demie enorme Folgeprobleme. Der IWF prognostiziert bereits schaftliche Leben ist schwer erschüttert. Und es gibt kaum Protest dage- weltweit eine wesentlich tiefere Rezession als in der Weltwirt- gen und keine Demonstrationen; letztere sind ja heute verboten. Die schafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009. Plötzlich bre- Grundrechtseingriffe im Corona-Jahr 2020 sind extremer, als man es in chen nationale und internationale Absatzmärkte weg, was für den sechziger Jahren befürchtete, als gegen die Notstandsgesetze de- eine exportabhängige Ökonomie wie die deutsche eine existen- monstriert wurde.« zielle Bedrohung darstellen könnte. Wolfgang Merkel hat in einem Interview mit der »Frankenpost« Hatten sich die Staaten nach den Normen des Neoliberalismus diesbezüglich auf den unscheinbaren dritten Satz in GG Artikel 2, einst noch weitgehend bei ökonomischen Interventionen zu- Absatz 2 verwiesen, der jedem das »Recht auf Leben und körperliche rückgehalten, so ist derzeit der Ruf nach staatlichen Hilfspake- Unversehrtheit« zubilligt. Und weiter heißt es: »Die Freiheit der Person ten von allen Seiten zu hören. Kaum ein Unternehmen ruft jetzt ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes einge- nicht nach Konjunkturpaketen. Keynesianische Förderprogramme griffen werden.« Wolfgang Merkel leitet daraus ab, dass die Grund- erleben geradezu einen neuen Hype. 5 rechtseingriffe in der gegenwärtigen Katastrophensituation In den USA schnellen bereits die Arbeitslosenzahlen sprunghaft nicht nur »legitimierbar, sondern sogar geboten« seien. Allerdings in die Höhe, während in Deutschland und vielen EU-Mitglied- müssten mit Fortdauer der Maßnahmen sowohl die Parlamente staaten Entlassungen einstweilen noch durch das Instrument der als auch eventuell das Bundesverfassungsgericht damit befasst Kurzarbeit abgefedert werden. Aber irgendwann müssen die werden. Merkels Fazit: »Als kritische Bürger müssen wir aber genau da- Staatsschulden auch wieder refinanziert werden. Spannend rauf achten, ob die Exekutive ihre erweiterte Macht nach der Krise wieder bleibt die Frage, wer für die Kosten aufkommen wird. Defizite in zurückfährt. Momentan sind wir Untertanen, die aus legalen und legiti- den Gesundheits- und Bildungssystemen zeigen sich dabei ins- men Gründen dem Handeln der Regierung folgen. Wir müssen aus demo- besondere in jenen Staaten des europäischen Südens, die in kratischer Sicht aber auf den Moment achten, in dem diese Krise wieder Folge der sogenannten Eurokrise zu einschneidenden Sparmaß- abgeklungen ist. Dann müssen wir aus dem Untertanen-Status heraus- nahmen, zur sog. Austeritätspolitik, gedrängt worden waren. kommen« und mehr denn je zu »Citoyens« werden, d. h. offensiv die Dazu treten die Defizite bei der Digitalisierung, insbesondere im Rolle aktiver und kritischer Bürger und Bürgerinnen in der Zivil- Bildungsbereich, immer offener zutage. Dabei offenbaren sich gesellschaft wahrnehmen. gleichzeitig die in den Boom-Jahren immer stärker ausgeprägten sozialen Gräben, die mit »Unterschieden« eher euphemistisch beschrieben werden. Zu Homeoffice und Fernunterricht ist längst nicht jede Familie in der Lage. Bereits auf mittlere Sicht wird sich zeigen, ob mit den bestehenden Konzepten ein Legitimations- verlust und eine Krise der liberalen Demo- kratie noch aufzuhalten ist. Im Moment scheint es immerhin noch so auszusehen, als dass die einfachen Dualismen der Populisten an Attraktivität verlören. Auch beim Medien- konsum melden die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten wieder ver- stärkten Zulauf. Seriosität scheint einstwei- len wieder gefragt. Abb. 4 »Infektion und Rezession!« © Gerhard Mester, 2020 D&E Heft 79 · 2020 P a n d e m i e » C o v i d - 19 « (d a s C o r o n a - V i r u s ) a l s H e r a u s f o r d e r u n g due79_inhalt_satzlauf2.indd 5 11.05.20 13:41
Und die Europäische Union? JÜRGEN KALB Als die ersten alarmierenden Signale Europa erreichten, wurde schnell klar: Jeder Natio- nalstaat entscheidet allein. Grenzen wurden rasch im Alleingang geschlossen, Maßnah- men fast nie EU-weit koordiniert. Die EU fand in der Corona-Krise fast nicht statt. Erst seit April ist die Rede von europaweiten Hilfspro- grammen, von einem Marshallplan, wobei sich insbesondere die nördlichen Mitglied- staaten vehement gegen weitergehende Forderungen des Südens nach sogenannten Corona-Bonds wehren. Bis dato war von der Europäischen Kommission kaum etwas zu hören. Korrespondenten in Italien und Spanien melden bereits wieder Aggressionen gegenüber dem wirtschaftlich bislang so erfolgreichen Norden, insbesondere gegen- über Deutschland und den in der Großen Ko- alition dominierenden Christdemokraten. Dabei befindet sich die EU spätestens seit Abb. 7 »Irgendwelche Vorerkrankungen, Europäische Union?« © Gerhard Mester, 2020 der Migrations- bzw. »Flüchtlingskrise« von 2015 in einer Solidaritäts- und Effizienzkrise. Die Nationalstaaterei feiert fröhliche Urstände. Wer hilft Italien, sich die Materialien einer oder von zwei Doppelseiten, gemein- Griechenland und Spanien? Die EU? Fehlanzeige. »Die Desintegra- sam oder arbeitsteilig erarbeitet, zur kontroversen Diskussion tion der EU könnte einen weiteren Schub bekommen oder aber sie erkennt und Urteilsbildung im Unterricht eignen. Für Referate und Prä- nun die Chance, aus der Krise zu lernen, was sie 2015 versäumt hatte.« sentationen können einerseits die Beiträge, aber auch die Materi- (Wolfgang Merkel) alien sowie die wenigen weiterführenden Literaturhinweise, die, wenn möglich, auch direkt zu Quellen im Internet hinführen, ver- wendet werden. Der didaktische Ansatz von D&E In der vorliegenden Ausgabe von D&E mit dem Titel »Demokratie Die Einzeluntersuchungen in der Krise?« untersuchen insgesamt 10 Autorinnen und Autoren 6 die Leitfrage des Heftes, angereichert von illustrierenden, vor al- Zunächst untersucht der Berliner Professor Wolfgang Merkel in lem aber auch provozierenden Materialien wie Leitartikeln, Kari- seinem Beitrag: »Herausforderung oder Krise: Wie gefährdet katuren, Fotos und Statistiken, die im Wesentlichen vom Redak- sind die liberalen Demokratien?« die Krisensymptome liberaler teur der Zeitschrift recherchiert, ausgewählt und in Absprache Demokratien. Merkel stellt neben einem schleichenden Bedeu- mit dem jeweiligen Autor/-in hier dokumentiert werden. Ziel ist tungszuwachs der Exekutiven, einer wachsenden Kompetenz- eine kontroverse Diskussion im Unterricht an Schulen und Hoch- verlagerung auf transnationale Gremien, die dem Konzept der schulen, die es den Lernenden ermöglicht, eine eigene Beurtei- »Postdemokratie« ähneln, eine Erosion von Grundrechten und lung und Bewertung des jeweiligen Sachverhalts vorzunehmen. fehlende Partizipation in vielen Demokratien fest. Sein Konzept Für die Sachbeiträge zeichnen dabei die jeweiligen Autorinnen des »Demokratie-Barometers« entwirft dazu Kriterien, die die und Autoren selbst verantwortlich. D&E folgt bei den Arbeitsma- empirische Differenzierung und Beurteilung von Demokratie- terialien dabei dem Doppelseitenprinzip mit der Annahme, dass formen erlauben. Im Anschluss daran dokumentiert der eben- falls in Berlin tätige Professor Herfried Münkler in seinem Beitrag »Westliche De- mokratien zwischen Partizipation und Wohlstand« in einem historischen und ideengeschichtlichen Rückblick den Zusam- menhang zwischen dem Freiheits-, Wohl- stands- und Demokratieversprechen west- licher Demokratien und dessen Wandel. Besonders im Bereich der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger erkennt Münkler dabei Defizite in westlichen Demokratien. Der Chemnitzer Politikprofessor Eckhard Jesse vergleicht im Anschluss daran in sei- nem Beitrag: »Die Gefährdung der Demo- kratie in Deutschland: Krise oder Alarmis- mus?« die Berliner Republik mit der von Weimar (1918–1933), wobei er zu dem entschiedenen Urteil kommt, dass Berlin längst nicht Weimar sei, wenn auch er die Ge- fahren des Rechtspopulismus erkennt und beschreibt. Zudem sieht er allerdings die po- Abb. 6 »Planet Europa« © picture alliance / dieKLEINERT.de / Paolo Calleri litische Debatte in Berlin durch eine Scheu P a n d e m i e » C o v i d - 19 « (d a s C o r o n a - V i r u s ) a l s H e r a u s f o r d e r u n g D&E Heft 79 · 2020 due79_inhalt_satzlauf2.indd 6 11.05.20 13:41
vor kontroverser Debatte be- droht. Die Darmstädter Politologen Professor Dirk Jörke und Veith Selk analysieren im Fol- genden in ihrem Beitrag: »Populismus – vom Verdam- men zum Verstehen« die un- terschiedlichen Ansätze zur Erklärung des Rechtspopulis- mus und kommen zu dem Schluss, dass weder die rein ökonomische Erklärung als Globalisierungsverlierer noch die eher kulturelle Er- klärung, es handle sich um eine Ablehnung kosmopo- litisch orientierter liberaler Eliten, ausreichend seien. Demgegenüber sehen sie im Abstieg des alten Mittel- stands und im Entstehen ei- ner neuen prekären Unter- klasse Entwicklungen, die Abb. 8 »Homo Corona« © picture alliance / dieKLEINERT.de / Schwarwel erst durch die Einschränkung von Privilegien der ökono- mischen Eliten und einem neuen kulturellen Pluralismus gelöst falls von allein einstellen, diese stets erarbeitet werden müssen werden könnten. und damit politische Bildung zu einer Kernaufgabe demokrati- Professorin Karin Priester aus Münster widmet sich in ihrer Un- scher Gesellschaften gehören muss. Mit dieser müsste sie zur tersuchung »Soziale Bewegungen von rechts und links« insbe- nachhaltigen Legitimierung und Stabilität liberaler Demokratien sondere dreier Bewegungen in Italien und Frankreich, die die libe- führen. ralen Demokratien durch Initiativen von unten und jenseits von Parlamentswahlen bedrohten. Es handelt sich dabei um die itali- Literaturhinweise enische »Fünf-Sterne-Bewegung« sowie die französischen »Gelb- westen« und schließlich die italienische neofaschistische Beyer, Susanne (21.3.2020): »Entschlossen, aber nicht allmächtig«, 7 »CasaPound«. Der Spiegel, www.spiegel.de/politik/ausland/entschlossen-aber-nicht-all- Der Dresdner Politologe Uwe Backes stellt sodann in seinem Bei- maechtig-a-73d2ebab-56b6–475a-94c2–92d801948d0a trag »Politisch motivierte Gewalt: Gefahrenpotentiale, Wech- selwirkungen und Interaktionen« Gewalt von rechts, links und Döpfner, Mathias (23.3.2020): »Ich habe Zweifel«, Die Welt, www.welt.de/ dem Islamismus anhand der Auswertung von Statistiken und Bei- debatte/kommentare/article206754791/Corona-Krise-Ich-habe-Zweifel. spielen dar. Trotz der wachsenden Gefahr durch Rechtsterroris- html mus plädiert Backes allerdings für ein besonnenes Reagieren der Enderlein, Henrik (14.4.2020): »Jeder stirbt für sich allein«, Der Spiegel, Mehrheitsgesellschaft auf die Herausforderungen, da er Deutsch- www.spiegel.de/wirtschaft/europa-in-der-corona-kris …uer-sich-allein- land im internationalen Vergleich einen hohen Konsolidierungs- a-00000000–0002–0001–0000–000170435647 stand zubilligt. Zum Abschluss stellen Professorin Beate Küpper von der Hoch- Flügge, Erik (17.3.2020): »Freiheit und Pandemie«, www.erikfluegge.de/ schule Niederrhein und der Bielefelder Professor Andreas Zick wp-content/uploads/2020/03/EF-Freiheit-und-Pandemie-Digital-k1.pdf in ihrem Beitrag »Verlorene Mitte? (Anti-)demokratische und Gutschker, Thomas / Löwenstein, Stephan (25.3.2020): »Wird bei der Corona- rechtsextreme Einstellungen in Deutschland« Auszüge aus ihrer Bekämpfung die Rechtsstaatlichkeit ausgehebelt?«, FAZ, www.faz.net/ Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Werten und Einstellungen aktuell/politik/ausland/bruessel-mahnt-ungarn-die-rechtsstaatlichkeit- von Deutschen vor, die zwar insgesamt auf eine hohe Akzeptanz zu-wahren-16696348.html der liberalen Demokratie in Deutschland hindeuten, jedoch durchaus auch alarmierende Ergebnisse zeitigen. So werden zahl- Merkel, Wolfgang (17.3.2020): »Demokratie in Corona-Zeiten: Parlament reiche Elemente typisch rechtsextremistischen Gedankengutes muss mitreden«, in: Vorwärts, www.vorwaerts.de/artikel/demokratie- von einem nicht unerheblichen Teil der bundesrepublikanischen corona-zeiten-parlament-mitreden Bevölkerung geteilt. Die Sorge der Autoren gilt dabei dem Um- Merkel, Wolfgang (20.3.2020): »Die Stunde der Exekutive«, Frankenpost, stand, diese Einstellungen könnten von Rechtspopulisten instru- www.frankenpost.de/region/oberfranken/laenderspiegel/Die-Stunde- mentalisiert werden. der-Exekutive;art2388,7185805 Nolte, Paul (29.3.2020): »Widerwille und Trotz werden zunehmen – Corona Fazit als Gefahr für die Demokratie?« Frankfurter Rundschau, www.fr.de/politik/ corona-krise-gefahr-demokratie-interview-historiker-paul- Die Demokratie scheint in der Bundesrepublik Deutschland ins- nolte-13631157.html gesamt im Moment keineswegs in einer Krise, jedenfalls vergli- Prantl, Heribert (5.4.2020): »Wie lange noch?«, Süddeutsche Zeitung, chen mit historischen Beispielen auf deutschem Boden. Anderer- www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-coronavirus-grundrechte- seits zeigen nicht nur Ereignisse wie die aktuelle Corona-Pandemie, 1.4868817–0#seite-2 sondern auch schon längerfristige Entwicklungen wie nachlas- sende Partizipation und das Anwachsen populistischer Bewegun- Zürn, Michael (14.4.2020): »Es ist die Stunde der Exekutive«, Tageszeitung, gen, dass demokratische Normen und Einstellungen sich keines- https://taz.de/Politologe-ueber-autoritaeren-Populismus/!5675920/ D&E Heft 79 · 2020 P a n d e m i e » C o v i d - 19 « (d a s C o r o n a - V i r u s ) a l s H e r a u s f o r d e r u n g due79_inhalt_satzlauf2.indd 7 11.05.20 13:41
DEMOKRATIE IN DER KRISE? 2. Herausforderung oder Krise: Wie gefährdet sind die liberalen Demokratien? WOLFGANG MERKEL E in Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Krise. Wissenschaftler und Publizisten dies- und jenseits des At- lantiks haben einen gemeinsamen Chorus gefunden, der vom »Niedergang«, der »Existenzkrise«, dem »Zerfall«, »Ende« oder von »Leben und Tod« der Demokratie kündet. Die erneute Prominenz des Krisen- verdikts wurde zunehmend nach dem Jahre 2000 sichtbar, als die Stimmen des optimis- tischen »End of History«-Chors (Fukuyama) dünner wurden, bis sie endgültig verhall- ten. Die diagnostischen Beweise für eine Krise der Demokratie waren schnell ge- liefert: Viktor Orbáns Aufstieg zum auto- ritär regierenden Dauer-Ministerpräsi- denten Ungarns; Jarosław Kaczynski als nichtgewählter Dominator einer reaktionä- ren illiberalen Koalition um die Regie- rungspartei PiS; osteuropäische Staaten wie Tschechien, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien, die sich in einer Dekonsoli- Abb. 1 »G20-Gipfel am 28.6.2019 in Osaka, Japan: Die G20 (Abkürzung für Gruppe der 20 oder dierungsphase ihrer Demokratie befinden; Gruppe der Zwanzig) ist ein seit 1999 bestehender informeller Zusammenschluss aus 19 Staaten und der der unaufhaltsam erscheinende Aufstieg Europäischen Union. Sie repräsentiert die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer.« 8 © picture alliance / Pool / POOL The Yomiuri Shimbun / dpa der rechtspopulistischen Parteien in ganz Europa, der sie in rund einem Dutzend eu- ropäischer Länder in die Regierungsver- All diese Schriften liefern wichtige Einsichten in die reifen Demo- antwortung geführt hat; dann Donald Trump, Recep Tayyip Erdo- kratien der OECD-Welt. Problematisch erscheint in manchen die- gan, Wladimir Putin, Jair Bolsonaro und Nicolás Maduro. Die Beweise ser Analysen jedoch, dass sie von singulären Einsichten in einzel- sind anscheinend erdrückend: Die westlichen Demokratien nen Ländern oder Teilbereichen des politischen Systems auf erleben einen Qualitätsverfall ihrer Systeme, in Osteuropa gesamtsystemische Krisen der Demokratie schließen. Positive grassiert der Illiberalismus, in der Türkei, Russland und Vene- Entwicklungen und demokratische Resilienz- bzw. Wider- zuela haben sich voll ausgeprägte autoritär-repressive Re- standspotenziale werden meist ausgeblendet. Es entsteht das gime etabliert. Bild eines gleichzeitigen Abwärtstrends der Demokratien, der die Sicht auf die Ungleichzeitigkeit der demokratischen Entwicklun- Synchron zu diesen globalen Ereignissen erschienen in der westli- gen versperrt. Positive Entwicklungen werden kaum thematisiert, chen Welt vor allem theoretische, danach zunehmend auch empi- während den negativen Erscheinungen die ganze Aufmerksam- rische Analysen, die sich zu einer herrschenden Meinung in der keit gewidmet wird. Ob es sich bei den Krisenphänomenen um Demokratieforschung verdichteten. Einige Beispiele sollen das eine evolutionsnotwendige Anpassung der Demokratien als dyna- mit ihren jeweiligen Kernargumenten verdeutlichen. Colin Crouch mische Systeme handelt, wird ebenso wenig reflektiert wie die (2004), Jacques Rancière (2006) und Sheldon Wolin (2008) schrieben Frage, ob die jeweiligen normativen Bezugsrahmen nicht überzo- von der »Postdemokratie«, Bernard Manin (1997) über die »Zu- gen sind (Merkel 2015). Aus diesem Grund will ich aus einer stärker schauer-« und Wolfgang Streeck (2013) über die »Fassaden- empirisch-nüchternen Perspektive auf die bisweilen überborden- demokratie«; Merkel und Kollegen (2004) konzipierten den Typ der den theoretischen Krisenvermutungen blicken. »defekten Demokratie«; Ingolf Blühdorn (2013) spricht von der »simulativen« Demokratie; John Keane (2009) historisiert »Life and Death of Democracy«; David Runciman (2018), einer der popu- Der empirische Blick lärsten britischen Politikwissenschaftler, analysierte den schlei- chenden Verfall der demokratischen Institutionen und fragte Für eine empirische Krisendiagnose real existierender Demokra- danach, was es wohl für das 21. Jahrhundert bedeute, falls die tien lassen sich drei Ebenen denken: Demokratien scheitern; ähnlich, wenn auch weniger spekulativ, – erstens die Einschätzung und Meinung des Demos: Was denken argumentieren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt (2018), wenn sie die Bürger über »ihre« Demokratie?; die unterschiedlichen Pfade beschreiben, »How Democracies – zweitens die Einschätzung von Experten: Was können uns De- Die«; schließlich sieht Yascha Mounk (2018) eine Paradoxie in man- mokratieindizes sagen, die über viele Indikatoren und Experten- chen der gegenwärtigen Demokratien, in denen sich das popu- einschätzungen die Qualität der Demokratien Land für Land ab- listisch mobilisierte Volk gegen die liberal-rechtsstaatliche Di- bilden (z. B. democracy barometer, Freedom House, Polity IV, Varieties of mension der Demokratie wendet (»The People vs. Democracy«). Democracy); H er a u s f o r d er u n g o d er K r i s e : Wie gefä hr d e t s ind d ie l iber a l e n D e m o k r at ie n? D&E Heft 79 · 2020 due79_inhalt_satzlauf2.indd 8 11.05.20 13:41
– drittens Partialanalysen einzelner Teilregime der Demokratie Das Demokratieurteil der Experten sowie ihrer Kerninstitutionen und relevanten Akteure. Um nicht einem behaviouralistischen Fehlschluss in der Demo- kratiediagnose zu erliegen, empfiehlt sich zusätzlich eine Exper- Das Demokratieurteil des Demos tenanalyse, die die Qualität der Demokratie im Zeitverlauf misst. Sind deutliche Qualitätsverluste einer Demokratie zu beobach- Demokratie bedeutet semantisch schlicht »Herrschaft des Vol- ten, könnte dies Anzeichen einer (sich nähernden) Demokratie- kes«. Es sollen zunächst also die Bürger als Herrschaftsautoren krise sein. Ob dies für die »30 besten Demokratien« weltweit der und Herrschaftsadressaten befragt werden. Der »Demos« soll als Fall ist, soll exemplarisch am Demokratiebarometer (democracy. legitimierte Instanz direkt Auskunft geben, was er von »seiner« org) gezeigt werden. Das Demokratiebarometer präsentiert Ana- Demokratie hält. Das gebietet der Begriff der Demokratie als lysen von über 70 Demokratien seit 1990 (Bühlmann, Merkel et al. Herrschaft des Volkes mit logischer Stringenz. Das »Urteil« des 2012). Zieht man die »objektiven« Analysen der Demokratiefor- Volkes wird methodisch-empirisch typischerweise über standar- scher des Demokratiebarometers heran, ergibt sich ein ähnli- disierte Umfragen erforscht. So erlauben die Umfragedaten von ches Bild. Die mit über 100 Indikatoren gemessene Demokratie- Eurobarometer den Qualitätsvergleich aller 28 (27) EU-Mitglied- qualität der weltweit 30 besten Demokratien lag 2016 sogar höher staaten. Laut diesen Daten zeigt sich über die vergangenen vier- als am Ausgangspunkt der Untersuchungen im Jahr 1990. Von ei- zig Jahre kein Rückgang der Zufriedenheit der Bürger der jeweili- nem kollektiven Qualitätsverlust der entwickelten Demokratien gen EG-/EU-Mitgliedstaaten – von 9 (1973) bis 28 (2013) – mit ihrer kann also ebenfalls nicht die Rede sein. Empirische Demokratie- Demokratie. Im Jahr 2018 lag die Zustimmung sogar leicht über forscher scheinen vorsichtiger mit dem Krisenurteil zu sein als jener von 1973, dem Beginn der Eurobarometer-Umfragen. Um Demokratietheoretiker, die empirie-entlastet rascher zu einem die Jahrtausendwende erreichte die Zufriedenheit ihre höchsten Krisenverdikt gelangen. Allerdings soll nicht verhehlt werden, Werte, um danach langsam zurückzugehen. Der Rückgang ist dass die Experten des einflussreichen Varieties of Democracy (V- statistisch auf die neuen Mitgliedstaaten Osteuropas zurückzu- Dem) für fast alle entwickelten Industriestaaten eine Trendwende führen, weil deren Bevölkerungen deutlich unzufriedener mit den zu erkennen glauben. Der Qualitätsgraph führt nicht mehr nach Pflichten und insbesondere Leistungen der Demokratie sind. Zu- oben, sondern zeigt seit 2014 nach unten. Im Jahr 2019 konstatie- mindest für die hier untersuchten fünfundvierzig Jahre (1973– ren die überwiegend skandinavischen Forscher einen sichtbaren 2018) lässt sich ein Vertrauensverfall oder gar eine Vertrau- Rückgang fast aller demokratischen Systeme in Europa und Nord- enskrise der EU-Bürger gegenüber ihren demokratischen amerika. Systemen nicht feststellen (vgl. auch Merkel und Krause 2015). Was zu beobachten ist, sind »trendless fluctuations«. Solche behaviouralistischen Analysen subjektiver Demokratiebe- Teilanalysen urteilung durch die Bürger sind notwendig, aber längst nicht hin- reichend. Die Tatsache, dass ein Volk »mit seiner Demokratie zu- Nicht zu Unrecht kann man einwenden, dass sowohl die subjek- frieden« ist, könnte auch auf einem eigenwilligen Verständnis von tive (»demos«) wie die objektive (»Demokratieforscher«) Einschät- Demokratie beruhen. So wissen wir etwa aus dem Asian Barome- zung auf hoch aggregierten Daten und Indizes beruhen, inner- ter, dass die Chinesen ihre »Demokratie« besser beurteilen als halb derer sich brisante Demokratiegefährdungen mit weniger 9 Japaner die ihre. wichtigen positiven Entwicklungen wechselseitig nivellieren kön- Aus nationalen Umfragen erfahren wir, dass auch die Bürger im nen. Diese spiegeln stärker die Oberfläche wider als Teilstudien, Russland Putins mehrheitlich »ihre Demokratie« schätzen. Das die tiefer auf Details, Symptome und Ursachen möglicher singu- Gleiche gilt für die Türkei Erdogans, das Ungarn Viktor Orbáns, lärer Krisenentwicklungen eingehen können. Und hier ergibt sich das gegenwärtige Polen und Italien. Das Volk allein kann also in der Tat ein eher gemischtes Bild, das deutliche Schwächen un- nicht über die Frage Krise oder Nicht-Krise befinden. Dies gilt ins- serer Demokratien enthüllt. Blickt man auf die fünf Teilregime der besondere für Länder, in denen die Bevölkerung ihr politisches »eingebetteten Demokratie« (Merkel 2004), lässt sich feststellen, System als Demokratie begreifen, Demokratieexperten dort aber dass vier von ihnen mit erheblichen Herausforderungen zu kämp- nicht einmal ein »demokratisches Minimum« diagnostizieren, wie fen haben. Dies gilt für die Ebene der Wahlen wie jene der politi- das etwa in der Volksrepublik China heute der Fall ist. schen Partizipation im Allgemeinen wie etwa auch für die der Abb. 2 »Weltweite Umfrage von Dalia- Research 2019: ›Ist Ihnen die Demo- kratie in Ihrem Land wichtig?‹« © https://daliaresearch. com/democracy/ D&E Heft 79 · 2020 H er a u s f o r d er u n g o d er K r i s e : Wie gefä hr d e t s ind d ie l iber a l e n D e m o k r at ie n? due79_inhalt_satzlauf2.indd 9 11.05.20 13:41
WOLFGANG MERKEL ranz könnte aber aufhören, wenn die bil- dungsferneren Schichten stärker von rechtspopulistischen Parteien mobilisiert werden können, wie dies schon im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts völlig evident geworden ist (Spittler 2018). Ein frühes Warnzeichen von Demokratiekri- sen ist die schleichende Verschiebung der Entscheidungskompetenzen von der Legisla- tive zur Exekutive. Erstaunlicherweise fehlen hier systematisch vergleichende Studien. Evi- dent erscheint aber der Machtverlust natio- naler Parlamente gegenüber den Institutio- nen der EU, in denen wiederum die exekutiven Institutionen Europäischer Rat, Ministerräte und Kommission dominieren. Das Mehrebe- nengeflecht politischer Entscheidungen prä- miert die Exekutiven, während sich legisla- tive Kompetenzen wie parlamentarische Kontrolle, Verantwortlichkeit und Transpa- renz ausdünnen. Nicht umsonst gibt es für die supranationale Sphäre schon länger eine Governance-Debatte über technokratische Abb. 3 »Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 2019« © Europäisches Parlament 2019 Legitimationsäquivalenzen, die die Auszeh- rung traditioneller demokratischer Güter wie zunehmenden Schieflage zugunsten der Exekutive gegenüber Bürgerbeteiligung, Zentralität von Parlamenten in der Normset- den Legislativen im Besonderen. Es trifft vor allem zu auf die Ab- zung, Kontrolle der Exekutive und »accountability« (Rechen- wanderung von Kompetenzen des demokratischen National- schaftspflicht) zu kompensieren suchen. Auch wenn das demo- staats in globalisierte Märkte und supranationale Regime. Al- kratietheoretisch wenig überzeugende Versuche sind, spiegeln lein das Teilregime der Bürgerrechte ist heute in den meisten sie möglicherweise einen stabilen Trend wider, der sich unter glo- entwickelten Demokratien extensiver und intensiver ausgebaut balen ökonomischen und politischen Eliten ebenso verbreitet hat als vor drei oder vier Jahrzehnten. Dies betrifft insbesondere die wie in Teilen der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internati- Geschlechtergleichheit, den Schutz ethnischer und religiöser onalen Beziehungen (De Wilde et al. 2019). Rechte wie die rechtliche Gleichstellung hetero-, homo- und di- Ein noch größerer Angriff auf die normative Suprematie demokra- verssexueller Präferenzen. Jene nun verbrieften und weitgehend tischer Entscheidungen stellt das Problem globaler deregulierter 10 auch realpolitisch wie gesellschaftlich durchgesetzten Bürger- Märkte dar. Formal souveräne demokratische Staaten haben in rechte stellen eine enorm wichtige »Demokratisierung der Demo- bestimmten Bereichen der politischen Gestaltung willentlich kratie« dar, die sich erst in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat. oder fahrlässig Kompetenzen an Märkte, Banken und global agie- Anders als bei dieser kulturellen Modernisierung des Rechts- rende Pensions- und Hedgefonds abgegeben. Dieser Prozess be- staats sieht es bei der politischen Beteiligung aus. Die Wahlbetei- gann zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, fand ei- ligung ging in der OECD-Welt sichtbar zurück, während die sozi- nen Höhepunkt 1990 im sogenannten Washington Consensus und ale Selektivität der politischen Partizipation zugenommen hat. wurde selbst nach der großen Finanzkrise 2008 nicht sichtbar ge- Soziale Selektivität beschreibt hier die Tatsache, dass es vor allem stoppt (Merkel 2014). Es waren allerdings nicht »unsichtbare das untere soziale Drittel unserer Gesellschaften ist, welches sich Hände«, sondern demokratische Entscheidungen, die in einem politisch nicht mehr beteiligt. Dies ist ein problematischer Be- erheblichen Maße die Märkte und Großinvestoren aus dem Be- fund für jede einzelne Demokratie, weil faktisch der Gleichheits- reich demokratischer Entscheidungen entließen. Getrieben vom grundsatz verletzt wird. Überspitzt ließe sich formulieren, angelsächsischen Kapitalismus, inbesondere der Führungsmacht Deutschland und die Länder Westeuropas seien relativ gut funkti- USA, aber auch dem aufstrebenden Staatskapitalismus Chinas, onierende Zweidrittel-Demokratien. Das untere Drittel unserer fürchteten die anderen OECD-Staaten um ihre Wettbewerbsfä- Gesellschaften ist aus jedweder demokratischer Partizipation higkeit im internationalen Wettlauf um Investitionen oder den weitgehend ausgestiegen. Absatz ihrer eigenen Güter. Paradoxerweise haben sich dabei die In Westeuropa ist die Wahlbeteiligung in den letzten vier Jahr- Demokratien durch demokratische Entscheidungen in der Ver- zehnten nur moderat gesunken; seit etwa fünf Jahren ist sogar gangenheit um weitere demokratische Steuerungsmöglichkeiten eine geringe Zunahme zu beobachten. Sie kann auf die stärkere in der Zukunft gebracht. Ein deregulierter globaler Kapitalismus Polarisierung unserer politischen Diskurse und Konflikte zurück- ist jedoch nur bedingt mit den Geboten demokratischen Regie- geführt werden. Insbesondere der wachsende Zulauf von Wählern rens vereinbar. Die Mitsprache der Vielen (Bürger/-innen) wird zu rechtspopulistischen Parteien und die mobilisierte Gegenre- durch die Entscheidungsgewalt Weniger (Investoren/-innen) sus- aktion von Antipopulisten haben zur höheren Wahlbeteiligung pendiert. beigetragen. In Osteuropa allerdings ist der Rückgang der Wahl- Dies sind erhebliche Herausforderungen und bisweilen auch ge- beteiligung dramatisch. Von fast 80 Prozent zu Beginn der 1990er brochene Versprechungen der Demokratie. Dazu gehört nicht Jahre ist sie auf ca. 55 Prozent im Jahr 2018 gefallen. zuletzt die Indifferenz der politischen Eliten und beachtlicher Dies ist bei der Beteiligung an allgemeinen Wahlen zu beobach- Teile der bessergestellten Bevölkerung gegenüber gravierenden ten, findet sich jedoch noch stärker ausgeprägt in Referenden sozioökonomischen Ungleichheiten von Einkommen, Vermögen, (Merkel und Ritzi 2017) oder gar den viel gelobten »demokratischen Lebens- und politischen Partizipationschancen. Gleichzeitig hat Innovationen« wie Bürgerräten, Bürgerhaushalten, deliberativen aber auch die kulturelle Sensibilität gegenüber Minderheiten un- Mini-Publics oder digitalen Beteiligungsplattformen. Es sind vor terschiedlicher Provenienz zugenommen. Die liberale Dimension allem die mittleren und oberen (Bildungs-)Schichten, die sich be- ist heute in den entwickelten Demokratien weit demokratischer teiligen. Man könnte das fatalistisch als eine fast unvermeidliche als noch in den 1950er, 60er und 70er Jahren. Elitisierung der Politik in Zeiten der Komplexität abtun. Die Igno- H er a u s f o r d er u n g o d er K r i s e : Wie gefä hr d e t s ind d ie l iber a l e n D e m o k r at ie n? D&E Heft 79 · 2020 due79_inhalt_satzlauf2.indd 10 11.05.20 13:41
Die Demokratie steckt allerdings in ihren Teilbereichen wie insgesamt keineswegs in der Krise. – Erstens gibt es nicht »die« Demokratie, sondern unterschiedliche Varianten der De- mokratie mit unterschiedlicher demokrati- scher Qualität. Dies gilt auch für die EU-Staa- ten oder für die 36 Mitgliedstaaten der OECD-Welt. Die Bandbreite reicht von den Musterdemokratien Skandinaviens bis hin zu den »defekten Demokratien« Ungarns und Polens sowie dem autoritären Regime der Türkei unter Erdogan. – Zweitens ist die demokratische Entwick- lung der reiferen Demokratien von Ungleich- heit gezeichnet. Erheblichen Demokratie- gewinnen hinsichtlich Transparenz und Minderheits- wie Individualrechten stehen Abb. 4 »Demokratiebarometer – ein Instrument zur Messung von Demokratiequalität« signifikante Demokratieverluste in der Di- © www.democracybarometer.org/index_de.html mension der Gleichheit oder der Dimension der effektiven Regierungsgewalt der natio- Literaturhinweise nalstaatlichen Demokratien entgegen. Wird der Begriff Krise in seiner ursprünglichen dramatischen Be- Blühdorn, Ingolf ( 2013): Simulative Demokratie. Neue Politik nach der deutung als akute Existenzfrage des Seins oder Nicht-Seins der postdemokratischen Wende. Frankfurt am Main: edition suhrkamp. Demokratie verwendet, passt er auf die allerwenigsten Staaten der EU und verkennt die Resilienz- und Anpassungspotenziale Bühlmann, Marc / Wolfgang Merkel et al. (2012): The Democracy Barometer. entwickelter Demokratien. Verwendet man den Begriff der Krise A New Instrument to Measure the Quality of Democracy and Its Potential for in seiner Latenz-Bedeutung, werden viele Probleme und uneinge- Comparative Research. European Political Science 11: 519–536. löste Versprechen der Demokratie sichtbar. Nur ist das in aller Crouch, Colin (2004): Post-Democracy. Cambridge: Polity Press. Regel keine Existenzfrage des demokratischen Systems; der Kri- senbegriff erscheint überzogen. Nicht jede ungelöste Herausfor- De Wilde, Pieter / Ruud Koopmans / Wolfgang Merkel / Oliver Strijbis / derung der Demokratie kann und sollte als Systemkrise dramati- Michael Zürn (Hrsg. 2019): The Struggle Over Borders. Cosmopolitanism and siert und verkannt werden. Communitarianism. Cambridge: Cambridge University Press. Keane, John (2009): Life and Death of Democracy. New York. Ausblick Levitsky, Steven / Daniel Ziblatt (2018): How Democracies Die. New York. 11 Manin, Bernard (1997): The Principles of Representative Government. Die Krise der Demokratien der entwickelten Welt ist in ihrer Pau- Cambridge: Cambridge University Press. schalität eine Erfindung empirieferner Theoretiker. Es gibt unter- schiedliche Länder und unterschiedliche Bereiche der Demokra- Merkel, Wolfgang (2004): Embedded and Defective Democracies, In: tie, die besonders resilient oder vulnerabel sind. Dänemark ist Special Issue of Democratization: Consolidated or Defective Democracy? nicht Bulgarien und das Geschlechterverhältnis gleicher Rechte Problems of Regime Change, hrsg. Aurel Croissant und Wolfgang Merkel 11 und Chancen ist heute demokratischer verrechtlicht und verwirk- (5): 33–58. licht, als das in den ersten drei Jahrzehnten der Nachkriegszeit Merkel, Wolfgang (2014): Is capitalism compatible with democracy? der Fall war. Dennoch zeigt sich heute mit den negativen Aus- Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 8 (2): 109–128. wirkungen der Globalisierung auf die demokratische Selbst- bestimmung die anwachsende Ungleichheit. Mit dem Aufstieg Merkel, Wolfgang (Hrsg. 2015): Demokratie und Krise. Zum schwierigen semiloyaler Parteien wie den Rechtspopulisten wachsen die Her- Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden. ausforderungen an die Demokratie, für die diese noch keine ef- Merkel, Wolfgang / Werner Krause (2015): Krise der Demokratie? Ansichten fektiven Gegengifte gefunden hat. Die Demokratisierung der De- von Experten und Bürgern, in: Merkel (Hrsg.), Demokratie und Krise. mokratie, die noch die ersten Nachkriegsjahrzehnte geprägt hat, Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden. 45–66. scheint aber vorläufig gestoppt. Ob diese Stagnation in eine kri- senhafte Regression auch in Westeuropa mündet, wie das man- Merkel, Wolfgang / Claudia Ritzi (Hrsg. 2017): Die Legitimität direkter che Demokratietheoretiker schon länger postulieren, lässt sich Demokratie. Wie demokratisch sind Volksabstimmungen? Wiesbaden. empirisch nicht solide prognostizieren. Es wird manches davon Mounk, Yascha (2018): The People vs. Democracy: Why Our Freedom is in abhängen, wie die politischen Eliten mit den neuen und alten Danger and How to Save It. Cambridge, MA: Harvard University Press. Konflikten in unseren entwickelten Gesellschaften umgehen. Stagnation und Krisen sind systemisch riskant, aber sie bieten Rancière, Jacques (2006): Hatred of Democracy. London: Verso. immer auch die Chance für Reformen. Diese zu erkennen sind die Runciman, David (2018): How Democracy Ends. London: Profile Books. institutionellen Arrangements der Demokratie mit ihrer engen Verflechtung von Regierenden und Regierten immer noch besser Spittler, Marcus (2018): Are Right-Wing Populist Parties a Threat to geeignet als jedes andere politische System. Democracy? In: Wolfgang Merkel and Sascha Kneip (eds.): Democracy and Crisis. Challenges in Turbulent Times. Cham: Springer International: 97–121. Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demo- kratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp. Wolin, Sheldon (2008): Democracy Incorporated: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism. Princeton: Princeton University Press. D&E Heft 79 · 2020 H er a u s f o r d er u n g o d er K r i s e : Wie gefä hr d e t s ind d ie l iber a l e n D e m o k r at ie n? due79_inhalt_satzlauf2.indd 11 11.05.20 13:41
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