Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz

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Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
ausgabe 3.2020 | www.mehr-demokratie.de

    Corona und die Demokratie
    S. 4

    Ein Rückblick auf unsere
    Zukunfts-Konferenz
    S. 28

    Ankündigung der
    Bundesmitgliederversammlung
    S. 40

1                                 www.mehr-demokratie.de | Nr. 124 | 3/2020
Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
INHALT
    Corona und die
    Demokratie
    Wir haben 12
    Forderungen an die
    Politik fomuliert,
    wie die Demokratie                                      CORONA UND DIE DEMOKRATIE
    in dieser Krise                                    4    CORONA UND DIE DEMOKRATIE
    gestärkt werden                                    6    CORONA-KRISE AUFARBEITEN UND FÜR ZUKUNFT LERNEN
    kann.
                                                       7    PERSÖNLICHER KOMMENTAR
                                                       8    WARUM WIR DIE VERSAMMLUNGSFREIHEIT BRAUCHEN
    ab Seite 4
                                                       10   CORONA-KRISE: ZEITENWENDE DER PARLAMENTARISCHEN
                                                            DEMOKRATIE?
                                                       12   DIE SCHWEIZ UND IHR EPIDEMIEGESETZ

                                                            BUNDESWEITE VOLKSENTSCHEIDE
                                                       14   WIR WOLLEN ABSTIMMEN – AUCH AUF BUNDESEBENE
                                                       16   ABSTIMMUNG 21 – NEUE INFORMATIONEN

                                                            BÜRGERRÄTE
                                                       17   VIELE FRAGEN ZU BÜRGERRÄTEN
                                                       18   KOMBINATIONSVORSCHLAG: BÜRGERRÄTE UND
                                                            DIREKTE DEMOKRATIE

                                                            REZENSION

                                                                                                                             TITELBILD ISTOCK, LINKS OBEN TAREK MANTAOGLU, LINKS MITTE FRIEDER UNSELT LINKS UNTEN LINKS: UWE DAMMAN
                                                       20   HAT STEUERGERECHTIGKEIT ETWAS MIT DEMOKRATIE ZU
                                                            TUN?

                                                            EUROPA UND INTERNATIONAL
                                                       22   EUROPA, QUO VADIS?

                                                            12062020 OLYMPIA
        Europa, quo vadis?
                                                       26   DAS FEUER IST NOCH LANGE NICHT ERLOSCHEN
        Die Coronakrise hat den Schwung in der
        Debatte über eine EU-Reform stark ausge-
        bremst. Citizens Take Over Europe will neuen        ZUKUNFT DER DEMOKRATIE
       Schwung in die Reformdebatte bringen.           28   WO LIEGT DIE ZUKUNFT DER DEMOKRATIE? EIN RÜCKBLICK
                                                            AUF DIE ONLINE-KONFERENZ
       ab Seite 22                                     30   DEEPENING DEMOCRACY

                                                            BUNDESLÄNDER
                                                       32   BÜRGERBEGEHREN UND BÜRGERENTSCHEIDE VERBIND-
                                                            LICH MACHEN
                                                       34   NEUES AUS DEN LANDESVERBÄNDEN

                                                            MD INTERN
                                                       36   NEUE RUBRIK: FAQ
                                                       37   BUNDESGESCHÄFTSFÜHRER TIM WEBER WIRD BÜRGER-
                                                            MEISTER
                                                       38   TIM WEBER ÜBERGIBT AN ALEXANDER TRENNHEUSER
                                                       40   ANKÜNDIGUNG DER BUNDESMITGLIEDERVERSAMMLUNG
                                                       43   MITGLIEDERBEGEHREN GEGEN GESCHLECHTERQUOREN IM
                                                            WAHLRECHT

Wechsel in der Geschäftsführung
Tim Weber übergibt das Amt an Alexander
Trennheuser.

ab Seite 37
2                                                                                www.mehr-demokratie.de | Nr. 124 | 3/2020
Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

„Vierzig Wagen westwärts“ – das ist der Titel einer Westernkomödie von 1965 mit
Burt Lancaster in der Hauptrolle. Um Minenarbeitern über den bevorstehenden langen
Winter zu helfen, werden 40 Wagen, voll beladen mit Whisky, über Stock und Stein
Richtung Westen geschickt. Es geht freilich alles schief, was irgendwie schiefgehen
kann. Jedenfalls versinken am Ende die Wagen in einem Sumpf. Und später, während
zwei der Westernhelden, die im Sumpfgebiet hängen geblieben sind, trübsinnig auf die
Tümpel starren, macht es: blubb und blubb und blubb – ein Fässchen nach dem anderen
kommt wieder an die Oberfläche. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sau…
trinken die beiden noch heute. So endet der Film.
    Ich musste daran denken, als die Corona-Krise anfing, unseren Alltag zu
bestimmen. Jetzt geht es um die Einschränkung von Grundrechten, vielleicht noch um
Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung – aber unser Kernthema, die direkte Demokratie,      Ralf-Uwe Beck,
wird wohl in diesem Corona-Sumpf untergehen. Jetzt ist nicht die Zeit, auf der           Bundesvorstandssprecher von
Forderung nach dem bundesweiten Volksentscheid zu beharren. Der würde uns jetzt          Mehr Demokratie.

wohl kaum helfen. Weit gefehlt. Das macht Brigitte Krenkers mit ihrem Beitrag klar.
Sie informiert darüber, wie das Schweizerische Infektionsschutzgesetz verabschiedet
wurde – per Volksabstimmung. Blubb, da ist die direkte Demokratie wieder da. Charlie
Rutz meint, wohl inspiriert vom letzten Heft, in dem es schwerpunktmäßig um
Bürgerräte ging, dass gerade bei einem Ausbau der Bürgerbeteiligung, auch die direkte
Demokratie ausgebaut werden muss. Die nämlich schützt die Bürgerinnen und Bürger
davor, zwar beteiligt, aber mit ihren Ideen und ihrer Kritik nicht wirklich ernst
genommen zu werden. Und schon wieder macht es: blubb.
    Corona hat manche Vorhaben, manche Veranstaltung platzen lassen, dafür andere
hervorgebracht. Darüber wird im Heft berichtet. Freilich hat uns, was Corona in Sachen
Demokratie ausgelöst hat, beschäftigt, und tut es noch. Auch darüber gibt dieses Heft
Auskunft, wirft Fragen auf, versucht sich an Antworten, beispielsweise von unserem
Kuratoriums-Vorsitzenden, Professor Arne Pautsch. Und nach Corona? Dann heißt es,
das Krisenmanagement der Regierung auszuwerten, Rückschlüsse zu ziehen, wie
zukünftigen Krisen begegnet werden kann, möglichst mit den Bürgerinnen und
Bürgern. Es gilt, die Kompetenz der Betroffenen einzubeziehen. Dafür gibt es
Vorschläge.

Ich wünsche Ihnen eine ergiebige Lektüre
Ihr

Ralf-Uwe Beck
Bundesvorstandssprecher

                                                                                                                    3
Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
GRUNDLAGEN
CORONA UND DIE DEMOKRATIE                                                                                                                                                                                                                                            CORONA UND DIE DEMOKRATIE

                                                                                                                                                                 entscheids ist (siehe Artikel von Brigitte     wird Arbeitnehmerinnen und -nehmern           Die 12 Forderungen:
                                                                                                                                                                 Krenkers in diesem Heft, S.12).                vertraut und sie dürfen zu Hause arbeiten.    1. Die Parlamente sind legitimiert,
                                                                                                                                                                     Ständig ist zu prüfen, ob die              So gut dieser burschikose Pragmatismus            zu entscheiden. Das muss so blei

CORONA UND                                                                                                                                                       Maßnahmen – Einschränkungen wie
                                                                                                                                                                 Lockerungen – verhältnismäßig sind und
                                                                                                                                                                                                                tut, um Gewohnheiten in Frage zu stellen,
                                                                                                                                                                                                                so wenig taugt er für die Demokratie. Da
                                                                                                                                                                                                                                                                  ben!
                                                                                                                                                                                                                                                              2. Verordnungen und Gesetze befristen

DIE DEMOKRATIE                                                                                                                                                   eingelöst wird, was man sich und uns
                                                                                                                                                                 damit verspricht. Eine Regierung, die auf
                                                                                                                                                                 Sicht fährt, will dabei von den Bürgerin-
                                                                                                                                                                                                                wird unter den Fraktionen im Bundestag
                                                                                                                                                                                                                diskutiert, die Wahl 2021 als reine Brief-
                                                                                                                                                                                                                wahl zu veranstalten. Hier entscheidet
                                                                                                                                                                                                                                                              3. Parlamentarische Diskussion öffent-
                                                                                                                                                                                                                                                                  lich führen
                                                                                                                                                                                                                                                              4. Beratungsgremien breit besetzen
                                                                                                                                                                 nen und Bürgern gesehen werden. Aus            sich jetzt, ob wir politische Kultur abbau-   5. Bürger einbinden
„Mündige Menschen, veranlagt und                                                                                                                                 der Holschuld der Bürgerinnen und Bür-         en oder Demokratie entwickeln. Allen          6. Transparenz sichern
bereit, sich solidarisch zu zeigen“.                                                                                                                             ger muss eine Bringschuld der Regierung        Wahlberechtigten die Briefwahlunterla-        7. Entscheidungen und deren Grundla-
                                                                                                                                                                 werden: Strategiepapiere, Gutachten,           gen – wie in der Schweiz – automatisch            gen müssen nachvollziehbar sein
                                                                                                                                                                 Modellrechnungen müssen automatisch            mit der Wahlbenachrichtigung zuzustel-        8. Versammlungs- und Demonstrations-
VON RALF-UWE BECK
                                                                                                                                                                 veröffentlicht werden. Dazu gehört auch,       len, das fordert auch Mehr Demokratie.            recht erhalten
                                                                                                                                                                 transparent zu machen, wie die eingesetz-      Aber nicht als Ersatz, sondern als Aus-       9. Wahlen nicht einschränken
                                                                                                                                                                 ten Krisenstäbe besetzt sind. Die Pande-       weitung der Möglichkeiten, sich an der        10. Datenschutz beachten
                                                                                                                                                                 mie verlangt nach inter­disziplinärer Be-      Wahl zu beteiligen. Die Wahllokale soll-      11. Weltweit solidarisch sein
                                                                                                                                                                 ratung, nach Ein­   schätzungen aus der        ten geöffnet bleiben. Ja, probieren wir das   12. Den Umgang mit der Krise evaluieren
                                                                                                                                                                 Sozial­wissenschaft, der Ethik, der Öko-       aus – und behalten wir dies dann bei für
                                                                                                                                                                 nomie, Rechts- und Politikwissenschaft.        alle Wahlen, auch für die nach Corona.
                                                                                                                                                                 Dabei sollte das Spektrum der Meinun-          Dann würde die Demokratie nicht be-
                                                                                                                                                                 gen, die hinter den schwierigen Abwä-          schnitten, sondern vermutlich wäre ein                 Das Zwölf-Punkte-Papier,
                                                                                                                                                                 gungen stehen, die die Politik zu leisten      Mittel gefunden, die Wahlbeteiligung zu                beschlossen vom Bundes-
„Das sind DDR-Verhältnisse“, schimpft        ihrer Ansicht nach ein paar Löcher hat.        vom Bundesverfassungsgericht, definiert                              hat, wahrnehmbar sein. Es geht aber nicht      steigern.                                              vorstand von Mehr
                                                                                                                                                                                                                                                                       Demokratie, finden Sie hier:
einer am Telefon, ein anderer meint gar      Gegen die Demonstrationsverbote wurde          Grundrechts-Einschränkungen als Sache                                nur darum, politische Entscheidungen                Der durch das Corona-Virus verur-
„es ist wie 33“. Die Einschränkungen von     geklagt, das Bundesverfassungsgericht          des Parlamentes. Das macht nicht nur das                             besser nachvollziehbar zu machen, son-         sachte Ausnahmezustand verlangt nach
                                                                                                                                                                                                                                                                       www.mehr-demokratie.de/
Grundrechten in der Corona-Krise su-         hat die pauschalen Einschränkungen mo-         rechtliche Eis dicker, es hat auch etwas                             dern die Kompetenz der Betroffenen an          einer gründlichen Auswertung. Dafür                    themen/corona-und-demo-
chen ihresgleichen. Aber wer so redet,       niert. Ein Pfarrer hat sich per Eilantrag      mit Bürgernähe zu tun: Ein Parlament hat                             den Beratungstisch zu holen. Mehr De-          fordert Mehr Demokratie eine Kommis-                   kratie/unsere-forderungen/
scheint nicht den Hauch einer Ahnung zu      Zugang zu einem Heim verschafft, um            öffentlich zu agieren, die Auseinanderset-                           mokratie schlägt einen Krisenbeirat vor,       sion beim Bundestag, hälftig von Abge-
haben, dass Grundrechte während der          eine Sterbende zu begleiten. Das sind nur      zung zwischen Regierung und Oppositi-                                repräsentativ von Bürgerinnen und Bür-         ordneten und Expertinnen und Experten                  oder unter diesem QR-Code:
Nazidiktatur abgeschafft oder im SED-        zwei von vielen Beispielen, die zeigen:        on hilft, alle Argumente, die hinter einer                           gern besetzt. Es verwundert, dass Bür-         aus der Zivilgesellschaft besetzt. Der
Regime über Jahrzehnte Demonstra-            Der Rechtsstaat hat in der Krise funktio-      Abwägung stehen, in die Diskussion zu                                gerbeteiligung immer erst einge­fordert        Leitgedanke würde sich nicht auf einen
tions- und Versammlungsfreiheit massiv       niert. Es gibt keinen Grund, die Demo-         holen, Abgeordnete sind (meistens) er-                               werden muss. Da poltert es aus dem             Vorwurf stützen, sondern an der Frage
eingeschränkt waren und was das Eintre-      kratie in Sack und Asche zu sehen. Den-        reichbar und können Rede und Antwort                                 Kanzleramt gegen die Diskussionen in           orientieren, welche Rückschlüsse für zu-
ten für Grundrechte in einer Diktatur für    noch gilt es, den demokratischen Rahmen        stehen. Das heißt nun nicht gleich, die                              der Bevölkerung und gegen die Gerichte,        künftiges Krisenmanagement zu ziehen
Konsequenzen haben konnte. Die Mög-          für das Krisenmanagement der Bundes-           Verordnungen für nichtig zu erklären,                                die pauschale Einschränkungen aufheben,        wären – oder ganz einfach: was wir zu
lichkeit, Grundrechte einzuklagen, gab       regierung und der Regierungen in den           weist aber dem Parlament eine stärkere                               anstatt auf die naheliegende Idee zu kom-      lernen haben. Auch das geht nicht ohne
es jedenfalls nicht. Nichts hat mich ange-   Ländern abzustecken. Das hat Mehr De-          Rolle zu. Mindestens sollte der Bundes-                              men, einen solchen Beirat zu installieren.     die Bevölkerung. Corona wird uns noch
sichts der gravierenden Einschränkun-        mokratie mit seinem Zwölf-Punkte-Pa-           tag Verordnungen zurückholen können.                                 Man mag sich vorstellen, wie ein Sprecher      eine Weile beschäftigen und eine Auswer-
gen der Grundrechte in den vergangenen       pier versucht. Es ist die Einladung, die       Eine wirksamere Kontrolle der Bundesre-                              dieses Beirates neben der Kanzlerin vor        tung könnte vielleicht erst im nächsten
Monaten an die DDR erinnert, außer           Lage differenziert zu betrachten, Ängste       gierung durch das Parlament wäre kaum                                die Medien tritt und mithilft, zu vermit-      Jahr sinnvoll sein. Aber allein, sich dies
dass Klopapier Mangelware war und wir        ernst zu nehmen und die Aufmerksam-            denkbar. Demokratisch rund wird dies al-                             teln, warum Ent­scheidungen notwendig          so vorzunehmen, wäre ein Signal der
                                                                                                                                         Foto: Tarek Mantaoglu

es mitgehen haben lassen, wo sich die        keit auf mögliche Gefährdungen der De-         lerdings erst, indem die Bürgerinnen und                             sind. Das könnte deren Akzeptanz und das       Bundesregierung an die Bürgerinnen und
Möglichkeit bot. Den zitierten Anrufern,     mokratie zu lenken.                            Bürger beispielsweise über das Infekti-                              Vertrauen in die Politik erheblich steigern.   Bürger, sie nicht nur als Risikoträger für
die sich gemeldet haben, nachdem Mehr            Eine Regierung, die Grundrechte auf        onsschutzgesetz und die Festlegungen für                                 Die Krise verhilft zu pragmatischen        Ansteckungen zu betrachten, sondern als
Demokratie sich zur Corona-Krise geäu-       dem Verordnungsweg einschränkt, bewegt         Krisensituationen mitbestimmen können.                               Lösungen: Video- oder Telefonkonferen-         mündige Menschen, veranlagt und bereit,              Ralf-Uwe Beck
ßert hatte, habe ich erwidert: Bitte blei-   sich verfassungsrechtlich auf dünnem           Wieder wird augenfällig, wie überfällig                              zen ersetzen Treffen, Fördermittel wer-        sich solidarisch zu zeigen. /                        Bundesvorstandssprecher von
ben Sie auf dem Teppich, auch wenn er        Eis. Die Wesentlichkeitstheorie, vertreten     die Einführung des bundesweiten Volks-                               den ohne Umstände gewährt, plötzlich                                                                Mehr Demokratie.

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Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
CORONA UND DIE DEMOKRATIE                                                                                                                                                                                                                       CORONA UND DIE DEMOKRATIE

CORONA-KRISE AUFARBEITEN UND
FÜR DIE ZUKUNFT LERNEN
Im weltweiten Vergleich hat Deutschland die direkten gesundheitlichen Folgen der COVID-19 Krise                                        PERSÖNLICHER KOMMENTAR
                                                                                                                                       ZUR CORONA-KRISE
vergleichsweise gut gemeistert. Diese Krise war ohne Präzedenz und ohne Vorbild. Wir sehen es als
selbstverständlich an, dass nach der Bewältigung einer solchen Krise Bilanz gezogen wird, um Posi-

                                                                                                                                                                                                                                                                ...
tives, wie Negatives herauszuarbeiten. Das stärkt die Demokratie. Nur Demokratien sind in der Lage
                                                                                                                                       VON ROMAN HUBER
ihre Entscheidungen selbst in Frage zu stellen

                                                                      ?
VON ROMAN HUBER

Es gilt mit den Bürger*innen auszuloten,
was wir aus der Krise lernen können.
Wie werden wir zu einer krisenresilien-
teren Gesellschaft in der Zukunft?
                                              Begründung:
                                              n   Die Corona-Krise, ebenso wie die ge-
                                                  troffenen Maßnahmen, hat alle Ebe-
                                                  nen unseres Lebens in existentieller
                                                                                                                                                      ...
                                                                                                                                       Bei Mehr Demokratie hatten und haben
                                                                                                                                       wir fast die ganze Bandbreite an Meinun-
                                                                                                                                       gen zur Corona-Krise, die es auch in der
                                                                                                                                       Gesellschaft gibt. Nach meiner Beobach-
                                                                                                                                                                                           serem Menschen- und Lebensbild ent-
                                                                                                                                                                                           sprechen. Wir bestätigen das, was wir
                                                                                                                                                                                           glauben wollen. Was wir glauben wollen,
                                                                                                                                                                                           hängt wesentlich von unseren Lebensum-
                                                                                                                                                                                                                                         schwerwiegenden Eingriffen in Grund-
                                                                                                                                                                                                                                         rechte eine fortlaufende strenge Prüfung
                                                                                                                                                                                                                                         ihrer Verhältnismäßigkeit anhand der je-
                                                                                                                                                                                                                                         weils aktuellen Erkenntnisse stattfinden
    Der Bundesvorstand von Mehr De-               Weise beeinflusst. Deswegen ziehen                                                   tung bestimmten vor allem zwei Fakto-               ständen und unserer Geschichte ab.            muss.
mokratie hat beschlossen: Zur konstruk-           wir eine konstruktiv-kritische Bilanz.                                               ren, zu welcher Bewertung man persön-                   Einen grundlegenden Mangel in der             Jedenfalls darf es auch in und nach
tiven Überprüfung der politischen Ent-        n   Demokratie ist ein lernfähiges Sys-                                                  lich tendiert:                                      Krisenbewältigung kann und konnte ich         der Corona-Krise nicht wieder zu „alter-
scheidungen in der Corona-Krise                   tem. Eine Fehlerkultur, wie wir als                                                  n Für wie gefährlich halten wir Corona              jedoch nicht nachvollziehen. Die Politik      nativlosen“ Antworten kommen. Sachli-
schlagen wir vor,                                 Gesellschaft mit tatsächlichen oder                                                     – für uns persönlich, unser Umfeld               hat zu Beginn der Krise bei unsicherer        che Kritik oder andere Meinungen sollten
n Die Entscheidungen der Bundes- und              scheinbaren Fehlern und Risiken um-                                                     und für die Gesellschaft insgesamt?              Datenlage und hoher drohender Gefahr          weder in die Ecke von rechten Verschwö-

                                                                                                                 !                                                                                 ?
   Landesregierungen in der Corona-Kri-           gehen, unterscheidet uns von totalitä-                                               n Für wie bedrohlich halten wir die                 einen Lockdown mit all den verbundenen        rungstheorien geschoben, noch Anders­

                             !
   se durch eine Parlamentskommission             ren Systemen.                                                                           Maßnahmen zur Eindämmung – für                   Grundrechtseinschränkungen beschlos-          denkende als „schlafende Schafe“ be-
   überprüfen zu lassen, die je hälftig mit   n   Demokratie lebt vom Diskurs, sowie                                                      uns persönlich, unser Umfeld und für             sen. Das konnte ich verstehen. Damit hat      zeichnet werden.
   Abgeordneten und mit Vertreter*innen           dem konstruktiven Aufarbeiten ver-                                                      die Gesellschaft insgesamt?                      die Politik jedoch die Verantwortung,             Mit welcher Strategie wir langfristig
   der Zivilgesellschaft besetzt ist. Sie         gangener Geschehnisse und Krisen.                                                                                                        sich eine valide, breite Datenbasis zu ver-   besser durchkommen, ist noch offen. Was
   analysiert die Maßnahmen, die wäh-             Hier kann Deutschland auch Vorbild-                                                  Zwischen den beiden Einschätzungen                  schaffen. Dies ist bis zum heutigen Tage      wir uns aber bereits jetzt fragen können:
   rend der Pandemie ergriffen wurden,            funktion für andere Länder überneh-                                                  gibt es Wechselwirkungen: Für je ge-                nicht geschehen.                              Sind wir bereit, die Vor- und Nachteile
   überprüft deren Verhältnismäßig- und           men.                                                                                 fährlicher wir das Virus halten, desto an-          Warum wurde nicht sofort, wie von Wis-        der jeweiligen Strategie unvoreingenom-
   Wirksamkeit sowie deren Zustande-          n   Die Corona-Krise macht gesellschaft-                                                 gemessener und weniger bedrohlich                   senschaftlern vorgeschlagen, eine groß        men zu prüfen? Oder suchen wir nur nach
   kommen und zieht Rückschlüsse für              liche Spannungen sichtbarer. Gräben                                                  empfinden wir die Maßnahmen. Und je                 angelegte repräsentative Studie (Base         Bestätigung unserer vorgefassten Mei-
   zukünftiges Krisenmanagement.                  können überwunden werden, wenn                                                       mehr wir uns von den Maßnahmen be-                  Line Studie) in Auftrag geben? Mit Stich-     nung? /
n dass Ergebnisse einem losbasierten              alle Positionen gehört werden und                                                    droht fühlen, desto eher neigen wir dazu,           proben mit 10.000 oder 20.000 Personen,
   Bürgerrat vorgelegt werden, der diese          echte Begegnung stattfindet.                                                         die Gefahren des Virus geringer einzu-              die wiederholt alle zwei Wochen getestet
   bewertet und Empfehlungen für die                                                                                                   schätzen.                                           werden. Erst mittels einer solchen Daten-
   Zukunft entwickelt und diese dem           Die richtige Zeit für eine systematische                                                     Darüber hinaus war für mich oft zu              lage hätten sich einigermaßen abgesi-
   Bundestag übermittelt.                     Aufarbeitung ist möglicherweise erst in                                                  beobachten: Wir glauben und ziehen eher             cherte Rückschlüsse auf die Gesamtsitu-
                                              der nächsten Legislaturperiode, wobei                                                    die Studien und Experten zu Rate, die un-           ation ziehen lassen. Zu hohe Kosten oder
Sollte die Bundesregierung – spätestens       Vorbereitungen für eine Auswertung be-                                                                                                       zu hoher Aufwand kann angesichts der
in der nächsten Legislaturperiode – dazu      reits jetzt getroffen werden können. /                                                                                                       Milliardenbeträge, die jetzt aktiviert
nicht bereit sein, soll ein Viertel der Ab-                                                                                                                                                werden, kein Argument sein.
                                                                                                                                        1 www.researchgate.net/publica-
geordneten des deutschen Bundestages                                                                                                   tion/340448051_Datenbasis_verbessern_Praven-
                                                                                                                                                                                               Grundrechte dürfen nur in einer Ab-
zu dieser Frage eine Enquetekommission                Roman Huber                                                                      tion_gezielt_weiterentwickeln_Burgerrechte_         wägung von Gütern eingeschränkt wer-                 Roman Huber
                                                                                                                                       wahren
oder einen Untersuchungsausschuss ein-                Geschäftsführender Bundesvor-                                                    2 Beschluss vom 10. April 2020 - 1 BvQ 28/20 (in    den. Auch das Bundesverfassungsgericht               Geschäftsführender Bundesvor-
setzen.                                               stand von Mehr Demokratie.                                                       diesem Fall in die Ausübung der Glaubensfreiheit)   mahnte an, dass es bei den überaus                   stand von Mehr Demokratie.

6                                                                                          www.mehr-demokratie.de | Nr. 124 | 3/2020                                                                                                                                            7
Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
CORONA UND DIE DEMOKRATIE                                                                                                                                                                                                              CORONA UND DIE DEMOKRATIE

                                                                                                                                       Mehr Demokratie Bayern organisierte in Dinkelsbühl und München Versammlungen, bei denen für die Demokratie
                                                                                                                                       gesungen und gelesen wurde.

PAUSCHALES VERSAMMLUNGS-                                                                                                               den können, ohne den Maßnahmen wie Einhaltung eines Min-
                                                                                                                                       destabstands entgegenzulaufen. Uns war klar, dass ein pauscha-
                                                                                                                                       les Verbot von Versammlungen nicht sein kann!
                                                                                                                                                                                                         Redebeiträgen – mit Gesang und Musik an die Lebensfreude
                                                                                                                                                                                                         appelliert, um so die Mitbestimmung und Selbstverantwortung
                                                                                                                                                                                                         der Bürgerinnen und Bürger auch während der Corona-Krise zu

VERBOT IST NICHT MIT DEM                                                                                                                   Und so wollten wir es wissen und haben zusammen mit dem
                                                                                                                                       Omnibus für direkte Demokratie und dem ÖDP-Stadtverband
                                                                                                                                                                                                         stärken und somit eine gesellschaftliche Diskussion zu ermögli-
                                                                                                                                                                                                         chen. Um zu zeigen, dass Demokratie eine freudvolle Angele-

GRUNDGESETZ VEREINBAR                                                                                                                  München für den 17. April eine Versammlung auf dem Münch-
                                                                                                                                       ner Marienplatz angemeldet. Für zwölf Personen und mit der
                                                                                                                                       Versicherung, dass wir den Mindestabstand von 1,5 Metern ein-
                                                                                                                                                                                                         genheit ist, sorgten „Hygiene-Clowns“, ausgestattet mit Meter-
                                                                                                                                                                                                         stäben auf humorvolle Art für die Einhaltung der Abstände.
                                                                                                                                                                                                         Ähnlich eine weitere Woche später in Crailsheim.
VON SUSANNE SOCHER                                                                                                                     halten werden. Wir wollten aus dem Grundgesetz vorlesen, um           So wollten wir zeigen, dass in der pluralistischen Demokratie
                                                                                                                                       so ein Zeichen für unsere Grundrecht und die Versammlungs-        Meinungsvielfalt wichtig ist, um die offene Gesellschaft zu ge-
                                                                                                                                       freiheit zu setzen. Die Versammlung wurde jedoch von der zu-      währleisten. In der Vergangenheit haben wir immer wieder erfah-
                                                                                                                                       ständigen Behörde in München verboten. Nach einem nerven-         ren, wie durch den Austausch der Menschen Lösungen entstan-
                                                                                                                                       aufreibendem Hin und Her und dem Gang durch die Instanzen,        den sind, die im Vorfeld noch nicht denkbar waren. Wir sind
Sich im öffentlichen Raum zu versammeln und seinem Anliegen          fentliche Diskussion auf stumm gestellt. Vermutlich waren diese   entschied letztlich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zu      überzeugt, dass die Menschen grundsätzlich vernünftig und rück-
Gehör und Ausdruck zu verleihen ist ein elementarer                  drastischen Maßnahmen in der ersten unübersichtlichen Phase       unseren Gunsten: Ein pauschales Versammlungsverbot ist mit        sichtsvoll sind. Für den weiteren Umgang und die Bewältigung
Bestandteil der Demokratie und im Grundgesetz in Artikel 8           der Pandemie gerechtfertigt, doch darum soll es in diesem         unserer Verfassung nicht vereinbar! Was für eine Erleichterung!   der Krise ist uns ist wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger in
gewährleistet. Versammlungen und Zusammenkünfte zu                   Beitrag nicht gehen. Und selbstverständlich wurden sehr schnell       Der Beschluss des Gerichts stellte sicher, dass Initiativen   die Diskussion miteinbezogen werden. Denn wer beteiligt ist,
organisieren, gehört letztlich zum Kerngeschäft der Zivilgesell-     andere Formen des Austauschs und der Diskussion gefunden,         wieder die Möglichkeit haben müssen, sich in kleinem Rahmen,      fühlt sich mitverantwortlich. Es geht nicht darum den Kopf in den
schaft und politisch aktiver Gruppen. So denken wir bei Ver-         aber eben online und nicht mehr für alle sichtbar. Nur wer        mit Mindestabstand im öffentlichen Raum zu versammeln, um         Sand zu stecken und zu warten bis man sich als Souverän wieder
sammlungsfreiheit sogleich an die großen Demonstrationen aus         wusste, wann sich wo wer austauscht und die entsprechenden        ihr Anliegen sichtbar zu machen. Und auch, dass Versammlun-       regen darf. Ganz im Gegenteil ist es auch Aufgabe der Bürgerin-
den vergangenen Jahren, dazu gehören aber zweifelsohne auch          Zugangsdaten hatte, konnte sich an der Diskussion beteiligen.     gen nicht pauschal abgelehnt werden dürfen. Es muss immer der     nen und Bürger, die öffentliche Diskussion zu führen, zu hinter-
die kleinen öffentlichen Treffen, beispielsweise von Initiativen     Öffentlich wahrgenommen wurde diese Zusammenkünfte eher           konkrete Einzelfall berücksichtigt werden. Verwaltungen müs-      fragen und zum Finden von Lösungen beizutragen. Das hält die
vor Ort, die ein politisches Anliegen haben und auf ihre             nicht und sich wirklich begegnen funktioniert im virtuellen       sen also auch zu Corona-Zeiten Wege und Mittel finden, Ver-       Demokratie auch in schwierigen Zeiten lebendig. /
Meinung aufmerksam machen wollen.                                    Raum auch nur bedingt.                                            sammlungen zu ermöglichen.
    Durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung                   Schnell stellten wir uns die Frage, ob diese Maßnahmen ver-       Auf dem Münchner Marienplatz entstanden dann schöne
des Corona-Virus wurden nicht nur Schulen und Geschäfte ge-          hältnismäßig und zum Anderen auch zweckdienlich sind. Spä-        Bilder, von Menschen, die ruhig auf dem Boden sitzen und aus
                                                                                                                                                                                                                                   Susanne Socher
schlossen, sondern auch Versammlungen jeglicher Art verboten.        testens als die ersten Geschäfte wieder öffnen durften und dar-   dem Grundgesetz vorlesen. Eine Rose als Symbol für die Demo-                                Landesgeschäftsführung Bayern und
Ein tiefer Eingriff in die Grundrechte, da dadurch keine Mög-        über diskutiert wurde, wie das mit den sogenannten                kratie lag dabei. Nun war der Einfallsreichtum und die Kreati-                              Mitglied im Bundesvorstand.
lichkeit mehr verblieb, die eigene Meinung öffentlich kundzu-        Schutzmaßnahmen zu vereinbaren ist, fingen auch wir an zu         vität neu entfacht. Ein Woche später gab es eine Lesung aus dem
tun. Es fühlte sich an, als wäre die Zivilgesellschaft und die öf-   überlegen, wie Versammlungen im öffentlichen Raum stattfin-       Grundgesetz in Nürnberg. In Dinkelsbühl wurde – neben

8                                                                                       www.mehr-demokratie.de | Nr. 124 | 3/2020                                                                                                                                       9
Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
CORONA UND DIE DEMOKRATIE                                                                                                                                                                                                             CORONA UND DIE DEMOKRATIE

CORONA-KRISE: ZEITENWENDE
DER PARLAMENTARISCHEN
DEMOKRATIE?
VON PROF. DR. ARNE PAUTSCH

Unter anderem in ihrem Podcast zum 71. Jahrestag der Verkün-      bei der Corona-Krisenbewältigung etwa in Niedersachsen die          Parlamenten – getroffen werden. Ein dauerhafter Rückgriff auf     wie hier nach § 32 Infektionsschutzgesetz die Landesregierungen
dung des Grundgesetzes am 23. Mai hat Bundeskanzlerin An-         Oppositionsfraktionen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen             das Instrument der Rechtsverordnung (Art. 80 GG) verbietet        zum Verordnungserlass ermächtigt sind, sind die Länder zu einer
gela Merkel erklärt, dass sie die im Zusammenhang mit der         angekündigt haben, gemeinsam den Niedersächsischen                  sich also auch bei der Corona-Bekämpfung.                         Regelung auch durch Gesetz befugt. Parlamentarische Gesetzge-
Corona-Krise ergriffenen Maßnahmen – insbesondere die mas-        Staatsgerichtshof als Landesverfassungsgericht anzurufen.               Hier kommen wieder die Grundrechtseinschränkungen ins         bung in Corona-Zeiten ist also alles andere als ausgeschlossen,
siven und hinsichtlich Zahl und Intensität bislang einmaligen         Wie aber kann unter den Bedingungen der Corona-Pandemie         Spiel: Denn die zur Infektionsabwehr auf der Grundlage von § 32   eine Umgehung der Landesparlamente vermeidbar – wenn man
Grundrechtseinschränkungen – für eine „Zumutung für die           auf die Infektionsgefahren reagiert werden, ohne maßgebliche        des Infektionsschutzgesetzes (des Bundes) erlassenen „Corona-     es denn nur wollte. Das Argument, auf diese Weise sei eine effek-
Demokratie“ halte. Was hat es damit auf sich? In der Tat ist zu   Grundprinzipien des Verfassungsrechts auszublenden? Und: Wie        Verordnungen“ der Länder stehen im verfassungsrechtlichen         tive Infektionsabwehr nicht zu leisten, vermag nicht zu überzeu-
konstatieren, dass die zur Bewältigung des Covid-19-Virus er-     lange darf eine solche grundrechtseinschränkende Rechtsetzung       Konflikt mit der sog. Wesentlichkeitstheorie. Diese besagt nach   gen: Gerade der Bund hat gleich zu Beginn der Krise selbst unter
griffenen Maßnahmen in der Bundesrepublik eine Herausforde-       allein durch den Verordnungsgeber erfolgen?                         gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass    Beweis gestellt, dass Krisengesetzgebung durch das Parlament
rung für den demokratischen Verfassungsstaat des Grundgeset-                                                                          das Parlament die für die Grundrechtsausübung wesentlichen        möglich ist. So wurde das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung
zes darstellen, die ohne Vorbild ist.                                                                                                 Entscheidungen – und nicht die Exekutive mittels Rechtsverord-    bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, das be-
                                                                    Die Notstandslagen des Grundgesetzes
    Denn auch wenn nach einer geläufigen Redensart in                                                                                 nung – zu treffen hat. Mögen hierfür auch noch so gewichtige      kanntlich auch zu einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes
Krisenzeiten die „Stunde der Exekutive“ schlägt, darf nicht          sind nicht ausgelöst. Das heißt jedoch,                          Gründe wie das hohe Verfassungsgut des Lebens- und Gesund-        geführt hat, unter dem 24. März 2020 als Entwurf der Regie-
übersehen werden, dass mit der Corona-Verordnungsgebung                  dass ein verfassungsrechtliches                              heitsschutzes der Bevölkerung und die hierzu erforderliche Auf-   rungsfraktionen in den Bundestag eingebracht, am Folgetag in
zentrale Grundpfeiler des Verfassungsrechts in Gefahr                   Krisenrechtsregime gerade nicht                               rechterhaltung des Gesundheitssystems streiten. Denn auf der      allen drei Lesungen behandelt und vom Bundestag beschlossen,
sind. Denn in der Krisenbewältigung sind die Parlamente                                                                               anderen Seite stehen widerstreitende Grundrechte wie z.B. die     bevor am 27. März 2020 die Zustimmung des Bundesrates und
                                                                       eingreift und daher die Funktions­
massiv zurückgedrängt. Stattdessen vollzieht sich ein                                                                                 lange Zeit vollkommen dispensierte und noch immer erheblich       die Veröffentlichung erfolgt sind.
nahezu vollumfänglicher Rückgriff auf das exekutive                 fähigkeit der Verfassungsorgane [...] bei                         eingeschränkte Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG, der das            Damit sollte verdeutlicht sein, dass die Corona-Krise nicht
Rechtsetzungsinstrument der Rechtsverordnung. Die im                  der Corona-Bekämpfung vollständig                               Bundesverfassungsgericht als elementarem politisch-demo-          zu einer „Zeitenwende der parlamentarischen Demokratie“
Zusammenhang mit der Corona-Pandemie geübte Staatspraxis                 aufrechterhalten bleiben muss.                               kratischen Grundrecht eine für die freiheitlich-demokratische     führen darf. Die Gewährleistung der Freiheitsgrundrechte des
besteht darin, die zu Recht beklagten Grundrechtseingriffe                                                                            Staatsordnung konstituierende Bedeutung zugemessen hat. Sie       Grundgesetzes und die Demokratie insgesamt bedürfen auch in
allein auf die Corona-Verordnungen der Länder zu stützen.                                                                             – die Versammlungsfreiheit – gewährleiste, so das Bundesver-      Krisenzeiten einer Vergewisserung über ihre Grundfesten. Oder
Die sind aber – anders als verfassungsrechtlich geboten – nicht   Zu berücksichtigen ist – und dies ist eine maßgebliche Erkenntnis   fassungsgericht etwa in der Brokdorf-Entscheidung (1985), „ein    anders gewendet: Keine Krisenbewältigung ohne die Parlamente! /
das Ergebnis eines parlamentarischen Willensbildungs- oder        –, dass die Bewältigung der Corona-Pandemie keinen wie auch         Stück ursprünglicher ungebändigter unmittelbarer Demokratie“.
Abwägungsprozesses, sondern stellen sich augenblicklich           immer gearteten Notstand oder gar „Ausnahmezustand“ im              Dies sei ausdrücklich in Erinnerung gerufen. Weitere maßgeb-
als die exek utive Umsetz ung der Ergebnisse von                  (verfassungs-)rechtlichen Sinne darstellt. Die Notstandslagen       liche Freiheitsgrundrechte, die durch die Corona-Verordnungen
Videoschaltkonferenzen zwischen Bundeskanzlerin und               des Grundgesetzes sind nicht ausgelöst. Das heißt jedoch, dass      massiv eingeschränkt wurden und werden, ließen sich aufzählen.
Ministerpräsidenten durch die Landesregierungen dar. Gleich       ein verfassungsrechtliches Krisenrechtsregime gerade nicht              Gibt es also keinen Ausweg? Doch! Ein Blick in die maßgeb-                              Prof. Dr Arne Pautsch
                                                                                                                                                                                                                                  Professor für Öffentliches Recht und
einer „Kettenverordnungsgebung“ werden auf diese Weise zum        eingreift und daher die Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane    liche Vorschrift des Art. 80 Abs. 4 GG zeigt einen Weg auf, der
                                                                                                                                                                                                                                  Kommunalwissenschaften an der
Teil innerhalb kürzester Frist maßgebliche Lebensbereiche         auch unter dem Aspekt der Geltung des Gewaltenteilungsprinzips      recht naheliegend ist, um die Umgehung der Parlamente zu ver-
                                                                                                                                                                                                                                  Hochschule Ludwigsburg, Leiter d.
der Ausgestaltung durch den parlamentarischen Gesetzgeber         bei der Corona-Bekämpfung vollständig aufrechterhalten              meiden, ohne dabei die erforderliche staatliche Handlungsfähig-                             Instituts für Bürgerbeteiligung und
entzogen. In diesem Zusammenhang ist es nur folgerichtig,         bleiben muss. Die Folge daraus lautet aber eindeutig: Wesentliche   keit bei der Krisenbewältigung zu verlieren: das verordnungser-                             Direkte Demokratie und Sprecher des
dass wegen der weitgehenden Ausblendung des Parlaments            Entscheidungen müssen von der Legislative – d.h. den                setzende Landesgesetz. Danach gilt: Soweit durch Bundesgesetz                               Kuratoriums von Mehr Demokratie.

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Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
EUROPA & INTERNATIONAL                                                                                                                                                                                                                   CORONA UND DIE DEMOKRATIE

                                                                                                                                     Volksabstimmung) hier in Deutschland haben, würden wir uns            ve und Volksabstimmung anzupassen und zu ändern. Die Ein-
                                                                                                                                     nicht so „ohnmächtig“ und „ausgeliefert“ fühlen. Natürlich            führung der bundesweiten Volksabstimmung steht in
                                                                                                                                     übernimmt im Katastrophenfall erstmal die Regierung die Ent-          Deutschland heute dringender denn je auf der Tagesordnung. /

SCHWEIZ: MEHRHEIT STIMMT 2013                                                                                                        scheidung. So steht es auch im Schweizer Epidemiengesetz. Das
                                                                                                                                     EpG sieht 3 Stufen in der Krise vor (u.a. die besondere Lage, die

FÜR DAS EPIDEMIENGESETZ (EPG)                                                                                                        aussergewöhnliche Lage) mit entsprechenden Maßnahmen. In
                                                                                                                                     der Schweiz sprach der Bundesrat am 16. März 2020 ähnlich
                                                                                                                                     wie die Regierung in Deutschland in einer Pressekonferenz die
                                                                                                                                                                                                                    WEITERE INFORMATIONEN
                                                                                                                                     «ausserordentliche Lage» aus. Um Mitternacht wurden sämtli-
Das EpG wird jetzt während der COVID-19-Pandemie zum ersten Mal angewendet.                                                          che nicht zur Grundversorgung beitragende Geschäfte ge-                        Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragba-
                                                                                                                                     schlossen, ebenso Restaurants, Kinos, Theater oder Schwimm-                    rer Krankheiten des Menschen:
                                                                                                                                     bäder. Lebensmittelläden, Apotheken, Drogerien, Tankstellen,
VON BRIGITTE KRENKERS
                                                                                                                                     Tierverpflegungsgeschäfte und die Post blieben geöffnet, um                    https://www.admin.ch/opc/
                                                                                                                                     die Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.                          de/classified-compilati-
                                                                                                                                                                                                                    on/20071012/index.html
                                                                                                                                         Es ist aber ein großer Unterschied, ob wir das Epedimiegesetz
                                                                                                                                     selbst entschieden haben und ändern können, oder ob wir es
                                                                                                                                     einer Regierung, Landesvätern, einem Jens Spahn u.a. überlas-
                                                                                                                                     sen müssen. Gerade die massiven Einschränkungen der Grund-
                                                                                                                                     rechte brauchen die Zustimmung der Bevölkerung. Das geht                       Referendum gegen das
                                                                                                                                     nicht nur nach Umfragen und Stimmungen, sondern so wie in                      Bundesgesetz vom 28 September 2012 über die
                                                                                                                                     der Schweiz über verbindliche demokratische Verfahren, an                      Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des
                                                                                                                                                                                                                    Menschen (Epidemiengesetz):
                                                                                                                                     denen alle beteiligt sind.
Seit 1995 bereitet sich die Schweiz systematisch auf Influenza-   zur Volksabstimmung vorgelegt. Bei einer Stimmbeteiligung              Die Direkte Demokratie ist als Basisrecht der Demokratie wie
                                                                                                                                                                                                                    https://www.human-life.ch/
Pandemien vor. Unter der Leitung der Eidgenössischen Kom-         von knapp 47 Prozent mit einem Ja-Stimmenanteil von 60 Pro-        Wahlen auch in diesen Zeiten in der Schweiz nicht ausgeschaltet.               upload/dokumente/
mission für Pandemievorbereitung und -bewältigung (EKP)           zent wurde das Bundesgesetz vom 28. September 2012 über die                                                                                       Referendum-Epidemienge-
entstand 2004 der erste schweizerische Influenza-Pandemie-        Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epide-          Schweiz: 1.6.2020:                                                             setz-EpG_Unterschriftenkar-
plan. Dieser wurde in den folgenden Jahren aktualisiert.          miengesetz, EpG) angenommen.                                       Es dürfen wieder Unterschriften gesammelt werden                               te-10er.pdf
    Im September 2012 verabschiedete die Bundesversammlung            Es ist seit 1. Januar 2016 in Kraft. Das EpG wird jetzt 2020   Nachdem der Bundesrat nun entschieden hat, den Fristen­
das Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krank-         während der COVID-19-Pandemie zum ersten Mal angewendet.           stillstand für eidgenössische Volksbegehren nicht über den
heiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG).                           Gerade jetzt in Krisenzeiten zeigt die Direkte Demokratie      31. Mai hinaus zu verlängern, hebt auch der Regierungsrat
    Die Organisation „Human Life Schweiz“ ergriff dagegen         hier ihre friedensstiftende Wirkung.                               seinen Beschluss per 1. Juni wieder auf. Gemäss Bundesrat
das fakultative Referendum und sammelte über 70.000 Unter-        Man braucht in der Schweiz keinen Widerstand2020. In der           bleibt das Sammeln von Unterschriften im öffentlichen Raum
schriften.                                                        Schweiz haben sich die Bürgerinnen und Bürger selbst diese         wegen der geltenden Verhaltens- und Hygieneregeln zwar
                                                                                                                                                                                                                                    Brigitte Krenkers
                                                                  Regeln (Epidemiengesetz (EpG)) gegeben und können diese            weiterhin schwierig, ein weiterer Aufschub des Initiativ- und
                                                                                                                                                                                                                                    Mitglied bei Mehr Demokratie und
Volksabstimmung am 22.9.2013                                      jetzt nach den Erfahrungen mit dieser Pandemie über den Weg        Referendumsrechts sei deswegen aber nicht gerechtfertigt.                                      Initiatorin und Gesellschafterin beim
Aufgrund des zustande gekommenen fakultativen Referen-            der Volksinitiative und Volksabstimmung auch wieder anpas-              Jetzt ist der Weg frei, über eine Volksinitiative das Epidemi-                            OMNIBUS für Direkte Demokratie.
dums wurde das Gesetz der Stimmbevölkerung am 22.9.2013           sen und ändern. Würde wir dieses Recht (die bundesweite            engesetz für zukünftige Krisen über den Weg der Volksinitiati-

12                                                                                    www.mehr-demokratie.de | Nr. 124 | 3/2020                                                                                                                                             13
Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
BUNDESWEITE VOLKSENTSCHEIDE                                                                                                                                         BUNDESWEITE VOLKSENTSCHEIDE

                                                                     sanne Wiest mit ihrer Bundestagspetition für ein bedingungs-         Genau hier setzt die Kampagne Abstimmung21 an, die von
                                                                     loses Grundeinkommen für Aufsehen, die mit 176.134 Unter-            Mehr Demokratie, OMNIBUS für Direkte Demokratie, Demo-
                                                                     stützerinnen und Unterstützern nach Online-Unterschriften die        cracy International und change.org gerade vorangetrieben wird.

WIR WOLLEN                                                           größte Bundestagspetition aller Zeiten ist. Darin fordert sie,
                                                                     dass aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-
                                                                                                                                          Per selbstorganisierter bundesweiter Volksabstimmung soll
                                                                                                                                          über verschiedene Top-Themen wie beispielsweise verpflich-

ABSTIMMEN –                                                          Pandemie und der damit verbundenen Einkommensausfälle für
                                                                     viele Bürgerinnen und Bürger, kurzfristig und zeitlich begrenzt,
                                                                     aber solange wie notwendig, ein bedingungsloses Grundeinkom-
                                                                                                                                          tendes Lobbyregister, Mindestlohn, Kohleausstieg oder bedin-
                                                                                                                                          gungsloses Grundeinkommen abgestimmt werden. Und ganz
                                                                                                                                          wichtig: Auch über die Einführung der dreistufigen Volksge-

AUCH AUF                                                             men eingeführt wird. Diese und weitere Initiativen haben ein
                                                                     großes öffentliches Interesse erzeugt und könnten gut zum An-
                                                                                                                                          setzgebung auf Bundesebene! Dazu wird es am 20. September
                                                                                                                                          2020 zunächst eine Probeabstimmung per Briefwahl auf lokaler

BUNDESEBENE                                                          lass genommen werden, ganz grundsätzlich über die dauerhaf-
                                                                     te Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens eine
                                                                     bundesweite Volksabstimmung herbeizuführen. Das ist letztlich
                                                                                                                                          Ebene geben. An alle Haushalte in Hamburg-Ottensen und We-
                                                                                                                                          del werden per Post Abstimmungsunterlagen geschickt – zu-
                                                                                                                                          dem können deutschlandweit alle stimmberechtigten Menschen
                                                                     auch das übergeordnete Ziel von Susanne Wiest und vielen Mit-        teilnehmen, die die Abstimmungsunterlagen über die Webseite
VON CHARLIE RUTZ                                                     streiterinnen und Mitstreitern.                                      abstimmung21.de bestellen. Diese erste Stufe dient als Stim-
                                                                         Auf Länderebene wird die dreistufige Volksgesetzgebung aus       mungstest. Im Anschluss daran findet vom 1. Oktober 2020 –
                                                                     Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid bereits seit       31. März 2021 ein Abstimmungsverfahren statt, um festzule-
Derzeit ist der von Mehr Demokratie angestoßene Bürgerrat in         Jahrzehnten erfolgreich praktiziert. Erinnern wir uns nur an die     gen, über welche zehn Themen die Bevölkerung parallel zur
aller Munde. Das ist auch gut so! Ist es doch ein weiteres Instru-   Einführung eines Transparenzgesetzes in Hamburg, das Votum           Bundestagswahl 2021 per bundesweiter Volksabstimmung ent-
ment der Bürgerbeteiligung, das, wenn es richtig umgesetzt           gegen Massentierhaltung in Brandenburg oder das erfolgreiche         scheiden kann. Dabei sind alle Fragestellungen zugelassen, mit
wird, eine ganz neue Form des politischen Diskurses ermög-           Volksbegehren Artenvielfalt in Bayern, das im letzten Jahr von       denen sich auch der Bundestag befassen kann. Themen und In-
licht. Nichtsdestotrotz brauchen wir auch ein Verfahren, das         mehr als 1,7 Millionen Menschen unterstützt wurde und dazu           itiativen, die Grund- oder Minderheitenrechte einschränken
jeder Bürgerin und jedem Bürger ermöglicht, durch eigene Ini-        führte, dass der Bayerische Landtag darauf basierend ein neu-        wollen, sind dagegen ausgeschlossen.
tiative ein Thema auf die politische Tagesordnung zu setzen,         es und besseres Naturschutzgesetz beschloss. Wichtig dabei zu             Warum das Ganze? Weil Politik und Öffentlichkeit vor Au-
über das die Bevölkerung direktdemokratisch und verbindlich          wissen: Die dreistufige Volksgesetzgebung sieht keine Schnell-       gen geführt werden soll, welche gesellschaftspolitischen Ideen
abstimmen kann. Seit mehr als 30 Jahren setzen sich deshalb          schüsse vor! Sie beinhaltet monatelange Debatten und es dauert       und Themen der Bevölkerung auf dem Herzen liegen und wie
Mehr Demokratie und der OMNIBUS für Direkte Demokratie               in der Regel ein bis zwei Jahre, bis es zu einer Entscheidung        eine bundesweite Volksabstimmung ganz praktisch ablaufen
für die Einführung der bundesweiten Volksabstimmung ein.             kommt. In dieser Zeit haben alle Seiten die Gelegenheit, im öf-      würde. Es ist zugleich ein wichtiger Lern- und Erfahrungspro-
Seitdem hat sich zwar auf Landes- und Kommunalebene hin-             fentlichen Diskurs ihre Argumente miteinander auszutauschen.         zess für alle Beteiligten. Learning by doing! Dahinter steht also
sichtlich der Etablierung und des Ausbaus direktdemokrati-           Das versetzt die Bevölkerung in die Lage, sich intensiv mit ei-      ein ernst gemeinter und konstruktiver Prozess, der uns dem
scher Verfahren sehr viel getan, jedoch fehlt weiterhin das Initi-   nem Thema auseinanderzusetzen. Darüber hinaus erhält jeder           Ziel einer rechtlich verbrieften bundesweiten Volksabstimmung
ativrecht auf der Bundesebene.                                       Haushalt vor dem Gang zur Urne eine Abstimmungsbroschüre             näherbringen und das Bewusstsein für diese Art der Entschei-
     Die Gründe dafür sind vielschichtig. Dabei gab es bereits       mit der Gegenüberstellung von Pro- und Contra-Argumenten,            dungsfindung stärken soll. Denn sind wir nicht alle gemeinsam
1990 mit dem „Zentralen Runden Tisch“ die große Chance,              um sich eine fundierte Meinung bilden zu können.                     verantwortlich für die Gesetze und Regeln, unter denen wir leben
dieses verbindliche Instrument einzuführen. Die Vertreterinnen           Vergessen wir auch eines nicht: Allein die Existenz eines ver-   wollen? Berufen können wir uns auf Artikel 20 (2) des Grundge-
und Vertreter aller Parteien – selbst der CDU – waren damals         bindlichen direktdemokratischen Verfahrens wie die bundeswei-        setzes, in dem es heißt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
dafür (siehe Artikel im letzten mdmagazin). Immer wieder             te Volksabstimmung kann dazu führen, dass die Abgeordneten           Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch
bestätigen repräsentative Umfragen, dass mehr als zwei Drittel       im Deutschen Bundestag bedächtiger in ihrer Entscheidungs-           besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt
der Bevölkerung bundesweit über richtungsweisende politische         findung vorgehen. Denn im Hinterkopf haben sie stets, dass die       und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Ergo: Wir als Gemeinschaft
Themen abstimmen wollen. Auch die Empfehlungen des                   Bürgerinnen und Bürger jederzeit selbst die Initiative ergreifen     sollten auf Bundesebene wichtige Grundsatzentscheidungen zu
Bürgerrats Demokratie im vergangenen Jahr waren eindeutig:           und aus ihrer Sicht falsche politische Beschlüsse korrigieren        allen politischen Themen treffen können, um damit auch direkt
94 Prozent der Teilnehmenden (148 von 157) befürworteten,            können. Auch Lobbyisten hätten es schwieriger: Schließlich ist       Verantwortung zu übernehmen! /
dass eine bundesweite Volksabstimmung per Initiative aus der         es viel leichter, Einfluss auf ein paar hundert Abgeordnete oder
Bevölkerung eingeleitet werden kann. Den Menschen reicht es          Regierungsvertreterinnen und -vertreter zu nehmen, als auf die
eben nicht, alle paar Jahre bei Wahlen ihr Kreuz zu machen.          gesamte Bevölkerung. Der parteilose Bundestagsabgeordnete
Oder an unverbindlichen Beteiligungsverfahren teilzunehmen,          Marco Bülow hatte zuletzt auf der von Mehr Demokratie orga-
bei denen nie garantiert ist, dass die dort erzielten Ergebnisse     nisierten Online-Konferenz „Demokratie der Zukunft“ zu Recht
                                                                                                                                                                    Charlie Rutz
auch zur konkreten politischen Umsetzung kommen. Echte               darauf hingewiesen, dass wir in einer Lobby-Republik leben,
                                                                                                                                                                    Vorstandsmitglied von Mehr
Mitbestimmung ist nur auf Augenhöhe mit der Politik möglich          in der Konzernlobbyisten nicht nur Einfluss auf die Gesetzge-                                  Demokratie Berlin/Brandenburg
– das zeigt die Erfahrung!                                           bung nehmen, sondern auch direkt daran mitschreiben. Seine                                     und Referent für Kampagnen- und
     Und politische Themen gibt es ja genug, die die Menschen        Konklusion: „Wir brauchen mehr direkte Mitbestimmung der                                       Öffentlichkeitsarbeit beim
bewegen. Ganz aktuell sorgte beispielsweise die Aktivistin Su-       Bevölkerung!“                                                                                  OMNIBUS.

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Corona und die Demokratie - S. 4 Ein Rückblick auf unsere Zukunfts-Konferenz
BUNDESWEITE VOLKSENTSCHEIDE                                                                                                                                                                                                                          BÜRGERRÄTE

ABSTIMMUNG 21                                                                                                                        VIELE FRAGEN ZU
ABSTIMMUNG21 läuft auf Hochtouren und
                                                                                                                                     BÜRGERRÄTEN
wächst. Wenn Sie diesen Artikel lesen, haben
wir es hoffentlich geschafft, dass mindestens                                                                                        Seit dem 1. April läuft eine wöchentliche Webinar-
100.000 Menschen bundesweit an der Probeab-                                                                                          Reihe zu zufällig ausgelosten Bürgerräten. Eine
stimmung am 20.09.2020 teilnehmen. Jetzt gilt                                                                                        erste Zwischenbilanz.
es noch uns lokal zu stärken.
                                                                                                                                     VON THORSTEN STERK
VON DANIEL SCHILY UND OLAF SEELING

                                                                                                                                     „In dieser Zuhause-bleiben-Zeit lerne ich eine Menge über       in der ganzen Republik die Teilnahme zu ermöglichen. Da man
In 3 Schritten zur Abstimmung 2021                                  Bündnispartner kommen. Aus diesem Grund sind die                 Bürgerräte.“ Das schrieb Susanne Kahlefeld auf Facebook,        zum Mitmachen nichts tun muss, außer seinen Computer hoch-
Zur Bundestagswahl 2021 wollen wir per Brief zehn Themen zur        Abstimmungskreise in Ottensen und Wedel als Gegen­               nachdem Sie bereits mehrfach bei unseren neuen Bürgerrat-       zufahren oder die Smartphone-Apps von YouTube oder Zoom
bundesweiten Volksabstimmung stellen. (1) Eine Generalprobe         gewicht umso wichtiger, da hier alle Haushalte die Abstim­       Webinaren dabei war.                                            zu öffnen, ist die Beteiligungshürde auch niedrig.
für dieses bundesweit erstmalige und große Vorhaben findet am       mungsunterlagen bekommen.                                            Kahlefeld sitzt für die Grünen im Berliner Abgeordneten-        Besonders begeistert waren Webinar-Teilnehmende von den
20.09.2020 in Form einer Probeabstimmung mit Top-Themen                                                                              haus. Sie nutzte wie andere Menschen auch die Möglichkeit,      Berichten von Vertreterinnen und Vertretern von Bürgerinitiati-
statt. (2) In den sechs Monaten nach der Probeabstimmung            Fokus Ottensen und Wedel                                         trotz Corona-Virus über das Internet mit anderen Menschen in    ven, die die Initiierung von Bürgerräten selbst in die Hand ge-
(10.2020 – 03.2021) werden zehn Themen für die selbst­              Für die bundesweite Teilnahme haben wir bereits mobilisiert.     Kontakt zu bleiben und per Videokonferenz dabei auch noch       nommen hatten. Uta Claus, Katharina Hübl und Johanna Weber
organisierte Volksabstimmung zur Bundestagswahl 2021                Jetzt gilt es möglichst viele Menschen in Ottensen und Wedel     etwas zu lernen. Während Abgeordnete sonst immer viele          vom Verein „Nur Mut“ berichteten so, wie sie Bezirksbürger-
festgelegt. Dazu sollen unterschiedlichste Initiativgruppen         zu erreichen, damit wir eine hohe Teilnahme an der Probeab-      Termine haben, hatte die Grünen-Politikerin im Frühling viel    meisterin des Berliner Stadtbezirks Tempelhof-Schöneberg für
konkrete Gesetzentwürfe oder politische Vorschläge ausarbeiten.     stimmung erreichen. Jetzt kommen Sie als Leserin und Leser       Zeit für diese Art von Fortbildung. Ebenso wie viele andere     einen Bürgerrat begeistert hatten, zu dem die Bezirksverwaltung
In unserem Webportal sammeln die Initiativen für ihr Thema          ins Spiel, denn wir brauchen Ihre Mithilfe.                      Menschen, die abends nicht mehr ins Kino oder in ein Theater    dann einlud. Katharina Liesenberg vom Verein „Mehr als wäh-
Unterstützung. (3) Die zehn Themen mit den meisten Stimmen                                                                           oder Restaurant gehen konnten.                                  len“ erklärte, wie der „Demokratiekonvent“ genannte Bürgerrat
werden dann von uns parallel zur Bundestagswahl 2021                Aktiv werden                                                                                                                     zum Thema Bürgerbeteiligung in Frankfurt/Main zustande kam
bundesweit per Brief zur Abstimmung gestellt.                       Für den Aktionszeitraum vor Ort: 15.08. – 20.09.2020 benötigen   Webinare wöchentlich                                            und durchgeführt wurde. Zugezogene Studentinnen und Studen-
                                                                    wir mindestens 100 Unterstützerinnen und Unterstützer. Dazu      Seit dem 1. April haben wir im wöchentlichen Rhythmus jeden     ten hatten die Initiative hierzu ergriffen.
Probeabstimmung am 20.09.2020                                       sind alle Kreative, Aktive und Querdenkende herzlich eingela-    Mittwochabend ein Webinar angeboten. Das Thema war jedes-           Solche Demokratie-Erzählungen haben Folgen. Zunehmend
Die Probeabstimmung (per Brief) findet in drei Ab­stim­­­­m­ungs­   den, den August und September zu einem Abstimmungsfestival       mal ein neues. Es ging dabei u.a. um Bürgerbeteiligung in den   werden wir von Teilnehmerinnen und Teilnehmern gefragt, wie
kreisen statt:                                                      zu machen. Anmelden für den Aktionszeitraum unter Telefon:       Zeiten von Corona, um den Stand der Dinge beim Bürgerrat        man selber vor Ort Bürgerräte initiieren kann. Unter den An-
1. Städtisch: Alle Haushalte in Hamburg-Ottensen                    040- 317 691 08 oder per E-Mail: aktive@abstimmung21.de          Demokratie, darum, wie ein Bürgerrat funktioniert, um den       fragenden fand sich z.B. eine Bürgermeisterin und eine lokale
2. Ländlich: Alle Haushalte in Wedel (Schleswig-Holstein)               In den Wochen vor der Abstimmung wollen wir in Hamburg-      Klima-Bürgerrat in Frankreich und um Beispiele lokaler Los-     Gruppe von „Fridays for Future“. Allen konnten wir mit Hin-
3. Bundesweit: Alle interessierten Pioniere                         Ottensen und Wedel so viele Menschen wie möglich informieren.    versammlungen in Deutschland, Belgien und Österreich.           weisen und Tipps weiterhelfen.
                                                                    Wer mit uns dafür brennt: Herzlich willkommen! /                 Der Ablauf ist immer gleich. Expertinnen und Experten geben
Zweck der Probeabstimmung                                                                                                            zu Beginn einen Einblick in das jeweilige Thema. Danach         Webinar-Fortsetzung geplant
Der Zweck der Generalprobe ist:                                                                                                      besteht die Möglichkeit zu Fragen und Diskussion. Teilnehmen    Die Webinar-Reihe lief bis Ende Juni. Da einem beim Thema
1. Auftrieb für den zweiten Schritt zur Bundestagswahl 2021                                  Daniel Schily                           kann man entweder über den Videokonferenz-Anbieter Zoom         Bürgerrat die Unterthemen so schnell aber nicht ausgehen, ist
    zu bekommen                                                                              Mitgründer von Mehr Demokratie und      oder über YouTube, wo die Webinare live gestreamt werden.       eine Fortsetzung des Angebots geplant. /
2. Reichlich Erfahrung zu sammeln                                                            Vorstandsmitglied bei Democracy
                                                                                             International.
3. Brennende Abstimmungsthemen noch weiter zu verbreiten                                                                             Großes Interesse
    und in den Fokus der gesetzgebenden Politik zu bringen                                                                           Das Interesse war bisher immer sehr groß. Manchmal konnten
                                                                                             Olaf Seeling                                                                                                                     Thorsten Sterk
                                                                                                                                     wir uns vor Fragen kaum retten. Das beweist aber nur, dass
                                                                                             Mitglied bei Mehr Demokratie und                                                                                                 Campaigner beim Bürgerrat
Ein Stück repräsentativ                                                                      Initiator der Initiative zur            unser Angebot auf ein entsprechendes Informationsbedürfnis                               Demokratie.
Uns ist bewusst, dass die bundesweit Teilnehmenden nicht                                     Bundesweiten Briefabstimmung.           trifft. Und es ist schön, anders als bei Vorträgen nicht nur
repräsentativ sind, da sie aus dem Kreis der Themen- und                                                                             Menschen an einem Ort erreichen zu können, sondern Menschen

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BÜRGERRÄTE                                                                                                                                                                                                                                              BÜRGERRÄTE
                                                                                                                                                                                                                                        BUNDESWEITE VOLKSENTSCHEIDE

KOMBINATION VON LOSBASIER-                                                                                                                eingereicht werden (siehe Fact Sheet Bürgerrats-Initiative).
                                                                                                                                          Bei Nicht-Übernahme der Ergebnisse der Bürgerrats-Initia-
                                                                                                                                          tive durch den Bundestag haben die Initiierenden das Recht,

TEN BÜRGERRÄTEN UND DIREK-                                                                                                                ein Volksbegehren (1 Mio. Unterschriften) zu starten, um
                                                                                                                                          eine Volksabstimmung über die Empfehlungen des Bürger-

TER DEMOKRATIE AUF BUNDES-                                                                                                                rates herbeizuführen.

                                                                                                                                       3.2. Nach dem Volksbegehren

EBENE                                                                                                                                  Losbasierte Bürgerräte könnten auch erst nach einem Volksbe-
                                                                                                                                       gehren angesetzt werden. Nach einem erfolgreichen Volksbe-             beschäftigen sich vier Tage lang mit den Inhalten des Volks-
                                                                                                                                       gehren kann der Bundestag entscheiden, den Vorschlag des               begehrens und formulieren dann auf einer DIN A4-Seite In-
                                                                                                                                       Volksbegehrens zu übernehmen. Findet keine Übernahme statt,            formationen sowie ihre Position dazu: das Citizen Review
                                                                                                                                       kommt es zum Volksentscheid. Zur Vorbereitung können Bür-              Statement.
                                                                   mit einzubeziehen. Die Entscheidung verbleibt jedoch beim           gerräte helfen:                                                    n   Inhalt des Statements: Wie wirkt sich die vorgeschlagene
                                                                   Bundestag. Werden Bürgerräte von unten initiiert, gelten be-        a) Ein Alternativvorschlag wird durch einen Bürgerrat erarbei-         Maßnahme aus? Wie viele Teilnehmer sind dafür und warum
                                                                   stimmte Anforderungen:                                                  tet: Nach einem Volksbegehren haben idealerweise Bundes-           sind sie dafür? Wie viele sind dagegen und warum? Die
                                                                   n Der Inhalt liegt im Rahmen der Zuständigkeit des deutschen            tag und Bundesrat die Möglichkeit, einen Alternativvor-            wichtigsten Pro- und Kontra-Argumente werden notiert.
                                                                      Bundestages.                                                         schlag parallel zum Vorschlag des Volks­          begehrens    n   Diese Stellungnahme wird zusätzlich in der Ab­         stim­
                                                                   n Die Unterschriften werden mit einer Fragestellung (zu einem           Diskussionspapier Bundesvorstand 2 von 2 28.02.2020 zur            mungsbroschüre abgedruckt und verbreitet.  1

                                                                      ab­grenzbaren Thema) und Begründung beim Bundes­                     Abstimmung zu stellen. Dies erhöht die Wahlmöglichkeiten       4. Kombinationsmöglichkeiten bei fakultativen
                                                                      tagspräsidium oder einer Stabsstelle für Bürger­beteiligung          für die Abstimmenden. Zur Ausarbeitung eines Alternativ-       Referenden
                                                                      eingereicht.                                                         vorschlags kann der Bundestag auch einen losbasierten          n   Mit dem fakultativen Referendum können Bürgerinnen und
                                                                   n Auf Antrag des Bundestagspräsidiums entscheidet das Bun-              Bürgerrat einberufen.                                              Bürger innerhalb von 100 Tagen einen Volksentscheid über
                                                                      desverfassungsgericht innerhalb von sechs Monaten über die       b) Eine Stellungnahme wird durch einen Bürgerrat erarbeitet:           vom Bundestag beschlossene Gesetze verlangen. Dafür muss
                                                                      Vereinbarkeit der Fragestellung mit dem GG (Normenkont-              Vor einem Volksentscheid wird optimalerweise ein Abstim-           eine bestimmte Anzahl von Unterschriften gesammelt wer-
                                                                      rolle).                                                              mungsheft mit den Argumenten der Initiative und des Bun-           den. Vorschlag: 500.000 Unterschriften.
                                                                   n Die Initiatoren haben Rederecht im federführenden Aus­schuss.         destages verschickt. Nun wird von einem losbasierten Gre-      n   Kommen 500.000 Unterschriften zusammen, kommt es zum
                                                                   n Weitere Verfahrensvorschläge siehe Fact Sheet „Institu­               mium eine weitere Stellungnahme ausgearbeitet. Ein                 Volksentscheid. Ist vorgesehen, dass das Parlament, obwohl
                                                                      tionalisierung von losbasierten Bürgerräten“.                        erprobtes und erfolgreiches Verfahren aus Oregon (USA)             das zur Abstimmung stehende Gesetz von ihm beschlossen
1. Geeignete Formen von direkter Demokratie                                                                                                könnte hierfür modifiziert übernommen werden:                      wurde, dennoch einen zweiten Entwurf mit zur Abstimmung
Auf Bundesebene sind vor allem folgende drei Formen von di-        3. Kombinationsmöglichkeiten bei                                    n Im US-Bundesstaat Oregon kommen jährlich zahlreiche                  stellen kann (der die Kritik aus der Zivilgesellschaft auf-
rekter Demokratie sinnvoll:                                        Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid                         Volksinitiativen zur Abstimmung. Manche waren kompli-               nimmt), könnte dieser Alternativentwurf von einem Bürger-
a) Bei der dreistufigen Volksgesetzgebung wird ein Volksent-       3.1. Vor dem Volksbegehren                                             ziert und Umfragen zeigten, dass zu viele Wählerinnen und           rat erarbeitet werden.
    scheid von den Bürgerinnen und Bürgern selbst per Unter-       Zwei Varianten sind denkbar, die erste wird präferiert:                Wähler nicht genau verstanden hatten, worüber sie abstimm-      n   Denkbar ist auch das unter 3.2. beschriebene Verfahren.
    schriftensammlung auf den Weg gebracht. Die drei Stufen        a) Obligatorische Bürgerräte nach der Volksinitiative: Nach je-        ten. Seit 2011 ist ein Bürgerpanel gesetzlich vorgeschrieben,
    sind: Volksinitiative (100.000 Unterschriften) – Volksbegeh-       der Volksinitiative findet automatisch ein losbasierter Bür-       das eine Stellungnahme vor dem Volks­entscheid erarbeitet.      5. Kombination nach irischem Vorbild
    ren (1 Mio. Unterschriften) – Volksentscheid.                      gerrat zu dem Thema der Volksinitiative statt.                  n 20-24 per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger – die           In Irland gibt es gute Erfahrungen damit, dass das Parlament
b) Ein Korrektur-Volksbegehren (Fakultatives Referendum/           n Der Bundestag kann dann die Ergebnisse des Bürgerrats über-          nach bestimmten Kriterien für Oregon repräsentativ sind –       losbasierte Bürgerräte zu bestimmten Fragestellungeneinsetzt
    Volkseinwand) richtet sich gegen ein vom Parlament be-            nehmen. Findet dies nicht statt,                                                                                                    (www.citizensassembly.ie). Die erarbeiteten Empfehlungen
    schlossenes Gesetz. Eine bestimmte Anzahl von Abstim-          n haben die Initiatoren das Recht, mit ihrer ursprünglichen For-                                                                       werden vom Parlament entgegengenommen, im üblichen parla-
    mungsberechtigten (500.000 Unterschriften) kann einen             derung oder mit den Ergebnissen des Bürgerrates ein Volks-                                                                          mentarischen Verfahren beraten und ggf. beschlossen. Im Fall
    Volksentscheid darüber beantragen, ob das Gesetz in Kraft         begehren zu beantragen (siehe 3.1. a)).                                                                                             von Änderungen der irischen Verfassung findet zusätzlich obli-
    treten soll.                                                   n Zusätzliche Variante: Falls die Initiatoren ein Volksbegehren                                                                        gatorisch ein Referendum statt (z.B. Ehe für Alle 2015 – Abtrei-
c) Obligatorische Referenden sind Volksentscheide zu Verfas-          mit ihrer ursprünglichen Forderung beantragen, werden die                                                                           bungsrecht 2018). Diese Regelung ist seit 1937 in der irischen
    sungsänderungen, Übertragungen von Hoheitsrechten o.ä.,           Ergebnisse des Bürgerrates nach dem erfolgreichen Volksbe-                                                                          Verfassung verankert. /
    die verpflichtend und automatisch stattfinden. Dem geht ein       gehren automatisch als Alternativvorschlag mit zur Abstim-
    entsprechender Parlamentsbeschluss voraus.                        mung gestellt.
                                                                                                                                                                                                          1 Beispiel Steueränderung in Oregon, Volksabstimmung im Jahr 2016
                                                                   b) Bürgerrats-Initiative fakultativ zur Volksinitiative: Parallel
                                                                                                                                                                                                          (Measure 97): https://healthydemocracy.org/wp-content/
2. Losbasierte Bürgerräte                                              zu einer Volksinitiative mit 100.000 Unterschriften wird ein                                                                       uploads/2016OR-M97-Statement-1.pdf

Losbasierte Bürgerräte nach irischem Vorbild zielen darauf ab,         alternativer Zugang eingeführt: Statt einer Volksinitiative
Bürgerinnen und Bürger in Gestaltungs- und Planungsprozesse            kann eine Bürgerrats-Initiative mit 100.000 Unterschriften

18                                                                                     www.mehr-demokratie.de | Nr. 124 | 3/2020                                                                                                                                              19
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