Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition - Demokratie-Dialog 6 (2020)
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Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition Florian Finkbeiner N icht erst seit der Coro- weltanschauliche Unterschiede zwischen den na-Pandemie hat man das traditionellen Bundesparteien sind schon seit Gefühl, dass die parla- Jahren kaum mehr wahrnehmbar. Ob nun Sozial- mentarische Opposition oder Christdemokraten eine Regierung stellen in Deutschland eigenartig oder ob sie gemeinsam in einer „GroKo“ zusam- zahnlos wirkt.1 Spätestens menarbeiten, spielt für einen großen Teil der im Zuge der Euro- und Bevölkerung keine besonders große Rolle mehr.2 Finanzkrise 2007 hat sich das politisch-polemische Schlagwort vom Das heißt aber natürlich nicht, dass sich die sogenannten TINA-Prinzip (There is no alterna- Parteien untereinander politisch-programma- tive) zu einer veritablen Zeitdiagnose entwickelt. tisch immer ähnlicher werden, wie man an den Der als „alternativlos“ ausgerufene Politikmodus Unterschieden etwa von der FDP zur Linkspartei fand im Umgang mit der Eurorettung nur seinen sieht. Aber im parlamentarischen System sind Höhepunkt. Die proklamierte Alternativlosigkeit konkurrierende Politikangebote entscheidend parteipolitischer Angebote zementierte sich in für das demokratische Wetteifern der Parteien der Merkel-Ära, die seither, trotz eines kurzen um die Gunst der Wähler, damit eine Regierung schwarz-gelben Intermezzos, durch Große Koa- gestellt werden kann. Nur zur Vergewisserung: litionen dominiert wird. Wirklich überzeugende Dies ist das genuine Ziel von Parteien in der 1 Vgl. exemplarisch Henkel, Angelika/Janssen, Hilke: 2 Vgl. Bertelsmann Stiftung: Schwindendes Vertrauen Würgt die Corona-Krise die Demokratie in Nieder- in Politik und Parteien. Eine Gefahr für den gesell- sachsen ab?, in: NDR, 23.10.2020, URL: https://www. schaftlichen Zusammenhalt?, Gütersloh 2019; Dorn, ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Wuergt-die-Co- Florian et al.: Demokratische Vielfalt in Deutsch- rona-Krise-die-Demokratie-in-Niedersachsen-ab,- land. Unterscheiden sich die Volksparteien noch?, corona4918.html [eingesehen am 09.02.2021]. ifo Schnelldienst, Vol. 70 (2017), Nr. 20, S. 28–37. Finkbeiner, Florian (2021): Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 5-13. 5
Demokratie-Dialog 8-2021 Demokratie. In den 1960er und 1970er Jahren war hat4 – in beiden Fällen wären die tieferliegenden dieser parteipolitische Kampf auf drei Parteien Ursachen in unserem parlamentarischen Partei- beschränkt, weshalb der FDP als Zünglein an der ensystem zu suchen. Waage so eine enorme Bedeutung zukam. Die parlamentarische und gesellschaftliche Entwick- lung wollte es, dass sich das Parteienspektrum vergrößert hat, was die Optionen für verschieden Vom Wandel der politischen Opposition abgewogene Lagerkämpfe eigentlich erhöhen müsste. Doch stattdessen beobachten wir seit Vom Lateinischen oppositio abgeleitet, meint Jahren einen verengten Möglichkeitsspielraum Opposition die politische „Entgegensetzung“ der Politik. Gleichzeitig lassen der Schock und die zur Regierungspolitik. Doch ob sich die Oppo- Verwunderung über das Aufbegehren gegen die- sitionsarbeit dabei allgemein gegen die Regie- sen Politikmodus nicht nach. Wohl vor allem, weil rung oder nur konkret gegen einzelne Praktiken dieses Aufbegehren nun nicht wie in den 1980er richten muss – ganz unabhängig von der Frage, Jahren von der linken Seite des politischen Spek- in welcher Form die Opposition dabei agie- trums in Gestalt der Grünen ausgeht, sondern ren soll –, ist nicht von vorneherein festgelegt; eben von der rechten Seite. Gerade deshalb trifft vielmehr ist dieses Verhältnis kaum abstrakt zu die Namensgebung der AfD mit ihrer Anspielung bestimmen. Denn gerade die parlamentarische auf den als „alternativlos“ verrufenen Pragma- Entwicklung in Deutschland zeigt, dass sich die tismus einen wunden Punkt. Doch allein das Auf- politische Opposition gewandelt hat. Entschei- treten der inzwischen nicht mehr ganz so neuen dend für das Agieren einer Opposition ist die Rechtsaußenpartei auf der politischen Bühne ist Beziehung von Parlament und Parteien, weil noch kein Ausdruck demokratischer Oppositi- sich im deutschen Fall hierdurch das Wech- on. Eine solche Opposition kann sich langfristig selspiel zwischen Regierung und Opposition nur parlamentarisch erweisen. Es ist zwar nicht einstellt. Wie Otto Kirchheimer darlegt, hat sich ausgeschlossen, dass sich die AfD mittelfristig in dieses Wechselspiel erst relativ spät vollkom- eine solche Richtung entwickelt, aber angesichts men ausgebildet. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts ihrer bisherigen parlamentarischen Praxis und war Opposition in Deutschland eingehegt als der weiterhin innerparteilich schwelenden Ausei- Teilbereich des Parlaments. Es war das Par- nandersetzung um den politischen Kurs scheint lament, das gegen die Regierung opponieren dies nicht besonders wahrscheinlich.3 Insofern konnte, wenn es sich beschränkte Einflussrechte bleibt die Frage politisch virulent, was aus der sicherte. Dadurch war die Opposition verhält- Opposition geworden ist oder ob sich lediglich nismäßig schwach, weshalb Kirchheimer diese die Perzeption von Oppositionsarbeit verändert Form auch als „institutionelle Opposition“5 bezeichnet. Mit dem Aufstieg der Parteien, vor- angetrieben von der politischen Organisierung 3 Zur AfD-internen Auseinandersetzung zwischen 4 So eine These im Anschluss an eine empirische sogenannter Realpolitik und Fundamentalopposi- Untersuchung über die deutungskulturelle Verarbei- tion vgl. Hensel, Alexander/Finkbeiner, Florian: Die tung der AfD in Salzgitter, siehe Finkbeiner, Florian AfD vor der Bundestagswahl 2017. Vom Protest zur et al.: Rechtsradikalismus in sozialdemokratischen parlamentarischen Opposition, OBS-Studie, Frank- Kerngebieten. Eine Regionalstudie zur deutungs- furt a. M. 2017, S. 12 f. Für die AfD in Niedersachsen kulturellen Verarbeitung der AfD in Salzgitter, vgl. Finkbeiner, Florian/Schröder, Niklas: Die AfD und FoDEx-Studie, Göttingen 2021 (im Erscheinen). ihre Wähler in Niedersachsen. Eine Fallanalyse zum Sozialprofil der Wählerschaft und ihrer politischen 5 Kirchheimer, Otto: Vom Wandel der politischen Einstellungen am Beispiel von Niedersachsen, Fo- Opposition, in: Archiv für Rechts- und Sozialphi- DEx-Studie Rechtsradikalismus, Göttingen 2020, S. 17. losophie, Jg. 43 (1957), Nr. 1, S. 59–86, hier S. 65. Finkbeiner, Florian (2021): Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 5-13. 6
Florian Finkbeiner | Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition der Sozialdemokratie, veränderte sich das Ver- parlamentarischen Gruppen“8 werden. Schließ- hältnis von Parlament und Regierung, weil die lich gehe die Veränderung des Parteicharakters Parteien sich nun innerhalb des Parlaments neu und die zunehmende gegenseitige Abhängigkeit organisierten – auch wenn die übergeordnete von Parteien und Staatsapparat Hand in Hand, parlamentarische Struktur durch die Abhän- sodass das „Abklingen der parlamentarischen gigkeit von der Krone bis 1918 bestehen bleiben Opposition“9 eine unmittelbare Folge sei. sollte. Mit dem Machtgewinn der Parteien auf- grund ihrer sich veränderten sozialen Veran- Erst vor dem Hintergrund der Entwicklung der kerung und ihrem gestiegenen Einfluss in den parlamentarischen Parteiendemokratie werden parlamentarischen und staatlichen Strukturen die heute geläufigen Aufgaben und Funktio- wandelte sich auch der Oppositionscharakter. nen, die Opposition leistet, bzw. zu leisten hat, Nun wurde es für einzelne Parteien auch mög- nachvollziehbar.10 „Keine Opposition kann ohne lich, als „Opposition aus Prinzip“6 zu agieren, ,Alternativen‘ existieren; nur so vermag sie ihre wie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhun- Identität zu bewahren“11, betont Winfried Steffani. derts etwa sozialistische Parteien, indem diese Der Idee nach muss die Opposition sowohl eine sich nicht auf parlamentarische Kompromisse Personal-, als auch eine Sachalternative stel- einlassen wollten. Wie Kirchheimer bemerkt, ist len können, d. h. sie muss zumindest potenziell „politische Opposition“ ein „ewiges Paradox“7. eine alternative Regierung bieten können bzw. Je stärker das Parlament als Institution gegen mindestens alternative Politikangebote vor- die Regierung ist, desto mehr Chancen haben weisen können. Die Regierungspraxis wiederum Parteien, als „Opposition aus Prinzip“ zu beste- soll von der Opposition stets kontrolliert und, hen, weil diese in einem Mehrparteiensystem wenn notwendig, auch kritisiert werden. Doch die Handlungsspielraum erhalten. Schließlich ver- Ausübung dieser Kritik-, Kontroll- und Alterna- langen dann die parlamentarischen Spielregeln tiv-Funktionen hängt von parteilichen wie par- von einer kleinen „Opposition aus Prinzip“ nicht lamentarischen Bedingungen ab.12 In der Oppo- notwendigerweise, in allen Belangen mitzu- sitionsforschung konkurrieren zwei Perspektiven: spielen, da sich die Hauptlast politisch-parla- Während die funktionalistische den Oppositions- mentarischer Praxis auf die „Hauptparteien“ charakter an den jeweiligen Verhaltensweisen (dazu gleich mehr) verlagert. In der Konsequenz bemisst, betont die institutionalistische vor al- verändert sich hierdurch auch der Oppositi- onscharakter derjenigen Hauptpartei, die nicht in der Regierung ist, gegenüber einer anderen Oppositionspartei. Dadurch wird es aber zu- 8 Ebd., S. 86. gleich für die übrigen Oppositionsparteien noch 9 Ebd. schwieriger, die parlamentarischen Möglichkei- 10 Grundlegend bis heute, vgl. Schumann, Hans- ten gegenüber der Regierung auszunutzen. Den Gerd (Hrsg.): Die Rolle der Opposition in der Bun- genuinen Charakter der Entgegensetzung büßt desrepublik Deutschland, Darmstadt 1976. die parlamentarische Opposition, so Kirch- 11 Steffani, Winfried: Zur Kritik am Parteienstaat und heimers übergeordnete Kritik, in dem Moment zur Rolle der Opposition, in: Schumann, Hans-Gerd ein, da sich die Parteien von ihrem ideologisch (Hrsg.): Die Rolle der Opposition in der Bundesrepublik ausgerichteten Ursprungsmoment weiterent- Deutschland, Darmstadt 1976, S. 201–250, hier S. 236. wickeln und zu „am Tagesinteresse orientierten 12 Siehe hierzu etwa Franzmann, Simon T.: Die Schwä- che der Opposition, die Außerparlamentarische Opposition und die Emergenz neuer Regierungsper- spektiven, in: Zohlnhöfer, Reimut/Saalfeld, Tho- mas (Hrsg.): Zwischen Stillstand, Politikwandel und 6 Ebd., S. 66. Krisenmanagement. Eine Bilanz der Regierung Merkel 7 Ebd., S. 59. 2013–2017, Wiesbaden 2019, S. 141–168, hier S. 145 f. Finkbeiner, Florian (2021): Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 5-13. 7
Demokratie-Dialog 8-2021 lem den Ort, an dem Opposition ausgeübt wird.13 Staat und Parlament grundlegend verlangten Entscheidend bleibt die gesellschaftliche Ten- „sozialkapitalistischen status quo“15 und weiteren denz, dass es zwischen der Wahrnehmung einer Konsensen anpassen. Was zunächst nur für die politischen Opposition (die stets an der histori- Absage der SPD an ihr eigenes sozialistisches schen Entwicklung und der Idee bemessen wird) Ursprungsmoment gilt, erweist sich zugleich und der Wirksamkeit der parlamentarischen Op- aber als allgemeine Tendenz in der Entwicklung position immer eine gewisse Kluft gibt. Ob dieses der Parteien. Denn Flechtheim zufolge können Spannungsverhältnis aber zu einem Problem sich die politischen Parteien untereinander im wird oder nicht, hängt gesellschaftsgeschichtlich Wahlkampf noch so sehr voneinander program- besonders von der Rolle der Parteien ab. matisch-verbal unterscheiden, ihr politisches und parlamentarisches Agieren hängt von nun an, da sich die Parteien „verstaatlichen“16, von anderen übergeordneten Faktoren ab. Zwar muss Das Dilemma der Institutionalisierung man Flechtheims Sehnsucht nach dynamischen der Parteien als allgemeine Tendenz Elementen in einem immer träger werdenden der Involution der Demokratie Parteiensystem nicht notwendigerweise folgen, aber mit der identifizierten „Institutionalisierung Was Otto Kirchheimer noch „Hauptparteien“ der Parteien“ geht ein Wandel der Parteien ein- nennt, heißt bei Ossip K. Flechtheim „Großpar- her, der auch unmittelbare Folgen für die Mög- teien“. Denn Anfang der 1960er Jahre kennt das lichkeiten von Opposition hat. deutsche Parteiensystem noch keine „Volkspar- teien“, die uns heute so selbstverständlich er- Wie dieser Wandel der Parteien einzuordnen scheinen. Flechtheim beobachtet ganz ähnliche ist, bleibt umstritten. Otto Kirchheimer etwa Tendenzen in der westdeutschen Parteienent- diagnostiziert eine Entwicklung von den Mas- wicklung wie Kirchheimer. Aber er fragt stärker senintegrationsparteien zu den sogenann- nach dem Verhältnis von politischen Parteien, ten „Allerweltsparteien“ in der Nachkriegszeit Parlament und Staat – und was das wiederum (catch-all-party).17 Die neuen Allerweltspartei- für die Opposition bedeutet. Flechtheim zufolge en würden, so Kirchheimer, ihre „ideologische hängt der Wandel der Parteien in programma- Durchdringung“18 preisgeben, um potenziell tischer Hinsicht mit ihrer Konstitutionalisierung im neuen Wettbewerb um Wählerstimmen und zusammen. Vor dem Hintergrund des kurz zuvor Macht bestehen zu können. Damit verändere sich beschlossenen Godesberger Programms der SPD auf lange Sicht die Erwartungshaltung an Par- 1959 fragt er nach den Ursachen und Auswirkun- teien, welche versprochenen Ziele später über- gen einer tendenziellen „Entideologisierung“14 haupt umgesetzt würden.19 Diese Entwicklung der Parteien. Demnach erfordere die immer stär- gipfelt nach Richard S. Katz und Peter Mair in kere Verbindung der Parteien mit dem Staat auf allen möglichen Ebenen und dem parlamentari- schen System die „Institutionalisierung der Par- 15 Ebd., S. 109. teien“. Wenn eine Partei also Macht und Einfluss 16 Ebd., S. 110. in staatlichen Gebilden und in parlamentarischen Gruppen erlangen wolle, müsse sie sich dem von 17 Kirchheimer, Otto: Der Wandel des westeuropä- ischen Parteisystems, in: Politische Vierteljah- resschrift, Jg. 6 (1965), H. 1, S. 20–41, hier S. 27. 13 Siehe zu dieser Aufteilung in der aktuel- 18 Ebd. len Oppositionsforschung, ebd., S. 143. 19 Damit zusammen hängt ebenso der Wandel der 14 Flechtheim, Ossip K.: Die Institutionalisierung der sozialen Verankerung der Parteien, vgl. grundlegend Parteien in der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Lepsius, Rainer M.: Parteiensystem und Sozialstruktur. Politik, Jg. 9 (1962), H. 2, S. 97–110, hier S. 103. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Finkbeiner, Florian (2021): Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 5-13. 8
Florian Finkbeiner | Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition den sogenannten „Kartellparteien“, die auf den (siehe hierzu weiter unten). Diese allgemeine Parteitypus der Catch-all-Partei folgten.20 Die Tendenz hat schon Johannes Agnoli in seiner Kartellparteienthese interpretiert die Hinwen- berühmt-berüchtigten „Transformation der dung der Parteien zum Staat als Kompensations- Demokratie“ beschrieben. Deshalb gleich vor- versuch ihrer bereits vorher brüchig gewordenen weg: Man muss Agnoli nicht notwendigerweise gesellschaftlichen Verankerung, um im Zuge in seiner radikalen Kritik des Parlamentarismus der parteilichen Professionalisierung staatliche folgen, die oftmals irritierend entkontextualisiert Ressourcen effektiver nutzen zu können. Diese rezipiert wird. Schließlich meint die „Transfor- idealtypische Parteienentwicklung ist bis heute mation“ gerade nicht die Veränderungen des umstritten.21 Aber sie verdeutlicht das Dilemma strukturellen Systems – eine Fehlinterpretation, der Institutionalisierung der Parteien und deren die aber gerade ihren Charme unter den zeitge- Folgen für den Parteicharakter. Denn dieser Wan- nössischen „68ern“ ausmachte, die sich vor allem del der Parteiendemokratie verengt strukturell auf eine intellektuell-verkürzte Vorstellung sei- auch den Handlungsspielraum der Parteien in ner Forderung nach „Fundamentalopposition“24 ihrer Außenwahrnehmung und verlagert parla- konzentrierten. Agnoli kritisiert vielmehr die mentarisch ihre Arbeitsschwerpunkte. Hier liegt Veränderungen der Funktionen der traditionellen eine entscheidende Ursache dafür, dass sich die Institutionen, sodass sich die politischen Ent- Idee der Parteien (und damit auch der Oppo- scheidungsprozesse radikal veränderten. Daher sition) von ihrer Praxis immer weiter entfernt. zielt die Transformations-Anklage vielmehr auf Dies muss natürlich keineswegs eine Verfallsge- eine Kritik des bürgerlichen Verfassungsstaates, schichte bedeuten, schließlich war dieser Wandel der sich transformiert habe.25 Demokratische der Parteien mitentscheidend für die staatliche Herrschaft wird durch den Funktionszusammen- Stabilität und die langfristige Bindung großer hang verschiedener Instanzen sichergestellt. Bevölkerungsteile an den Staat, was in der Nach- Dazu zählen Parteien und Verbände, Medien und kriegszeit keineswegs selbstverständlich war. Gerichte oder auch der Staat. Gesellschaftliche Aber wie Philip Manow mithilfe der Kartellpar- Konflikte werden dadurch eingehegt und zivili- teienthese betont, würden Politik wie eben auch siert, dass sie durch, in und mit diesen Institu- Oppositionspolitik durch das Aufgehen der Par- tionen ausgetragen werden. Eine notwendige teien im Staat, dem damit zusammenhängenden Voraussetzung hierfür ist, dass die Möglichkeit innerparteilichen Repräsentationsverlust und der besteht, politische Anliegen auch in die politi- erodierenden „Anbindung an die Gesellschaft“22 sche Arena tragen zu können. Hier schließt sich in der (Außen-)Wahrnehmung strukturell bedingt der Kreis zur Bedeutung der Parteien und ihrem nun einmal zunehmend „ununterscheidbar“23 Wandel, denn vor allem Parteien kommt in der parlamentarischen Demokratie die Aufgabe zu, diese Anliegen aufzugreifen, innerparteilich damit umzugehen und diese ggf. dann auch Gesellschaft, in: Ritter, Gerhard Albert (Hrsg.): Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56–80. parlamentarisch zu repräsentieren. Agnoli setzt an diesem zentralen Punkt seine übergreifende 20 Vgl. Mair, Peter/Katz, Richard S.: Changing Mo- Kritik an, indem er an diesem Funktionsablauf dels of Party Organization and Party De- zwischen Gesellschaft, Parteien, Parlament und mocracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics, Jg. 1 (1995), H. 1, S. 5–28. Staat eine „Involutionstendenz“26 feststellt, d. h. 21 Vgl. Helms, Ludger: Die „Kartellparteien“-The- se und ihre Kritiker, in: Politische Vierteljah- resschrift, Jg. 42 (2001), H. 4, S. 698–708. 24 Agnoli, Johannes/Brückner, Peter: Die Transformati- on der Demokratie, Frankfurt a. M. 1974 [1968], S. 81. 22 Manow, Philip: (Ent-)Demokratisierung der De- mokratie. Ein Essay, Berlin 2020, S. 82. 25 Vgl. ebd., S. 8. 23 Ebd., S. 81. 26 Ebd., S. 10. Finkbeiner, Florian (2021): Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 5-13. 9
Demokratie-Dialog 8-2021 eine Rückbildung demokratischer Entwicklungs- Konsequenz des allgemeinen „Verfall[s] politi- tendenzen diagnostiziert. Das bedeutet: Wenn scher Parteien“29, der sich darin ausdrücke, dass zugleich einerseits individuelle Teilhaberrechte niemand mehr an das Versprechen glaube, dass demokratisiert und andererseits eine Entdemo- Parteien zumindest Teilhabe an Macht ermög- kratisierung auf staatlich-parlamentarischer lichten. Zum anderen resultiert aus der Institutio- Ebene beobachtet werde, gerate die Demokratie nalisierung der Parteien und der Entpolitisierung selbst in eine Schieflage. auch Etatismus, also eine Vorstellung von Gesell- schaft, die dem Staat eine übergeordnete Rolle Mit dem Aufgehen der Parteien im Staat geht die zuschreibt. Hiervor warnte schon Agnoli, da der Involution unweigerlich einher. Die zunehmende Staat dann nicht mehr nur den „sozialen Frie- Verflechtung der verschiedenen Institutionen den“30 sichere, sondern als institutionalisierter untereinander fördert den Funktionszusammen- „Friedensstifter“31 zur Selbstverständlichkeit für hang und trägt damit der zunehmenden Spe- die Gesellschaft werde. Damit vollendet sich die zialisierung und Komplexität politischer Praxis nach Max Horkheimer bereits in der bürgerlichen Rechnung. Der Preis dafür ist eine tendenzielle Gesellschaft angelegte etatistische Tendenz, wie Lähmung und Desensibilisierung von Partei- er es in „Autoritärer Staat“ skizziert.32 Entschei- en für neu auftretende Phänomene, weshalb dend sei demnach, dass die zentrale Vorstellung sozialen Bewegungen und Protestdynamiken seit der Aufklärung, dass das Individuum seine in der parlamentarischen Demokratie stets eine Freiheit nur durch die Unabhängigkeit vom Staat Art Sensorfunktion zugesprochen wird.27 Dem bewahren könne, bis zur Perversion umgekehrt Repräsentationsanspruch von Parteien werden sei. In den Massengesellschaften könnten sich dadurch strukturell enge Grenzen gesetzt – un- die Individuen ihre Freiheit überhaupt nur noch abhängig von der Güte der Kartellparteithese durch den „integralen Etatismus“, also durch den oder anderweitiger Diagnosen von Repräsentati- Staat gesichert, vorstellen. Ob die von Horkhei- onskrisen, Parteientfremdungen oder dem Ende mer daraus gezogene Erkenntnis, dass man im der Milieus. Das staatliche Institutionenarran- Spätkapitalismus nicht einmal mehr wirkliche gement hat zwei unweigerliche Nebenwirkun- Freiheit denken könne, zutrifft, sei dahingestellt. gen: Zum einen hat die Institutionalisierung der Aber dass das Verhältnis von Individuum und Parteien eine Entpolitisierung zur Konsequenz. Staat ein angespanntes ist, dürfte kaum bestrit- Mit den Kartellparteien schwindet schließlich die ten werden. So warnt etwa der ehemalige Richter Vorstellung, dass Politik vor allem auch Konflikt des Bundesverfassungsgerichts Udo Di Fabio vor um Interessendurchsetzung ist – was sich an einer zunehmenden „Staatsgläubigkeit“33, die niedrigen Vertrauenswerten von Parteien, aber sich in der derzeitigen Ausnahmesituation an- hohen Vertrauenswerten für „überparteiliche“ gesichts der Corona-Pandemie weiter verfestige. Institutionen wie dem Bundesverfassungsgericht zeigt.28 Christoph Möllers sieht in diesem „unpo- litischen“ Institutionenvertrauen nur die logische 29 Möllers, Christoph: Wir, die Bürger(lichen), in: Merkur, Jg. 71 (2017), H. 818, S. 5–16, hier S. 7. 30 Ebd., S. 49. 27 So unterschiedlich die Protestphänomene der letzten 31 Ebd., S. 43. Jahre auch waren (von Stuttgart 21 und Stop-TTIP bis zu Pegida und Querdenken), sie alle waren getrieben 32 Vgl. Horkheimer, Max: Autoritärer Staat (1940), in: von einem sinkenden Vertrauen in Staat und Parteien. Gesammelte Schriften, Band 5, Hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987, S. 293–319. 28 Vgl. Patzelt, Werner J.: Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfas- 33 Hipp, Dietmar/Verbeet, Markus: „Ausgangsbe- sungsgericht? Ergebnisse einer vergleichenden schränkungen sind eigentlich ein Mittel für Dik- demoskopischen Studie, in: Zeitschrift für Par- taturen“. Interview mit Udo Di Fabio, in: Der lamentsfragen, Jg. 36 (2005), H. 3, S. 517–538. Spiegel, Nr. 2/09.01.2021, S. 42–44, hier S. 44. Finkbeiner, Florian (2021): Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 5-13. 10
Florian Finkbeiner | Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition Jedenfalls wird dem Staat aufgrund der beschrie- Dadurch werde das Verhältnis zwischen diesen benen mentalitätsgeschichtlichen Entpolitisie- Institutionen gestört – Meinel bezeichnet diese rungsprozesse als Konsequenz der Involution der Verbindungen als „Querverstrebungen“38 – und Demokratie schon jetzt so viel Einfluss zugebil- die Vermittlung zwischen Parlament und Regie- ligt, dass die Kritik von einem drohenden „star- rung erschwert. Vor diesem Hintergrund erweist ken Staat“ kaum mehr angsteinflößende Wirkung sich die Krise der Repräsentation vielmehr als zeigt wie noch in den 1980er Jahren.34 eine Funktionskrise der politischen Repräsenta- tion. Wie Meinel zurecht betont, gibt es aktuell natürlich eine parlamentarische Opposition – an vielen Beispielen zeigt er etwa auf, dass parla- Wo ist die Opposition? mentarische Kontrolle noch nie so allumfassend war wie heute.39 Aber durch die Veränderungen Der Rechtswissenschaftler Florian Meinel hat des institutionellen Gefüges habe sich nicht nur in „Vertrauensfrage“ die Krise des heutigen der Möglichkeitsspielraum, sondern auch der Parlamentarismus seziert. Ihm zufolge erleben Charakter „echter parlamentarischer Oppositi- wir derzeit gerade keine einfache Repräsentati- on“40 verändert. Wie auch Meinel beklagt, kann onskrise – denn das Krisenhafte im Repräsenta- von einer solchen Opposition seit 2005 und dem tionsverhältnis ist der demokratische Normal-, Beginn der großen Koalitionen „keine Rede mehr nicht der Ausnahmefall –, sondern eine Krise des sein“41. Zudem seien Oppositionsparteien im institutionellen Zusammenhangs in der parla- deutschen Regierungssystem „nie ganz Oppo- mentarischen Demokratie.35 Das Institutionen- sition, immer regieren sie irgendwo mit, immer gefüge der repräsentativen Demokratie basiere, sind die irgendwie eingebunden und entschei- so seine zentrale These, neben dem parlamen- den über Stimmenmehrheiten im Bundesrat. Nie tarischen System auf einem engen Wechsel- kann sich eine Regierung darauf beschränken, verhältnis zwischen den Volksparteien, dem ihre Sache rücksichtslos gegen die Opposition Bundeskanzleramt und dem Bundesverfassungs- durchzuziehen.“42 Im „großkoalitionären Dau- gericht.36 Wie Meinel verfassungsgeschichtlich erzustand, in dem die Dialektik von Mehrheits- instruktiv herausarbeitet, garantierten erst diese herrschaft und Kontrolle ohnehin teilweise außer drei Vermittlungsinstitutionen die Verklamme- Kraft ist“43, verändern sich mit dem Charakter der rung von Parlament und Regierung.37 Der analy- Repräsentationsinstitutionen, wie eben beson- tische Kunstgriff von Meinel besteht darin, sich ders den Volksparteien, auch die Spielregeln, wer die konkreten Zusammenhänge in und zwischen repräsentiert gehört und wer nicht. diesen Institutionen anzuschauen. Dabei identifi- ziert er die entsprechenden Kräfte, die an diesen An diesem Punkt setzt der Politikwissenschaft- Institutionen zehren. Während sich die Volkspar- ler Philip Manow mit „(Ent-)Demokratisierung teien im Niedergang befänden, erhielten sowohl der Demokratie“ an. Der Aufstieg des Populis- das Bundeskanzleramt als auch das Bundes- mus konfrontiere uns mit der „widersprüch- verfassungsgericht eine immer größere Macht. 34 Vgl. bspw. Saage, Richard (Hrsg.): Rückkehr zum 38 Ebd., S. 128. starken Staat, Studien über Konservatismus, Fa- 39 Vgl. ebd., S. 166 ff. schismus und Demokratie, Frankfurt a. M. 1983. 40 Ebd., S. 137. 35 Vgl. Meinel, Florian: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, Bonn 2019, S. 14. 41 Ebd. 36 Vgl. ebd. 42 Ebd., S. 182. 37 Vgl. ebd., S. 29. 43 Ebd., S. 185. Finkbeiner, Florian (2021): Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 5-13. 11
Demokratie-Dialog 8-2021 lichen Gleichzeitigkeit“44 und dem latenten gesellschaftliche Entwicklung, die die Demokra- Zusammenhang von zwei Entwicklungen: einer tie mit ihren eigenen Aporien konfrontiere: Der Demokratisierung und Entdemokratisierung der Populismus bedeute daher eine „,Wiederkehr Demokratie zugleich. Manow beschreibt damit des Nicht-Repräsentierten‘ oder Konsequenz zum einen eine Krise der Repräsentation infolge einer nicht mehr funktionierenden repression einer „massiven Ausweitung politischer Parti- by representation“51, also des Nicht-Repräsen- zipationschancen“45. Zum anderen identifiziert tierbaren. Aufgrund von langfristig angelegten er eine Legitimationskrise der Demokratie, weil Entwicklungen, die zu der von Meinel diagnosti- diese ihre „Zukunftsorientierung“46 verloren zierten Krise der Vermittlungsinstitutionen und habe und sich nun aus sich selbst heraus legi- daraus resultierenden Krise des Parlamentaris- timieren müsse. Schließlich sei der Demokratie mus führen, haben sich auch die einzelnen Ins- ihr Gegenüber abhandengekommen, da sich titutionen selbst an diese veränderten Rahmen- selbst Diktatoren und Autokraten heutzutage bedingungen angepasst – und vice versa. Die als „Demokraten“ proklamieren. Die Folge ist, so Konsequenz der veränderten „Organisations- Manow schlüssig, ein Überbietungswettbewerb, bedingungen der Politik“52 ist ein zunehmender wer der beste Demokrat sei, sodass sich der Funktionsverlust der politischen Organisationen. Verdacht in der politischen Öffentlichkeit wieder Wie Manow auch parteientheoretisch herleitet, freisetze, jemand sei nicht „Demokrat“ genug,47 hängt das Funktionieren der repräsentativen wodurch der künstliche und antiintellektualisti- Demokratie eben auch davon ab, dass Parteien sche Dualismus von Demokraten vs. Antidemo- ihre repräsentative und regierende Funktion kraten wieder habe zurückkehren können. Laut erfüllen, was ihnen aber immer schwerer fällt.53 Manow ist dieser Prozess der Entdemokratisie- Wenn aber die alte Vermittlung von Milieus zu rung der Demokratie keineswegs zu unterschät- Parteien nicht mehr gelingt, dann müssen ande- zen, da der „Demokratiegefährdungsdiskurs“ so re Wege (wie Meinels Analyse zeigt: gerade nicht zu einem der „effektivsten Eigenermächtiungs- über den Weg der Fundamentalopposition) diskurse“ werde – „mit selbstbestätigendem gefunden werden, politische Anliegen wieder in und selbstverstärkendem Gefahrenpotenzial“48. die institutionellen Arenen zur Auseinanderset- Beide Prozesse – Demokratisierung und Entde- zung zu bringen. Denn wenn die gesellschaftli- mokratisierung – bedingen und verschärfen sich chen Konflikte nicht mehr in den Institutionen wechselseitig. Sie führen laut Manow zu einer stattfinden, versagt eine der wichtigsten Auf- „Funktionskrise“49 der Repräsentation und zwar gaben des Parlamentarismus: die Zivilisierung gerade „nicht in dem Sinne, dass etwas Vorhan- von Konflikten qua demokratischer Herrschaft.54 denes nicht länger angemessen repräsentiert Politische Opposition war und ist damit immer wird, sondern in dem Sinne, dass etwas immer auch parlamentarischer Ausdruck einer Politik, Vorhandenes sich durch Repräsentation nicht die von der Austragung interessengeleiteter länger effektiv ausschließen lässt.“50 Manow Konflikte lebt.55 An der vermeintlich einfachen sieht im Erfolg des Rechtspopulismus eine Frage, wo die Opposition ist, zeigt sich das ganze Dilemma des heutigen Parlamentaris- 44 Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, S. 13. 51 Ebd., S. 51 (Herv. i. O.). 45 Ebd. (Herv. i. O.). 52 Ebd., S. 107. 46 Ebd., S. 122. 53 Vgl. ebd., S. 67. 47 Vgl. ebd., S. 141. 54 So auch Meinel: Vertrauensfrage, S. 18. 48 Alle drei Zitatstellen, ebd., S. 124. 55 Vgl. Greven, Michael Th.: Die politische Gesell- 49 Ebd., S. 50. schaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des 50 Ebd. Regierens und der Demokratie, Opladen 1999. Finkbeiner, Florian (2021): Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 5-13. 12
Florian Finkbeiner | Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition mus, der vor der Aufgabe steht, angesichts des zunehmenden Tribalismus in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft eine neue Vorstellung von politischer Repräsentation zu finden. Dr. Florian Finkbeiner, geb. 1988, Projektleiter der FoDEx-Forschungsstelle am Göttinger Institut für Demokratieforschung und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Rechtsradikalismus. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Ideenge- schichte, Konservatismus und Rechtsradikalismus sowie Parteien- und Po- litische Kulturforschung. Finkbeiner, Florian (2021): Involution der Demokratie? Die Suche nach der Opposition. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 5-13. 13
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