Migration und Teilhabe - Der Bürger im Staat
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Heft 3–2020, 70. Jahrgang Thema im Folgeheft: »Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale Fünf Jahre Grün-Schwarz für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Direktion der Landeszentrale Lothar Frick Sibylle Thelen Redaktion Inhaltsverzeichnis Prof. Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de Redaktionsassistenz Barbara Bollinger, Hans-Jürgen Bieling, Nikolai Huke barbara.bollinger@lpb.bwl.de Nach dem „Sommer der Willkommenskultur“: Anschrift der Redaktion Teilhabekonflikte in der postmigrantischen Gesellschaft ...... .............108 Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart Fatima El-Tayeb Telefon: 07 11/16 40 99-44 Fax: 07 11/16 40 99-77 Nach der Krise ist vor der Krise: Rassismus und Teilhabe in einer postpandemischen Welt ...................114 Herstellung Schwabenverlag AG Anna Wyss, Annika Lindberg, Tobias Eule, Lisa Marie Borrelli Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Kämpfe um Zeit im europäischen Migrationsregime ............ .............120 Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74 Karl-Heinz Meier-Braun Gestaltung Titel Deutschland ist (k)ein Einwanderungsland! – VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart Geht ein endloser Konflikt zu Ende? .................................... .............127 Gestaltung Innenteil Silke van Dyk, Laura Boemke und Tine Haubner Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Fallstricke des Helfens oder Sternstunden der Solidarität? ................136 Vertrieb Olaf Tietje Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH „… wie immer im Gewerbegebiet.“ Einschränkungen der Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm sozialen Teilhabe Geflüchteter durch ihre Unterbringung ...................144 Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24 www.suedvg.de Werner Schmidt Betriebliche Integration Druck nach Arbeitsmigration und Flucht ....................................... .............149 Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Albert Scherr, Helen Breit Preis der Einzelnummer 3,33 EUR. Soziale Arbeit mit Geflüchteten .......................................................154 Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung. Samia Dinkelaker, Helen Schwenken Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Fragmentierter Schutz an der Schnittstelle Kundennummer an. von gewaltförmigen Geschlechterverhältnissen und restriktiven Asyl- und Aufenthaltspolitiken .......................... .............160 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers Delal Atmaca, Samia Dinkelaker und der Redaktion wieder. Ein Recht auf Schutz vor Gewalt für alle Frauen* ................. .............167 Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte Elisabeth Tuider übernimmt die Redaktion keine Haftung. Willkommen in der Postmigrationsgesellschaft .................... .............171 Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek- tronischen Datenträgern sowie Einspeisung Buchbesprechungen ........................................................................176 in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Titelfoto: picture alliance/dpa Auflage dieses Heftes: 14.000 Exemplare Redaktionsschluss: 20.07.2020 ISSN 0007-3121 Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.buergerimstaat.de bis2020_03_cover.indd u2 11.08.20 08:30
Mit dem Zuzug von knapp einer Million Flüchtlingen entstand im Jahr 2015 eine dynamische Bewegung der Flüchtlingshilfe. Die sogenannte Willkommenskultur gewährleistete eine Notversorgung der ankommenden Menschen. Das Engagement für Geflüchtete hat inzwischen merklich nachgelassen, während die Teilhabe der neu angekommenen Menschen nach wie vor deutlich erschwert ist. picture alliance/dpa 105 bis2020_03_inhalt.indd 105 11.08.20 08:29
Migration und Teilhabe Mit dem Zuzug von knapp einer Million Flüchtlingen ent- am Beispiel der (verweigerten) Teilhabe von Geflüchteten stand im Jahr 2015 eine dynamische Bewegung der und plädiert für den intersektionalen Ansatz der Mutual Flüchtlingshilfe. Die sogenannte Willkommenskultur re- Aid, der eine bessere Alternative darstellt. agierte auf überlastete staatliche Strukturen, die teilweise Zeit spielt im europäischen Migrationsregime eine ge- nicht in der Lage waren, eine Notversorgung der ankom- wichtige Rolle. Sie kann entmachtende und disziplinie- menden Menschen zu gewährleisten. Viele der Enga- rende Effekte haben, indem sie Migrant*innen einen gierten wollten den Wahlerfolgen der rechtspopulisti- Schwebezustand aufzwingt und zu absurden Kontroll- schen AfD und zunehmenden Angriffen auf Flüchtlingsun- mechanismen führt. Vor allem Migrant*innen mit einem terkünfte, Flüchtlinge und Flüchtlingsunterstützer einen prekären Rechtsstatus bleiben oft in bürokratischen Zyk- solidarischen Umgang mit Geflüchteten entgegensetzen. len und Zeitschlaufen stecken. Zeit strukturiert die Inter- Seither hat das Engagement für Geflüchtete merklich aktion mit dem Gesetz. Zeit kann aber auch sinnvoll ge- nachgelassen, während die Teilhabe der neu angekom- nutzt werden und neue Handlungsoptionen eröffnen. So menen Menschen nach wie vor deutlich erschwert ist. können Beschleunigung und Verlangsamung innerhalb Das Heft „Migration und Teilhabe“ gibt fünf Jahre nach des Migrationsregimes Macht verleihen – aber auch dem „Sommer der Migration“ einen Überblick über aktu- einschränken. Lisa Marie Borrelli, Tobias Eule, Annika elle Herausforderungen, die sich aus dem Ziel einer ge- Lindberg und Anna Wyss erörtern, wie Zeit zu einer Res- sellschaftlichen Teilhabe der Flüchtlinge ergeben. Mit source des Regierens oder der Selbstermächtigung wer- Blick auf praktische Erfahrungen in den Bereichen Ar- den kann. beitsmarktintegration, Wohnraumversorgung, alltäglicher Karl-Heinz Meier-Braun schildert die Geschichte der Zu- Unterstützungsarbeit und bürokratischem Verwaltungs- wanderung nach Deutschland und analysiert die in aller handeln zeigt das Heft positive Entwicklungen, aber auch Regel von arbeitsmarktpolitischen Überlegungen ge- Schwierigkeiten und Konflikte auf. Darüber hinaus werden prägte und unter dem Gesichtspunkt der Integration am Beispiel von Flüchtlingen mit Duldungsstatus, der Situ- lange Jahre nur halbherzig betriebene Ausländerpolitik ation in AnkER-Zentren und rassistischen Mobilisierungen der Bundesrepublik Deutschland. Sämtliche Phasen der gesellschaftliche Entwicklungen vorgestellt, die eine Teil- Ausländer- und Asylpolitik wurden von kontrovers geführ- habe von Geflüchteten verhindern. ten und symbolisch aufgeladenen Debatten begleitet. Die vielfältigen Formen zivilgesellschaftlicher Hilfe für Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungs- Geflüchtete sind nach dem „Sommer der Willkommenskul- gesetz markierte den Beginn einer neuen Phase der Aus- tur“ im Jahr 2015 nur noch selten ein Thema. Zeitgleich mit länderpolitik. Die Integrationspolitik steht allerdings auf den solidarischen Praktiken entstanden Formen der Aus- einem fragilen Fundament. Die verstärkte Zuwanderung grenzung, entwickelten sich gesellschaftliche Konflikte um von Flüchtlingen in den Jahren 2015 und 2016 wurde – Teilhabe. Analysiert man alltagspraktische Konflikte, wird u. a. durch zivilgesellschaftliches Engagement – erfolg- rasch deutlich, dass Teilhabekonflikte durch mehrschich- reich bewältigt. Gleichwohl sind rassistische Anfeindun- tige gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse gen und rechtsextreme Straftaten immer noch ein Problem geprägt sind. Hans-Jürgen Bieling und Nikolai Huke illus- in Deutschland. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie und trieren dies an vier exemplarischen Handlungs- und Kon- der eklatante Mangel an Pflege- und Arbeitskräften ha- fliktfeldern. Geflüchtete müssen zahlreiche Hürden über- ben erneut offenbart, dass Deutschland dringend auf Zu- winden, um sozial teilhaben zu können: Abwertung und wanderung angewiesen ist. Isolation, eine unzureichende Versorgungslage und defi- Auf Basis einer eigenen Erhebung erörtern Silke van Dyk, zitäre öffentliche Infrastruktur, nicht hinreichend garan- Laura Boemke und Tine Haubner mit Blick auf die freiwil- tierte soziale Rechte oder repressive Elemente des Auslän- lige Nothilfe in den Jahren 2015 und 2016 die Stärken, der- und Asylrechts. Für die Überwindung dieser Hürden Herausforderungen und Probleme freiwilligen Engage- sind ehrenamtliche Helfer*innen und professionelle Bera- ments in der Flüchtlingshilfe. Das Ausmaß der ehrenamt- tungsstellen von zentraler Bedeutung. lichen Hilfe war beeindruckend, wenngleich fachliche, Die Corona-Pandemie ist eine weitere Krise, in der wiede- professionelle und auch persönliche Grenzüberschreitun- rum Rassismusamnesie sichtbar wird. Rassismusamnesie gen sichtbar wurden. Selbstüberschätzung, Viktimisie- meint die Dialektik von rassistischer Panik angesichts des rung und Paternalismus kennzeichneten die Kehrseiten vermeintlich Fremden und Verdrängung der (historischen) des ehrenamtlichen Engagements. Überlastung und Präsenz rassifizierter Bevölkerungen. Auch die soge- Überforderung auf Seiten der Engagierten waren oftmals nannte Flüchtlingskrise, beginnend im Jahr 2015, weist ein die Folge. Vor dem Hintergrund dieser multiplen Grenzer- ähnliches Muster auf. Deutschland und andere europäi- fahrungen diskutieren die Autorinnen Probleme im Span- sche Gesellschaften befinden sich in einem ständigen Kri- nungsfeld von Ausstieg (Exit), Kritik (Voice), Politisierung senmodus, der stets die gleichen Reaktionen auslöst und und heimlichem Engagement. zwei grundlegende Fragen aufwirft: Ist Krisenproduktion Die überlastete Infrastruktur im „Sommer der Migration“ ein notwendiger Teil der (nationalen) deutschen Identi- führte zu improvisierten Unterkünften, in denen die Ge- tät? Welche Form von Vergessen verlangt die stetige Re- flüchteten unterkommen konnten. Die als vorläufig ge- produktion scheinbar immer neuer krisenhafter Zustände? dachte Unterbringung in Containerunterkünften und In- Die Einbettung Deutschlands in ein globales System, das dustriehallen hat sich inzwischen verstetigt. Die Art und sich weder durch Nachhaltigkeit noch Gerechtigkeit aus- Weise der Unterbringung von Geflüchteten, so die These zeichnet, produziert ständig Krisen, die nicht gelöst, son- des Beitrags von Olaf Tietje, schränkt ihre Möglichkeiten dern externalisiert werden. Fatima El-Tayeb erläutert dies der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stark ein. Ge- 106 bis2020_03_inhalt.indd 106 11.08.20 08:29
meinschaftsunterkünfte wirken homogenisierend und aus- künften sowie den Auswirkungen, die unsichere Aufent- schließend. Die Exklusion verstärkt sich durch die einge- haltsstatus und wenig sensible Asylverfahren zeitigen. schränkten Möglichkeiten von Immigrant*innen, Wohn- Aus dieser Situation leiten sich Forderungen von Selbstor- raum im Anschluss an die Erstunterbringung zu finden. In ganisationen sowie eindeutige Positionierungen gegen der Regel sind sie bei der Suche nach Wohnraum auf zi- die Ethnisierung von geschlechtsspezifischer Gewalt sei- vilgesellschaftliche Unterstützung angewiesen. Die Mig- tens der Unterstützungsarbeit ab. rationspolitik Deutschlands und der EU ist – so das Fazit DaMigra e. V. gründete sich 2014 als Dachverband von – durch die Marginalisierung und Exklusion von Geflüch- Migrantinnen*organisationen, in dem bundesweit über teten sowie durch eine grundlegende Unzulänglichkeit 70 Mitgliedsorganisationen vernetzt sind. Die Geschichte des Asylsystems gekennzeichnet. des Dachverbands reicht in die 1980er Jahre zurück, als Arbeit ist die Quelle gesellschaftlichen Reichtums und Migrantinnen*, jüdische Frauen* und Women* of Color eine grundlegende Form der Teilhabe. Gleichwohl ist es die Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminie- in etlichen Ländern kaum möglich, durch Arbeit ein Aus- rung innerhalb der deutschen Frauen*bewegung einfor- kommen zu finden. Menschen sind nicht zuletzt deshalb derten. Delal Atmaca beschreibt in einem Interview die bereit, ihre Herkunftsländer zu verlassen, um anderswo Arbeitsschwerpunkte des Verbands. DaMigra setzt sich eine Arbeit zu suchen. Andere fliehen, um Kriegen und für Belange von Migrantinnen* ein und führt Projekte zur politischer Verfolgung zu entkommen. Werner Schmidt Stärkung der politischen, sozialen, beruflichen und kultu- geht der Frage nach, welchen Unterschied die Migrati- rellen Teilhabe von Migrantinnen* durch. Die politischen onsmotive Arbeit und Flucht bei der Integration in die Ar- Forderungen von DaMigra speisen sich aus den konkre- beitswelt machen, und ob Arbeitsmigrant*innen dabei ten Erfahrungen von Frauen* mit Flucht- und Migrations- bessere Chancen haben als Geflüchtete. Statusähnlich- geschichte, so auch die Forderungen im Hinblick auf die keit und Teilhabe in der Arbeitswelt sind nicht nur zentral Umsetzung des „Übereinkommens des Europarats zur Ver- für gesellschaftliche Integration, sie haben in der Vergan- hütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und genheit auch relativ gut funktioniert. Allerdings – so die häuslicher Gewalt“ (sogenannte Istanbul-Konvention). Schlussfolgerung – besteht derzeit die Gefahr einer um- DaMigra kritisiert die ungleiche Behandlung von geflüch- gekehrten Entwicklung, wenn das Unsicherheitsregime teten Frauen* und Migrantinnen* in der deutschen Ratifi- der Asylpolitik die betriebliche Sozialintegration über- zierung der Istanbul-Konvention und fordert deren unein- schattet. geschränkten Schutz vor Gewalt. Die Soziale Arbeit war auf die steigende Zahl der seit Die ersten Reaktionen auf die Corona-Pandemie waren 2015 neu ankommenden Flüchtlinge weder konzeptionell erneute Grenzziehungen innerhalb Europas und eine Re- noch institutionell vorbereitet. Angemessene Konzepte für naissance des Nationalen. Damit gingen Prozesse des die Arbeit mit Flüchtlingen waren kaum verfügbar, neue Othering einher. Othering (engl. other „andere“) erfasst Einrichtungen der Flüchtlingssozialarbeit mussten erst ge- die sozialen Prozesse der Herstellung eines vermeintlich schaffen, Fachkräfte gewonnen und qualifiziert werden. Anderen und Differenten. Meist sind damit auch Prozesse Fluchtbedingte psychische Belastungen, die rechtlichen der Abwertung, Ausschließung und Distanzierung verbun- Regulierungen des Ausländer- und Flüchtlingsrechts den. Eine solche Differenzkonstruktion beruht auf der Vor- und die oft lang andauernde Unsicherheit der aufent- stellung, dass sich Menschen durch ihre Lebensform, ihre haltsrechtlichen Situation stellen für die Geflüchteten und Kultur oder andere Merkmale anscheinend von der eige- die Soziale Arbeit besondere Herausforderungen dar. nen Gruppe unterscheiden, wobei sich das Eigene erst im Eine weitere Problematik ist das Spannungsverhältnis Zuge der verandernden Abgrenzung konstitutiert. Solche zwischen dem sozialstaatlichen Mandat der Sozialen Differenzpraktiken traten auch im „Sommer der Migra- Arbeit, die an die Strukturen des nationalstaatlichen tion“ zutage. Elisabeth Tuider zeigt, dass sich Rassismus Wohlfahrtsstaats gebunden ist, und den Vorgaben des und Ethnisierungen in der postmigrantischen Gesellschaft Ausländer- und Flüchtlingsrechts. Albert Scherr und Helen keineswegs aufgelöst haben. Othering-Prozesse, soziale Breit erörtern das komplexe Gefüge der Rahmenbedin- und territoriale Grenzziehungen lassen sich selbst in den gungen, die bei einem Teil der Geflüchteten nicht auf die Willkommensinitiativen und in der Unterstützungsarbeit Ermöglichung gesellschaftlicher Integration, sondern auf mit Geflüchteten ausmachen. Mit Interviewauszügen wird Zuwanderungs- und Integrationsverhinderung ausgerich- exemplarisch belegt, wie „das Andere“ in der Flüchtlings- tet sind. arbeit verhandelt wurde. Solidarität zeigte sich einmal Für geflüchtete Frauen* ist der Schutz vor Gewalt, die sie mehr als fragmentiert und verletzlich. vor, während und nach der Flucht erleiden, trotz aller ge- Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen wachsenen Sensibilität für diese geschlechtsbezogene aufschlussreiche Informationen und Einsichten vermittelt Gewaltproblematik nach wie vor fragmentiert. Samia Din- haben, sei an dieser Stelle gedankt. Ein besonderes Dan- kelaker und Helen Schwenken erörtern, inwiefern der ge- keschön gebührt Hans-Jürgen Bieling und Nikolai Huke, forderte Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt durch die mit ihrem fachkundigen Rat zum Entstehen des Heftes restriktive Asyl- und Aufenthaltspolitiken und durch struk- beigetragen haben. Dank gebührt auch dem Schwaben- turelle Gewalt ausgehöhlt wird. Die Autorinnen zeigen verlag und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der auf, wie die aktuelle Migrations- und Asylpolitik ge- Druckvorstufe für die stets gute und effiziente Zusammen- schlechtsspezifische Gewalterfahrungen von geflüchteten arbeit. Frauen* bedingt. Verdeutlicht wird dies am Beispiel der Unterbringung von Geflüchteten in Gemeinschaftsunter- Siegfried Frech 107 bis2020_03_inhalt.indd 107 11.08.20 08:29
MIGR ATION UND TEILHABEKONFLIKTE Nach dem „Sommer der Willkommenskultur“: Teilhabekonflikte in der postmigrantischen Gesellschaft Hans-Jürgen Bieling, Nikolai Huke onspolitik für bestimmte Gruppen von Geflüchteten (Huke Die vielfältigen Formen zivilgesellschaftlicher Hilfe für 2019a; 2019b). Geflüchtete sind nach dem „Sommer der Willkommens- In der wissenschaftlichen Diskussion werden diese Ent- kultur“ im Jahr 2015 nur noch selten ein Thema. Zeit- wicklungen unterschiedlich interpretiert: Für die einen ver- gleich mit den solidarischen Praktiken entstanden For- weisen sie auf eine Konfliktlinie zwischen pluralistisch ein- men der Ausgrenzung, zeigten sich gesellschaftliche gestellten Teilen der Bevölkerung und rassistischen Vertre- Konflikte um Teilhabe. Mit einer eindeutig konturierten tern einer homogen Nation (Bade 2016; Foroutan 2019). soziopolitischen Spaltung lassen sich diese Teilhabekon- Die anderen konstatierten einen sozialpolitischen Konflikt flikte nicht hinreich end erklären. Analysiert man alltags- um die Verteilung knapper Ressourcen zwischen Flüchtlin- praktische Konflikte, wird rasch deutlich, dass Teilhabe- gen und denjenigen, die sich vor Konkurrenz um soziale konflikte durch mehrschichtige gesellschaftliche Macht- Infrastruktur, Arbeitsplätze oder um Wohnraum fürchten und Herrschaftsverhältnisse geprägt sind. Hans-Jürgen (Jörke/Nachtwey 2017; Sablowski/Thien 2018). Beiden In- Bieling und Nikolai Huke illustrieren dies an vier exemp- terpretationen ist gemeinsam, dass sie von einer relativ larischen Handlungs- und Konfliktfeldern. Geflüchtete eindeutig konturierten soziopolitischen Spaltung in zwei müssen zahlreiche Hürden überwinden, um sozial teilha- Lager ausgehen: Mal läuft die Trennlinie zwischen den ben zu können: Abwertung und Isolation, eine unzurei- Befürworter*innen und Gegner*innen einer postmigranti- chende Versorgungslage und defizitäre öffentliche Inf- schen Gesellschaft, ein anderes Mal zwischen (flüchtlings- rastruktur, nicht hinreichend garantierte soziale Rechte skeptischen) Kommunitarist*innen und (flüchtlingssolidari- oder repressive Elemente des Ausländer- und Asylrechts. schen) Kosmopolit*innen.1 Für die Überwindung dieser Hürden sind ehrenamtliche Die These einer polarisierten Gesellschaft ist nicht unzu- Helfer*innen und professionelle Beratungsstellen von treffend. In beträchtlichem Maße sind die Konfliktlinien zentraler Bedeutung. aber vor allem das Produkt einer medial-diskursiven Über- zeichnung. So wurde zuletzt auch darauf hingewiesen, Einleitung Im Jahr 2015 waren tausende Ehrenamtliche engagiert, um eine grundlegende Notversorgung für in Deutschland an- kommende Geflüchtete anzubieten, die durch überfor- derte staatliche Institutionen nur unzureichend gewähr- leistet wurde. Die mit diesem Engagement verbundenen Bilder der Willkommenskultur sind inzwischen verblasst. Medial rückten andere asylpolitische Themen in den Mit- telpunkt: so etwa die Konflikte an den Außengrenzen der EU (z. B. auf den griechischen Inseln), die Auseinanderset- zungen in und um AnkER-Zentren (zuletzt die prekäre Ge- sundheitssituation im Zuge der Corona-Pandemie) oder Fragen der Arbeitsmarktintegration. Die vielfältigen For- men der zivilgesellschaftlichen Hilfe für Geflüchtete sind nur noch selten ein Thema. Dennoch sind nach wie vor viele Menschen in der Unter- Die vielfältigen Formen zivil- stützung von Geflüchteten aktiv, auch wenn es bei Weitem gesellschaftlicher Hilfe für nicht mehr so viele sind, wie zu den Hochzeiten der Will- Geflüchtete sind nach dem kommenskultur. Die Teilhabe von Geflüchteten war und ist „Sommer der Willkommens- dabei stets umkämpft. Es entstanden neue solidarische kultur“ im Jahr 2015 nur noch Praktiken, ebenso verstärkten sich aber auch Formen der selten ein Thema. Zeitgleich mit Ausgrenzung. Diese reichen von alltäglicher Diskriminie- den solidarischen Praktiken rung über Hetze in den sozialen Medien und rassistische entstanden Formen der Aus- Morde bis hin zu einer – besonders in der Strategie der grenzung, zeigten sich gesell- AnkER-Zentren sichtbar werdenden – staatlichen Isolati- schaftliche Konflikte um Teil- habe. picture alliance/dpa 108 bis2020_03_inhalt.indd 108 11.08.20 08:29
dass sich viele Solidaritäten und Konflikte nicht in das Mus- NACH DEM „SOMMER DER WILLKOMMENSKULTUR“: ter der skizzierten dichotomisierenden Gegenüberstellung TEILHABEKONFLIKTE IN DER fügen, sondern oft quer zu ihr verlaufen (Biskamp 2019; Alt- POSTMIGRANTISCHEN GESELLSCHAFT reiter et al. 2019). Dies gilt unseres Erachtens auch für die gesellschaftlichen Konflikte um Teilhabe, die mit dem Zu- schiedlichen Gruppen von Geflüchteten (z. B. als Antiziga- zug von Geflüchteten verbunden sind. Auch der Integrati- nismus und Anti-Schwarzer-Rassismus von Geflüchteten onsbericht der Bundesregierung (vgl. Beauftragte der Bun- aus Syrien oder Afghanistan). Statt eine Konfliktlinie zwi- desregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration schen pluralistischen und rassistischen Teilen der Bevölke- 2019) zeichnet im Versuch, die Potenziale der Migration rung – wie sie in der These der umkämpften pluralen Demo- stärker zu würdigen, ein mehrdimensionales – zahlreiche kratie von Naika Foroutan (2019) durchscheint – anzuneh- Komponenten der Persönlichkeitsentwicklung berücksich- men, lassen sich stratifizierte Rassismen entlang einer tigendes – Bild gesellschaftlicher Teilhabe. Allerdings wird Vielzahl abwertender Differenz- und Fremdgruppenkonst- in dem Bericht eine Top-down-Perspektive eingenommen. ruktionen beobachten. Der Rassismus der Mehrheitsge- Allgemeine Entwicklungen stehen im Vordergrund. Welche sellschaft ist jedoch insofern besonders gewichtig, als er alltagspraktischen Konflikte sich für die Geflüchteten erge- umfassend darauf hinwirkt, die soziale Teilhabe von Ge- ben, wird nicht betrachtet. Darum soll es nachfolgend ge- flüchteten in vielen gesellschaftlichen Bereichen real zu hen. Wir möchten unter Rückgriff auf unser empirisches In- verunmöglichen. terviewmaterial aus dem durch das Bundesministerium für Ausgrenzung beginnt, wenn auch ungewollt, bereits in Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungs- dem Moment, in dem Teile der Mehrheitsgesellschaft ei- projekt „Willkommenskultur und Demokratie in Deutsch- nen Kontakt zu Geflüchteten verweigern. Die Mitarbeiterin land“ 2 zeigen, dass gesellschaftliche Teilhabekonflikte eines Begegnungscafés in einer Kirche berichtet: durch mehrschichtige gesellschaftliche Macht- und Herr- „Da war so ein Buffet hier draußen in dem Korridor aufgebaut schaftsverhältnisse geprägt sind (Klinger et al. 2007), die und es gab ja immer auch parallele Gemeindeveranstaltun- die Formen der (Nicht-)Zugehörigkeit zur Gesellschaft be- gen hier. Da kamen die Leute vorbei und die Flüchtlinge dann stimmen. Wie dies zu verstehen ist, wird mit Blick auf vier so: ‚Hier, greifen Sie zu, nehmen Sie!‘ Und die Leute dann: exemplarische Handlungs- und Konfliktfelder illustriert, in ‚Danke, danke, danke [ablehnend].‘ Einerseits scheu und auf denen die Teilhabe von Geflüchteten ausgehandelt wird. der anderen Seite fast ein bisschen Angst oder halt so: ‚Das wollen wir eigentlich nicht.‘ Nur ganz wenige haben gesagt: ‚Ja, wir gehen da mal hin.‘ Oder: ‚Oh das riecht ja hier gut, das Teilhabe trotz Diskriminierung und Gewalt probieren wir mal.‘“ Eine Teilhabe von Geflüchteten, so zeigt das Konfliktfeld Das Spektrum der Ausgrenzung und Gewalt reicht bis zu „Diskriminierung und Gewalt“, wird durch gewaltsame, physischen Übergriffen. Ein Ehrenamtlicher aus Sachsen ausgrenzende und abwertende Praktiken erschwert. Ent- erzählt, er „kenne viele Frauen, die Kopftuch tragen. Die sprechende Praktiken finden sich auch zwischen unter- haben hier einiges auszuhalten in Dresden. Ich habe eine syrische Familie, die sind nach Düsseldorf gezogen, bei der der Mann gesagt hat: ‚Wir wissen jetzt erst, wie schlimm es in Dresden ist. Meine Frau ist jeden Tag ge- schubst, angerempelt, teilweise bespuckt worden wegen ihres Kopftuchs.‘ Also das ist schon krass in Dresden. Auch das eritreische Mädchen […] hat mir […] erzählt, dass sie ganz oft den Stinkefinger gezeigt bekommt. Dass sie ange- schrien wird. Das hat sie am Anfang nicht verstanden. Mitt- lerweile versteht sie das. Es hat sie auch mal jemand sehr stark geschubst in der Bahn. Das passiert andauernd.“ Alltagsrassismus verstärkt für die Geflüchteten die soziale Isolation, vor allem dann, wenn familiäre Netzwerke und Kontakte vor Ort fehlen. Viele Geflüchtete haben große Schwierigkeiten, mit Deutschen oder länger in Deutsch- land lebenden Menschen in Kontakt zu kommen. Die ge- sellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten setzt voraus, dass sich solidarische Praktiken verallgemeinern, die Be- gegnung und Austausch ermöglichen, die oft aber gegen rassistische Ausgrenzung durchgesetzt werden müssen. Die Teilhabe geflüchteter Frauen ist nicht nur durch rassis- tische Übergriffe bedroht, sondern wird in einigen Fällen auch durch patriarchale Gewalt beeinträchtigt, erzählt ein Ehrenamtlicher aus Sachsen: „Ich kenne viele Frauen, die hier plötzlich dann feststellen: Wow, ich kann ja hier alles machen. Und wir haben hier eine Familie […], wo der Mann seiner Frau hoffnungslos unterlegen ist. In allem. […] Er hat Schwierigkeiten, die Sprache zu lernen. Er ist auch ein bisschen eine Schlafmütze muss man sagen. Aber […] der ist aufgewachsen in einer Gesellschaft, in der es 109 bis2020_03_inhalt.indd 109 11.08.20 08:29
Hans-Jürgen Bieling, Nikolai Huke reicht, dass du ein Mann bist. Da brauchst du dich nicht anzu- strengen. Und jetzt kriegt er plötzlich mit, seine Frau hat jetzt ein Praktikum gemacht als Altenpflegerin. Jetzt macht sie eine Berufsausbildung. Hat total schnell Deutsch gelernt. Und der […] ja das sind echt Konflikte. Ich kenne das ja aus meiner Pa- tenfamilie auch. Da ist der Mann wegen Gewalttätigkeit ent- fernt worden aus der Familie. Genau deshalb.“ Homophobe Gewalt ist auch in Flüchtlingsunterkünften verbreitet. 3 Teilhabe von Geflüchteten zu fördern und zu sichern, heißt vor diesem Hintergrund, nicht nur eine Di- mension von Ausgrenzung (z. B. Rassismus) in den Blick zu nehmen, sondern auch geschlechtsspezifische Hierarchien und daraus resultierende Formen der Diskriminierung – etwa patriarchale oder homophobe Gewalt in Flüchtlings- unterkünften – in die Betrachtung mit einzubeziehen. Teilhabe trotz unterfinanzierter staatlicher Infrastruktur Ein zweites Konfliktfeld, in dem Teilhabe von Geflüchteten verhandelt wird, bezieht sich auf die staatliche Infrastruk- tur wie z. B. die Gesundheitsversorgung, die Bildungs- angebote oder den öffentlichen Personennahverkehr. Ty- Jobsuchende bei der Jobbörse für Geflüchtete und ausländi- pisch ist hier eine Konfliktlinie zwischen dem Staat, der oft sche Mitbürger in Berlin. Charakteristisch für viele Jobs sind nur eine unzureichende Versorgung gewährleistet, und atypische Arbeitszeiten, belastende Tätigkeiten und eine Nutzer*innen von Dienstleistungen. Geflüchtete machen relativ geringe Bezahlung. Oft sind die bestehenden Arbeits- bestehende Versorgungslücken exemplarisch sichtbar, die rechte in prekären Beschäftigungsverhältnissen nicht oder auch andere gesellschaftliche Gruppen betreffen. Es geht nur begrenzt einklagbar. picture alliance/dpa weniger um eine Konkurrenz – wie es die empirisch in der Regel nur begrenzt geprüfte These verschärfter Vertei- lungskonflikte nahelegt – zwischen Geflüchteten und be- Kitabetreuung zu finden und das Angebot an Frauenintegrati- reits zuvor in Deutschland lebenden Nutzer*innen, als viel- onskursen oder Familienintegrationskursen ist auch nicht […] mehr um eine generelle Unterfinanzierung der Infrastruk- besonders gut ausgebaut.“ tur. Hierunter leiden insbesondere diejenigen mit prekärem sozioökonomischen Status, zu denen unter anderem, aber Zur Behandlung von psychischen Problemen und traumati- bei weitem nicht nur, Geflüchtete zählen. schen Erfahrungen stehen aufgrund der Unterfinanzierung In Wohnunterkünften sind Geflüchtete teilweise am Rande staatlicher Infrastruktur im Gesundheitsbereich nur unzu- der Gesellschaft untergebracht, berichtet ein Mitarbeiter reichende Möglichkeiten zur Verfügung. Immer wieder eines Flüchtlingsrats in Bayern: wird in unseren Interviews darauf hingewiesen, dass die „Es gibt […] jede Menge negative Geschichten, wo dann die Wartezeiten extrem lang sind und es nicht genug Trauma- Flüchtlinge drei Kilometer außerhalb vom Ort in irgendeinem Therapeut*innen gibt. Beratungsangebote sind nach den abgelegenen Weiler untergebracht sind oder in einer Contai- Erfahrungen von Beratungsstellen häufig „nicht in der nersiedlung hinter einem Werkstoffhof irgendwo im Industrie- Sprache vorhanden, in der sie sein müssten“. gebiet oder sonst was, wo es nicht geklappt hat, die Flücht- Da ihnen eine Verkehrsanbindung fehlt, sie nur unzurei- linge zu integrieren. Die Flüchtlinge waren auf sich gestellt und chend die Sprache lernen können oder mit ihren Traumata die Einheimischen konnten so tun, als wären sie nicht da.“ und psychischen Belastungen alleine gelassen werden, sind viele Geflüchtete gesellschaftlich marginalisiert. Ein Da sie oft nicht über einen Führerschein verfügen oder sich zentraler Konflikt um Teilhabe ist daher der Ausbau öffent- kein Auto leisten können, sind Geflüchtete auf den ÖPNV licher Infrastruktur – nicht nur, aber auch für Geflüchtete. angewiesen. Eine fehlende Anbindung – etwa im ländli- chen Raum – wird daher am Beispiel der Geflüchteten be- sonders deutlich, erzählt eine Beraterin aus Hessen: „Wenn Teilhabe trotz der fehlenden Garantie sozialer man […] in einem Dorf untergekommen ist und der einzige Rechte Bus irgendwie morgens um acht fährt, ja, […] da komme ich nicht raus.“ Ähnlich wie im zweiten verlaufen auch die Auseinanderset- Auch Sprachkursangebote sind teilweise nur unzureichend zungen im dritten Konfliktfeld, nur dass sie hier primär die vorhanden. Besonders deutlich wird dies bei Geflüchteten Form von Konflikten mit privatwirtschaftlichen Akteuren an- mit Kinderbetreuungsverpflichtungen, vorwiegend Frauen, nehmen. So sind einige Flüchtlinge durch ihre spezifische stellt ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle in Sachsen fest: Situation besonders vulnerabel, was eine Ausbeutung „Problembereich bei […] Mütter[n] […] mit Kindern [ist], dass durch Arbeitgeber und Vermieter betrifft. Ihre Erfahrungen es oft ein bisschen hapern kann, mit der Kinderbetreuung. Dass auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sind exemplarisch es oft nicht so leicht ist, dann in unmittelbarer Nähe dann auch für diejenigen Teile der Bevölkerung, die von rassistischer 110 bis2020_03_inhalt.indd 110 11.08.20 08:29
NACH DEM „SOMMER DER WILLKOMMENSKULTUR“: TEILHABEKONFLIKTE IN DER POSTMIGRANTISCHEN GESELLSCHAFT wort Jobcenter sage oder […] ich bin Flüchtling, habe ich sehr wenig Chancen auf dem Wohnungsmarkt.“ Um die Chance auf eine eigene Wohnung zu bekommen, sind Ge- flüchtete gezwungen, auch überteuerten Wohnraum in mi- serablem Zustand anzunehmen. Es gibt zahlreiche „Ver- mieter […], die wirklich unmöglichste Sachen vermieten, für teuerstes, sehr teures Geld. […] Einfach total unmoralisch“, kritisiert die Mitarbeiterin einer Industrie- und Handels- kammer in Baden-Württemberg. So werden nach den Er- fahrungen eines Mitarbeiters eines Projektträgers in Hes- sen teilweise „feuchte Keller vermietet […] Wo man dann auch gesagt hat: ‚Was sind das für Zustände, wie kann man so was vermieten?‘ Aber klar, wo Leute […] in der Not sind, […] nehmen sie alles in Kauf.“ Auf dem Arbeitsmarkt kommen Geflüchtete häufig in Jobs unter, die „sage ich mal, der Deutsche […] in Anführungs- strichen […] nicht mehr macht, also wo man […] keinen mehr für bekommt“, berichtet der Mitarbeiter weiter. Cha- rakteristisch für eine solche Beschäftigung sind atypische Arbeitszeiten, belastende Tätigkeiten und eine relativ ge- ringe Bezahlung. Oft sind die bestehenden Arbeitsrechte in prekären Beschäftigungsverhältnissen nicht oder nur Diskriminierung und/oder sozioökonomischer Ausgren- begrenzt einklagbar. Aber selbst wenn sie einklagbar zung betroffen sind. Typisch ist eine geringe Handlungs- sind, bleiben Geflüchtete in den Betrieben vielfach einer macht, um Rechtsverletzungen von Vermietern oder Arbeit- großen Unsicherheit und alltäglichen Diskriminierung aus- gebern zu sanktionieren. Selbst wenn soziale Rechte for- gesetzt. Der Mitarbeiter einer Beratungsstelle in Baden- mal gegeben sind (z. B. Arbeitsrechte oder Mieterschutz), Württemberg erzählt von einem Fallbeispiel aus dem werden sie oft nicht gewährt und sind de facto auch kaum Arbeitsalltag: einklagbar. Die These, dass Geflüchtete für andere Bevöl- „Ich hatte einen Fall, das war ein schwarzer Mitarbeiter aus kerungsgruppen eine direkte Konkurrenz auf dem Woh- Nigeria. Er hat eben ganz wenig Deutsch gesprochen, eher nungs- oder Arbeitsmarkt darstellen, wird von fast allen Englisch. Er hat in der Systemgastronomie gearbeitet […]. Seit Interviewpartner*innen – Wirtschaftsverbänden, Ge- sechs Wochen vielleicht bei der Arbeit oder seit fünf Wochen werkschaften, staatlichen Behörden und ehrenamtlichen und wollte […] wissen: Wie ist mein Arbeitsvertrag? Was steht Helfer*innen – deutlich zurückgewiesen: Auf dem Arbeits- da eigentlich drinnen? Er hat ihn unterschrieben, ohne dass er markt, so die Erfahrungen aus der Praxis, übernehmen Ge- es lesen konnte. Er hat sich zu diesem Zeitpunkt gewundert, flüchtete wesentlich Arbeitsplätze, für die keine anderen dass er nur zur Nachtschicht eingesetzt wurde. Alle anderen Beschäftigten zur Verfügung stehen. Auf dem privaten Mitarbeiter wurden auch tagsüber eingesetzt, er ist nur in der Wohnungsmarkt sind Geflüchtete durch rassistische und Nachtschicht.“ sozioökonomische Diskriminierung von Seiten der Vermie- ter weitgehend chancenlos – und daher für die meisten Gegenwehr sei häufig schwierig. Geflüchtete wüssten keine Konkurrenz. zwar sehr gut, was Rassismus ist, seien zumeist aber kaum Diskriminierung ist auf dem Wohnungsmarkt alltäglich, er- über das deutsche Recht, auch über Antidiskriminierungs- zählt die Mitarbeiterin eines Projektträgers in Hessen: bestimmungen im Arbeits-, Sozial- oder Mietrecht infor- „Je dunkler jemand von der Gesichtsfarbe, von der Hautfarbe miert. Für sie stünden jedoch andere Sorgen im Vorder- ist, desto schwieriger ist es, eine Wohnung zu finden. Mittler- grund. „Sie wollen einen Job, sie wollen eine Wohnung weile ist es auch für Syrer schwer […]. Und ich glaube, je […]. Aber auf jeden Fall haben sie andere Sorgen als da- schwärzer man wird, desto mehr Pech hat man. Wir wissen das gegen [gegen Diskriminierung] vorzugehen“, berichtet er auch von den Roma.“ weiter. Charakteristisch ist in einigen Fällen eine resigna- tive Haltung, konstatiert die Mitarbeiterin einer Beratungs- Einige Vermieter*innen reagieren, so die Berichte von Eh- stelle in Niedersachsen: „Das ist mir schon ein paarmal renamtlichen, die Geflüchtete bei der Wohnungssuche un- aufgefallen, dass so Sachen dann gefallen sind wie: ‚Ja, terstützen, offen rassistisch: „Ganz oft […], wenn man eine das machen die, weil wir Ausländer sind.‘ ‚Ja, das ist an- […] Wohnung sucht und da anruft, [kommt als Antwort]: ders für uns als Ausländer.‘ […] Mit so einer Selbstver- ‚Nee, Neger wollen wir nicht‘.“ Die prekären Lebensbedin- ständlichkeit, […] als wenn das einfach okay wäre, und es gungen erschweren zusätzlich noch die Wohnraumsuche. ist halt so und es wird so hingenommen. Und nicht so […]: „Ohne Arbeitsvertrag und, und, und, bekommt man hier ‚Wir werden diskriminiert, weil wir Ausländer sind und […] […] keine Wohnung“, stellt die Mitarbeiterin einer Bera- wir machen jetzt was dagegen‘, sondern: ‚Es ist so, wir sind tungsstelle in Hessen fest. Rassismus überschneidet sich Ausländer.‘“ dabei teilweise mit klassischer Diskriminierung, wie ein an- Verantwortlich für diese passive bis resignative Haltung derer Interviewpartner berichtet: „Sobald ich [das] Stich- sind Erfahrungen von Machtlosigkeit und Diskriminierung, 111 bis2020_03_inhalt.indd 111 11.08.20 08:29
Hans-Jürgen Bieling, Nikolai Huke aber auch der unsichere Aufenthaltsstatus vieler Geflüch- wird die Zukunftsunsicherheit zu einem dauerhaften Zu- teter, stellt sie fest: stand. Selbst jene Gruppen, denen mittelfristig ein Bleibe- „Warum die Leute auch schnell Opfer werden, ist natürlich recht eingeräumt wird, bleiben teilweise in einem Zustand auch oft diese Kopplung von Arbeitsplatz und Aufenthaltstitel der Verunsicherung – und warten auf künftige Entschei- […] Also dass ich, dass sie eine Arbeitsgenehmigung für einen dungen. Der Mitarbeiter eines Projektträgers in Baden- spezifischen Arbeitsplatz bekommen und da natürlich auch Württemberg berichtet von seinen Erfahrungen: Angst haben, diese Arbeitsgenehmigung irgendwie zu verlie- „Die Thematik ist bei jungen Syrern da. Wie lange habe ich ren, wenn sie diesen Arbeitsplatz verlieren und sich dann auch denn Aufenthalt hier? Ist er nur vorübergehend? Es gibt jetzt ja einiges gefallen lassen“. Überlegungen in der Politik doch abzuschieben nach Syrien, nicht gesetzlich verankert, aber es gibt ja immer wieder diese Um die soziale Teilhabe von Geflüchteten zu verbessern Überlegungen. Also viele Syrer kommen auch immer wieder und zu sichern, reicht es vor diesem Hintergrund nicht aus, her und sagen: ‚Wie geht es denn weiter, wenn mein Aufent- nur gegen rassistische Diskriminierung vorzugehen. Erfor- haltstitel nach drei Jahren abgelaufen ist?‘“ derlich ist vielmehr ein umfassend angelegter Prozess der sozialen Ermächtigung von prekär Beschäftigten und Mie- All dies zeigt, dass die soziale Teilhabe von Geflüchteten tern in sozioökonomisch deprivierten Lebenslagen. Nur maßgeblich davon abhängig bleibt, ob es gelingt, ihre dann wird es möglich, soziale Rechte von Armutsbetroffe- aufenthaltsrechtliche Situation zu regularisieren und lang- nen, zu denen auch einige Geflüchtete zählen, in der Aus- fristige Zukunfts- und Bleibeperspektiven zu entwickeln. einandersetzung mit gesellschaftlicher sozialer Ungleich- Notwendig wären hierfür rechtliche Regelungen, die dar- heit abzusichern. auf verzichten, Geflüchtete durch prekäre Aufenthaltstitel für einen langen Zeitraum zu einem Leben im Abseits zu verdammen. Teilhabe trotz prekärem Aufenthaltsstatus Die bislang skizzierten Konflikte um Teilhabe beziehen Fazit auch andere diskriminierte Gruppen in der Bevölkerung mit ein. Für die Geflüchteten kommt zusätzlich ein spezifi- Die dargestellten Teilhabekonflikte von Geflüchteten ma- sches viertes Konfliktfeld hinzu: ungesicherte Aufenthaltsti- chen vielfältige Formen der Ungleichheit in Deutschland tel und unklare Zukunftsperspektiven. So ist der Asylpro- sichtbar, die von rassistischer Diskriminierung über patriar- zess mit einem langen Zeitraum der Unsicherheit verbun- chale Gewalt und sozioökonomische Deprivation bis hin den, erzählt ein Geflüchteter aus Hamburg: zu Prozessen der Entrechtung reichen. Um sozial teilhaben „Sie [die Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft] haben gesagt, zu können, müssen Geflüchtete zahlreiche Hürden über- sie sind es leid, zu warten. Vor allem diejenigen aus Afghanis- winden: Abwertung, Ausgrenzung und Isolation, eine un- tan, Iran und viele andere. […] Sie brauchen ihre Papiere, sie zureichende Versorgungslage und defizitäre öffentliche wollen arbeiten, sie brauchen dieses und jenes. Ich habe ihnen Infrastruktur, nicht hinreichend garantierte soziale Rechte gesagt: ‚Ihr müsst geduldig sein. […] Euer Fall wird bearbeitet’ oder repressive Elemente des Asyl- und Ausländerrechts. […] Ich habe sie ermutigt, weil einige gesagt haben: ‚Wir sind Diese und weitere Hürden schaffen für viele Personen unsi- so müde. Das ist Stress, das ist zu viel‘“ (Übers. d. Verf.). chere Zukunftsperspektiven. Die Konfliktlinien verlaufen Im Zeitraums ihres Verfahrens bekommen Geflüchtete im- dabei zum einen zwischen Geflüchteten und Teilen der mer wieder mit, wie Menschen aus ihrem Umfeld abge- Mehrheitsgesellschaft (z. B. bei rassistischer Diskriminie- schoben werden, wodurch sie verstört und verängstigt rung), zum anderen aber auch zwischen sozioökonomisch werden, selbst wenn sie nicht unmittelbar betroffen sind, so deprivierten Gruppen in der Gesellschaft – zu denen auch eine ehemalige Mitarbeiterin einer hessischen Erstaufnah- viele Geflüchtete zählen – und dem Staat, aber auch Ver- meeinrichtung: mietern oder Arbeitgebern. Konzeptionen, die von zwei „Als wir Nachtschicht hatten, kamen auf einmal vierzehn Poli- gesellschaftlichen Lagern ausgehen – seien es Be für wor- zeiwagen. Sie sind einfach in die Zimmer reingestürmt, da wa- ter* innen oder Gegner*innen einer postmigrantischen ren kleine Kinder am Schlafen, die haben den Leuten wirklich Gesellschaft oder (flüchtlingsskeptische) Kom mu ni ta rist*- nur ein paar Minuten Zeit gegeben […] einzupacken und dann innen und (flüchtlingssolidarische) Kos mo po lit *in nen –, er- mussten sie sofort weg. Und das haben auch die anderen mit- scheinen uns als deutlich zu unterkomplex, um die sich bekommen und am nächsten Tag war da Panik, weil okay, es überkreuzenden „Achsen der Ungleichheit“ (Klinger et al. heißt, ‚nur Albaner werden zur Zeit abgeschoben, aber was 2007) zu erfassen, die soziale Teilhabekonflikte – auch die ist, wenn sie mal einfach uns hier auch mitnehmen?‘.“ von Geflüchteten – strukturieren. Von zentraler Bedeutung für die soziale Teilhabe von Ge- Zusätzlich verlängert wird der Wartezeitraum auf einen flüchteten sind dabei ehrenamtliche Helfer*innen und pro- gesicherten Aufenthalt durch Klageverfahren, die notwen- fessionelle Beratungsstellen. In den alltäglichen Prozessen dig werden, wenn das Asylverfahren mit einem (fehlerhaf- übersetzen sie Formulare, stellen Systemwissen (z. B. über ten) negativen Bescheid abgeschlossen wird. Da im Asyl- Behörden und Arbeitsrechte) zur Verfügung, begleiten Ge- prozess die individuelle Situation der Geflüchteten häufig flüchtete und wirken darauf hin, deren spezifische Prob- nur unzureichend berücksichtigt worden ist, besteht in vie- leme zu lösen und damit auch Teilhabechancen zu verbes- len Fällen Aussicht auf eine Revision des Bescheids. Viele sern. Die Aktivitäten der Engagierten erzeugen nicht nur Geflüchtete erhalten dadurch nachträglich einen Schutz- bei den Beteiligten neue Erfahrungen solidarischer Inter- status. aktionen und Aushandlungsprozesse, die autoritärem Po- Für Geflüchtete, deren Asylantrag negativ beschieden pulismus und diskriminierenden Einstellungsmustern entge- wird und die anschließend einen Duldungsstatus erhalten, genwirken (Tietje 2020). Durch ihren pragmatischen und 112 bis2020_03_inhalt.indd 112 11.08.20 08:29
gleichzeitig radikal problemlösenden Charakter treiben NACH DEM „SOMMER DER WILLKOMMENSKULTUR“: sie die Diskussion über eine auf Gleichberechtigung und TEILHABEKONFLIKTE IN DER soziale Teilhabe ausgerichtete Organisation und Operati- POSTMIGRANTISCHEN GESELLSCHAFT onsweise einer postmigrantischen Gesellschaft voran (Huke 2019a). Dies erfordert nicht nur einen Einsatz gegen Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hrsg.) (2007): Ach- sen der Ungleichheit. Frankfurt, New York. rassistische Diskriminierung, sondern schließt auch Pro- Sablowski, Thomas/Thien, Günter (2018): Die AfD, die ArbeiterInnenklas- zesse einer partizipativen Umverteilung gesellschaftlicher se und die Linke – kein Problem? In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Ressourcen mit ein. Dynamisiert und vorangetrieben wer- Sozialwissenschaft, Nr. 190, S. 55–71 Tietje, Olaf (2020): „Das geht nicht, wir müssen was machen!“. Ambivalen- den entsprechende Transformationsprozesse auch und zen von Solidarität in der aktiven Bürgergesellschaft. In: sozialmagazin insbesondere durch selbstorganisierte Proteste von Ge- 45 (1), im Erscheinen. flüchteten, die Grenzen von Teilhabe auf verschiedenen Achsen der Ungleichheit in exemplarischer Art und Weise sichtbar machen. 4 ANMERKUNGEN Die Annahme sich überlagernder Konfliktlinien eröffnet 1 Exemplarisch werden die beiden Positionen in einem Streitgespräch eine differenzierte Perspektive auf soziale Teilhabe: Wer in zwischen Naika Foroutan und Wolfgang Merkel sichtbar; vgl. URL: htt- einer Dimension teilhaben kann, kann auf einer anderen ps://taz.de/Linksliberale-und-Identitaetspolitik/!5652406/ [03.06.2020]. Ebene durchaus von Ausgrenzung und Diskriminierung be- 2 Weitere Informationen unter www.welcome-democracy.de. Die Inter- views wurden zwischen Anfang 2018 und Ende 2019 durchgeführt. Im troffen sein. Bei den rekonstruierten Teilhabekonflikten Sinne der Anonymisierung wird die soziale Rolle der Autor*innen der Zi- handelt es sich eigentlich nur beim Aufenthaltsstatus um tate nur grob benannt. ein unmittelbares „Flüchtlingsproblem“. Den Grenzen der 3 Exemplarisch wird dies unter anderem im Dokumentarfilm „Neue Nachbar*innen. Von der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete zur ei- Teilhabe in den anderen Konfliktfeldern sind ebenso an- genen Wohnung“ von Anne Frisius sichtbar. Der Film ist unter http://wel- dere soziale Gruppen ausgesetzt. In unserem Material fin- come-democracy.de/dokumentarfilme online verfügbar. den sich kaum Belege dafür, dass Verteilungskonflikte zu 4 In ihrem Dokumentarfilm „‘Wenn wir auf die Regierung warten, wird nichts passieren‘. Aktivismus von Geflüchteten in Hamburg“ porträtiert Rassismus führen: Es wird in erster Linie sichtbar, dass auf- Anne Frisius einige dieser Proteste. Der Film ist online verfügbar unter ht- grund von Rassismus Verteilungskonflikte spezifisch ge- tp://welcome-democracy.de/dokumentarfilme [03.06.2020]. deutet werden, da Verteilungskonflikte „völkisch“ reinter- priert und aufgeladen werden. Politische Konzepte, die darauf abzielen, die Teilhabechancen unterschiedlicher sozioökonomisch deprivierter Gruppen auszuweiten, wer- den damit erschwert, vielleicht sogar verunmöglicht. Auto- ritärer Populismus verfestigt somit klassenspezifische sozi- UNSERE AUTOREN ale Ungleichheiten und spaltet den Widerstand dagegen, statt die Interessen sozial benachteiligter Gruppen zusam- menzuführen. Um dem zu begegnen, lohnt es sich, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und die Gesellschaft nicht nur aus der Perspektive sich durch vermeintliche Kon- kurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt bedroht wähnender Teile der Mehrheitsgesellschaft zu betrachten, sondern die vielfältigen Erfahrungen und Sichtweisen der von Armut, Rassismus, traumatischer Gewalt und rechtli- cher Diskriminierung Betroffenen in den Blick zu nehmen. Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling leitet den Arbeitsbereich Politik und Wirtschaft/Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Forschungs- schwerpunkte liegen in den Bereichen der Internationalen Politi- LITER ATUR schen Ökonomie, Europäischen Integration sowie der Staats-, Altreiter, Carina/Flecker, Jörg/Papouschek, Ulrike/Schindler, Saskia/ Politik- und Gesellschaftstheorie. Schönauer, Annika (2019): Umkämpfte Solidaritäten. Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft. Wien. Bade, Klaus (2016): Von Unworten zu Untaten. Kulturängste, Populismus und politische Feindbilder in der deutschen Migrations- und Asyldiskus- sion zwischen ‚Gastarbeiterfrage‘ und ‚Flüchtlingskrise‘. In: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien/IMIS (Hrsg.): 25 Jahre IMIS. Jubiläumsveranstaltung am 29. Mai 2015. Osnabrück. IMIS-Bei- träge, Heft 48/2016, S. 35–171. Biskamp, Floris (2019): A Great Variety of Transformations – and Populisms. In: Culture, Practice & Europeanization, Vol. 4, No. 1, S. 92–102. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Inte- gration (2019): Deutschland kann Integration: Potenziale fördern, Inte- gration fordern, Zusammenhalt stärken. 12. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung fü r Migration, Flü chtlinge und Integration. Berlin. Foroutan, Naika (2019): Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Verspre- chen der pluralen Demokratie. Bielefeld. Dr. Nikolai Huke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Eber- Huke, Nikolai (2019a): Teilhabe trotz staatlicher Ausgrenzungspolitik. In: hard Karls Universität Tübingen und Verbundkoordinator des Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Heft 3/2019, S. 394–407. Huke, Nikolai (2019b): Neoliberale Alternativlosigkeit, progressiver Libe- durch das BMBF geförderten Projekts „Willkommenskultur und ralismus und der Aufstieg des autoritären Populismus. In: PROKLA. Zeit- Demokratie in Deutschland“. Er forscht unter anderem zu sozialen schrift für kritische Sozialwissenschaft, Nr. 197, S. 631–644. Bewegungen, Krisen der Demokratie und autoritärem Populis- Jörke, Dirk/Nachtwey, Oliver (2017): Die rechtspopulistische Hydraulik der Sozialdemokratie. Zur politischen Soziologie neuer und alter Arbei- mus. terparteien. In: Leviathan, Sonderband 32, S. 163–186. 113 bis2020_03_inhalt.indd 113 11.08.20 08:29
R ASSISMUSAMNESIE UND PANDEMIE Nach der Krise ist vor der Krise: Rassismus und Teilhabe in einer postpandemischen Welt Fatima El-Tayeb dem nächsten „Ausnahmezustand“ erneut mit äußerster Die Corona-Pandemie ist eine weitere Krise, in der wie- Überraschung begegnet, eine plötzliche Krise, wie gehabt derum Rassismusamnesie sichtbar wird. Rassismusamne- von den Anderen, den ewig fremd Bleibenden, ausgelöst. sie meint die Dialektik von rassistischer Panik angesichts Zum letzten Mal wurde dies in der sogenannten Flücht- des vermeintlich Fremden und Verdrängung der (histori- lingskrise deutlich (als solche erst wahrgenommen als sie schen) Präsenz rassifizierter Bevölkerungen. Auch die zur Belastung für Deutschland wurde). Diese schien wiede- sogenannte Flüchtlingskrise, beginnend im Jahr 2015, rum eine deutsche Identitätskrise auszulösen – pendelnd weist ein ähnliches Muster auf. Deutschland und andere zwischen Gutmenschen-Willkommenskultur und offenen europäische Gesellschaften befinden sich in einem stän- Grenzen auf der einen Seite, brennenden Flüchtlingshei- digen Krisenmodus, der stets die gleichen Reaktionen men und verschärften Asylgesetzen auf der anderen. auslöst und zwei grundlegende Fragen aufwirft: Ist Kri- Während sich die Lage fast täglich zu verändern schien, senproduktion ein notwendiger Bestandteil der (nationa- wurde schnell klar, dass diese angeblich nie da gewese- len) deutschen Identität? Welche Form von Vergessen nen, unvorhersehbaren Entwicklungen tatsächlich in ein verlangt die stetige Reproduktion scheinbar immer neuer bekanntes Muster fielen, ein Muster, in dem ein stabiles krisenhafter Zustände? Die Einbettung Deutschlands in Deutschland sich immer wieder gegen ein außerhalb sei- ein globales System, das sich weder durch Nachhaltig- ner Grenzen produziertes Chaos verteidigen muss. Es keit noch Gerechtigkeit auszeichnet, produziert ständig herrschte ein Tenor der Überforderung – durch die EU Fi- Krisen, die nicht gelöst, sondern externalisiert werden. nanzkrise, die muslimische Minderheit, die Masse von Fatima El-Tayeb erläutert dies am Beispiel der (verwei- Flüchtenden, die alle am liebsten nach Deutschland kom- gerten) Teilhabe von Geflüchteten und plädiert für den men wollten … intersektionalen Ansatz der Mutual Aid, der eine bessere Kurz, die drohende Instabilität im Innern musste durch Ab- Alternative darstellt. grenzung und Ausschluss der destabilisierenden Elemente abgewendet werden. Dieser scheinbare Krisenmoment ist jedoch mindestens seit der Wiedervereinigung Normalzu- stand. Selbst die Themen bleiben fast gleich: von der Asyl- Rassismusamnesie und Wiederholungszwang Der Sommer 2015 und die mit ihm einhergehende soge- nannte Flüchtlingskrise scheint heute, im Frühsommer 2020, unendlich weiter entfernt als dies noch vor wenigen Mona- ten der Fall war. Die Coronavirus-Pandemie hat alle ande- ren Themen aus den Schlagzeilen und weitgehend auch aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Aber gleich- zeitig: Je unsicherer die gegenwärtige Situation und je un- gewisser die Zukunft, desto lauter wird der Ruf nach einer Rückkehr zur Normalität. Eine Normalität, in der Entwick- Ein leerstehendes Gebäude, lungen berechenbar, Entscheidungen planbar, kurz, die in dem Asylbewerber unter- Dinge normal waren. Fast zwangsläufig unberücksichtigt kommen sollen, steht im August bleibt dabei, wie genau diese herbeigesehnte Normalität 2015 in Weissach im Tal zur gegenwärtigen Krise beigetragen hat. Und zu der da- (Baden-Württemberg) in Flam- vor. Und zur nächsten … men. Die Gemeinde hat in kur- Das Thema Krise und welche Funktion sie in einem Kreislauf zer Zeit ein neues Gebäude aus Verdrängung und Massenpanik einnimmt, war eines erstellt, das heute als Flücht- der zentralen Themen meines Buches „Undeutsch“. Dort in- lingsunterkunft dient. Die teressierte mich primär eine Form der sich wiederholenden so genannte Flüchtlingskrise Krise, die ich mit dem Begriff der Rassismusamnesie zusam- schien wiederum eine deutsche menfasste: die anhaltende Dialektik von rassistischer Panik Identitätskrise auszulösen – ob des scheinbar plötzlichen und bedrohlichen Auftau- pendelnd zwischen Gutmen- chens des Fremden und der wiederholten Verdrängung schen-Willkommenskultur und der historischen Präsenz rassifizierter Bevölkerungen, so offenen Grenzen auf der einen dass diese immer wieder neu als „fremd“ situiert werden Seite, brennenden Flüchtlings- können. Ihre Anwesenheit bleibt so Ausnahmezustand, ihre heimen und verschärften Asyl- Anerkennung immer unter Vorbehalt, ohne bleibende Kon- gesetzen auf der anderen. sequenz für das nationale Selbstbild, stattdessen wird picture alliance/dpa 114 bis2020_03_inhalt.indd 114 11.08.20 08:29
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