Der Effekt der kalten Progression bei der Einkommensteuer
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Analysen und Berichte Monatsbericht des BMF Dezember 2018 Der Effekt der kalten Progression bei der Einkommensteuer Analysen und Berichte ●● Die Bundesregierung legt alle zwei Jahre einen Bericht über die Wirkung der kalten Progression im Verlauf des Einkommensteuertarifs vor. Entscheidungen über Änderungen im Tarifverlauf obliegen dem Deutschen Bundestag. ●● Der Dritte Steuerprogressionsbericht für die Jahre 2018/2019 rechnet mit einem Effekt der kalten Progression im Umfang von rund 3,3 Mrd. € im Jahr 2018 und 3,8 Mrd. € im Jahr 2019. Ein vollständiger Ausgleich des Effekts der kalten Progression auf tariflicher Ebene kann nur durch eine Verschiebung der Eckwerte des Einkommensteuertarifs im Umfang der Inflationsra- te erreicht werden. ●● Im Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Entlastung von Familien sowie zur Anpassung wei- terer steuerlicher Regelungen (Familienentlastungsgesetz, Bundestagsdrucksache 19/4723) hat die Bundesregierung entsprechende Regelungen vorgeschlagen, die inzwischen vom Bundestag und Bundesrat beschlossen worden sind. Diese beruhten allerdings noch auf den etwas höheren Vorgaben der Frühjahrsprojektion der Bundesregierung. ●● Dadurch fällt die Verschiebung der Eckwerte des Tarifs etwas stärker aus, als zum vollständigen Ausgleich der kalten Progression auf tariflicher Ebene notwendig wäre. Die Bürger werden so zusätzlich um rund 105 Mio. € im Jahr 2019 und 15 Mio. € im Jahr 2020 entlastet. Anlass des Berichts Als kalte Progression wird der Anstieg des durchschnittlichen Der Deutsche Bundestag hat in seiner 172. Sitzung Steuersatzes der Einkommensteuer bezeich- am 29. März 2012 zu dem von ihm verabschiede- net, der auf Lohn- und Gehaltserhöhungen ten Gesetz zum Abbau der kalten Progression (Bun- zurückzuführen ist, die lediglich den Preis- destagsdrucksachen 17/8683, 17/9201) die folgende anstieg (Inflation) ausgleichen. Entschließung angenommen: „Die Bundesregierung wird beauftragt, beginnend Der Erste Steuerprogressionsbericht über die Wir- mit der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bun- kung der kalten Progression für die Jahre 2013 destages, alle zwei Jahre jeweils zusammen mit dem bis 2016 wurde im Januar 2015 vorgelegt (verglei- Existenzminimumbericht einen Bericht über die che Erster Steuerprogressionsbericht, Bundestags- Wirkung der kalten Progression im Verlauf des Ein- drucksache 18/3894). Zum Ausgleich der kalten kommensteuertarifs (Steuerprogressionsbericht) Progression der Jahre 2014/2015 wurden daraufhin vorzulegen. Die Entscheidung über Änderungen die Tarifeckwerte des Einkommensteuertarifs 2016 im Tarifverlauf obliegt dem Deutschen Bundestag.“ zusätzlich zum entsprechend den Ergebnissen des Existenzminimumberichts angehobenen Grund- freibetrag um die kumulierte Inflationsrate nach 11
Analysen und Berichte Monatsbericht des BMF Der Effekt der kalten Progression bei der Einkommensteuer Dezember 2018 rechts verschoben (vergleiche Gesetz zur Anhe- verteilen, da der Umfang der kalten Progression im bung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, Einzelfall von der Höhe des zu versteuernden Ein- des Kindergelds und des Kinderzuschlags vom kommens und dem damit verbundenen tariflichen 16. Juli 2015, BGBl. I S. 1202). Im Ergebnis wirken Einkommensteuersatz bestimmt wird. Die Berech- die tariflich vorgegebenen Grenzsteuersätze jeweils nungen müssen daher auf der Ebene individueller erst bei entsprechend höheren zu versteuernden Steuerpflichtiger ausgeführt werden. Für Berech- Einkommen. nungen dieser Art haben sich sogenannte Mikro- simulationsmodelle der Einkommensbesteuerung Der Zweite Steuerprogressionsbericht über bewährt. die Wirkung der kalten Progression für die Jahre 2016/2017 wurde im November 2016 vorge- Das zur Quantifizierung der kalten Progression legt (vergleiche Zweiter Steuerprogressionsbericht, verwendete Einkommensteuer-Mikrosimulations- Bundestagsdrucksache 18/10221). Zum Ausgleich modell wurde durch das Fraunhofer-Institut für der kalten Progression der Jahre 2016/2017 wur- angewandte Informationstechnik (FIT) im Rahmen den die Tarifeckwerte der Einkommensteuerta- einer Forschungskooperation mit dem BMF ent- rife 2017/2018 zusätzlich zu den entsprechend den wickelt und wird seit vielen Jahren für die Quan- Ergebnissen des Existenzminimumberichts ange- tifizierung der fiskalischen Auswirkungen von hobenen Grundfreibeträgen jeweils um die Inflati- Steuerrechtsänderungen im Bereich der Einkom- onsrate des Vorjahres nach rechts verschoben (ver- mensteuer verwendet. gleiche Gesetz zur Umsetzung der Änderungen der EU-Amtshilferichtlinie und von weiteren Maßnah- Grundlage des Modells ist aktuell eine Unter- men gegen Gewinnkürzungen und -verlagerungen stichprobe der anonymisierten 10-Prozent-Stich- vom 20. Dezember 2016, BGBl. I S. 3000). probe der Lohn- und Einkommensteuerstatis- tik des Jahres 2013. Sie umfasst zurzeit mehr als Entsprechend dem Bundestagsbeschluss hat die 940.000 Einzelfälle. Damit ist die Stichprobe re- Bundesregierung inzwischen den Dritten Bericht präsentativ für die Gesamtheit der Lohn- und zur Schätzung der kalten Progression bei der Ein- Einkommensteuerpflichtigen. kommensteuer in den Jahren 2018/2019 vorgelegt (Bundestagsdrucksache 19/5450). Der originäre Datensatz besteht aus etwa 1.000 Merkmalen und wird für eine adäquate pro- grammtechnische Umsetzung in einem komple- Methodisches Vorgehen bei xen Aufbereitungsprogramm auf rund 245 Merk- der Ermittlung der kalten male reduziert. Progression Aufgrund der zeitlichen Verzögerung im Rahmen des Veranlagungsverfahrens und der aufwändigen Verwendung eines Aufbereitung der Einzeldaten durch das Statisti- Mikrosimulationsmodells der sche Bundesamt hat die dem Modell zugrunde lie- Einkommensbesteuerung gende Datenbasis in der Regel ein Alter von fünf bis sechs Jahren. Dies macht eine Anpassung an die Das Gesamtvolumen der kalten Progression hängt seitherige wirtschaftliche und demografische Ent- maßgeblich davon ab, wie sich die Steuerpflichtigen wicklung notwendig. FIT überarbeitet laufend die mit ihrem zu versteuernden Einkommen auf die verwendete Datenbasis und ihre Fortschreibung einzelnen Abschnitte des Einkommensteuertarifs auf spätere Jahre. 12
Analysen und Berichte Monatsbericht des BMF Der Effekt der kalten Progression bei der Einkommensteuer Dezember 2018 Neben der jeweils aktuellen verfügbaren Einkom- Einkommenssteigerung in Höhe der Inflationsrate mensteuerstichprobe dienen dazu insbesondere erhalten. Das in den Jahren t und t + 1 zugrunde ge- die Ergebnisse der Steuerschätzungen im Mai und legte Steuerrecht entspricht dem geltenden Steu- Analysen und Berichte im November sowie eine von FIT durchgeführte errecht des jeweiligen Jahres. Simuliert wird somit Vorausschätzung der Kindergeldkinder. Für die die Steuerbelastung der Steuerpflichtigen des Jah- strukturelle Bevölkerungsentwicklung wird auf die res t im Jahre t + 1. jeweils aktuelle Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts zurückgegriffen. Da- Sofern allerdings zum Ausgleich der kalten Pro- rüber hinaus finden weitere Datenquellen bei der gression des Vorjahres im Jahr t + 1 steuerliche Aktualisierung und Fortschreibung der Datenbasis Maßnahmen vorgenommen wurden, bleiben diese Berücksichtigung, etwa die Entwicklung der Zahl unberücksichtigt. Anderenfalls würde der progres- der Riester-Verträge oder die Rentenstatistik. sionsausgleichende Effekt dieser Maßnahmen dop- pelt Berücksichtigung finden. Das bestehende Einkommensteuergesetz wird in einem Programmcode abgebildet. Unterschiedli- In der Realität werden die Steuerpflichtigen des che historische Stände des jeweils geltenden Rechts Jahres t nicht mit denjenigen des Jahres t + 1 iden- und der zu evaluierenden Gesetzesänderungen tisch sein. Einige Steuerpflichtige werden ausschei- werden insbesondere durch unterschiedliche Para- den (z. B. durch Arbeitslosigkeit, Ruhestand, Tod), meter wiedergegeben. Derzeit sind auf diese Weise andere werden hinzukommen (z. B. Berufsanfän- über 140 Merkmale des Steuerrechts parametri- ger). Diesem Sachverhalt können die Modellsimu- siert. Gesetzesänderungen im Einkommensteuer- lationen nicht Rechnung tragen. bereich werden in die Berechnungsalgorithmen eingearbeitet. Um zu verhindern, dass diese Abweichungen bei Berechnungen über mehrere Jahre kumulieren, Auf Grundlage der Datenbasis und des abgebil- wird die kalte Progression nicht im Vergleich zu deten Rechtsstands kann im Modell die Einkom- einem festen Basisjahr, sondern von Jahr zu Jahr mensteuerschuld jedes einzelnen Steuerpflichti- quantifiziert. Das bedeutet: Die kalte Progression gen berechnet und die aggregierte Gesamtwirkung des Jahres t + 1 wird für die Steuerpflichtigen des möglicher Reformszenarien simuliert werden. Jahres t ermittelt, diejenige des Jahres t + 2 für die Steuerpflichtigen des Jahres t + 1 usw. Aktuell besteht die Möglichkeit, Simulations- rechnungen für die Jahre von 2013 bis 2024 Auf diese Weise wird auch berücksichtigt, dass das vorzunehmen. Einkommen tatsächlich häufig nicht nur um die In- flationsrate steigt, sondern stärker. Indem für jedes Berechnungsjahr die tatsächlichen Einkommen Quantifizierung der Auswirkungen der jeweiligen Steuerpflichtigen als Ausgangsba- der kalten Progression sis genommen werden, wird einer Unterschätzung der Auswirkungen der kalten Progression vorge- Ausgangspunkt für die Quantifizierung der Aus- beugt. Reale Einkommenszuwächse führen zwar wirkung der kalten Progression ist die Gesamt- definitionsgemäß nicht zu kalter Progression, sie heit der Steuerpflichtigen eines bestimmten Jah- haben aber im Zeitablauf Auswirkungen auf die res (t). Für die Modellrechnung wird angenommen, Höhe der in den einzelnen Jahren errechneten kal- dass alle Steuerpflichtigen im Folgejahr (t + 1 ) eine ten Progression. 13
Analysen und Berichte Monatsbericht des BMF Der Effekt der kalten Progression bei der Einkommensteuer Dezember 2018 Konkret erfolgt die Berechnung der kalten Progression im Mikrosimulationsmodell wie folgt: Im ersten Schritt werden für jeden Steuerpflichtigen sämtliche Einkünfte (Einnahmen abzüg- lich Betriebsausgaben beziehungsweise Werbungskosten) entsprechend der Preisentwicklung der Konsumausgaben der privaten Haushalte erhöht. Eine Besonderheit bildet die Einkunfts- art „nichtselbständige Arbeit“, bei der nicht die Einkünfte, sondern die Einnahmen fortgeschrie- ben werden. Dadurch wird der Tatsache Rechnung getragen, dass bei Arbeitnehmern die Frage im Vordergrund steht, in welchem Umfang kalte Progression bei einer Erhöhung der Bruttolöhne beziehungsweise -gehälter in Höhe der Inflationsrate entsteht. Für die übrigen Einkunftsarten liegen in der amtlichen Einkommensteuerstatistik, die die Daten- basis des Mikrosimulationsmodells bildet, grundsätzlich keine Angaben zu den Einnahmen vor. Implizit muss daher für alle anderen Einkunftsarten die Annahme getroffen werden, dass sich Ein- nahmen und Betriebsausgaben beziehungsweise Werbungskosten mit gleicher Rate verändern. Die Preisentwicklung wird hier mit dem Index der Konsumausgaben der privaten Haushalte aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gemessen, weil dieser Index jeweils die geänderten Verbrauchsgewohnheiten automatisch berücksichtigt. Die Preisentwicklung der Konsumausgaben der privaten Haushalte weist nach der aktuellen Herbstprojektion der Bundesregierung für das Jahr 2018 eine Steigerung von 1,74 % aus. Für das Jahr 2019 wird von einem Zuwachs von 1,94 % ausgegangen. Für die dementsprechend inflationierten Einkünfte beziehungsweise Einnahmen wird die sich er- gebende Steuerlast ermittelt. Dabei wird das geltende Recht des Folgejahres – mit Ausnahme der zum Ausgleich der kalten Progression der Vorjahre vorgenommenen steuerlichen Maßnahmen – zugrunde gelegt. Dies hat zur Folge, dass die Einflüsse auf die kalte Progression, die sonstige be- reits beschlossene Rechtsänderungen mit sich bringen, Berücksichtigung finden. In einem zweiten Schritt wird die Steuer ermittelt, die bei einer Fortschreibung der Einkünfte be- ziehungsweise Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit mit dem verwendeten Preisindex zu ei- ner konstanten Durchschnittssteuerbelastung führt. Hierzu ist die Steuer im Ausgangsjahr eben- falls um diese Inflationsrate anzuheben. In einem dritten Schritt wird die Differenz zwischen den beiden ermittelten Steuerbeträgen und somit der Effekt der kalten Progression errechnet. Ergebnisse der Jahren 2018/2019 ist der nachstehenden Über- Simulationsrechnungen zur sicht zu entnehmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die dargestellte Berechnungsmethodik jeweils Höhe der kalten Progression den Effekt der kalten Progression ausweist, der auf- grund der Inflation eines Jahres neu entsteht. Das auf die oben beschriebene Art und Weise er- mittelte Volumen der kalten Progression in den 14
Analysen und Berichte Monatsbericht des BMF Der Effekt der kalten Progression bei der Einkommensteuer Dezember 2018 Volumen der im Jahr 2018 entstehenden kalten Progression¹ Tabelle 1 in Mrd. € Analysen und Berichte Volumen davon Inflationsrate Insgesamt Bund Länder Gemeinden 1,74 % 3,33 1,59 1,29 0,45 1 Betroffen sind rund 32,1 Millionen Steuerpflichtige mit durchschnittlich 104 € pro Jahr. Quelle: Bundesministerium der Finanzen Volumen der im Jahr 2019 zusätzlich entstehenden kalten Progression¹ Tabelle 2 in Mrd. € Volumen davon Inflationsrate Insgesamt Bund Länder Gemeinden 1,94 % 3,81 1,83 1,46 0,52 1 Betroffen sind rund 32,8 Millionen Steuerpflichtige mit durchschnittlich 116 € pro Jahr. Quelle: Bundesministerium der Finanzen Maßnahmen zum Ausgleich zumindest im Umfang der maßgeblichen Inflati- der kalten Progression onsraten erreicht werden. Im Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Ent- lastung der Familien sowie zur Anpassung weiterer Tarifeckwerte steuerlicher Regelungen (Familienentlastungsge- sind die Punkte im Tarifverlauf, an denen setz, Bundestagsdrucksache 19/4723) sind Maß- die einzelnen Tarifzonen des Einkommen- nahmen zur Anhebung des Grundfreibetrags zum steuertarifs (Grundfreibetrag; erste Progres- 1. Januar 2019 um 168 € und zum 1. Januar 2020 sionszone; zweite Progressionszone; erste um weitere 240 € vorgesehen. Dadurch werden die obere Proportionalzone; zweite oberer Pro- Steuerpflichtigen zum 1. Januar 2019 insgesamt um portionalzone) aneinander anschließen. Der rund 1,4 Mrd. € und zum 1. Januar 2020 um wei- Tarifverlauf der Einkommensteuer wird über tere 2,0 Mrd. € entlastet und der Effekt der kalten diese Tarifeckwerte bestimmt. Progression der Jahre 2018 und 2019 bereits deut- lich gemildert. Die Bundesregierung hatte deshalb im obenge- Allerdings wäre auch bei einem vollständigen glo- nannten Gesetzentwurf eines Familienentlastungs- balen Ausgleich des Effekts der kalten Progres- gesetzes bereits entsprechende Regelungen vorge- sion, z. B. durch eine weitergehende Anhebung des schlagen. Diese beruhten allerdings noch auf den Grundfreibetrags, nicht sichergestellt, dass die in- Vorgaben der Frühjahrsprojektion, die die Preisent- dividuelle tarifliche Mehrbelastung in jedem Ein- wicklung der Konsumausgaben der privaten Haus- zelfall tatsächlich ausgeglichen wird. Dies kann nur halte für das Jahr 2018 mit 1,84 % (statt jetzt 1,74 %) durch eine Rechtsverschiebung der Tarifeckwerte und für 2019 mit 1,95 % (statt jetzt 1,94 %) auswies. 15
Analysen und Berichte Monatsbericht des BMF Der Effekt der kalten Progression bei der Einkommensteuer Dezember 2018 Das Gesetz ist inzwischen von Bundestag und Bun- stärker aus, als es für den Ausgleich der kalten Pro- desrat ohne Änderungen beim Ausgleich der kalten gression notwendig wäre. Die Bürger werden da- Progression beschlossen worden. Im Ergebnis fällt durch zusätzlich im Jahr 2019 um 105 Mio. € und die Verschiebung der Tarifeckwerte somit etwas im Jahr 2020 um 15 Mio. € entlastet. 16
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