Menschenrechte und eu-Flüchtlingspolitik in Zeiten der Pandemie - spw

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spw 2 | 2020                                                                                                  Schwerpunkt        47

Menschenrechte und EU-Flüchtlingspolitik in Zeiten
der Pandemie
von Dietmar Köster

   Die Abschottungspolitik der EU gegen-                                     Libyen, Irak und Syrien, Waffenexporte sowie
über Menschen, die vor (Bürger-)Kriegen,                                     die globalen Ungleichheitsverhältnisse im Zuge
politischer und ethnischer Verfolgung oder                                   der Freihandelsideologie sind die verheerenden
vor Not und Elend fliehen, ist schon lange un-                               Erscheinungen dieser kapitalistischen Exter-
menschlich: Flüchtlinge ertrinken im Mittel-                                 nalisierungsstrategie, deren Folgen jetzt auf
meer, verdursten in der Wüste der Sahelzone,                                 die Staaten des globalen Nordens in Form von
werden in Lagern in Libyen vergewaltigt, miss-                               Flucht und Migration zurückfallen. Hier herr-
handelt, erpresst, versklavt und zur Handels-                                schen die Gesetzmäßigkeiten eines finanzge-
ware herabgewürdigt. Und schaffen sie es, nach                               triebenen Turbokapitalismus: Menschen wer-
vielen traumatisierenden Erfahrungen Europa                                  den nach ihrer Effizienz, ihrem Nutzen und
zu erreichen, werden sie in Lager gezwungen,                                 ihrer Verwertbarkeit beurteilt. In dieser Logik
die menschenunwürdig und katastrophal                                        ist es dann konsequent, insgesamt etwa 40.000
sind. Um den Schutz der Menschenrechte ist es                                osteuropäische Erntehelfer teilweise innerhalb
schlecht bestellt.                                                           kürzester Zeit nach Deutschland unter ande-
                                                                             rem zur Spargelernte einzufliegen, aber die
   Die Mehrheitsgesellschaft begegnet den                                    40.000 Flüchtlinge in den Lagern auf den grie-
Flüchtenden in der EU mit Abwehr. Asyl- und                                  chischen Inseln zu lassen und sie dem Risiko
Flüchtlingspolitik der EU-Staaten ist darauf                                 auszusetzen, vom Coronavirus infiziert zu wer-
ausgerichtet, Flüchtlinge wieder in ihre Her-                                den. Ebenso setzen sich die Erntehelfer einem
kunftsländer abzuschieben. Empathie, Mitge-                                  verstärkten Infektionsrisiko aus.
fühl und Solidarität erfahren sie von zivilgesell-
schaftlichen Organisationen und Freiwilligen,                                    Zustimmung zu dieser Politik erlangen die
die allerdings keine Deutungshoheit über das                                 Regierenden durch das Narrativ der Versicher-
Thema Flucht und Migration haben und zu ge-                                  heitlichung. Danach werden die realen sozialen
ringe gesellschaftspolitische Wirkungsmacht                                  Abstiegsängste vieler Bürger*innen nicht auf
im Sinne eines humanistischen Denkens und                                    eine verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik
Handelns besitzen. Ihr Resonanzraum bleibt                                   zurückgeführt, sondern auf Flüchtlinge und
begrenzt.                                                                    Migrant*innen projiziert, die angeblich den er-
                                                                             reichten Wohlstand gefährden. Sie werden zu
    Grundlage der Abschottungspolitik ist die                                einer Bedrohung und zu Sündenböcken hoch-
dem Kapitalismus inhärente Externalisierungs-                                stilisiert. Sie werden nicht als Menschen wahr-
strategie, wonach die „reichen hochindustri-                                 genommen die Rechte haben und eine Berei-
alisierten Gesellschaften dieser Welt die nega-                              cherung für alle sein können. Vielmehr werden
tiven Effekte ihres Handelns auf Länder und                                  sie zu einem Sicherheitsproblem gemacht, in-
Menschen in ärmeren, weniger ‚entwickelten‘                                  dem Geflüchtete pauschal in die Nähe von po-
Weltregionen auslagern. (...) Externalisierung                               tenziell „Kriminellen“ und „Terroristen“ gestellt
heißt (...): Ausbeutung fremder Ressourcen,                                  werden. In diesem Narrativ einer regressiven
Abwälzung von Kosten auf Außenstehende,                                      Gemeinschaftsvorstellung ist die Hoffnung auf
Aneignung der Gewinne im Innern, Beför-                                      ein besseres Leben nicht mehr auf die Zukunft,
derung des eigenen Aufstiegs bei Hinderung                                   auf Utopia gerichtet. Vielmehr geht der Blick
(...) des Fortschritts anderer“ (Lessenich 2016:                             zurück in die Vergangenheit des Nationalen,
24 f.). Kriege des Westens wie in Afghanistan,                               nach „Retrotopia“ (Bauman), in der die kapi-
                                                                             talistische Globalisierung noch nicht alle Le-
	 Dr. Dietmar Köster, MdEP, ist Mitglied im Landesvorstand der NRWSPD
                                                                             bensverhältnisse durchdrungen hatte. Das geht
   und beurlaubter Professor für Soziologie an der Hochschule in Dortmund.   einher mit dem Erstarken eines autoritären Na-
48   Schwerpunkt                                                                                  spw 2 | 2020

     tionalismus, der Quelle einer Anerkennungs-        rung nicht gerechtfertigt werden. Die EU-Kom-
     kultur ist und dessen Vertreter*innen vor einem    mission ist als Hüterin der Verträge ihrer Pflicht
     „Bevölkerungsaustausch“ warnen und letztlich       nicht nachgekommen, die griechische Regie-
     bei „gruppenbezogener Menschenfeindlich-           rung aufzufordern, die Grundrechte einzuhal-
     keit“ (Heitmeyer) landen.                          ten. Vielmehr unterstützte die Kommissionsprä-
                                                        sidentin Ursula von der Leyen die Maßnahmen
        Die Not und das Elend der Flüchtlinge wer-      der griechischen Regierung und bezeichnete sie
     den noch dadurch gesteigert, dass Staaten auf      als „Schutzschild“ der EU, für den die Kommis-
     ihrem Rücken geostrategische Machtkämpfe           sion insgesamt 700 Millionen Euro zur Verfü-
     austragen. So werden sie beispielsweise zum        gung stellen will. Sie folgt damit der bekannten
     Spielball des despotischen türkischen Regie-       Maxime: Der Schutz der Grenzen ist wichtiger
     rungschefs, der je nach Gusto die Flüchtlinge      als der Schutz von Menschen. Augenscheinlich
     in Richtung Griechenland schickt. Dort rea-        wird hier die Externalisierungsstrategie durch-
     gieren Grenzpolizisten panisch auf den dro-        exerziert. Immerhin hat die griechische Regie-
     henden Kontrollverlust und setzen Tränengas        rung mittlerweile nach massiven Protesten das
     und Gummigeschosse gegen flüchtende Kin-           Außerkraftsetzen des Grundrechts auf Asyl zu-
     der, Jugendliche, Frauen und Männer an der         rückgenommen. Die Asylrechtsverschärfungen
     griechisch-türkischen Grenze am Evros ein.         bleiben allerdings in Kraft.
     Darüber hinaus setzte die griechische konser-
     vative Regierung das Menschenrecht auf Asyl            Progressive Kräfte, die für Menschenrechte,
     kurzerhand für einen Monat außer Kraft. Sie        humanistische Werte und Anstand streiten,
     suspendierte damit grundlegende Rechte we-         haben mit vielen Widerständen zu kämpfen.
     gen etwa 13.000 Flüchtlingen an der türkisch-      Seenotrettungsorganisationen, die Menschen
     griechischen Grenze. Das zeigt, wie weit man       vor dem Ertrinken im Mittelmeer retten, müs-
     in der EU von einer meschenrechtsfundierten        sen nach wie vor gegen große Widerstände
     Flüchtlingspolitik entfernt ist. Selbst der Er-    ankämpfen. Sie ringen beispielsweise darum,
     finder des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals – ein        sichere Häfen in den Mittelmeerstaaten zuge-
     besonders schreckliches Beispiel der Exter-        wiesen zu bekommen, um die Geretteten an
     nalisierungsstrategie – Gerald Knaus warnt         Land zu bringen. Denn die italienische und
     davor, dass angesichts dieser Vorgänge in der      maltesische Regierung haben beschlossen, ihre
     EU die Genfer Flüchtlingskonvention stirbt.        Häfen für Seenotrettungsschiffe seit der Coro-
     Die Stimmung in Griechenland, die bislang          na-Krise zu schließen. Dennoch hat die neue
     trotz der enormen Belastungen überwiegend          Regierung in Italien, getragen von den dortigen
     solidarisch gegenüber Flüchtlingen war, ist        Sozialdemokraten und der Fünf-Sterne-Bewe-
     gekippt. Es dominiert das von den Leitmedi-        gung, für etwas Erleichterung gesorgt, seitdem
     en verbreitete Narrativ, die Geflüchteten seien    der neofaschistische Innenminister Matteo Sal-
     „Eindringlinge und Invasoren“. Der Versicher-      vini das Feld räumen musste. Ein Beispiel dafür
     heitlichungsdiskurs funktioniert auch hier. Ein    ist, dass sie jüngst die geretteten 149 Flüchtlinge
     Nazimob macht sich in Teilen Griechenlands         des Seenotrettungsschiffes Alan Kurdi und 47
     breit und bedroht unter anderem Flüchtlinge,       der Aita Mari auf Schiffe vor Sizilien in Qua-
     Journalist*innen und NGOs.                         rantäne genommen hat, nachdem sie tagelang
                                                        auf dem Mittelmeer um Hilfe baten und sich ei-
        Mittlerweile sind die Flüchtlingslager an dem   nige EU-Mitgliedstaaten auf einen Verteilungs-
     türkisch-griechischen Grenzfluss Evros durch       schlüssel verständigt hatten.
     die türkische Regierung aufgelöst worden. Auch
     wenn Griechenland unter der Austeritätspoli-          Das kleine Malta, von einer sozialdemo-
     tik des damaligen federführenden deutschen         kratischen Regierung geführt und als Erstan-
     Finanzministers Schäubles erheblich gelitten       kunftsstaat oft unsolidarisch von andern EU-
     hat und mit deren Auswirkungen bis heute zu        Mitgliedstaaten im Stich gelassen, ist damit
     kämpfen hat, so kann die Suspendierung der         überfordert, Flüchtlinge und Migrant*innen
     Menschenrechte durch die griechische Regie-        auf der Grundlage von Menschenrechten zu
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behandeln. Ein weiteres Beispiel der Exter-        zu einem Ort zu werden, an dem viele sterben
nalisierungsstrategie liefert die maltesische      werden. Insgesamt befinden sich auf den grie-
Regierung, die Mitte April in einem Brief den      chischen Inseln 42.033 schutzsuchende Men-
EU-Außenbeauftragen, Josep Borell, zu einer        schen bei einer offiziellen Aufnahmekapazität
verstärkten Zusammenarbeit mit der libyschen       von 8.816 (Stand am 27.02.2020) (Deutsches
Küstenwache aufforderte. Libyen sei als sicherer   Institut für Menschenrechte u.a. 2020).
Hafen einzustufen. Auf dieser Grundlage kön-
ne die libysche Küstenwache die Flüchtlinge auf       Auch die 5.300 Flüchtlinge in den Lagern
dem Mittelmeer abfangen und sie zurück nach        an der kroatisch-bosnischen Grenze in Bos-
Libyen bringen. Der Außenbeauftragte der EU        nien können einfache Verhaltensregeln, um
hat das Anliegen allerdings abgelehnt.             die Verbreitung des Virus zu verhindern, kaum
                                                   einhalten (Santos, Vollath, Köster 2020). Statt
   Dabei praktizieren die maltesischen Be-         nach menschenrechtsfundierten Lösungen zu
hörden dies bereits jetzt. Sie informieren die     suchen, drängt die kroatische Grenzpolizei die
libysche Küstenwache, die die Flüchtenden wi-      Flüchtlinge an der bosnischen Grenze wider-
derrechtlich aus maltesischem Gewässer schlep-     rechtlich zurück. Sie verweigert ihnen nicht nur
pen und sie zurück nach Libyen bringen. Dort       das Recht, Asyl zu beantragen, sondern verprü-
werden die Flüchtlinge verbrecherischen Ban-       gelt, misshandelt, beraubt sie und zerstört ihre
den übergeben und misshandelt. Die dortige         Handys und Rucksäcke. All dies sind massive
Küstenwache ist teilweise in kriminelle Struk-     Verstöße gegen internationales Recht, die EU-
turen eingebunden. Dieses Vorgehen verletzt        Grundrechtecharta und ein Verstoß gegen die
den Grundsatz der Nichtzurückweisung der           Genfer Flüchtlingskonvention. Auch hier zeigt
Genfer Flüchtlingskonvention, wonach Flücht-       sich, dass die EU-Kommission ihrer humani-
linge nicht an Orte gebracht werden dürfen, wo     tären Verantwortung nicht gerecht wird.
ihnen Gefahren drohen.
                                                       Die Corona-Krise hat Folgen für Flüchtende
    Neuen und zusätzlichen Gefahren sehen          in der ganzen Welt. Die sozial-ökonomischen
sich die Flüchtlinge durch die Corona-Pande-       Auswirkungen sind global und von ihren his-
mie ausgesetzt. Corona ist ein „Beschleuniger      torischen Dimensionen unvergleichlich. Die
von sozialer Ungleichheit“ (Heitmeyer 2020),       Hauptlast des ökonomischen Einbruchs wer-
allerdings nicht nur auf nationaler und europä-    den in Folge der Externalisierungsstrategie
ischer, sondern auch auf internationaler Ebene.    die Länder des globalen Südens tragen. Der
Die griechischen Flüchtlingslager sind seit lan-   dramatische Einbruch der Rohstoffpreise, des
gem überfüllt und die Menschen leben dort eng      Tourismus und die fehlenden Rücküberwei-
zusammengepfercht unter extrem schlechten          sungen von Arbeitsmigrant*innen werden die
hygienischen Bedingungen. Es scheint nur eine      Deviseneinnahmen der Staaten des globalen
Frage der Zeit zu sein, wann die ersten Flücht-    Südens erheblich schrumpfen lassen. Sie haben
linge von Covid-19 infiziert werden. Die For-      ihre Kapazitäten zur Eigenversorgung mit Le-
derung des Europäischen Parlaments in seiner       bensmitteln und Konsumgütern verloren. Sie
Resolution zur Bekämpfung der Corona-Krise,        werden zunehmend abhängig von Importen.
dass die Behörden jeder/m die gleichen Rechte      Es besteht die große Gefahr, dass sich die Ver-
und den gleichen Schutz zu gewähren haben,         sorgungslage schnell dramatisch verschlech-
ist angesichts der Lage der Flüchtlinge auf den    tern wird und die Staatsschulden wachsen wer-
griechischen Inseln nicht umsetzbar. Regeln        den. Hinzu kommt ein Gesundheitssystem, das
zum Abstandhalten und regelmäßigen Hände-          auch aufgrund der massiven Kürzungen durch
waschen können die Flüchtlinge nicht einhal-       Auflagen des IWFs in schlechtem Zustand  und
ten. Auch die Vorbereitungen zur Versorgung        den Herausforderungen einer Pandemie nicht
von Infizierten ist vollkommen unzureichend.       gewachsen ist (Peters 2020). Die Folge wird ein
Das Lager Moria auf Lesbos, in dem Plätze          wachsender Druck sein, zu migrieren und zu
für 3.000 Schutzsuchende vorgesehen waren,         fliehen. Und dies wird wiederum die Staaten
dort müssen 20.000 Menschen hausen, droht          des globalen Südens am stärksten treffen, denn
50   Schwerpunkt                                                                               spw 2 | 2020

     nur etwa jede/r zehnte der weltweiten Flücht-     stoppt und zur Bekämpfung der Corona-Krise
     linge gelangt in den globalen Norden. Was ist     bereitgestellt werden.
     zu tun?
                                                           Die EU-Kommission hat angekündigt, in
        Die vordringlichste Forderung ist, dass die    den nächsten Monaten einen „New Pact on
     40.000 Flüchtlinge von den Inseln evakuiert       Migration“ vorzulegen. Auf folgende Punkte
     und in Hotels auf dem Festland untergebracht      ist dabei besonders zu achten: Im Vordergrund
     werden müssen. Sie müssen auf die Mitglied-       muss die Sicherung eines individuellen und
     staaten verteilt werden. Niemand darf im Elend    fairen Asylverfahrens für alle stehen. Zudem
     zurückgelassen werden. Die ersten 11 bzw. 50      ist insbesondere die Dublin-III-Verordnung zu
     unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, die        ändern, um zu einer solidarischen Flüchtlings-
     nach wochenlangem bürokratischen und poli-        politik zu kommen. Die Erstankunftsstaaten der
     tischen Gezerre in Luxemburg und Deutsch-         Flüchtlinge dürfen bei der Bewältigung ihrer
     land angekommenen sind, können nur der            Herausforderungen nicht alleine gelassen wer-
     Anfang eines umfassenden humanitären Auf-         den. Analog zum Beschluss des europäischen
     nahmeprogramms sein. Vor der Corona-Krise         Parlaments müssen die Flüchtlinge auf alle Mit-
     verständigten sich zehn Mitgliedstaaten dar-      gliedstaaten verteilt werden. Das Urteil des Eu-
     auf, 1.600 unbegleitete Minderjährige aufzu-      ropäischen Gerichtshofs vom April 2020, dass
     nehmen. Das muss schnellstens geschehen.          Polen, Ungarn und Tschechien mit der Weige-
                                                       rung, Asylbewerber nach der Flüchtlingskrise
        Menschenrechtsorganisationen kämpfen           2015 aufzunehmen, gegen EU-Recht verstoßen
     darum, Flüchtlinge von den Inseln zu holen.       haben, stärkt die Befürworter*innen eines so-
     Pro Asyl und Refugee Support Aegan haben          lidarischen Verteilungsschlüssels aller EU-Mit-
     vor dem Europäischen Gerichtshof für Men-         gliedstaaten. Jene Staaten, die sich verweigern
     schenrechte in einem langwierigen Verfahren       und im Übrigen ansonsten auch rechtsstaatli-
     erstritten, dass acht vulnerable Schutzsuchen-    che Prinzipien nicht beachten, müssen finanzi-
     de aus Moria in eine menschenwürdige Un-          ell sanktioniert werden. Das muss ein zentraler
     terkunft gebracht werden müssen. Es handelt       Punkt für die gerade debattierte mittelfristige
     sich um Folteropfer, Schwerkranke und um          Finanzplanung 2021 bis 2027 sein. Darüber
     Eltern mit einem Kleinkind. Diese Einzelfall-     hinaus müssen jene Städte und Regionen unter-
     erfolge sind wichtig. Sie zeigen aber auch, wie   stützt werden, die sich bereit erklären, Geflüch-
     schlecht es um die Menschenrechte steht, wenn     tete aufzunehmen. Zur Durchsetzung einer
     Mindeststandards der Rechtsstaatlichkeit, des     humanitären Flüchtlingspolitik bedarf es einer
     Gesundheitsschutzes und der Menschenwürde         europaweiten Bewegung.
     vor internationalen Gerichten erstritten wer-
     den müssen.                                          Hierfür gibt es vielversprechende Ansätze.
                                                       Am 22. April boten zehn europäische Städ-
        Umso wichtiger ist es, alle politischen Mög-   te, darunter Leipzig und Nürnberg, die sich
     lichkeiten zu nutzen, um Menschen zu eva-         zu „Solidarity Cities“ zusammengeschlossen
     kuieren. So müssen Familienzusammenfüh-           haben, in einem Schreiben an die drei EU-
     rungen der Flüchtlinge von den griechischen       Präsident*innen an, 5.500 Kinder und Jugend-
     Inseln auf das europäische Festland unver-        liche aufzunehmen. Mittlerweile verschafft sich
     züglich organisiert werden können, so wie die     die Bewegung „Seebrücke” mit ihrer Kampagne
     Dublin-III-Verordnung das bereits vorsieht.       „Leave no one behind“ bundesweit Gehör. 144
     Weitere Forderungen sind unter anderem ein        Städte haben sich zu „sicheren Häfen“ erklärt.
     sofortiger Abschiebestopp in Zeiten der Coro-     Sie wollen über den gewohnten Verteilungs-
     na-Krise, der sofortige Stopp der Gewalt an den   mechanismus hinaus zusätzlich Flüchtlinge
     EU-Außengrenzen und die Schaffung legaler         aufnehmen und sind dazu kurzfristig auch in
     und sicherer Fluchtwege. Ebenso müssen alle       der Zeit der Pandemie bereit. Ebenso wollen
     Pläne zur Erhöhung der Rüstungsausgaben auf       einige Bundesländer Flüchtlinge aufnehmen.
     zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ge-        Allerdings verweigert sich das Bundesinnen-
spw 2 | 2020                                                                                 Schwerpunkt            51

ministerium. Die Staatsrechtler*innen Ulrich       Literatur
Karpenstein und Roya Sangi kommen in ei-           ■ Deutsches Institut für Menschenrechte u.a. (2020): Die
ner rechtlichen Stellungnahme (Karpenstein,          Situation an den EU-Außengrenzen und die zukünftige
Sangi 2020) zu dem Ergebnis, dass den Bun-           Europäische Asylpolitik; (https://www.ssoar.info/ssoar/
desländern das Recht zusteht, „insbesondere          bitstream/handle/document/67338/ssoar-2020-Die_Situa-
                                                     tion_an_den_EU-Auengrenzen.pdf?sequence=1&isAllow
vulnerable Personen, wie etwa Kinder und ihre        ed=y&lnkname=ssoar-2020-Die_Situation_an_den_EU-
Mütter oder unbegleitete Minderjährige von           Auengrenzen.pdf, 22.4.2020).
den griechischen Inseln aufzunehmen“. Eine         ■ Heitmeyer, Michael (2020): In der Krise wächst das Au-
sozialdemokratisch geführte Landesregierung          toritäre. In Zeit Online vom 13. April 2020.
könnte sich diese Rechtsauffassung zu eigen
                                                   ■ Karpenstein, Ulrich/Sangi, Roya (2020): Aufnahme von
machen, um endlich aus der verfahrenen Situ-         Flüchtenden aus den Lagern der griechischen Inseln durch
ation herauszukommen, in der sich die Flücht-        die deutschen Bundesländer. Rechtliche Voraussetzungen
linge in Griechenland befinden. Mit einer sol-       und Grenzen. Rechtliche Stellungnahme. (https://www.
chen Maßnahme kann die Sozialdemokratie ihr          nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2020/03/2020-03-06-
menschenrechtliches Profil erheblich schärfen.       Gutachten-Länderkompetenzen-humanitäre-Aufnahme-
                                                     Griechenland-fin.pdf; 21.4.2020).

    Es muss jetzt darum gehen, die autoritäre      ■ Lessenich, Stefan (2016): Neben uns die Sintflut. Die Ex-
                                                     ternalisierungsstrategie und ihr Preis. München: Hanser
Abschottungspolitik der EU zu durchbrechen.          Verlag.
Das ist zuallererst nicht nur gegenüber den
flüchtenden Menschen geboten. Es geht auch         ■ Stefan Peters (2020): Ungleichheit tötet. In IPG vom
                                                     26.3.2020 (https://www.ipg-journal.de/regionen/global/
um die Einhaltung grundlegender Werte ge-            artikel/detail/ungleichheit-toetet-4191/; 22.4.2020).
genüber allen Menschen in den Mitgliedstaaten
                                                   ■ Santos, Isabel; Vollath, Bettina; Köster, Dietmar (2020):
selbst. Die aufkommende Debatte in Deutsch-          The corona crisis doesn‘t justify suspending human rights.
land in Corona-Zeiten über die Minderwertig-         The coronavirus could spread to overcrowded, unsanitary
keit von älteren gegenüber jüngeren Menschen         refugee camps — and the EU can no longer look away. In:
bei der Gesundheitsversorgung zeigt dies über-       International Politics and Society, 10.04.2020; https://www.
deutlich. Es wird behauptet, dass aus Rücksicht      ips-journal.eu/regions/europe/article/show/the-corona-
                                                     crisis-doesnt-justify-suspending-human-rights-4253/
auf ältere Menschen nicht die ganze Wirtschaft
                                                     (21.4.2020).
lahmgelegt werden dürfe. Daher müssten sie
entweder weggeschlossen werden oder sterben.
Dies zeigt, dass der Weg von der Diskriminie-
rung Geflüchteter zu älteren Menschen kurz
ist. So werden vermeintlich Unproduktive und
Unnütze gesellschaftlich exkludiert. Der Zivili-
sationsgrad einer Gesellschaft zeigt sich jedoch
daran, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht.
In diesem Sinne schrieb der ehemalige britische
Labourpolitiker Tony Benn: „In ihrem Umgang
mit Flüchtlingen zeigen die Regierungen, wie
sie mit uns allen umgehen würden, wenn sie
wüssten, dass sie damit durchkämen“. Daran
muss ein humanistisches Narrativ über Flucht
und Migration anknüpfen, um einen Entwick-
lungspfad einzuschlagen, der den globalen Ka-
pitalismus stärker begrenzt und reguliert sowie
die Menschenrechte stärkt.                    ó
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