DER GEFÄRBTE HIMMEL Ingrid Felmeth - Roman - myMorawa

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DER GEFÄRBTE HIMMEL
         Roman

     Ingrid Felmeth
© 2022 Ingrid Felmeth

Umschlaggestaltung: myMorawa
Lektorat: Mag. Kristina Falschlehner

Druck und Vertrieb im Auftrag der Autorin:
myMorawa von Dataform Media GmbH, Wien
www.mymorawa.com

ISBN:
978-3-99139-022-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer-
tung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt ins-
besondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Ver-
breitung und öffentliche Zugänglichmachung.
FÜR MEINE ELTERN
 UND MEINE OMA
Stammbaum:

Arthur Kronspach,
Valerie Lehmann, seine Schwester,
Elsbeth Lehmann, seine Nichte

Paul Kronspach, Arthurs und Valeries Bruder,
Anna Kronspach, seine Frau,
Helene Kronspach, seine Tochter
Prolog:

Der Himmel war in gleißendes Licht getaucht. Die Wolken glänzten in
leuchtendem Rot, Bänder und Fäden in hellem Gelb, glitzerndem Blau
und schimmerndem Grün beherrschten das Firmament.
    „Das ist ein schlechtes Omen“, sagte Valerie. „Jetzt gibt es bald
Krieg.“ Arthur, Valerie und Elsbeth standen in dieser kalten Winter-
nacht auf dem Balkon des Hotels und beobachteten das faszinierende
Schauspiel, das sich ihnen bot.

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1. TEIL

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1. Kapitel

1944

Elsbeth ging durch den Flur mit dem knarrenden Bretterboden, der
Garderobe und der mächtigen Truhe, vorbei am Arbeitszimmer ihres
Onkels. Arthur Kronspach hatte sich nach dem Mittagessen in sein Ar-
beitszimmer zurückgezogen, um in einem seiner zahlreichen Werke
über Natur- und Rechtsphilosophie zu schmökern.
     Sein Haar war schlohweiß, sein markantes Gesicht von tiefen Fal-
ten durchzogen. Elsbeth dachte oft, wie schnell ihr Onkel doch in den
letzten Jahren gealtert war, obwohl er erst siebenundfünfzig Jahre
zählte.
     Er war Professor für Philosophie an der Universität gewesen. Nach
der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 hatte er
sein Amt zurückgelegt, da er ein erklärter Gegner der neuen Führung
war.
     Viele Kollegen von Arthur Kronspach waren emigriert oder ein-
fach über Nacht verschwunden. Seitdem hielt sich die Familie mit dem
kleinen Vermögen, das ihr noch geblieben war, und dem Gehalt, den
Elsbeth als Angestellte der Städtischen Bücherei bekam, über Wasser.
Nach einer Ausbildung in einer deutschen Volksbüchereischule hatte
sie diese Stelle angetreten.
     Der Professor verließ die alte Villa nur noch selten. Ab und zu,
wenn die Sonne schien, machte er einen Spaziergang im Garten oder
im nahegelegenen Park und hing seinen Gedanken nach.
     Aus der Küche tönte das Klappern von Geschirr. Valerie, Elsbeths
Mutter, erledigte den Abwasch.
     Es hatte einen Strudel gegeben, den Valerie scherzhaft „Kriegs-
strudel“ nannte. Aus Mehl, Fett, Zucker, Milch, Backpulver und einem

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Ei hatte sie den Teig zubereitet, auf einem Nudelbrett ausgewalkt und
mit Marmelade bestrichen. Es war eine einfache Mahlzeit, aber sie
füllte den Magen.
      Elsbeth hatte die Villa mittlerweile verlassen und hielt am schmie-
deeisernen Gartenzaun inne. In dem schmalen Vorgarten blühte der
Flieder, dessen zart lila Blüten einen betörenden Duft verströmten. Der
Rasen war mit Löwenzahn und Gänseblümchen übersät.
      Der alte Backsteinbau mit dem Erker oberhalb des Souterrains und
dem Balkon im ersten Stock, umgeben von einem Garten, in dem
Minze, Kresse, Karotten, Endivien und Tomaten gediehen, vermittelte
ihr das heimelige Gefühl, das sie nicht missen wollte. Die Ringlotten-,
Kirschen- und Birnbäume trugen zur Erntezeit reichlich Früchte. Aus
dem Fallobst wurden Säfte hergestellt und aus dem Waldmeister mit
seinen weißen Blüten entstand im Mai die Waldmeisterbowle.
      Am liebsten jedoch mochte Elsbeth die gedörrten Birnen, die ihre
Mutter so köstlich zuzubereiten verstand.
      Elsbeth wandte sich um und sah zum Giebelfenster empor. Die
Vorhänge waren zugezogen. Lore hatte nach dem Essen Adrian und
Sophie zu Bett gebracht. Während die Kinder ihren Mittagsschlaf hiel-
ten, saß sie sicherlich in der anderen Kammer an der Nähmaschine und
nähte Wäsche für die Wehrmacht.
      Knapp ein Monat war es her, dass die kleine Familie bei einem
Bombenangriff ihre Wohnung verloren hatte, und in der Villa
Kronspach einquartiert worden war. Schnell hatten sie sich eingelebt
und gehörten seitdem zur Familie.

     Es war ein milder Tag. Elsbeth trug ihr braunes Kostüm, das ihre
schlanke Gestalt vorteilhaft zur Geltung brachte, und einen dazu pas-
senden Hut auf ihren dunkelblonden Locken. Über dem linken Arm
hing ihre Handtasche, in der rechten Hand hielt sie einen dunkelblauen
Stoff, sorgsam in braunes Packpapier gehüllt. Für den Stoff hatte sie

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fünfundvierzig von den hundert Punkten, die sie auf ihrer Kleiderkarte
hatte, ausgegeben, aus dem nun ein Kleid entstehen sollte.
      In der vergangenen Nacht wachte sie fast jede Stunde auf, so auf-
geregt war sie gewesen. Vor ihrem geistigen Auge hatte das Kleid be-
reits Gestalt angenommen. Elegant und apart sollte es werden.
      Hoffentlich versteht die Schneiderin ihr Handwerk, dachte Els-
beth, während sie die Straße hinunterging. Ihr Herz klopfte vor freudi-
ger Erwartung.
      Sie stieg in die Straßenbahn Richtung Börseplatz. Die Fenster der
Waggons waren mit einer blauen, durchsichtigen Farbe versehen. Nur
die Frontscheibe, hinter der der Straßenbahnführer stand, war klar. Das
gedämpfte Licht im Inneren hatte etwas Beklemmendes. Die Fahr-
gäste, die keinen Sitzplatz hatten, und zu denen auch Elsbeth gehörte,
standen dicht gedrängt und versuchten mit Hilfe der Haltegriffe das
Gleichgewicht zu halten, während die Straßenbahn über die Schienen
rumpelte.
      Die Schaffnerin rief die Stationen aus.

     In der Linie 2, in die Elsbeth umstieg, fand sie einen freien Platz.
     Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Tine wartete sicher
schon.
     Sie hatten sich lange nicht gesehen und Elsbeth freute sich auf ein
Plauderstündchen.
     Kennengelernt hatten sie sich bei der Absolvierung ihres Pflicht-
jahres.
     In ihrem jugendlichen Enthusiasmus hatte sich Elsbeth nach der
Oberschule freiwillig zum Arbeitsdienst gemeldet. Was sie sich damals
davon versprochen hatte, war ihr heute nicht mehr ganz klar. Ein auf-
regendes Abenteuer? Spannende Ereignisse?
     Stattdessen hatte am Erlaufsee die kinderreiche Familie eines Ge-
mischtwarenhändlers, der an der Ostfront kämpfte, auf sie gewartet.

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Sie sah wieder das spärlich möblierte, enge Zimmer vor sich, das
sie sich mit Tine geteilt hatte. Körbe voll Wäsche, die gewaschen, ge-
bügelt und geflickt werden musste, die Küche mit dem Ungetüm von
Holzofen, Kartoffeln, die auf das Schälen warteten, Früchte, die einge-
kocht werden wollten.
      Waren, angefangen von Mehl, Kartoffeln, Zucker, Eier, Schmalz,
Butter, Milch, Brot, Gemüse und Obst bis zu Wolle, Pfannen, Töpfen,
Besen und Zündhölzern, die sie aus dem Lager im Keller über eine
Holztreppe in den Laden geschleppt hatten, Kunden die bedient, Bö-
den die gescheuert und Fenster, die geputzt werden mussten.
      Die Haut an den Händen rau und aufgesprungen, ein schmerzen-
der Rücken.
      Am Abend, wenn sie dann in ihren Betten lagen und Pläne mach-
ten, was sie nach dem Jahr alles unternehmen wollten, da verbannten
sie für kurze Zeit den vergangenen, aufreibenden Tag aus ihrem Ge-
dächtnis. Ins Kino gehen, Theaterbesuche, im Park in der Sonne sitzen,
Nachmittage im Schwimmbad verbringen. Über so vielen Dingen, die
sie tun wollten, fielen ihnen schließlich die Augen zu und sie schliefen
tief und fest, bis am nächsten Morgen um sechs Uhr der Wecker wieder
einen mühevollen Tag einläutete.
      Ein kalter, schneereicher Winter, ein heißer Sommer. An freien
Sonntag Nachmittagen ein Sprung in den grünen, erfrischenden See,
bevor wieder der Alltag auf sie wartete.
      Das scharfe Bremsen der Straßenbahn brachte sie in die Gegen-
wart zurück.
      Elsbeth war am Ziel und stieg aus.
      Sie ging die Stufen hinter dem ehemaligen Hotel Metropol, das
seit März 1938 Sitz der Gestapoleitstelle war, hinauf, erreichte das Café
Mahringer, das sich schräg gegenüber der Ruprechtskirche befand,
stieß die Türe auf und trat ein.
      Das Kaffeehaus gehörte den Eltern von Liane, einer Freundin

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Elsbeths aus der Zeit in der Oberschule.
      Es war schwach besucht. Die braunen Thonet-Stühle waren sorg-
fältig um die runden Tische mit den weißen Marmorplatten gruppiert
und harrten der Gäste. Links neben dem Eingang befand sich die Ku-
chenvitrine, in der einige einsame Tortenstücke und der kümmerliche
Rest eines Rehrückens auf Abnehmer warteten.
      Tine saß an einem der rückwärtigen Tische. Elsbeth durchquerte
den Raum.
      „Servus! Wartest schon lang'?“
      Elsbeth hauchte einen Kuss auf Tines Wange und setzte sich auf
die zerschlissene rot samtene Sitzbank.
      „Eine viertel Stunde vielleicht.“
      Es entging Elsbeth nicht, dass ihre Freundin sie aus den Augen-
winkeln eingehend musterte. Tines Blick blieb auf dem Ring mit dem
Onyx hängen, den Elsbeth an der rechten Hand trug.
      „Ein schöner Ring.“
      „Den habe ich von Onkel Arthur zum letzten Geburtstag ge-
schenkt bekommen. Er gehörte meiner Großmutter. Gefällt er dir?“
      „Sehr hübsch.“
      Tine strich sich über ihren dunkelgrauen Rock, der um die Hüften
etwas spannte, und schob die Ärmel ihres aus verschiedenen bunten
Wollresten gestrickten Pullovers bis zu den Ellbogen hinauf.
      „Was macht denn dein Onkel den ganzen Tag, seit man ihn von
der Universität gejagt hat?“
      „Lesen und im Garten spazieren gehen. Außerdem hat man ihn
nicht fortgejagt. Er ist freiwillig gegangen, weil er mit denen da oben
nichts zu tun haben wollte.“
      Tine zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst.“ Sie nahm einen
kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche und kontrollierte ihre Frisur.
      Elsbeth schwieg. Sie erinnerte sich wieder an den Tag vor zwei
Jahren, als sie zufällig in den Salon gekommen war und Onkel Arthur

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vor dem Radio sitzend vorgefunden hatte.
      Sie hörte wieder die vier Paukenschläge - dreimal kurz, einmal
lang - und dann die Stimme: „Hier ist England.“ Was sie dann erfahren
hatten, war so unfassbar gewesen, dass sie es nicht begreifen konnten,
ja, so schockierend, dass sie sich nur erschrocken und sprachlos ange-
blickt hatten. Die Farbe war aus Onkel Arthurs Gesicht gewichen und
sie, Elsbeth, hatte die Worte aus dem Apparat gehört, doch begriffen
hatte sie sie erst später. Viel später.
      Darüber hatte Elsbeth gegenüber Tine nie ein Wort verloren und
sie würde es auch heute nicht tun.
      Leopold, der alte Ober im schwarzen Anzug mit der Fliege, die
ihm den Adamsapfel abzuschnüren schien, eilte herbei.
      „Wie schmeckt der Kaffee?“, fragte Elsbeth mit einem Blick auf
die Tasse, die vor Tine stand.
      „Dieses Gebräu aus Zichorie kann man wirklich nicht Kaffee nen-
nen“, meinte sie und verzog das Gesicht.
      „Es schmeckt einfach abscheulich.“
      „Bringen Sie mir trotzdem etwas von diesem Zeug“, sagte Elsbeth.
      Leopold verbeugte sich lächelnd und eilte davon.
      Tine zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Tasche.
      „Woher hast du die denn?“, fragte Elsbeth verwundert.
      „Ich habe so meine Quellen. Wenn man weiß, an wen man sich
wenden soll, bekommt man alles.“
      „Welche Quellen denn?“
      Tine zündete sich mit einem Streichholz die Zigarette an und
machte einen tiefen Zug.
      „Komm, sag schon“, drängte Elsbeth.
      „Ich habe sie bei einer Kundin gegen einige Hemdknöpfe, einer
Rolle Zwirn und etwas Stopfwolle eingetauscht.“
      „Weiß das deine Tante?“
      „Die braucht nicht alles zu wissen. - Da kommt dein Kaffee.“

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Der Ober stellte die Tasse auf den Tisch.
     Elsbeth betrachtete mit gerunzelter Stirn die Flüssigkeit darin,
setzte die Tasse an die Lippen und nippte daran.
     Sie kniff die Augen zusammen und stellte die Tasse wieder weg.
     „Du hast recht. Es schmeckt grauslich.“
     Durch die Schwingtür, die aus der Küche führte, betrat Liane den
Gastraum. Sie hatte ein rundes Gesicht und schulterlanges, leuchtend
rotbraunes Haar. Auf ihrer Nase saß eine zu große Brille, die sie mit
dem Zeigefinger ihrer rechten Hand fortwährend an den richtigen
Platz rückte.
     Liane hielt drei längliche Papierstreifen in der Hand und wedelte
damit durch die Luft, während sie auf die Mädchen zusteuerte.
     Tine wurde mit einem festen Händedruck begrüßt und Elsbeth be-
kam eine Umarmung.
     Während sie sich setzte, breitete sie drei Eintrittskarten auf dem
Tisch aus.
     „Seht mal, was ich hier habe.“
     Elsbeth war überrascht. „Hast du es tatsächlich geschafft, drei
Opernkarten zu bekommen?“
     „Ja, stellt euch das vor! Mein Klavierprofessor ist wirklich ein
Schatz. Er hat mir alle drei Karten geschenkt!“
     Elsbeth riss vor Begeisterung Augen und Mund auf. „Herrlich!
Was werden wir sehen?“
     „Aber da steht es doch! Kannst nicht lesen?“ Liane lachte laut.
     „Götterdämmerung“, las Elsbeth vor. „Am 30. Juni. - Ist es nicht
großartig eine Freundin zu haben, die Klavier studiert?“, wandte sie
sich strahlend an Tine.
     „Du gehst doch mit?“
     „Das möchte ich gern‘. Ich war noch nie in der Oper.“
     „Dann sind wir uns ja einig“, meinte Liane abschließend.
     „Lass mich doch mal den Stoff ansehen, den du mitgebracht hast.“

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Liane hob das Packpapier an einer Ecke ein wenig in die Höhe, sodass
man ein Stück des Stoffes sehen konnte.
     Vorsichtig befühlte sie ihn mit zwei Fingern.
     „Der ist einfach wundervoll. Da hast du wirklich Glück gehabt, so
etwas Schickes zu bekommen.“
     „Nicht wahr? Bei der Stoffnot heutzutage ist das wirklich ein
Wunder.“
     Tine nahm die halb gerauchte Zigarette aus dem Mund, drückte
sie mit einer kräftig drehenden Bewegung im Aschenbecher aus und
schob sie in die Schachtel zurück.
     „Wenn ihr euren Kaffee ausgetrunken habt, können wir zu Char-
lotte rauf gehen“, schlug Liane vor.
     „Wir müssen noch bezahlen.“ Elsbeth begann die Geldbörse in ih-
rer Handtasche zu suchen.
      Liane war bereits aufgestanden. „Geht aufs Haus“, sagte sie. Ich
bin heute so gut gelaunt.“
     „Oh, danke.“ Elsbeth schnappte ihre Tasche und das Paket mit
dem Stoff.

     Ein schmaler Durchgang führte an den Toiletten vorbei ins Trep-
penhaus. Die Feuchtigkeit zog sich durch die Mauern und verursachte
dunkle Flecken. Der Verputz blätterte von den Wänden, und es roch
nach Moder und Urin. Die Scheibe im Hoftor war zerbrochen, eine
nackte Glühbirne baumelte von der Decke.
     Die Mädchen kletterten in den zweiten Stock hinauf, und Liane
klopfte an die Tür mit dem Messingschild, auf dem in schwarzen goti-
schen Buchstaben „Charlotte König, Schneiderin“ zu lesen war. Kurze
hastige Schritte, dann öffnete sich die Tür.
     Charlottes Füße steckten trotz der milden Temperaturen in Filz-
pantoffeln.
     Als sie Elsbeths verwunderten Blick bemerkte, meinte sie lediglich:

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„Ich habe ständig kalte Füße. Sogar im Sommer! - Aber kommt doch
rein!“
     Die Freundinnen wurden durch einen düsteren Korridor in ein
großes, helles Zimmer geführt. Am Fenster stand eine Nähmaschine,
daneben ein Nähtischchen gefüllt mit Zwirnspulen, Nadelkissen,
Schneiderkreide, einem Maßband, Knöpfen in allen Größen und Far-
ben und einem Stopfholz.
     „Sagen wir uns gleich du“, schlug Charlotte vor.
     „Mein verstorbener Mann sagte immer, am besten man erledigt
das gleich. Später wird es peinlich. Liane kenne ich ja schon lange, und
ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mir eine neue Kundin vermittelt hat.
- Setzt euch.“
     Sie nahmen auf dem Kanapee Platz und Elsbeth begann den Stoff
auszupacken.
     „Kannst du mir daraus ein Kleid nähen?“
     Charlotte faltete den Stoff auseinander und hielt ihn mit ausge-
streckten Armen von sich.
     „Herrlich! Wunderbar weich und von guter Qualität!“
     Aus einem kleinen Sekretär nahm sie ein Blatt Papier und einen
Bleistift.
     „Mit Modezeitschriften kann ich leider nicht dienen, aber ich
werde dir schon etwas Fesches nähen. Du wirst sehen.“
     Sie setzte sich Elsbeth gegenüber, schnappte sich einen Atlas, der
auf dem Fußende des Kanapees lag und benützte ihn als Unterlage. Der
Bleistift fuhr über das Blatt Papier.
     „Das Kleid lassen wir ganz knapp unter dem Knie enden. Das ist
klar.“
     „Ist das jetzt Mode?“, fragte Tine.
     „Das ist der letzte Schrei.“ Charlotte warf einen Blick auf Elsbeth.
     „Schöne Beine hast du ja. Da kannst du dir das leisten.“
     Sie kratzte sich mit dem Bleistift am Kopf. „Die Frage ist nur:

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Willst du es glockig oder eng?“
      „Lieber glockig. Kurze Ärmel sollte es haben und einen kleinen
Kragen. Was hältst du davon?“
      „Dein Wunsch ist mir Befehl.“
      In wenigen Minuten hatte sie das Kleid skizziert und hielt Elsbeth
das Blatt Papier vor die Nase.
      Diese staunte, wie jemand in wenigen Minuten so eine Zeichnung
anfertigen konnte.
      „Genauso habe ich es mir vorgestellt.“
      „Habe nichts anderes erwartet“, erwiderte Charlotte stolz. „Und
jetzt werde ich Maß nehmen.“

      Gegen acht Uhr abends kam Elsbeth nach Hause.
      Valerie kam ihr im Flur entgegen. Ihre kleine Gestalt steckte in
einer bunt gemusterten Kittelschürze, ihre hellblauen Augen strahlten,
als sie ihre Tochter erblickte.
      „Da bist du ja!“
      Onkel Arthur trat aus seinem Arbeitszimmer. Er trug seinen wein-
roten Hausrock und eine graue Hose. Sein weißes, volles Haar war
sorgfältig frisiert.
      „Grüß dich. Deine Mutter wollte schon die Polizei rufen.“
      „Ach, Unsinn!“, antwortete Valerie. „Hör nicht auf ihn. - Hast du
Hunger? Möchtest du etwas essen?“
      Elsbeth zog die Jacke aus und hängte sie an einen der Garderoben-
haken.
      Sie spürte plötzlich, wie ihr Magen knurrte.
      „Ja. Was hast du?“
      „Es ist noch Linsenaufstrich da.“
      Während Valerie in die Küche eilte, gingen Arthur und Elsbeth in
den Salon.
      Die schweren, dunkelbraunen Brokatvorhänge waren zugezogen,

                                 - 16 -
doch der vierarmige Luster schaffte eine behagliche Atmosphäre. Auf
dem Kabinettschrank eine Schale aus Bleikristall mit Resten des Honig-
Konfekts.
      Arthur setzte sich in eines der Fauteuils und nahm sein Buch zur
Hand. Auf dem kleinen Tisch aus Ebenholz, dessen Platte eine Schild-
pattintarsie zierte, stand auf einem mit kleinen, bunten Holzwürfeln
umsäumten Korkuntersatz eine Tasse Malzkaffee.
      Elsbeth ließ sich auf die Sitzbank fallen.
      Valerie brachte das Essen auf einem Tablett in den Salon und
stellte es auf dem Couchtisch ab.
      Danach setzte sie sich in den anderen Fauteuil und nahm die Hä-
kelarbeit aus dem Korb, der daneben auf dem Fußboden stand.
      Ein Stäbchen nach dem anderen ließ das rosa Deckchen wachsen.
Elsbeth griff nach dem Aufstrich, schmierte ihn dick auf ein Stück Brot
und biss herzhaft hinein.
      „Was ist denn jetzt mit deinem neuen Kleid?“, fragte Valerie.
      Elsbeth wischte jeden ihrer Finger einzeln mit der Serviette ab.
      „Das wird sehr elegant. An der Taille angesetzt mit einem kleinen
Kragen. Und der Rock endet knapp unter dem Knie. Sie meinte, dass
könne ich mir leisten.“
      „So kurz?“, fragte Valerie konsterniert.
      „Aber ja! Das trägt man jetzt, sagt Charlotte.“
      „Wenn Charlotte es sagt ...“
      “Liane hat Karten für Götterdämmerung aufgetrieben.“
      „Das ist schön. - Als junges Mädchen bin ich auch sehr gerne ins
Theater gegangen“, erinnerte sich Valerie. „In meinem Nachtkästchen
liegen noch eine Menge Theaterprogramme von damals.“
      Arthur blickte von seinem Buch auf und nickte.
      „Valerie und unsere Mutter waren richtige Theaternarren. Es gab
kaum ein Stück in Wien, das die beiden nicht gesehen hatten. Mir war
das Kino allerdings lieber. So wie deinem Onkel Paul. Nach dem Film

                                 - 17 -
haben wir immer noch die Tanzlokale unsicher gemacht. - Das waren
Zeiten!“
     „Und dann hat dein lieber Bruder sein Erbe von unserem Großva-
ter verprasst. Dieser Spieler“, sagte Valerie trocken. „Kaum zu glauben,
dass ihr Brüder seid. Wie Feuer und Wasser.“
     Arthur verdrehte die Augen. „Musst du immer diese alte Ge-
schichte aufwärmen?“
     „Wenn du Paul damals finanziell nicht unter die Arme gegriffen
hättest, wäre er vor die Hunde gegangen.“
     „Ja, ja. Das habe ich schon oft genug gehört.“
     „Und dann hat er reich geheiratet“, ergänzte Valerie.
     „Das ist ja nicht verboten“, murmelte Arthur und vergrub sich wie-
der in das Werk Kants über die Kritik der reinen Vernunft.
     „Sicher nicht“, antwortete Valerie. „Die Weingärten waren eben
nicht zu verachten.“
     Elsbeth lachte. „Hört auf zu streiten, ihr beiden. Lasst uns den Tag
gemütlich ausklingen.“
     Am Ende breitete sich Schweigen aus, nur das Ticken der Uhr un-
terbrach die Stille.
     Elsbeth nahm den Roman zur Hand, der seit gestern Abend acht-
los in einer Ecke der Sitzbank gelegen hatte, und versuchte sich auf
seinen Inhalt zu konzentrieren.
     Gott sei Dank war ihre Mutter klug genug, das Thema Onkel Paul
und seine Spielschulden auf sich beruhen zu lassen. Sonst würde es wie-
der Krach geben
     und dazu war sie heute wirklich nicht in Stimmung. Die Freude
auf ihr neues Kleid wollte sie sich dadurch nicht verderben lassen.
     Sie vertiefte sich in das Kapitel über den milden Frühlingstag und
die herumschwirrenden Insekten. Ihre Augenlider wurden schwer.
     Ein Knall ließ sie aufschrecken.
     Onkel Arthur hatte sein Buch mit Schwung zugeklappt und auf

                                  - 18 -
den Couchtisch gelegt.
     Elsbeth gähnte hinter vorgehaltener Hand und blickte auf die Bo-
denstanduhr. Beinahe zehn.
     „Es ist spät“, meinte Arthur, der dem Blick seiner Nichte gefolgt
war.
     „Gehen wir schlafen.“
     Valerie verstaute ihre Häkelarbeit in dem Korb. Elsbeth nahm das
Tablett, trug es in die Küche, stellte das schmutzige Geschirr in die
Spüle und räumte das Tablett in den Schrank.
     Valerie kontrollierte die Eingangstür, ob sie auch gut verschlossen
war, so wie jeden Abend.
     Elsbeth stieg die Treppe hinauf, ging über den weichen Läufer,
vorbei an dem Überbauschrank aus Mahagoni und der mächtigen
Kommode, in ihr Zimmer.
     Valerie hatte die Vorhänge bereits zugezogen, sodass Elsbeth ihre
Nachttischlampe einschalten konnte. Jeden Abend versank die Stadt in
Dunkelheit, in der Hoffnung, dass die feindlichen Flugzeuge ihre Ziele
nicht ausmachen konnten. Sie streifte ihre Hauspantoffel ab, zog sich
aus und schlüpfte in ihr Nachthemd. Im Lavoir wusch sie sich eilig
Hände und Gesicht, putzte die Zähne. Morgen werde ich Onkel Arthur
bitten den Badeofen im Souterrain anzuheizen, dachte sie, während sie
unter die Decke schlüpfte. Wie angenehm wäre es doch wieder mal in
der gusseisernen Badewanne zu liegen, mit ein wenig Badesalz in dem
warmen Wasser, das so wohltuend auf der Haut prickelte. Elsbeth ver-
schränkte die Arme im Nacken und ließ den Blick durch ihr Zimmer
schweifen.
     Sie sah den Schreibschrank aus edlem Rosenholz, auf dem das Ta-
gebuch lag, den wuchtigen, dreitürigen Kasten und den Spiegel mit ei-
nem vergoldeten Rahmen über dem schmalen Sofa.
     Auf einem Regal neben der Tür Erinnerungen aus der Kindheit:
ein Hase aus Porzellan, ein Sparschwein, und die Puppe Marie, deren

                                 - 19 -
Beine über den Rand baumelten und die mit ihren dunklen Knopfau-
gen Elsbeth keine Minute unbeobachtet ließ.
    Elsbeth Augen brannten. Sie drehte sich zur Seite, schaltete das
Licht aus und schlief sogleich ein.

                                   *

     Die Wohnung, in der Tine seit dem Tod ihrer Eltern mit Tante
Dora lebte, bestand aus zwei Räumen, durch eine Tür mit Milchglas
vom Wirkwarengeschäft getrennt.
     Das größere Zimmer bewohnte die Tante. Tine hauste, anders
konnte man es nicht nennen, in einem schlauchartigen Kabinett, des-
sen einziges Fenster in einen düsteren Hof ging. Ihr Reich bestand aus
einem durchgelegenen Diwan, einem wurmstichigen Kasten, einem
abgenutzten Schreibtisch und einem wackeligen Stuhl.
     Tine lag auf dem Diwan und starrte an die Decke. Die Sprungfe-
dern stachen ihr in den Rücken.
     Bald würde sich die Verbindungstür öffnen und die alte Frau mit
dem Buckel schlurfend aus ihrem Zimmer kommen, um die Toilette
aufzusuchen, die sich gleich neben der Tür mit der Milchglasscheibe
befand. Die Uhr konnte man danach stellen.
     Tine versuchte an etwas anderes zu denken.
     Die Oper. Sie war glücklich und zugleich bedrückt gewesen, als
man sie gebeten hatte, mitzukommen. Endlich dazuzugehören, teilha-
ben an der mondänen Welt. Bloß, was sollte sie anziehen? Sie hatte
kein passendes Kleid und auch kein Geld für das Sirk. Was hatte sie vor
dem Krieg für Pläne gehabt! Mannequin wollte sie werden und viel
Geld verdienen. Und jetzt? Sie war zwanzig Jahre alt und gezwungen
in dem Geschäft ihrer Tante mitzuarbeiten, sich von ihr herumkom-
mandieren zu lassen, geisttötenden Kundinnen langweilige Strümpfe,
Unterwäsche und nichtssagendes Nähzubehör zu verkaufen.

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