Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
3–2020

                           Migration und Teilhabe

                           www.lpb-bw.de

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
Heft 3–2020, 70. Jahrgang                                                                                         Thema im Folgeheft:
    »Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale
                                                                                                                  Fünf Jahre Grün-Schwarz
    für politische Bildung Baden-Württemberg
    herausgegeben.

    Direktion der Landeszentrale
    Lothar Frick
    Sibylle Thelen

    Redaktion
                                                        Inhaltsverzeichnis
    Prof. Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de

    Redaktionsassistenz
    Barbara Bollinger,                                  Hans-Jürgen Bieling, Nikolai Huke
    barbara.bollinger@lpb.bwl.de                        Nach dem „Sommer der Willkommenskultur“:
    Anschrift der Redaktion                             Teilhabekonflikte in der postmigrantischen Gesellschaft ...... .............108
    Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart            Fatima El-Tayeb
    Telefon: 07 11/16 40 99-44
    Fax: 07 11/16 40 99-77
                                                        Nach der Krise ist vor der Krise:
                                                        Rassismus und Teilhabe in einer postpandemischen Welt ...................114
    Herstellung
    Schwabenverlag AG                                   Anna Wyss, Annika Lindberg, Tobias Eule, Lisa Marie Borrelli
    Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit          Kämpfe um Zeit im europäischen Migrationsregime ............ .............120
    Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74
                                                        Karl-Heinz Meier-Braun
    Gestaltung Titel                                    Deutschland ist (k)ein Einwanderungsland! –
    VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart                    Geht ein endloser Konflikt zu Ende? .................................... .............127
    Gestaltung Innenteil                                Silke van Dyk, Laura Boemke und Tine Haubner
    Schwabenverlag Media
    der Schwabenverlag AG                               Fallstricke des Helfens oder Sternstunden der Solidarität? ................136

    Vertrieb                                            Olaf Tietje
    Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH            „… wie immer im Gewerbegebiet.“ Einschränkungen der
    Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm                  sozialen Teilhabe Geflüchteter durch ihre Unterbringung ...................144
    Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24
    www.suedvg.de                                       Werner Schmidt
                                                        Betriebliche Integration
    Druck
                                                        nach Arbeitsmigration und Flucht ....................................... .............149
    Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH
    Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm                  Albert Scherr, Helen Breit
    Preis der Einzelnummer 3,33 EUR.                    Soziale Arbeit mit Geflüchteten .......................................................154
    Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung.
                                                        Samia Dinkelaker, Helen Schwenken
    Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit
    dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte        Fragmentierter Schutz an der Schnittstelle
    Kundennummer an.                                    von gewaltförmigen Geschlechterverhältnissen und
                                                        restriktiven Asyl- und Aufenthaltspolitiken .......................... .............160
    Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht
    unbedingt die Meinung des Herausgebers              Delal Atmaca, Samia Dinkelaker
    und der Redaktion wieder.                           Ein Recht auf Schutz vor Gewalt für alle Frauen* ................. .............167
    Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte          Elisabeth Tuider
    übernimmt die Redaktion keine Haftung.
                                                        Willkommen in der Postmigrationsgesellschaft .................... .............171
    Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek-
    tronischen Datenträgern sowie Einspeisung
                                                        Buchbesprechungen ........................................................................176
    in Datennetze nur mit Genehmigung der
    Redaktion.

    Titelfoto: picture alliance/dpa

    Auflage dieses Heftes: 14.000 Exemplare

    Redaktionsschluss: 20.07.2020

    ISSN 0007-3121

                                                                 Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter
                                                                 www.buergerimstaat.de

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
Mit dem Zuzug von knapp einer Million Flüchtlingen entstand im Jahr 2015 eine dynamische Bewegung der Flüchtlingshilfe.
         Die sogenannte Willkommenskultur gewährleistete eine Notversorgung der ankommenden Menschen. Das Engagement für
         Geflüchtete hat inzwischen merklich nachgelassen, während die Teilhabe der neu angekommenen Menschen nach wie vor
         deutlich erschwert ist.                                                                                picture alliance/dpa

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
Migration und Teilhabe
         Mit dem Zuzug von knapp einer Million Flüchtlingen ent-        am Beispiel der (verweigerten) Teilhabe von Geflüchteten
         stand im Jahr 2015 eine dynamische Bewegung der                und plädiert für den intersektionalen Ansatz der Mutual
         Flüchtlingshilfe. Die sogenannte Willkommenskultur re-         Aid, der eine bessere Alternative darstellt.
         agierte auf überlastete staatliche Strukturen, die teilweise   Zeit spielt im europäischen Migrationsregime eine ge-
         nicht in der Lage waren, eine Notversorgung der ankom-         wichtige Rolle. Sie kann entmachtende und disziplinie-
         menden Menschen zu gewährleisten. Viele der Enga-              rende Effekte haben, indem sie Migrant*innen einen
         gierten wollten den Wahlerfolgen der rechtspopulisti-          Schwebezustand aufzwingt und zu absurden Kontroll-
         schen AfD und zunehmenden Angriffen auf Flüchtlingsun-         mechanismen führt. Vor allem Migrant*innen mit einem
         terkünfte, Flüchtlinge und Flüchtlingsunterstützer einen       prekären Rechtsstatus bleiben oft in bürokratischen Zyk-
         solidarischen Umgang mit Geflüchteten entgegensetzen.          len und Zeitschlaufen stecken. Zeit strukturiert die Inter-
         Seither hat das Engagement für Geflüchtete merklich            aktion mit dem Gesetz. Zeit kann aber auch sinnvoll ge-
         nachgelassen, während die Teilhabe der neu angekom-            nutzt werden und neue Handlungsoptionen eröffnen. So
         menen Menschen nach wie vor deutlich erschwert ist.            können Beschleunigung und Verlangsamung innerhalb
         Das Heft „Migration und Teilhabe“ gibt fünf Jahre nach         des Migrationsregimes Macht verleihen – aber auch
         dem „Sommer der Migration“ einen Überblick über aktu-          einschränken. Lisa Marie Borrelli, Tobias Eule, Annika
         elle Herausforderungen, die sich aus dem Ziel einer ge-        Lindberg und Anna Wyss erörtern, wie Zeit zu einer Res-
         sellschaftlichen Teilhabe der Flüchtlinge ergeben. Mit         source des Regierens oder der Selbstermächtigung wer-
         Blick auf praktische Erfahrungen in den Bereichen Ar-          den kann.
         beitsmarktintegration, Wohnraumversorgung, alltäglicher        Karl-Heinz Meier-Braun schildert die Geschichte der Zu-
         Unterstützungsarbeit und bürokratischem Verwaltungs-           wanderung nach Deutschland und analysiert die in aller
         handeln zeigt das Heft positive Entwicklungen, aber auch       Regel von arbeitsmarktpolitischen Überlegungen ge-
         Schwierigkeiten und Konflikte auf. Darüber hinaus werden       prägte und unter dem Gesichtspunkt der Integration
         am Beispiel von Flüchtlingen mit Duldungsstatus, der Situ-     lange Jahre nur halbherzig betriebene Ausländerpolitik
         ation in AnkER-Zentren und rassistischen Mobilisierungen       der Bundesrepublik Deutschland. Sämtliche Phasen der
         gesellschaftliche Entwicklungen vorgestellt, die eine Teil-    Ausländer- und Asylpolitik wurden von kontrovers geführ-
         habe von Geflüchteten verhindern.                              ten und symbolisch aufgeladenen Debatten begleitet.
         Die vielfältigen Formen zivilgesellschaftlicher Hilfe für      Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungs-
         Geflüchtete sind nach dem „Sommer der Willkommenskul-          gesetz markierte den Beginn einer neuen Phase der Aus-
         tur“ im Jahr 2015 nur noch selten ein Thema. Zeitgleich mit    länderpolitik. Die Integrationspolitik steht allerdings auf
         den solidarischen Praktiken entstanden Formen der Aus-         einem fragilen Fundament. Die verstärkte Zuwanderung
         grenzung, entwickelten sich gesellschaftliche Konflikte um     von Flüchtlingen in den Jahren 2015 und 2016 wurde –
         Teilhabe. Analysiert man alltagspraktische Konflikte, wird     u. a. durch zivilgesellschaftliches Engagement – erfolg-
         rasch deutlich, dass Teilhabekonflikte durch mehrschich-       reich bewältigt. Gleichwohl sind rassistische Anfeindun-
         tige gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse      gen und rechtsextreme Straftaten immer noch ein Problem
         geprägt sind. Hans-Jürgen Bieling und Nikolai Huke illus-      in Deutschland. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie und
         trieren dies an vier exemplarischen Handlungs- und Kon-        der eklatante Mangel an Pflege- und Arbeitskräften ha-
         fliktfeldern. Geflüchtete müssen zahlreiche Hürden über-       ben erneut offenbart, dass Deutschland dringend auf Zu-
         winden, um sozial teilhaben zu können: Abwertung und           wanderung angewiesen ist.
         Isolation, eine unzureichende Versorgungslage und defi-        Auf Basis einer eigenen Erhebung erörtern Silke van Dyk,
         zitäre öffentliche Infrastruktur, nicht hinreichend garan-     Laura Boemke und Tine Haubner mit Blick auf die freiwil-
         tierte soziale Rechte oder repressive Elemente des Auslän-     lige Nothilfe in den Jahren 2015 und 2016 die Stärken,
         der- und Asylrechts. Für die Überwindung dieser Hürden         Herausforderungen und Probleme freiwilligen Engage-
         sind ehrenamtliche Helfer*innen und professionelle Bera-       ments in der Flüchtlingshilfe. Das Ausmaß der ehrenamt-
         tungsstellen von zentraler Bedeutung.                          lichen Hilfe war beeindruckend, wenngleich fachliche,
         Die Corona-Pandemie ist eine weitere Krise, in der wiede-      professionelle und auch persönliche Grenzüberschreitun-
         rum Rassismusamnesie sichtbar wird. Rassismusamnesie           gen sichtbar wurden. Selbstüberschätzung, Viktimisie-
         meint die Dialektik von rassistischer Panik angesichts des     rung und Paternalismus kennzeichneten die Kehrseiten
         vermeintlich Fremden und Verdrängung der (historischen)        des ehrenamtlichen Engagements. Überlastung und
         Präsenz rassifizierter Bevölkerungen. Auch die soge-           Überforderung auf Seiten der Engagierten waren oftmals
         nannte Flüchtlingskrise, beginnend im Jahr 2015, weist ein     die Folge. Vor dem Hintergrund dieser multiplen Grenzer-
         ähnliches Muster auf. Deutschland und andere europäi-          fahrungen diskutieren die Autorinnen Probleme im Span-
         sche Gesellschaften befinden sich in einem ständigen Kri-      nungsfeld von Ausstieg (Exit), Kritik (Voice), Politisierung
         senmodus, der stets die gleichen Reaktionen auslöst und        und heimlichem Engagement.
         zwei grundlegende Fragen aufwirft: Ist Krisenproduktion        Die überlastete Infrastruktur im „Sommer der Migration“
         ein notwendiger Teil der (nationalen) deutschen Identi-        führte zu improvisierten Unterkünften, in denen die Ge-
         tät? Welche Form von Vergessen verlangt die stetige Re-        flüchteten unterkommen konnten. Die als vorläufig ge-
         produktion scheinbar immer neuer krisenhafter Zustände?        dachte Unterbringung in Containerunterkünften und In-
         Die Einbettung Deutschlands in ein globales System, das        dustriehallen hat sich inzwischen verstetigt. Die Art und
         sich weder durch Nachhaltigkeit noch Gerechtigkeit aus-        Weise der Unterbringung von Geflüchteten, so die These
         zeichnet, produziert ständig Krisen, die nicht gelöst, son-    des Beitrags von Olaf Tietje, schränkt ihre Möglichkeiten
         dern externalisiert werden. Fatima El-Tayeb erläutert dies     der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stark ein. Ge-

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
meinschaftsunterkünfte wirken homogenisierend und aus-        künften sowie den Auswirkungen, die unsichere Aufent-
         schließend. Die Exklusion verstärkt sich durch die einge-     haltsstatus und wenig sensible Asylverfahren zeitigen.
         schränkten Möglichkeiten von Immigrant*innen, Wohn-           Aus dieser Situation leiten sich Forderungen von Selbstor-
         raum im Anschluss an die Erstunterbringung zu finden. In      ganisationen sowie eindeutige Positionierungen gegen
         der Regel sind sie bei der Suche nach Wohnraum auf zi-        die Ethnisierung von geschlechtsspezifischer Gewalt sei-
         vilgesellschaftliche Unterstützung angewiesen. Die Mig-       tens der Unterstützungsarbeit ab.
         rationspolitik Deutschlands und der EU ist – so das Fazit     DaMigra e. V. gründete sich 2014 als Dachverband von
         – durch die Marginalisierung und Exklusion von Geflüch-       Migrantinnen*organisationen, in dem bundesweit über
         teten sowie durch eine grundlegende Unzulänglichkeit          70 Mitgliedsorganisationen vernetzt sind. Die Geschichte
         des Asylsystems gekennzeichnet.                               des Dachverbands reicht in die 1980er Jahre zurück, als
         Arbeit ist die Quelle gesellschaftlichen Reichtums und        Migrantinnen*, jüdische Frauen* und Women* of Color
         eine grundlegende Form der Teilhabe. Gleichwohl ist es        die Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminie-
         in etlichen Ländern kaum möglich, durch Arbeit ein Aus-       rung innerhalb der deutschen Frauen*bewegung einfor-
         kommen zu finden. Menschen sind nicht zuletzt deshalb         derten. Delal Atmaca beschreibt in einem Interview die
         bereit, ihre Herkunftsländer zu verlassen, um anderswo        Arbeitsschwerpunkte des Verbands. DaMigra setzt sich
         eine Arbeit zu suchen. Andere fliehen, um Kriegen und         für Belange von Migrantinnen* ein und führt Projekte zur
         politischer Verfolgung zu entkommen. Werner Schmidt           Stärkung der politischen, sozialen, beruflichen und kultu-
         geht der Frage nach, welchen Unterschied die Migrati-         rellen Teilhabe von Migrantinnen* durch. Die politischen
         onsmotive Arbeit und Flucht bei der Integration in die Ar-    Forderungen von DaMigra speisen sich aus den konkre-
         beitswelt machen, und ob Arbeitsmigrant*innen dabei           ten Erfahrungen von Frauen* mit Flucht- und Migrations-
         bessere Chancen haben als Geflüchtete. Statusähnlich-         geschichte, so auch die Forderungen im Hinblick auf die
         keit und Teilhabe in der Arbeitswelt sind nicht nur zentral   Umsetzung des „Übereinkommens des Europarats zur Ver-
         für gesellschaftliche Integration, sie haben in der Vergan-   hütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und
         genheit auch relativ gut funktioniert. Allerdings – so die    häuslicher Gewalt“ (sogenannte Istanbul-Konvention).
         Schlussfolgerung – besteht derzeit die Gefahr einer um-       DaMigra kritisiert die ungleiche Behandlung von geflüch-
         gekehrten Entwicklung, wenn das Unsicherheitsregime           teten Frauen* und Migrantinnen* in der deutschen Ratifi-
         der Asylpolitik die betriebliche Sozialintegration über-      zierung der Istanbul-Konvention und fordert deren unein-
         schattet.                                                     geschränkten Schutz vor Gewalt.
         Die Soziale Arbeit war auf die steigende Zahl der seit        Die ersten Reaktionen auf die Corona-Pandemie waren
         2015 neu ankommenden Flüchtlinge weder konzeptionell          erneute Grenzziehungen innerhalb Europas und eine Re-
         noch institutionell vorbereitet. Angemessene Konzepte für     naissance des Nationalen. Damit gingen Prozesse des
         die Arbeit mit Flüchtlingen waren kaum verfügbar, neue        Othering einher. Othering (engl. other „andere“) erfasst
         Einrichtungen der Flüchtlingssozialarbeit mussten erst ge-    die sozialen Prozesse der Herstellung eines vermeintlich
         schaffen, Fachkräfte gewonnen und qualifiziert werden.        Anderen und Differenten. Meist sind damit auch Prozesse
         Fluchtbedingte psychische Belastungen, die rechtlichen        der Abwertung, Ausschließung und Distanzierung verbun-
         Regulierungen des Ausländer- und Flüchtlingsrechts            den. Eine solche Differenzkonstruktion beruht auf der Vor-
         und die oft lang andauernde Unsicherheit der aufent-          stellung, dass sich Menschen durch ihre Lebensform, ihre
         haltsrechtlichen Situation stellen für die Geflüchteten und   Kultur oder andere Merkmale anscheinend von der eige-
         die Soziale Arbeit besondere Herausforderungen dar.           nen Gruppe unterscheiden, wobei sich das Eigene erst im
         Eine weitere Problematik ist das Spannungsverhältnis          Zuge der verandernden Abgrenzung konstitutiert. Solche
         zwischen dem sozialstaatlichen Mandat der Sozialen            Differenzpraktiken traten auch im „Sommer der Migra-
         Arbeit, die an die Strukturen des nationalstaatlichen         tion“ zutage. Elisabeth Tuider zeigt, dass sich Rassismus
         Wohlfahrtsstaats gebunden ist, und den Vorgaben des           und Ethnisierungen in der postmigrantischen Gesellschaft
         Ausländer- und Flüchtlingsrechts. Albert Scherr und Helen     keineswegs aufgelöst haben. Othering-Prozesse, soziale
         Breit erörtern das komplexe Gefüge der Rahmenbedin-           und territoriale Grenzziehungen lassen sich selbst in den
         gungen, die bei einem Teil der Geflüchteten nicht auf die     Willkommensinitiativen und in der Unterstützungsarbeit
         Ermöglichung gesellschaftlicher Integration, sondern auf      mit Geflüchteten ausmachen. Mit Interviewauszügen wird
         Zuwanderungs- und Integrationsverhinderung ausgerich-         exemplarisch belegt, wie „das Andere“ in der Flüchtlings-
         tet sind.                                                     arbeit verhandelt wurde. Solidarität zeigte sich einmal
         Für geflüchtete Frauen* ist der Schutz vor Gewalt, die sie    mehr als fragmentiert und verletzlich.
         vor, während und nach der Flucht erleiden, trotz aller ge-    Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen
         wachsenen Sensibilität für diese geschlechtsbezogene          aufschlussreiche Informationen und Einsichten vermittelt
         Gewaltproblematik nach wie vor fragmentiert. Samia Din-       haben, sei an dieser Stelle gedankt. Ein besonderes Dan-
         kelaker und Helen Schwenken erörtern, inwiefern der ge-       keschön gebührt Hans-Jürgen Bieling und Nikolai Huke,
         forderte Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt durch      die mit ihrem fachkundigen Rat zum Entstehen des Heftes
         restriktive Asyl- und Aufenthaltspolitiken und durch struk-   beigetragen haben. Dank gebührt auch dem Schwaben-
         turelle Gewalt ausgehöhlt wird. Die Autorinnen zeigen         verlag und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
         auf, wie die aktuelle Migrations- und Asylpolitik ge-         Druckvorstufe für die stets gute und effiziente Zusammen-
         schlechtsspezifische Gewalterfahrungen von geflüchteten       arbeit.
         Frauen* bedingt. Verdeutlicht wird dies am Beispiel der
         Unterbringung von Geflüchteten in Gemeinschaftsunter-                                                    Siegfried Frech

                                                                                                                                    107

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
MIGR ATION UND TEILHABEKONFLIKTE

         Nach dem „Sommer der Willkommenskultur“:
         Teilhabekonflikte in der postmigrantischen
         Gesellschaft
         Hans-Jürgen Bieling, Nikolai Huke

                                                                       onspolitik für bestimmte Gruppen von Geflüchteten (Huke
         Die vielfältigen Formen zivilgesellschaftlicher Hilfe für     2019a; 2019b).
         Geflüchtete sind nach dem „Sommer der Willkommens-            In der wissenschaftlichen Diskussion werden diese Ent-
         kultur“ im Jahr 2015 nur noch selten ein Thema. Zeit-         wicklungen unterschiedlich interpretiert: Für die einen ver-
         gleich mit den solidarischen Praktiken entstanden For-        weisen sie auf eine Konfliktlinie zwischen pluralistisch ein-
         men der Ausgrenzung, zeigten sich gesellschaftliche           gestellten Teilen der Bevölkerung und rassistischen Vertre-
         Konflikte um Teilhabe. Mit einer eindeutig konturierten       tern einer homogen Nation (Bade 2016; Foroutan 2019).
         soziopolitischen Spaltung lassen sich diese Teilhabekon-      Die anderen konstatierten einen sozialpolitischen Konflikt
         flikte nicht hinreich end erklären. Analysiert man alltags-   um die Verteilung knapper Ressourcen zwischen Flüchtlin-
         praktische Konflikte, wird rasch deutlich, dass Teilhabe-     gen und denjenigen, die sich vor Konkurrenz um soziale
         konflikte durch mehrschichtige gesellschaftliche Macht-       Infrastruktur, Arbeitsplätze oder um Wohnraum fürchten
         und Herrschaftsverhältnisse geprägt sind. Hans-Jürgen         (Jörke/Nachtwey 2017; Sablowski/Thien 2018). Beiden In-
         Bieling und Nikolai Huke illustrieren dies an vier exemp-     terpretationen ist gemeinsam, dass sie von einer relativ
         larischen Handlungs- und Konfliktfeldern. Geflüchtete         eindeutig konturierten soziopolitischen Spaltung in zwei
         müssen zahlreiche Hürden überwinden, um sozial teilha-        Lager ausgehen: Mal läuft die Trennlinie zwischen den
         ben zu können: Abwertung und Isolation, eine unzurei-         Befürworter*innen und Gegner*innen einer postmigranti-
         chende Versorgungslage und defizitäre öffentliche Inf-        schen Gesellschaft, ein anderes Mal zwischen (flüchtlings-
         rastruktur, nicht hinreichend garantierte soziale Rechte      skeptischen) Kommunitarist*innen und (flüchtlingssolidari-
         oder repressive Elemente des Ausländer- und Asylrechts.       schen) Kosmopolit*innen.1
         Für die Überwindung dieser Hürden sind ehrenamtliche          Die These einer polarisierten Gesellschaft ist nicht unzu-
         Helfer*innen und professionelle Beratungsstellen von          treffend. In beträchtlichem Maße sind die Konfliktlinien
         zentraler Bedeutung.                                          aber vor allem das Produkt einer medial-diskursiven Über-
                                                                       zeichnung. So wurde zuletzt auch darauf hingewiesen,

         Einleitung

         Im Jahr 2015 waren tausende Ehrenamtliche engagiert, um
         eine grundlegende Notversorgung für in Deutschland an-
         kommende Geflüchtete anzubieten, die durch überfor-
         derte staatliche Institutionen nur unzureichend gewähr-
         leistet wurde. Die mit diesem Engagement verbundenen
         Bilder der Willkommenskultur sind inzwischen verblasst.
         Medial rückten andere asylpolitische Themen in den Mit-
         telpunkt: so etwa die Konflikte an den Außengrenzen der
         EU (z. B. auf den griechischen Inseln), die Auseinanderset-
         zungen in und um AnkER-Zentren (zuletzt die prekäre Ge-
         sundheitssituation im Zuge der Corona-Pandemie) oder
         Fragen der Arbeitsmarktintegration. Die vielfältigen For-
         men der zivilgesellschaftlichen Hilfe für Geflüchtete sind
         nur noch selten ein Thema.
         Dennoch sind nach wie vor viele Menschen in der Unter-        Die vielfältigen Formen zivil-
         stützung von Geflüchteten aktiv, auch wenn es bei Weitem      gesellschaftlicher Hilfe für
         nicht mehr so viele sind, wie zu den Hochzeiten der Will-     Geflüchtete sind nach dem
         kommenskultur. Die Teilhabe von Geflüchteten war und ist      „Sommer der Willkommens-
         dabei stets umkämpft. Es entstanden neue solidarische         kultur“ im Jahr 2015 nur noch
         Praktiken, ebenso verstärkten sich aber auch Formen der       selten ein Thema. Zeitgleich mit
         Ausgrenzung. Diese reichen von alltäglicher Diskriminie-      den solidarischen Praktiken
         rung über Hetze in den sozialen Medien und rassistische       entstanden Formen der Aus-
         Morde bis hin zu einer – besonders in der Strategie der       grenzung, zeigten sich gesell-
         AnkER-Zentren sichtbar werdenden – staatlichen Isolati-       schaftliche Konflikte um Teil-
                                                                       habe.          picture alliance/dpa

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
dass sich viele Solidaritäten und Konflikte nicht in das Mus-              NACH DEM „SOMMER DER WILLKOMMENSKULTUR“:
         ter der skizzierten dichotomisierenden Gegenüberstellung                                     TEILHABEKONFLIKTE IN DER
         fügen, sondern oft quer zu ihr verlaufen (Biskamp 2019; Alt-                         POSTMIGRANTISCHEN GESELLSCHAFT
         reiter et al. 2019). Dies gilt unseres Erachtens auch für die
         gesellschaftlichen Konflikte um Teilhabe, die mit dem Zu-       schiedlichen Gruppen von Geflüchteten (z. B. als Antiziga-
         zug von Geflüchteten verbunden sind. Auch der Integrati-        nismus und Anti-Schwarzer-Rassismus von Geflüchteten
         onsbericht der Bundesregierung (vgl. Beauftragte der Bun-       aus Syrien oder Afghanistan). Statt eine Konfliktlinie zwi-
         desregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration         schen pluralistischen und rassistischen Teilen der Bevölke-
         2019) zeichnet im Versuch, die Potenziale der Migration         rung – wie sie in der These der umkämpften pluralen Demo-
         stärker zu würdigen, ein mehrdimensionales – zahlreiche         kratie von Naika Foroutan (2019) durchscheint – anzuneh-
         Komponenten der Persönlichkeitsentwicklung berücksich-          men, lassen sich stratifizierte Rassismen entlang einer
         tigendes – Bild gesellschaftlicher Teilhabe. Allerdings wird    Vielzahl abwertender Differenz- und Fremdgruppenkonst-
         in dem Bericht eine Top-down-Perspektive eingenommen.           ruktionen beobachten. Der Rassismus der Mehrheitsge-
         Allgemeine Entwicklungen stehen im Vordergrund. Welche          sellschaft ist jedoch insofern besonders gewichtig, als er
         alltagspraktischen Konflikte sich für die Geflüchteten erge-    umfassend darauf hinwirkt, die soziale Teilhabe von Ge-
         ben, wird nicht betrachtet. Darum soll es nachfolgend ge-       flüchteten in vielen gesellschaftlichen Bereichen real zu
         hen. Wir möchten unter Rückgriff auf unser empirisches In-      verunmöglichen.
         terviewmaterial aus dem durch das Bundesministerium für         Ausgrenzung beginnt, wenn auch ungewollt, bereits in
         Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungs-            dem Moment, in dem Teile der Mehrheitsgesellschaft ei-
         projekt „Willkommenskultur und Demokratie in Deutsch-           nen Kontakt zu Geflüchteten verweigern. Die Mitarbeiterin
         land“ 2 zeigen, dass gesellschaftliche Teilhabekonflikte        eines Begegnungscafés in einer Kirche berichtet:
         durch mehrschichtige gesellschaftliche Macht- und Herr-         „Da war so ein Buffet hier draußen in dem Korridor aufgebaut
         schaftsverhältnisse geprägt sind (Klinger et al. 2007), die     und es gab ja immer auch parallele Gemeindeveranstaltun-
         die Formen der (Nicht-)Zugehörigkeit zur Gesellschaft be-       gen hier. Da kamen die Leute vorbei und die Flüchtlinge dann
         stimmen. Wie dies zu verstehen ist, wird mit Blick auf vier     so: ‚Hier, greifen Sie zu, nehmen Sie!‘ Und die Leute dann:
         exemplarische Handlungs- und Konfliktfelder illustriert, in     ‚Danke, danke, danke [ablehnend].‘ Einerseits scheu und auf
         denen die Teilhabe von Geflüchteten ausgehandelt wird.          der anderen Seite fast ein bisschen Angst oder halt so: ‚Das
                                                                         wollen wir eigentlich nicht.‘ Nur ganz wenige haben gesagt:
                                                                         ‚Ja, wir gehen da mal hin.‘ Oder: ‚Oh das riecht ja hier gut, das
         Teilhabe trotz Diskriminierung und Gewalt                       probieren wir mal.‘“

         Eine Teilhabe von Geflüchteten, so zeigt das Konfliktfeld       Das Spektrum der Ausgrenzung und Gewalt reicht bis zu
         „Diskriminierung und Gewalt“, wird durch gewaltsame,            physischen Übergriffen. Ein Ehrenamtlicher aus Sachsen
         ausgrenzende und abwertende Praktiken erschwert. Ent-           erzählt, er „kenne viele Frauen, die Kopftuch tragen. Die
         sprechende Praktiken finden sich auch zwischen unter-           haben hier einiges auszuhalten in Dresden. Ich habe eine
                                                                         syrische Familie, die sind nach Düsseldorf gezogen, bei
                                                                         der der Mann gesagt hat: ‚Wir wissen jetzt erst, wie
                                                                         schlimm es in Dresden ist. Meine Frau ist jeden Tag ge-
                                                                         schubst, angerempelt, teilweise bespuckt worden wegen
                                                                         ihres Kopftuchs.‘ Also das ist schon krass in Dresden. Auch
                                                                         das eritreische Mädchen […] hat mir […] erzählt, dass sie
                                                                         ganz oft den Stinkefinger gezeigt bekommt. Dass sie ange-
                                                                         schrien wird. Das hat sie am Anfang nicht verstanden. Mitt-
                                                                         lerweile versteht sie das. Es hat sie auch mal jemand sehr
                                                                         stark geschubst in der Bahn. Das passiert andauernd.“
                                                                         Alltagsrassismus verstärkt für die Geflüchteten die soziale
                                                                         Isolation, vor allem dann, wenn familiäre Netzwerke und
                                                                         Kontakte vor Ort fehlen. Viele Geflüchtete haben große
                                                                         Schwierigkeiten, mit Deutschen oder länger in Deutsch-
                                                                         land lebenden Menschen in Kontakt zu kommen. Die ge-
                                                                         sellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten setzt voraus,
                                                                         dass sich solidarische Praktiken verallgemeinern, die Be-
                                                                         gegnung und Austausch ermöglichen, die oft aber gegen
                                                                         rassistische Ausgrenzung durchgesetzt werden müssen.
                                                                         Die Teilhabe geflüchteter Frauen ist nicht nur durch rassis-
                                                                         tische Übergriffe bedroht, sondern wird in einigen Fällen
                                                                         auch durch patriarchale Gewalt beeinträchtigt, erzählt ein
                                                                         Ehrenamtlicher aus Sachsen:
                                                                         „Ich kenne viele Frauen, die hier plötzlich dann feststellen:
                                                                         Wow, ich kann ja hier alles machen. Und wir haben hier eine
                                                                         Familie […], wo der Mann seiner Frau hoffnungslos unterlegen
                                                                         ist. In allem. […] Er hat Schwierigkeiten, die Sprache zu lernen.
                                                                         Er ist auch ein bisschen eine Schlafmütze muss man sagen.
                                                                         Aber […] der ist aufgewachsen in einer Gesellschaft, in der es

                                                                                                                                             109

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
Hans-Jürgen Bieling, Nikolai Huke
                                        reicht, dass du ein Mann bist. Da brauchst du dich nicht anzu-
                                        strengen. Und jetzt kriegt er plötzlich mit, seine Frau hat jetzt
                                        ein Praktikum gemacht als Altenpflegerin. Jetzt macht sie eine
                                        Berufsausbildung. Hat total schnell Deutsch gelernt. Und der
                                        […] ja das sind echt Konflikte. Ich kenne das ja aus meiner Pa-
                                        tenfamilie auch. Da ist der Mann wegen Gewalttätigkeit ent-
                                        fernt worden aus der Familie. Genau deshalb.“

                                        Homophobe Gewalt ist auch in Flüchtlingsunterkünften
                                        verbreitet. 3 Teilhabe von Geflüchteten zu fördern und zu
                                        sichern, heißt vor diesem Hintergrund, nicht nur eine Di-
                                        mension von Ausgrenzung (z. B. Rassismus) in den Blick zu
                                        nehmen, sondern auch geschlechtsspezifische Hierarchien
                                        und daraus resultierende Formen der Diskriminierung –
                                        etwa patriarchale oder homophobe Gewalt in Flüchtlings-
                                        unterkünften – in die Betrachtung mit einzubeziehen.

                                        Teilhabe trotz unterfinanzierter staatlicher
                                        Infrastruktur

                                        Ein zweites Konfliktfeld, in dem Teilhabe von Geflüchteten
                                        verhandelt wird, bezieht sich auf die staatliche Infrastruk-
                                        tur wie z. B. die Gesundheitsversorgung, die Bildungs-
                                        angebote oder den öffentlichen Personennahverkehr. Ty-              Jobsuchende bei der Jobbörse für Geflüchtete und ausländi-
                                        pisch ist hier eine Konfliktlinie zwischen dem Staat, der oft       sche Mitbürger in Berlin. Charakteristisch für viele Jobs sind
                                        nur eine unzureichende Versorgung gewährleistet, und                atypische Arbeitszeiten, belastende Tätigkeiten und eine
                                        Nutzer*innen von Dienstleistungen. Geflüchtete machen               relativ geringe Bezahlung. Oft sind die bestehenden Arbeits-
                                        bestehende Versorgungslücken exemplarisch sichtbar, die             rechte in prekären Beschäftigungsverhältnissen nicht oder
                                        auch andere gesellschaftliche Gruppen betreffen. Es geht            nur begrenzt einklagbar.                     picture alliance/dpa
                                        weniger um eine Konkurrenz – wie es die empirisch in der
                                        Regel nur begrenzt geprüfte These verschärfter Vertei-
                                        lungskonflikte nahelegt – zwischen Geflüchteten und be-             Kitabetreuung zu finden und das Angebot an Frauenintegrati-
                                        reits zuvor in Deutschland lebenden Nutzer*innen, als viel-         onskursen oder Familienintegrationskursen ist auch nicht […]
                                        mehr um eine generelle Unterfinanzierung der Infrastruk-            besonders gut ausgebaut.“
                                        tur. Hierunter leiden insbesondere diejenigen mit prekärem
                                        sozioökonomischen Status, zu denen unter anderem, aber              Zur Behandlung von psychischen Problemen und traumati-
                                        bei weitem nicht nur, Geflüchtete zählen.                           schen Erfahrungen stehen aufgrund der Unterfinanzierung
                                        In Wohnunterkünften sind Geflüchtete teilweise am Rande             staatlicher Infrastruktur im Gesundheitsbereich nur unzu-
                                        der Gesellschaft untergebracht, berichtet ein Mitarbeiter           reichende Möglichkeiten zur Verfügung. Immer wieder
                                        eines Flüchtlingsrats in Bayern:                                    wird in unseren Interviews darauf hingewiesen, dass die
                                        „Es gibt […] jede Menge negative Geschichten, wo dann die           Wartezeiten extrem lang sind und es nicht genug Trauma-
                                        Flüchtlinge drei Kilometer außerhalb vom Ort in irgendeinem         Therapeut*innen gibt. Beratungsangebote sind nach den
                                        abgelegenen Weiler untergebracht sind oder in einer Contai-         Erfahrungen von Beratungsstellen häufig „nicht in der
                                        nersiedlung hinter einem Werkstoffhof irgendwo im Industrie-        Sprache vorhanden, in der sie sein müssten“.
                                        gebiet oder sonst was, wo es nicht geklappt hat, die Flücht-        Da ihnen eine Verkehrsanbindung fehlt, sie nur unzurei-
                                        linge zu integrieren. Die Flüchtlinge waren auf sich gestellt und   chend die Sprache lernen können oder mit ihren Traumata
                                        die Einheimischen konnten so tun, als wären sie nicht da.“          und psychischen Belastungen alleine gelassen werden,
                                                                                                            sind viele Geflüchtete gesellschaftlich marginalisiert. Ein
                                        Da sie oft nicht über einen Führerschein verfügen oder sich         zentraler Konflikt um Teilhabe ist daher der Ausbau öffent-
                                        kein Auto leisten können, sind Geflüchtete auf den ÖPNV             licher Infrastruktur – nicht nur, aber auch für Geflüchtete.
                                        angewiesen. Eine fehlende Anbindung – etwa im ländli-
                                        chen Raum – wird daher am Beispiel der Geflüchteten be-
                                        sonders deutlich, erzählt eine Beraterin aus Hessen: „Wenn          Teilhabe trotz der fehlenden Garantie sozialer
                                        man […] in einem Dorf untergekommen ist und der einzige             Rechte
                                        Bus irgendwie morgens um acht fährt, ja, […] da komme ich
                                        nicht raus.“                                                        Ähnlich wie im zweiten verlaufen auch die Auseinanderset-
                                        Auch Sprachkursangebote sind teilweise nur unzureichend             zungen im dritten Konfliktfeld, nur dass sie hier primär die
                                        vorhanden. Besonders deutlich wird dies bei Geflüchteten            Form von Konflikten mit privatwirtschaftlichen Akteuren an-
                                        mit Kinderbetreuungsverpflichtungen, vorwiegend Frauen,             nehmen. So sind einige Flüchtlinge durch ihre spezifische
                                        stellt ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle in Sachsen fest:       Situation besonders vulnerabel, was eine Ausbeutung
                                        „Problembereich bei […] Mütter[n] […] mit Kindern [ist], dass       durch Arbeitgeber und Vermieter betrifft. Ihre Erfahrungen
                                        es oft ein bisschen hapern kann, mit der Kinderbetreuung. Dass      auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sind exemplarisch
                                        es oft nicht so leicht ist, dann in unmittelbarer Nähe dann auch    für diejenigen Teile der Bevölkerung, die von rassistischer

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
NACH DEM „SOMMER DER WILLKOMMENSKULTUR“:
                                                                                                        TEILHABEKONFLIKTE IN DER
                                                                                                POSTMIGRANTISCHEN GESELLSCHAFT

                                                                           wort Jobcenter sage oder […] ich bin Flüchtling, habe ich
                                                                           sehr wenig Chancen auf dem Wohnungsmarkt.“ Um die
                                                                           Chance auf eine eigene Wohnung zu bekommen, sind Ge-
                                                                           flüchtete gezwungen, auch überteuerten Wohnraum in mi-
                                                                           serablem Zustand anzunehmen. Es gibt zahlreiche „Ver-
                                                                           mieter […], die wirklich unmöglichste Sachen vermieten, für
                                                                           teuerstes, sehr teures Geld. […] Einfach total unmoralisch“,
                                                                           kritisiert die Mitarbeiterin einer Industrie- und Handels-
                                                                           kammer in Baden-Württemberg. So werden nach den Er-
                                                                           fahrungen eines Mitarbeiters eines Projektträgers in Hes-
                                                                           sen teilweise „feuchte Keller vermietet […] Wo man dann
                                                                           auch gesagt hat: ‚Was sind das für Zustände, wie kann
                                                                           man so was vermieten?‘ Aber klar, wo Leute […] in der Not
                                                                           sind, […] nehmen sie alles in Kauf.“
                                                                           Auf dem Arbeitsmarkt kommen Geflüchtete häufig in Jobs
                                                                           unter, die „sage ich mal, der Deutsche […] in Anführungs-
                                                                           strichen […] nicht mehr macht, also wo man […] keinen
                                                                           mehr für bekommt“, berichtet der Mitarbeiter weiter. Cha-
                                                                           rakteristisch für eine solche Beschäftigung sind atypische
                                                                           Arbeitszeiten, belastende Tätigkeiten und eine relativ ge-
                                                                           ringe Bezahlung. Oft sind die bestehenden Arbeitsrechte
                                                                           in prekären Beschäftigungsverhältnissen nicht oder nur
         Diskriminierung und/oder sozioökonomischer Ausgren-               begrenzt einklagbar. Aber selbst wenn sie einklagbar
         zung betroffen sind. Typisch ist eine geringe Handlungs-          sind, bleiben Geflüchtete in den Betrieben vielfach einer
         macht, um Rechtsverletzungen von Vermietern oder Arbeit-          großen Unsicherheit und alltäglichen Diskriminierung aus-
         gebern zu sanktionieren. Selbst wenn soziale Rechte for-          gesetzt. Der Mitarbeiter einer Beratungsstelle in Baden-
         mal gegeben sind (z. B. Arbeitsrechte oder Mieterschutz),         Württemberg erzählt von einem Fallbeispiel aus dem
         werden sie oft nicht gewährt und sind de facto auch kaum          Arbeitsalltag:
         einklagbar. Die These, dass Geflüchtete für andere Bevöl-         „Ich hatte einen Fall, das war ein schwarzer Mitarbeiter aus
         kerungsgruppen eine direkte Konkurrenz auf dem Woh-               Nigeria. Er hat eben ganz wenig Deutsch gesprochen, eher
         nungs- oder Arbeitsmarkt darstellen, wird von fast allen          Englisch. Er hat in der Systemgastronomie gearbeitet […]. Seit
         Interviewpartner*innen – Wirtschaftsverbänden, Ge-                sechs Wochen vielleicht bei der Arbeit oder seit fünf Wochen
         werkschaften, staatlichen Behörden und ehrenamtlichen             und wollte […] wissen: Wie ist mein Arbeitsvertrag? Was steht
         Helfer*innen – deutlich zurückgewiesen: Auf dem Arbeits-          da eigentlich drinnen? Er hat ihn unterschrieben, ohne dass er
         markt, so die Erfahrungen aus der Praxis, übernehmen Ge-          es lesen konnte. Er hat sich zu diesem Zeitpunkt gewundert,
         flüchtete wesentlich Arbeitsplätze, für die keine anderen         dass er nur zur Nachtschicht eingesetzt wurde. Alle anderen
         Beschäftigten zur Verfügung stehen. Auf dem privaten              Mitarbeiter wurden auch tagsüber eingesetzt, er ist nur in der
         Wohnungsmarkt sind Geflüchtete durch rassistische und             Nachtschicht.“
         sozioökonomische Diskriminierung von Seiten der Vermie-
         ter weitgehend chancenlos – und daher für die meisten             Gegenwehr sei häufig schwierig. Geflüchtete wüssten
         keine Konkurrenz.                                                 zwar sehr gut, was Rassismus ist, seien zumeist aber kaum
         Diskriminierung ist auf dem Wohnungsmarkt alltäglich, er-         über das deutsche Recht, auch über Antidiskriminierungs-
         zählt die Mitarbeiterin eines Projektträgers in Hessen:           bestimmungen im Arbeits-, Sozial- oder Mietrecht infor-
         „Je dunkler jemand von der Gesichtsfarbe, von der Hautfarbe       miert. Für sie stünden jedoch andere Sorgen im Vorder-
         ist, desto schwieriger ist es, eine Wohnung zu finden. Mittler-   grund. „Sie wollen einen Job, sie wollen eine Wohnung
         weile ist es auch für Syrer schwer […]. Und ich glaube, je        […]. Aber auf jeden Fall haben sie andere Sorgen als da-
         schwärzer man wird, desto mehr Pech hat man. Wir wissen das       gegen [gegen Diskriminierung] vorzugehen“, berichtet er
         auch von den Roma.“                                               weiter. Charakteristisch ist in einigen Fällen eine resigna-
                                                                           tive Haltung, konstatiert die Mitarbeiterin einer Beratungs-
         Einige Vermieter*innen reagieren, so die Berichte von Eh-         stelle in Niedersachsen: „Das ist mir schon ein paarmal
         renamtlichen, die Geflüchtete bei der Wohnungssuche un-           aufgefallen, dass so Sachen dann gefallen sind wie: ‚Ja,
         terstützen, offen rassistisch: „Ganz oft […], wenn man eine       das machen die, weil wir Ausländer sind.‘ ‚Ja, das ist an-
         […] Wohnung sucht und da anruft, [kommt als Antwort]:             ders für uns als Ausländer.‘ […] Mit so einer Selbstver-
         ‚Nee, Neger wollen wir nicht‘.“ Die prekären Lebensbedin-         ständlichkeit, […] als wenn das einfach okay wäre, und es
         gungen erschweren zusätzlich noch die Wohnraumsuche.              ist halt so und es wird so hingenommen. Und nicht so […]:
         „Ohne Arbeitsvertrag und, und, und, bekommt man hier              ‚Wir werden diskriminiert, weil wir Ausländer sind und […]
         […] keine Wohnung“, stellt die Mitarbeiterin einer Bera-          wir machen jetzt was dagegen‘, sondern: ‚Es ist so, wir sind
         tungsstelle in Hessen fest. Rassismus überschneidet sich          Ausländer.‘“
         dabei teilweise mit klassischer Diskriminierung, wie ein an-      Verantwortlich für diese passive bis resignative Haltung
         derer Interviewpartner berichtet: „Sobald ich [das] Stich-        sind Erfahrungen von Machtlosigkeit und Diskriminierung,

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Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
Hans-Jürgen Bieling, Nikolai Huke
                                        aber auch der unsichere Aufenthaltsstatus vieler Geflüch-          wird die Zukunftsunsicherheit zu einem dauerhaften Zu-
                                        teter, stellt sie fest:                                            stand. Selbst jene Gruppen, denen mittelfristig ein Bleibe-
                                        „Warum die Leute auch schnell Opfer werden, ist natürlich          recht eingeräumt wird, bleiben teilweise in einem Zustand
                                        auch oft diese Kopplung von Arbeitsplatz und Aufenthaltstitel      der Verunsicherung – und warten auf künftige Entschei-
                                        […] Also dass ich, dass sie eine Arbeitsgenehmigung für einen      dungen. Der Mitarbeiter eines Projektträgers in Baden-
                                        spezifischen Arbeitsplatz bekommen und da natürlich auch           Württemberg berichtet von seinen Erfahrungen:
                                        Angst haben, diese Arbeitsgenehmigung irgendwie zu verlie-         „Die Thematik ist bei jungen Syrern da. Wie lange habe ich
                                        ren, wenn sie diesen Arbeitsplatz verlieren und sich dann auch     denn Aufenthalt hier? Ist er nur vorübergehend? Es gibt jetzt ja
                                        einiges gefallen lassen“.                                          Überlegungen in der Politik doch abzuschieben nach Syrien,
                                                                                                           nicht gesetzlich verankert, aber es gibt ja immer wieder diese
                                        Um die soziale Teilhabe von Geflüchteten zu verbessern             Überlegungen. Also viele Syrer kommen auch immer wieder
                                        und zu sichern, reicht es vor diesem Hintergrund nicht aus,        her und sagen: ‚Wie geht es denn weiter, wenn mein Aufent-
                                        nur gegen rassistische Diskriminierung vorzugehen. Erfor-          haltstitel nach drei Jahren abgelaufen ist?‘“
                                        derlich ist vielmehr ein umfassend angelegter Prozess der
                                        sozialen Ermächtigung von prekär Beschäftigten und Mie-            All dies zeigt, dass die soziale Teilhabe von Geflüchteten
                                        tern in sozioökonomisch deprivierten Lebenslagen. Nur              maßgeblich davon abhängig bleibt, ob es gelingt, ihre
                                        dann wird es möglich, soziale Rechte von Armutsbetroffe-           aufenthaltsrechtliche Situation zu regularisieren und lang-
                                        nen, zu denen auch einige Geflüchtete zählen, in der Aus-          fristige Zukunfts- und Bleibeperspektiven zu entwickeln.
                                        einandersetzung mit gesellschaftlicher sozialer Ungleich-          Notwendig wären hierfür rechtliche Regelungen, die dar-
                                        heit abzusichern.                                                  auf verzichten, Geflüchtete durch prekäre Aufenthaltstitel
                                                                                                           für einen langen Zeitraum zu einem Leben im Abseits zu
                                                                                                           verdammen.
                                        Teilhabe trotz prekärem Aufenthaltsstatus

                                        Die bislang skizzierten Konflikte um Teilhabe beziehen             Fazit
                                        auch andere diskriminierte Gruppen in der Bevölkerung
                                        mit ein. Für die Geflüchteten kommt zusätzlich ein spezifi-        Die dargestellten Teilhabekonflikte von Geflüchteten ma-
                                        sches viertes Konfliktfeld hinzu: ungesicherte Aufenthaltsti-      chen vielfältige Formen der Ungleichheit in Deutschland
                                        tel und unklare Zukunftsperspektiven. So ist der Asylpro-          sichtbar, die von rassistischer Diskriminierung über patriar-
                                        zess mit einem langen Zeitraum der Unsicherheit verbun-            chale Gewalt und sozioökonomische Deprivation bis hin
                                        den, erzählt ein Geflüchteter aus Hamburg:                         zu Prozessen der Entrechtung reichen. Um sozial teilhaben
                                        „Sie [die Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft] haben gesagt,      zu können, müssen Geflüchtete zahlreiche Hürden über-
                                        sie sind es leid, zu warten. Vor allem diejenigen aus Afghanis-    winden: Abwertung, Ausgrenzung und Isolation, eine un-
                                        tan, Iran und viele andere. […] Sie brauchen ihre Papiere, sie     zureichende Versorgungslage und defizitäre öffentliche
                                        wollen arbeiten, sie brauchen dieses und jenes. Ich habe ihnen     Infrastruktur, nicht hinreichend garantierte soziale Rechte
                                        gesagt: ‚Ihr müsst geduldig sein. […] Euer Fall wird bearbeitet’   oder repressive Elemente des Asyl- und Ausländerrechts.
                                        […] Ich habe sie ermutigt, weil einige gesagt haben: ‚Wir sind     Diese und weitere Hürden schaffen für viele Personen unsi-
                                        so müde. Das ist Stress, das ist zu viel‘“ (Übers. d. Verf.).      chere Zukunftsperspektiven. Die Konfliktlinien verlaufen
                                        Im Zeitraums ihres Verfahrens bekommen Geflüchtete im-             dabei zum einen zwischen Geflüchteten und Teilen der
                                        mer wieder mit, wie Menschen aus ihrem Umfeld abge-                Mehrheitsgesellschaft (z. B. bei rassistischer Diskriminie-
                                        schoben werden, wodurch sie verstört und verängstigt               rung), zum anderen aber auch zwischen sozioökonomisch
                                        werden, selbst wenn sie nicht unmittelbar betroffen sind, so       deprivierten Gruppen in der Gesellschaft – zu denen auch
                                        eine ehemalige Mitarbeiterin einer hessischen Erstaufnah-          viele Geflüchtete zählen – und dem Staat, aber auch Ver-
                                        meeinrichtung:                                                     mietern oder Arbeitgebern. Konzeptionen, die von zwei
                                        „Als wir Nachtschicht hatten, kamen auf einmal vierzehn Poli-      gesellschaftlichen Lagern ausgehen – seien es Be für wor-
                                        zeiwagen. Sie sind einfach in die Zimmer reingestürmt, da wa-      ter* innen oder Gegner*innen einer postmigrantischen
                                        ren kleine Kinder am Schlafen, die haben den Leuten wirklich       Gesellschaft oder (flüchtlingsskeptische) Kom mu ni ta rist*-
                                        nur ein paar Minuten Zeit gegeben […] einzupacken und dann         innen und (flüchtlingssolidarische) Kos mo po lit *in nen –, er-
                                        mussten sie sofort weg. Und das haben auch die anderen mit-        scheinen uns als deutlich zu unterkomplex, um die sich
                                        bekommen und am nächsten Tag war da Panik, weil okay, es           überkreuzenden „Achsen der Ungleichheit“ (Klinger et al.
                                        heißt, ‚nur Albaner werden zur Zeit abgeschoben, aber was          2007) zu erfassen, die soziale Teilhabekonflikte – auch die
                                        ist, wenn sie mal einfach uns hier auch mitnehmen?‘.“              von Geflüchteten – strukturieren.
                                                                                                           Von zentraler Bedeutung für die soziale Teilhabe von Ge-
                                        Zusätzlich verlängert wird der Wartezeitraum auf einen             flüchteten sind dabei ehrenamtliche Helfer*innen und pro-
                                        gesicherten Aufenthalt durch Klageverfahren, die notwen-           fessionelle Beratungsstellen. In den alltäglichen Prozessen
                                        dig werden, wenn das Asylverfahren mit einem (fehlerhaf-           übersetzen sie Formulare, stellen Systemwissen (z. B. über
                                        ten) negativen Bescheid abgeschlossen wird. Da im Asyl-            Behörden und Arbeitsrechte) zur Verfügung, begleiten Ge-
                                        prozess die individuelle Situation der Geflüchteten häufig         flüchtete und wirken darauf hin, deren spezifische Prob-
                                        nur unzureichend berücksichtigt worden ist, besteht in vie-        leme zu lösen und damit auch Teilhabechancen zu verbes-
                                        len Fällen Aussicht auf eine Revision des Bescheids. Viele         sern. Die Aktivitäten der Engagierten erzeugen nicht nur
                                        Geflüchtete erhalten dadurch nachträglich einen Schutz-            bei den Beteiligten neue Erfahrungen solidarischer Inter-
                                        status.                                                            aktionen und Aushandlungsprozesse, die autoritärem Po-
                                        Für Geflüchtete, deren Asylantrag negativ beschieden               pulismus und diskriminierenden Einstellungsmustern entge-
                                        wird und die anschließend einen Duldungsstatus erhalten,           genwirken (Tietje 2020). Durch ihren pragmatischen und

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bis2020_03_inhalt.indd 112                                                                                                                                              11.08.20 08:29
gleichzeitig radikal problemlösenden Charakter treiben                                       NACH DEM „SOMMER DER WILLKOMMENSKULTUR“:
         sie die Diskussion über eine auf Gleichberechtigung und                                                        TEILHABEKONFLIKTE IN DER
         soziale Teilhabe ausgerichtete Organisation und Operati-                                               POSTMIGRANTISCHEN GESELLSCHAFT
         onsweise einer postmigrantischen Gesellschaft voran
         (Huke 2019a). Dies erfordert nicht nur einen Einsatz gegen                      Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hrsg.) (2007): Ach-
                                                                                            sen der Ungleichheit. Frankfurt, New York.
         rassistische Diskriminierung, sondern schließt auch Pro-                        Sablowski, Thomas/Thien, Günter (2018): Die AfD, die ArbeiterInnenklas-
         zesse einer partizipativen Umverteilung gesellschaftlicher                         se und die Linke – kein Problem? In: PROKLA. Zeitschrift für kritische
         Ressourcen mit ein. Dynamisiert und vorangetrieben wer-                            Sozialwissenschaft, Nr. 190, S. 55–71
                                                                                         Tietje, Olaf (2020): „Das geht nicht, wir müssen was machen!“. Ambivalen-
         den entsprechende Transformationsprozesse auch und                                 zen von Solidarität in der aktiven Bürgergesellschaft. In: sozialmagazin
         insbesondere durch selbstorganisierte Proteste von Ge-                             45 (1), im Erscheinen.
         flüchteten, die Grenzen von Teilhabe auf verschiedenen
         Achsen der Ungleichheit in exemplarischer Art und Weise
         sichtbar machen. 4                                                              ANMERKUNGEN
         Die Annahme sich überlagernder Konfliktlinien eröffnet
                                                                                         1 Exemplarisch werden die beiden Positionen in einem Streitgespräch
         eine differenzierte Perspektive auf soziale Teilhabe: Wer in                    zwischen Naika Foroutan und Wolfgang Merkel sichtbar; vgl. URL: htt-
         einer Dimension teilhaben kann, kann auf einer anderen                          ps://taz.de/Linksliberale-und-Identitaetspolitik/!5652406/ [03.06.2020].
         Ebene durchaus von Ausgrenzung und Diskriminierung be-                          2 Weitere Informationen unter www.welcome-democracy.de. Die Inter-
                                                                                         views wurden zwischen Anfang 2018 und Ende 2019 durchgeführt. Im
         troffen sein. Bei den rekonstruierten Teilhabekonflikten                        Sinne der Anonymisierung wird die soziale Rolle der Autor*innen der Zi-
         handelt es sich eigentlich nur beim Aufenthaltsstatus um                        tate nur grob benannt.
         ein unmittelbares „Flüchtlingsproblem“. Den Grenzen der                         3 Exemplarisch wird dies unter anderem im Dokumentarfilm „Neue
                                                                                         Nachbar*innen. Von der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete zur ei-
         Teilhabe in den anderen Konfliktfeldern sind ebenso an-                         genen Wohnung“ von Anne Frisius sichtbar. Der Film ist unter http://wel-
         dere soziale Gruppen ausgesetzt. In unserem Material fin-                       come-democracy.de/dokumentarfilme online verfügbar.
         den sich kaum Belege dafür, dass Verteilungskonflikte zu                        4 In ihrem Dokumentarfilm „‘Wenn wir auf die Regierung warten, wird
                                                                                         nichts passieren‘. Aktivismus von Geflüchteten in Hamburg“ porträtiert
         Rassismus führen: Es wird in erster Linie sichtbar, dass auf-                   Anne Frisius einige dieser Proteste. Der Film ist online verfügbar unter ht-
         grund von Rassismus Verteilungskonflikte spezifisch ge-                         tp://welcome-democracy.de/dokumentarfilme [03.06.2020].
         deutet werden, da Verteilungskonflikte „völkisch“ reinter-
         priert und aufgeladen werden. Politische Konzepte, die
         darauf abzielen, die Teilhabechancen unterschiedlicher
         sozioökonomisch deprivierter Gruppen auszuweiten, wer-
         den damit erschwert, vielleicht sogar verunmöglicht. Auto-
         ritärer Populismus verfestigt somit klassenspezifische sozi-

                                                                                                                                                                 UNSERE AUTOREN
         ale Ungleichheiten und spaltet den Widerstand dagegen,
         statt die Interessen sozial benachteiligter Gruppen zusam-
         menzuführen. Um dem zu begegnen, lohnt es sich, einen
         Perspektivwechsel vorzunehmen und die Gesellschaft
         nicht nur aus der Perspektive sich durch vermeintliche Kon-
         kurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt bedroht
         wähnender Teile der Mehrheitsgesellschaft zu betrachten,
         sondern die vielfältigen Erfahrungen und Sichtweisen der
         von Armut, Rassismus, traumatischer Gewalt und rechtli-
         cher Diskriminierung Betroffenen in den Blick zu nehmen.                          Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling leitet den Arbeitsbereich Politik und
                                                                                           Wirtschaft/Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft
                                                                                           der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Forschungs-
                                                                                           schwerpunkte liegen in den Bereichen der Internationalen Politi-
          LITER ATUR                                                                       schen Ökonomie, Europäischen Integration sowie der Staats-,
         Altreiter, Carina/Flecker, Jörg/Papouschek, Ulrike/Schindler, Saskia/             Politik- und Gesellschaftstheorie.
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            schrift für kritische Sozialwissenschaft, Nr. 197, S. 631–644.                 Bewegungen, Krisen der Demokratie und autoritärem Populis-
         Jörke, Dirk/Nachtwey, Oliver (2017): Die rechtspopulistische Hydraulik
            der Sozialdemokratie. Zur politischen Soziologie neuer und alter Arbei-        mus.
            terparteien. In: Leviathan, Sonderband 32, S. 163–186.

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R ASSISMUSAMNESIE UND PANDEMIE

         Nach der Krise ist vor der Krise: Rassismus und
         Teilhabe in einer postpandemischen Welt
         Fatima El-Tayeb

                                                                       dem nächsten „Ausnahmezustand“ erneut mit äußerster
         Die Corona-Pandemie ist eine weitere Krise, in der wie-       Überraschung begegnet, eine plötzliche Krise, wie gehabt
         derum Rassismusamnesie sichtbar wird. Rassismusamne-          von den Anderen, den ewig fremd Bleibenden, ausgelöst.
         sie meint die Dialektik von rassistischer Panik angesichts    Zum letzten Mal wurde dies in der sogenannten Flücht-
         des vermeintlich Fremden und Verdrängung der (histori-        lingskrise deutlich (als solche erst wahrgenommen als sie
         schen) Präsenz rassifizierter Bevölkerungen. Auch die         zur Belastung für Deutschland wurde). Diese schien wiede-
         sogenannte Flüchtlingskrise, beginnend im Jahr 2015,          rum eine deutsche Identitätskrise auszulösen – pendelnd
         weist ein ähnliches Muster auf. Deutschland und andere        zwischen Gutmenschen-Willkommenskultur und offenen
         europäische Gesellschaften befinden sich in einem stän-       Grenzen auf der einen Seite, brennenden Flüchtlingshei-
         digen Krisenmodus, der stets die gleichen Reaktionen          men und verschärften Asylgesetzen auf der anderen.
         auslöst und zwei grundlegende Fragen aufwirft: Ist Kri-       Während sich die Lage fast täglich zu verändern schien,
         senproduktion ein notwendiger Bestandteil der (nationa-       wurde schnell klar, dass diese angeblich nie da gewese-
         len) deutschen Identität? Welche Form von Vergessen           nen, unvorhersehbaren Entwicklungen tatsächlich in ein
         verlangt die stetige Reproduktion scheinbar immer neuer       bekanntes Muster fielen, ein Muster, in dem ein stabiles
         krisenhafter Zustände? Die Einbettung Deutschlands in         Deutschland sich immer wieder gegen ein außerhalb sei-
         ein globales System, das sich weder durch Nachhaltig-         ner Grenzen produziertes Chaos verteidigen muss. Es
         keit noch Gerechtigkeit auszeichnet, produziert ständig       herrschte ein Tenor der Überforderung – durch die EU Fi-
         Krisen, die nicht gelöst, sondern externalisiert werden.      nanzkrise, die muslimische Minderheit, die Masse von
         Fatima El-Tayeb erläutert dies am Beispiel der (verwei-       Flüchtenden, die alle am liebsten nach Deutschland kom-
         gerten) Teilhabe von Geflüchteten und plädiert für den        men wollten …
         intersektionalen Ansatz der Mutual Aid, der eine bessere      Kurz, die drohende Instabilität im Innern musste durch Ab-
         Alternative darstellt.                                        grenzung und Ausschluss der destabilisierenden Elemente
                                                                       abgewendet werden. Dieser scheinbare Krisenmoment ist
                                                                       jedoch mindestens seit der Wiedervereinigung Normalzu-
                                                                       stand. Selbst die Themen bleiben fast gleich: von der Asyl-
         Rassismusamnesie und Wiederholungszwang

         Der Sommer 2015 und die mit ihm einhergehende soge-
         nannte Flüchtlingskrise scheint heute, im Frühsommer 2020,
         unendlich weiter entfernt als dies noch vor wenigen Mona-
         ten der Fall war. Die Coronavirus-Pandemie hat alle ande-
         ren Themen aus den Schlagzeilen und weitgehend auch
         aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Aber gleich-
         zeitig: Je unsicherer die gegenwärtige Situation und je un-
         gewisser die Zukunft, desto lauter wird der Ruf nach einer
         Rückkehr zur Normalität. Eine Normalität, in der Entwick-     Ein leerstehendes Gebäude,
         lungen berechenbar, Entscheidungen planbar, kurz, die         in dem Asylbewerber unter-
         Dinge normal waren. Fast zwangsläufig unberücksichtigt        kommen sollen, steht im August
         bleibt dabei, wie genau diese herbeigesehnte Normalität       2015 in Weissach im Tal
         zur gegenwärtigen Krise beigetragen hat. Und zu der da-       (Baden-Württemberg) in Flam-
         vor. Und zur nächsten …                                       men. Die Gemeinde hat in kur-
         Das Thema Krise und welche Funktion sie in einem Kreislauf    zer Zeit ein neues Gebäude
         aus Verdrängung und Massenpanik einnimmt, war eines           erstellt, das heute als Flücht-
         der zentralen Themen meines Buches „Undeutsch“. Dort in-      lingsunterkunft dient. Die
         teressierte mich primär eine Form der sich wiederholenden     so genannte Flüchtlingskrise
         Krise, die ich mit dem Begriff der Rassismusamnesie zusam-    schien wiederum eine deutsche
         menfasste: die anhaltende Dialektik von rassistischer Panik   Identitätskrise auszulösen –
         ob des scheinbar plötzlichen und bedrohlichen Auftau-         pendelnd zwischen Gutmen-
         chens des Fremden und der wiederholten Verdrängung            schen-Willkommenskultur und
         der historischen Präsenz rassifizierter Bevölkerungen, so     offenen Grenzen auf der einen
         dass diese immer wieder neu als „fremd“ situiert werden       Seite, brennenden Flüchtlings-
         können. Ihre Anwesenheit bleibt so Ausnahmezustand, ihre      heimen und verschärften Asyl-
         Anerkennung immer unter Vorbehalt, ohne bleibende Kon-        gesetzen auf der anderen.
         sequenz für das nationale Selbstbild, stattdessen wird                      picture alliance/dpa

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