Menschenrechte und eu-Flüchtlingspolitik in Zeiten der Pandemie - spw
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spw 2 | 2020 Schwerpunkt 47 Menschenrechte und EU-Flüchtlingspolitik in Zeiten der Pandemie von Dietmar Köster Die Abschottungspolitik der EU gegen- Libyen, Irak und Syrien, Waffenexporte sowie über Menschen, die vor (Bürger-)Kriegen, die globalen Ungleichheitsverhältnisse im Zuge politischer und ethnischer Verfolgung oder der Freihandelsideologie sind die verheerenden vor Not und Elend fliehen, ist schon lange un- Erscheinungen dieser kapitalistischen Exter- menschlich: Flüchtlinge ertrinken im Mittel- nalisierungsstrategie, deren Folgen jetzt auf meer, verdursten in der Wüste der Sahelzone, die Staaten des globalen Nordens in Form von werden in Lagern in Libyen vergewaltigt, miss- Flucht und Migration zurückfallen. Hier herr- handelt, erpresst, versklavt und zur Handels- schen die Gesetzmäßigkeiten eines finanzge- ware herabgewürdigt. Und schaffen sie es, nach triebenen Turbokapitalismus: Menschen wer- vielen traumatisierenden Erfahrungen Europa den nach ihrer Effizienz, ihrem Nutzen und zu erreichen, werden sie in Lager gezwungen, ihrer Verwertbarkeit beurteilt. In dieser Logik die menschenunwürdig und katastrophal ist es dann konsequent, insgesamt etwa 40.000 sind. Um den Schutz der Menschenrechte ist es osteuropäische Erntehelfer teilweise innerhalb schlecht bestellt. kürzester Zeit nach Deutschland unter ande- rem zur Spargelernte einzufliegen, aber die Die Mehrheitsgesellschaft begegnet den 40.000 Flüchtlinge in den Lagern auf den grie- Flüchtenden in der EU mit Abwehr. Asyl- und chischen Inseln zu lassen und sie dem Risiko Flüchtlingspolitik der EU-Staaten ist darauf auszusetzen, vom Coronavirus infiziert zu wer- ausgerichtet, Flüchtlinge wieder in ihre Her- den. Ebenso setzen sich die Erntehelfer einem kunftsländer abzuschieben. Empathie, Mitge- verstärkten Infektionsrisiko aus. fühl und Solidarität erfahren sie von zivilgesell- schaftlichen Organisationen und Freiwilligen, Zustimmung zu dieser Politik erlangen die die allerdings keine Deutungshoheit über das Regierenden durch das Narrativ der Versicher- Thema Flucht und Migration haben und zu ge- heitlichung. Danach werden die realen sozialen ringe gesellschaftspolitische Wirkungsmacht Abstiegsängste vieler Bürger*innen nicht auf im Sinne eines humanistischen Denkens und eine verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik Handelns besitzen. Ihr Resonanzraum bleibt zurückgeführt, sondern auf Flüchtlinge und begrenzt. Migrant*innen projiziert, die angeblich den er- reichten Wohlstand gefährden. Sie werden zu Grundlage der Abschottungspolitik ist die einer Bedrohung und zu Sündenböcken hoch- dem Kapitalismus inhärente Externalisierungs- stilisiert. Sie werden nicht als Menschen wahr- strategie, wonach die „reichen hochindustri- genommen die Rechte haben und eine Berei- alisierten Gesellschaften dieser Welt die nega- cherung für alle sein können. Vielmehr werden tiven Effekte ihres Handelns auf Länder und sie zu einem Sicherheitsproblem gemacht, in- Menschen in ärmeren, weniger ‚entwickelten‘ dem Geflüchtete pauschal in die Nähe von po- Weltregionen auslagern. (...) Externalisierung tenziell „Kriminellen“ und „Terroristen“ gestellt heißt (...): Ausbeutung fremder Ressourcen, werden. In diesem Narrativ einer regressiven Abwälzung von Kosten auf Außenstehende, Gemeinschaftsvorstellung ist die Hoffnung auf Aneignung der Gewinne im Innern, Beför- ein besseres Leben nicht mehr auf die Zukunft, derung des eigenen Aufstiegs bei Hinderung auf Utopia gerichtet. Vielmehr geht der Blick (...) des Fortschritts anderer“ (Lessenich 2016: zurück in die Vergangenheit des Nationalen, 24 f.). Kriege des Westens wie in Afghanistan, nach „Retrotopia“ (Bauman), in der die kapi- talistische Globalisierung noch nicht alle Le- Dr. Dietmar Köster, MdEP, ist Mitglied im Landesvorstand der NRWSPD bensverhältnisse durchdrungen hatte. Das geht und beurlaubter Professor für Soziologie an der Hochschule in Dortmund. einher mit dem Erstarken eines autoritären Na-
48 Schwerpunkt spw 2 | 2020 tionalismus, der Quelle einer Anerkennungs- rung nicht gerechtfertigt werden. Die EU-Kom- kultur ist und dessen Vertreter*innen vor einem mission ist als Hüterin der Verträge ihrer Pflicht „Bevölkerungsaustausch“ warnen und letztlich nicht nachgekommen, die griechische Regie- bei „gruppenbezogener Menschenfeindlich- rung aufzufordern, die Grundrechte einzuhal- keit“ (Heitmeyer) landen. ten. Vielmehr unterstützte die Kommissionsprä- sidentin Ursula von der Leyen die Maßnahmen Die Not und das Elend der Flüchtlinge wer- der griechischen Regierung und bezeichnete sie den noch dadurch gesteigert, dass Staaten auf als „Schutzschild“ der EU, für den die Kommis- ihrem Rücken geostrategische Machtkämpfe sion insgesamt 700 Millionen Euro zur Verfü- austragen. So werden sie beispielsweise zum gung stellen will. Sie folgt damit der bekannten Spielball des despotischen türkischen Regie- Maxime: Der Schutz der Grenzen ist wichtiger rungschefs, der je nach Gusto die Flüchtlinge als der Schutz von Menschen. Augenscheinlich in Richtung Griechenland schickt. Dort rea- wird hier die Externalisierungsstrategie durch- gieren Grenzpolizisten panisch auf den dro- exerziert. Immerhin hat die griechische Regie- henden Kontrollverlust und setzen Tränengas rung mittlerweile nach massiven Protesten das und Gummigeschosse gegen flüchtende Kin- Außerkraftsetzen des Grundrechts auf Asyl zu- der, Jugendliche, Frauen und Männer an der rückgenommen. Die Asylrechtsverschärfungen griechisch-türkischen Grenze am Evros ein. bleiben allerdings in Kraft. Darüber hinaus setzte die griechische konser- vative Regierung das Menschenrecht auf Asyl Progressive Kräfte, die für Menschenrechte, kurzerhand für einen Monat außer Kraft. Sie humanistische Werte und Anstand streiten, suspendierte damit grundlegende Rechte we- haben mit vielen Widerständen zu kämpfen. gen etwa 13.000 Flüchtlingen an der türkisch- Seenotrettungsorganisationen, die Menschen griechischen Grenze. Das zeigt, wie weit man vor dem Ertrinken im Mittelmeer retten, müs- in der EU von einer meschenrechtsfundierten sen nach wie vor gegen große Widerstände Flüchtlingspolitik entfernt ist. Selbst der Er- ankämpfen. Sie ringen beispielsweise darum, finder des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals – ein sichere Häfen in den Mittelmeerstaaten zuge- besonders schreckliches Beispiel der Exter- wiesen zu bekommen, um die Geretteten an nalisierungsstrategie – Gerald Knaus warnt Land zu bringen. Denn die italienische und davor, dass angesichts dieser Vorgänge in der maltesische Regierung haben beschlossen, ihre EU die Genfer Flüchtlingskonvention stirbt. Häfen für Seenotrettungsschiffe seit der Coro- Die Stimmung in Griechenland, die bislang na-Krise zu schließen. Dennoch hat die neue trotz der enormen Belastungen überwiegend Regierung in Italien, getragen von den dortigen solidarisch gegenüber Flüchtlingen war, ist Sozialdemokraten und der Fünf-Sterne-Bewe- gekippt. Es dominiert das von den Leitmedi- gung, für etwas Erleichterung gesorgt, seitdem en verbreitete Narrativ, die Geflüchteten seien der neofaschistische Innenminister Matteo Sal- „Eindringlinge und Invasoren“. Der Versicher- vini das Feld räumen musste. Ein Beispiel dafür heitlichungsdiskurs funktioniert auch hier. Ein ist, dass sie jüngst die geretteten 149 Flüchtlinge Nazimob macht sich in Teilen Griechenlands des Seenotrettungsschiffes Alan Kurdi und 47 breit und bedroht unter anderem Flüchtlinge, der Aita Mari auf Schiffe vor Sizilien in Qua- Journalist*innen und NGOs. rantäne genommen hat, nachdem sie tagelang auf dem Mittelmeer um Hilfe baten und sich ei- Mittlerweile sind die Flüchtlingslager an dem nige EU-Mitgliedstaaten auf einen Verteilungs- türkisch-griechischen Grenzfluss Evros durch schlüssel verständigt hatten. die türkische Regierung aufgelöst worden. Auch wenn Griechenland unter der Austeritätspoli- Das kleine Malta, von einer sozialdemo- tik des damaligen federführenden deutschen kratischen Regierung geführt und als Erstan- Finanzministers Schäubles erheblich gelitten kunftsstaat oft unsolidarisch von andern EU- hat und mit deren Auswirkungen bis heute zu Mitgliedstaaten im Stich gelassen, ist damit kämpfen hat, so kann die Suspendierung der überfordert, Flüchtlinge und Migrant*innen Menschenrechte durch die griechische Regie- auf der Grundlage von Menschenrechten zu
spw 2 | 2020 Schwerpunkt 49 behandeln. Ein weiteres Beispiel der Exter- zu einem Ort zu werden, an dem viele sterben nalisierungsstrategie liefert die maltesische werden. Insgesamt befinden sich auf den grie- Regierung, die Mitte April in einem Brief den chischen Inseln 42.033 schutzsuchende Men- EU-Außenbeauftragen, Josep Borell, zu einer schen bei einer offiziellen Aufnahmekapazität verstärkten Zusammenarbeit mit der libyschen von 8.816 (Stand am 27.02.2020) (Deutsches Küstenwache aufforderte. Libyen sei als sicherer Institut für Menschenrechte u.a. 2020). Hafen einzustufen. Auf dieser Grundlage kön- ne die libysche Küstenwache die Flüchtlinge auf Auch die 5.300 Flüchtlinge in den Lagern dem Mittelmeer abfangen und sie zurück nach an der kroatisch-bosnischen Grenze in Bos- Libyen bringen. Der Außenbeauftragte der EU nien können einfache Verhaltensregeln, um hat das Anliegen allerdings abgelehnt. die Verbreitung des Virus zu verhindern, kaum einhalten (Santos, Vollath, Köster 2020). Statt Dabei praktizieren die maltesischen Be- nach menschenrechtsfundierten Lösungen zu hörden dies bereits jetzt. Sie informieren die suchen, drängt die kroatische Grenzpolizei die libysche Küstenwache, die die Flüchtenden wi- Flüchtlinge an der bosnischen Grenze wider- derrechtlich aus maltesischem Gewässer schlep- rechtlich zurück. Sie verweigert ihnen nicht nur pen und sie zurück nach Libyen bringen. Dort das Recht, Asyl zu beantragen, sondern verprü- werden die Flüchtlinge verbrecherischen Ban- gelt, misshandelt, beraubt sie und zerstört ihre den übergeben und misshandelt. Die dortige Handys und Rucksäcke. All dies sind massive Küstenwache ist teilweise in kriminelle Struk- Verstöße gegen internationales Recht, die EU- turen eingebunden. Dieses Vorgehen verletzt Grundrechtecharta und ein Verstoß gegen die den Grundsatz der Nichtzurückweisung der Genfer Flüchtlingskonvention. Auch hier zeigt Genfer Flüchtlingskonvention, wonach Flücht- sich, dass die EU-Kommission ihrer humani- linge nicht an Orte gebracht werden dürfen, wo tären Verantwortung nicht gerecht wird. ihnen Gefahren drohen. Die Corona-Krise hat Folgen für Flüchtende Neuen und zusätzlichen Gefahren sehen in der ganzen Welt. Die sozial-ökonomischen sich die Flüchtlinge durch die Corona-Pande- Auswirkungen sind global und von ihren his- mie ausgesetzt. Corona ist ein „Beschleuniger torischen Dimensionen unvergleichlich. Die von sozialer Ungleichheit“ (Heitmeyer 2020), Hauptlast des ökonomischen Einbruchs wer- allerdings nicht nur auf nationaler und europä- den in Folge der Externalisierungsstrategie ischer, sondern auch auf internationaler Ebene. die Länder des globalen Südens tragen. Der Die griechischen Flüchtlingslager sind seit lan- dramatische Einbruch der Rohstoffpreise, des gem überfüllt und die Menschen leben dort eng Tourismus und die fehlenden Rücküberwei- zusammengepfercht unter extrem schlechten sungen von Arbeitsmigrant*innen werden die hygienischen Bedingungen. Es scheint nur eine Deviseneinnahmen der Staaten des globalen Frage der Zeit zu sein, wann die ersten Flücht- Südens erheblich schrumpfen lassen. Sie haben linge von Covid-19 infiziert werden. Die For- ihre Kapazitäten zur Eigenversorgung mit Le- derung des Europäischen Parlaments in seiner bensmitteln und Konsumgütern verloren. Sie Resolution zur Bekämpfung der Corona-Krise, werden zunehmend abhängig von Importen. dass die Behörden jeder/m die gleichen Rechte Es besteht die große Gefahr, dass sich die Ver- und den gleichen Schutz zu gewähren haben, sorgungslage schnell dramatisch verschlech- ist angesichts der Lage der Flüchtlinge auf den tern wird und die Staatsschulden wachsen wer- griechischen Inseln nicht umsetzbar. Regeln den. Hinzu kommt ein Gesundheitssystem, das zum Abstandhalten und regelmäßigen Hände- auch aufgrund der massiven Kürzungen durch waschen können die Flüchtlinge nicht einhal- Auflagen des IWFs in schlechtem Zustand und ten. Auch die Vorbereitungen zur Versorgung den Herausforderungen einer Pandemie nicht von Infizierten ist vollkommen unzureichend. gewachsen ist (Peters 2020). Die Folge wird ein Das Lager Moria auf Lesbos, in dem Plätze wachsender Druck sein, zu migrieren und zu für 3.000 Schutzsuchende vorgesehen waren, fliehen. Und dies wird wiederum die Staaten dort müssen 20.000 Menschen hausen, droht des globalen Südens am stärksten treffen, denn
50 Schwerpunkt spw 2 | 2020 nur etwa jede/r zehnte der weltweiten Flücht- stoppt und zur Bekämpfung der Corona-Krise linge gelangt in den globalen Norden. Was ist bereitgestellt werden. zu tun? Die EU-Kommission hat angekündigt, in Die vordringlichste Forderung ist, dass die den nächsten Monaten einen „New Pact on 40.000 Flüchtlinge von den Inseln evakuiert Migration“ vorzulegen. Auf folgende Punkte und in Hotels auf dem Festland untergebracht ist dabei besonders zu achten: Im Vordergrund werden müssen. Sie müssen auf die Mitglied- muss die Sicherung eines individuellen und staaten verteilt werden. Niemand darf im Elend fairen Asylverfahrens für alle stehen. Zudem zurückgelassen werden. Die ersten 11 bzw. 50 ist insbesondere die Dublin-III-Verordnung zu unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, die ändern, um zu einer solidarischen Flüchtlings- nach wochenlangem bürokratischen und poli- politik zu kommen. Die Erstankunftsstaaten der tischen Gezerre in Luxemburg und Deutsch- Flüchtlinge dürfen bei der Bewältigung ihrer land angekommenen sind, können nur der Herausforderungen nicht alleine gelassen wer- Anfang eines umfassenden humanitären Auf- den. Analog zum Beschluss des europäischen nahmeprogramms sein. Vor der Corona-Krise Parlaments müssen die Flüchtlinge auf alle Mit- verständigten sich zehn Mitgliedstaaten dar- gliedstaaten verteilt werden. Das Urteil des Eu- auf, 1.600 unbegleitete Minderjährige aufzu- ropäischen Gerichtshofs vom April 2020, dass nehmen. Das muss schnellstens geschehen. Polen, Ungarn und Tschechien mit der Weige- rung, Asylbewerber nach der Flüchtlingskrise Menschenrechtsorganisationen kämpfen 2015 aufzunehmen, gegen EU-Recht verstoßen darum, Flüchtlinge von den Inseln zu holen. haben, stärkt die Befürworter*innen eines so- Pro Asyl und Refugee Support Aegan haben lidarischen Verteilungsschlüssels aller EU-Mit- vor dem Europäischen Gerichtshof für Men- gliedstaaten. Jene Staaten, die sich verweigern schenrechte in einem langwierigen Verfahren und im Übrigen ansonsten auch rechtsstaatli- erstritten, dass acht vulnerable Schutzsuchen- che Prinzipien nicht beachten, müssen finanzi- de aus Moria in eine menschenwürdige Un- ell sanktioniert werden. Das muss ein zentraler terkunft gebracht werden müssen. Es handelt Punkt für die gerade debattierte mittelfristige sich um Folteropfer, Schwerkranke und um Finanzplanung 2021 bis 2027 sein. Darüber Eltern mit einem Kleinkind. Diese Einzelfall- hinaus müssen jene Städte und Regionen unter- erfolge sind wichtig. Sie zeigen aber auch, wie stützt werden, die sich bereit erklären, Geflüch- schlecht es um die Menschenrechte steht, wenn tete aufzunehmen. Zur Durchsetzung einer Mindeststandards der Rechtsstaatlichkeit, des humanitären Flüchtlingspolitik bedarf es einer Gesundheitsschutzes und der Menschenwürde europaweiten Bewegung. vor internationalen Gerichten erstritten wer- den müssen. Hierfür gibt es vielversprechende Ansätze. Am 22. April boten zehn europäische Städ- Umso wichtiger ist es, alle politischen Mög- te, darunter Leipzig und Nürnberg, die sich lichkeiten zu nutzen, um Menschen zu eva- zu „Solidarity Cities“ zusammengeschlossen kuieren. So müssen Familienzusammenfüh- haben, in einem Schreiben an die drei EU- rungen der Flüchtlinge von den griechischen Präsident*innen an, 5.500 Kinder und Jugend- Inseln auf das europäische Festland unver- liche aufzunehmen. Mittlerweile verschafft sich züglich organisiert werden können, so wie die die Bewegung „Seebrücke” mit ihrer Kampagne Dublin-III-Verordnung das bereits vorsieht. „Leave no one behind“ bundesweit Gehör. 144 Weitere Forderungen sind unter anderem ein Städte haben sich zu „sicheren Häfen“ erklärt. sofortiger Abschiebestopp in Zeiten der Coro- Sie wollen über den gewohnten Verteilungs- na-Krise, der sofortige Stopp der Gewalt an den mechanismus hinaus zusätzlich Flüchtlinge EU-Außengrenzen und die Schaffung legaler aufnehmen und sind dazu kurzfristig auch in und sicherer Fluchtwege. Ebenso müssen alle der Zeit der Pandemie bereit. Ebenso wollen Pläne zur Erhöhung der Rüstungsausgaben auf einige Bundesländer Flüchtlinge aufnehmen. zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ge- Allerdings verweigert sich das Bundesinnen-
spw 2 | 2020 Schwerpunkt 51 ministerium. Die Staatsrechtler*innen Ulrich Literatur Karpenstein und Roya Sangi kommen in ei- ■ Deutsches Institut für Menschenrechte u.a. (2020): Die ner rechtlichen Stellungnahme (Karpenstein, Situation an den EU-Außengrenzen und die zukünftige Sangi 2020) zu dem Ergebnis, dass den Bun- Europäische Asylpolitik; (https://www.ssoar.info/ssoar/ desländern das Recht zusteht, „insbesondere bitstream/handle/document/67338/ssoar-2020-Die_Situa- tion_an_den_EU-Auengrenzen.pdf?sequence=1&isAllow vulnerable Personen, wie etwa Kinder und ihre ed=y&lnkname=ssoar-2020-Die_Situation_an_den_EU- Mütter oder unbegleitete Minderjährige von Auengrenzen.pdf, 22.4.2020). den griechischen Inseln aufzunehmen“. Eine ■ Heitmeyer, Michael (2020): In der Krise wächst das Au- sozialdemokratisch geführte Landesregierung toritäre. In Zeit Online vom 13. April 2020. könnte sich diese Rechtsauffassung zu eigen ■ Karpenstein, Ulrich/Sangi, Roya (2020): Aufnahme von machen, um endlich aus der verfahrenen Situ- Flüchtenden aus den Lagern der griechischen Inseln durch ation herauszukommen, in der sich die Flücht- die deutschen Bundesländer. Rechtliche Voraussetzungen linge in Griechenland befinden. Mit einer sol- und Grenzen. Rechtliche Stellungnahme. (https://www. chen Maßnahme kann die Sozialdemokratie ihr nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2020/03/2020-03-06- menschenrechtliches Profil erheblich schärfen. Gutachten-Länderkompetenzen-humanitäre-Aufnahme- Griechenland-fin.pdf; 21.4.2020). Es muss jetzt darum gehen, die autoritäre ■ Lessenich, Stefan (2016): Neben uns die Sintflut. Die Ex- ternalisierungsstrategie und ihr Preis. München: Hanser Abschottungspolitik der EU zu durchbrechen. Verlag. Das ist zuallererst nicht nur gegenüber den flüchtenden Menschen geboten. Es geht auch ■ Stefan Peters (2020): Ungleichheit tötet. In IPG vom 26.3.2020 (https://www.ipg-journal.de/regionen/global/ um die Einhaltung grundlegender Werte ge- artikel/detail/ungleichheit-toetet-4191/; 22.4.2020). genüber allen Menschen in den Mitgliedstaaten ■ Santos, Isabel; Vollath, Bettina; Köster, Dietmar (2020): selbst. Die aufkommende Debatte in Deutsch- The corona crisis doesn‘t justify suspending human rights. land in Corona-Zeiten über die Minderwertig- The coronavirus could spread to overcrowded, unsanitary keit von älteren gegenüber jüngeren Menschen refugee camps — and the EU can no longer look away. In: bei der Gesundheitsversorgung zeigt dies über- International Politics and Society, 10.04.2020; https://www. deutlich. Es wird behauptet, dass aus Rücksicht ips-journal.eu/regions/europe/article/show/the-corona- crisis-doesnt-justify-suspending-human-rights-4253/ auf ältere Menschen nicht die ganze Wirtschaft (21.4.2020). lahmgelegt werden dürfe. Daher müssten sie entweder weggeschlossen werden oder sterben. Dies zeigt, dass der Weg von der Diskriminie- rung Geflüchteter zu älteren Menschen kurz ist. So werden vermeintlich Unproduktive und Unnütze gesellschaftlich exkludiert. Der Zivili- sationsgrad einer Gesellschaft zeigt sich jedoch daran, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. In diesem Sinne schrieb der ehemalige britische Labourpolitiker Tony Benn: „In ihrem Umgang mit Flüchtlingen zeigen die Regierungen, wie sie mit uns allen umgehen würden, wenn sie wüssten, dass sie damit durchkämen“. Daran muss ein humanistisches Narrativ über Flucht und Migration anknüpfen, um einen Entwick- lungspfad einzuschlagen, der den globalen Ka- pitalismus stärker begrenzt und reguliert sowie die Menschenrechte stärkt. ó
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