DER GOTTHARDBAHNBAU: QUERELEN UND OPFER
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Der Gotthardbahnbau: Querelen und Opfer | Gotthard | Juli 1995 | NZZ Folio http://folio.nzz.ch/1995/juli/der-gotthardbahnbau-querelen-und-opfer Vielen Dank. Sie haben sich erfolgreich angemeldet. DER GOTTHARDBAHNBAU: QUERELEN Von Konrad Kuoni UND OPFER GOTTHARD ODER LUKMANIER? Eisenbahnfragen haben in der Schweiz seit je zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, angefangen 1852, als es darum ging, ob sich Private oder der Staat des Eisenbahnwesens annehmen sollen - die Anhänger der Privatbahnen obsiegten -, und fortgesetzt bei der ebenso umstrittenen Frage, wo die Eisenbahn die Alpen zu queren habe. Im Vordergrund hatte zunächst der Lukmanier gestanden, doch änderte sich das, nachdem von den neugegründeten Bahngesellschaften namentlich die Zürcher Nordostbahn mit Nationalrat Alfred Escher an der Spitze für den Gotthard eingetreten war. Auch der Direktionspräsident der Basler Centralbahn hatte schon 1852 geschrieben: «Mein Auge geht nach Süden, aber noch weiter als Luzern, dort liegt unsere Zukunft.» 1859 eröffnete die Centralbahn die Linie Basel-Luzern, und von dort aus kam für sie nur der Gotthard als weiterführender Alpenpass in Frage. 1863 wurde die Gotthardvereinigung gegründet, der 15 Kantone sowie die Central- und die Nordostbahn angehörten. Eine schweizerische Alpenbahn mit direkter Nord-Süd-Verbindung kam nicht zuletzt Italien und den deutschen Gliedstaaten zugute. 1866 liess Italien vernehmen, dass es den Bau einer Gotthardbahn begrüsse und diesen allenfalls auch subventioniere. 1869 folgten ähnliche Verlautbarungen aus Preussen, Baden und Württemberg. Die Aussicht auf ausländische Subventionen bewog schliesslich auch die Schweiz, sich für die Gotthardvariante zu entscheiden. 1 von 7 02.12.2013 09:40
Der Gotthardbahnbau: Querelen und Opfer | Gotthard | Juli 1995 | NZZ Folio http://folio.nzz.ch/1995/juli/der-gotthardbahnbau-querelen-und-opfer Im Herbst 1869 ging es an der Gotthardkonferenz in Bern an die Kostenverteilung. Man rechnete mit 187 Mio. Franken (davon 59,6 Mio. für den grossen Tunnel). Italien übernahm 45 Mio. die deutschen Gliedstaaten kamen für total 20 Mio. auf; gleich viel übernahm für die Schweiz die Gotthardvereinigung. 102 Mio. mussten durch Privatkapital gedeckt werden, was kein Problem darstellte; Bahnpapiere waren damals der grosse Renner. Im Juli 1870 debattierten die Schweizer Räte darüber, ob sie den von der Gotthardkonferenz formulierten Vertrag genehmigen wollten. Trotz Opposition der Ost- und Westschweizer Parlamentarier, die eine Benachteiligung ihrer Region befürchteten, hiess man ihn schliesslich gut. 1871 ratifizierten auch Italien und das neu entstandene Deutsche Reich das Abkommen. Darauf ging die Gotthardvereinigung in die Gotthardbahngesellschaft über. Direktionspräsident wurde Alfred Escher. FAVRE GEGEN GRATTONI. Im April 1872 erschien in den wichtigsten Zeitungen Europas und im New Yorker «Herald» ein Inserat, das einlud, bis Mitte Mai Offerten für den Bau des 15 Kilometer langen Gotthardtunnels einzureichen. Von acht Bewerbern kamen nur der Genfer Louis Favre und die Società Italiana di Lavori pubblici unter Verwaltungsratspräsident Severino Grattoni in Frage. Grattoni konnte sich die besseren Chancen ausrechnen, hatte er doch mit Sommeiller zusammen den mit 12 Kilometern bis anhin längsten Tunnel der Welt, den Mont Cenis, erstellt. Und mit dem Gotthard hatte sich Grattoni bereits intensiv beschäftigt, 1868 hatte er die Geologie geprüft und Probebohrungen vorgenommen. Favre konnte Grattoni nur mit einem extrem günstigen Angebot ausstechen. Zwar besass er als Ingenieur einen guten Ruf, vor allem in Frankreich, wo er verschiedentlich an Bahnbauten mitgewirkt hatte. Der längste Tunnel, den er gebaut hatte, war aber nur 1000 Meter lang. Hinter Favre standen Genfer Finanzkreise. Sie priesen seine Künste, die 1000 Meter jedoch konnten sie auch nicht länger machen. Mit um so grösserer Inbrunst hoben sie hervor, dass Favre ein Landsmann sei. Sautter de Beauregard, einer der wichtigsten 2 von 7 02.12.2013 09:40
Der Gotthardbahnbau: Querelen und Opfer | Gotthard | Juli 1995 | NZZ Folio http://folio.nzz.ch/1995/juli/der-gotthardbahnbau-querelen-und-opfer Hintermänner Favres, schrieb an Escher: «Ich hoffe, dass Sie einen Schweizer mit der Ausführung des grossen Werkes betrauen.» Und in einem Brief an einen Geschäftsfreund wurde er, mit einem Seitenhieb auf Grattoni, noch deutlicher: «Was die Italiener betrifft, so trinken diese meistens zu viel Wein, und sie sorgen für alle Sorten von Schwindeleien.» Im Frühsommer 1872 trafen die definitiven Offerten ein. Grattoni verlangte für den Tunnelmeter 3389 Franken, Favre 2830 Franken. Grattoni forderte eine Bauzeit von neun Jahren, wobei er sich gegen höhere Gewalt absichern wollte, Favre verlangte nur acht Jahre, verzichtete auf Ausnahmebestimmungen und war bereit, eine Kaution von 8 Mio. Franken zu leisten. VERTRAG MIT FAVRE. Die Gotthardbahngesellschaft entschied sich für Favre. Ein Risiko ging sie nicht ein: Favre verdiente fix 2830 Franken pro Meter; Löhne und Maschinen gingen zu seinen Lasten, ja er musste sich sogar verpflichten, in Göschenen und Airolo Arbeiterwohnungen und -spitäler zu bauen. Die Gotthardbahngesellschaft bekam gemäss Finanzvertrag von 1871 pro Tunnelmeter 3733 Franken, sie machte also pro Meter gut 900 Franken Gewinn. Artikel 7 des Vertrags zwischen der Gotthardbahngesellschaft und Favre schwebte von nun an als Damoklesschwert über dem Genfer. Er lautete: «Der Gotthardtunnel muss innerhalb acht Jahren vollendet sein. Die Gotthardbahngesellschaft zahlt Herrn Louis Favre eine Prämie von 5000 Franken für jeden Tag früherer Vollendung, wogegen Herrn Louis Favre ein Abzug von 5000 Franken für jeden Tag späterer Vollendung innerhalb der ersten sechs Monate und von 10 000 Franken für jeden Tag späterer Vollendung während der folgenden sechs Monate gemacht wird. Hat die Verspätung ein volles Jahr erreicht, so wird Herr Louis Favre ausser Akkord gesetzt, und seine Kaution verfällt der Gotthardbahngesellschaft zu Eigenthum.» STREIT MIT ESCHER. Im Herbst 1872 begann Favre mit dem Bau des Tunnels. Der Arbeitsprozess war sehr langwierig, man kam nur langsam voran. Gearbeitet wurde an jedem Tag im Jahr, und zwar in drei Schichten 3 von 7 02.12.2013 09:40
Der Gotthardbahnbau: Querelen und Opfer | Gotthard | Juli 1995 | NZZ Folio http://folio.nzz.ch/1995/juli/der-gotthardbahnbau-querelen-und-opfer zu acht Stunden. Favres Charakter spiegelte sich in der Art wider, in der er baute: Auf beiden Seiten liess er die Tunnelspitze in zackigem Tempo vorantreiben; den Vollausbruch dahinter vernachlässigte er sträflich. Die Stimmung zwischen Favre und der Gotthardbahngesellschaft verdüsterte sich bald. Im Juni 1874 fand in Bern unter bundesrätlicher Leitung eine Schlichtungskonferenz statt. Es wurde bestimmt, dass «der gänzlich ausgebrochene Tunnel nie mehr als 600 Meter auf jeder Seite hinter der Stollenbrust zurückbleiben darf». Favre sollte so gezwungen werden, seine eigentümliche Bauweise aufzugeben. Das tat er nicht, worauf die Gotthardbahngesellschaft am 1. August 1875 ihre Zahlungen für den Richtstollenvortrieb einstellte. Nun war endgültig Feuer im Dach. Ein Rechtsstreit begann, dessen Akten erst 1885 geschlossen wurden. MIT DEM RÜCKEN ZUR WAND. Favre geriet mehr und mehr in Rückstand. Daran änderte auch nichts, dass er die Zahl der Arbeiter ständig erhöhte. Im Dezember 1875 etwa hatte er in Göschenen 1645 und in Airolo 1302 Mann in seinen Diensten, dies wohlgemerkt in Gebirgsdörfern, in denen vor Baubeginn nur wenige hundert Leute gewohnt hatten. Der Gotthardbahngesellschaft ging es nicht besser als Favre. Ihre Linien im Tessin waren viel teurer geworden als veranschlagt. 1876 rechnete man mit Mehrkosten von nicht weniger als 102 Mio. Franken, was einen gehörigen Skandal absetzte. Um die Kosten zu verringern, strich man das Netz zusammen, auf Doppelspur wurde verzichtet. Derweil sackten die Aktien der Gotthardbahngesellschaft in existenzbedrohende Tiefen ab. Italien und Deutschland erklärten sich unter Protest bereit, noch einmal je 10 Mio. Franken zu zahlen; für 12 Mio. Franken hatte die Gotthardbahngesellschaft geradezustehen. Zudem wurde ein Zustupf aus der Bundeskasse nötig, was heikel war, hatten die Gotthardbahnbefürworter doch immer wieder versichert, dass das Werk ohne Bundesgelder auskomme. Ein Sündenbock musste her: Am 28. Juni 1878 schrieb Bundesrat Welti an Escher: «Ich muss es Ihnen ohne Umschweif sagen, dass eine Reihe der besten Freunde 4 von 7 02.12.2013 09:40
Der Gotthardbahnbau: Querelen und Opfer | Gotthard | Juli 1995 | NZZ Folio http://folio.nzz.ch/1995/juli/der-gotthardbahnbau-querelen-und-opfer unserer Sache das Opfer Ihres Rücktrittes für das Gelingen des Werkes erforderlich hält.» Escher, der Vater der Gotthardbahn, verstand und trat in grösster Verbitterung zurück. Darauf entstand das Alpenbahngesetz, mit dem sich die Eidgenossenschaft verpflichtete, den Kantonen, die sich am Gotthardbahnunternehmen beteiligt hatten, 4,5 Mio. Franken zu zahlen. Dagegen wurde das Referendum ergriffen, ein äusserst bewegter Abstimmungskampf begann. Der Verwaltungsratspräsident der Vereinigten Schweizerbahnen, ein erklärter Gotthardbahngegner, sagte im Nationalrat: «Mit der projektierten Subvention wird gar nichts unterstützt als eine zahlungsunfähige Aktiengesellschaft.» Auch die Linkspresse wetterte. Die Zürcher «Tagwacht» schrieb: «Keinen Rappen mehr für den Gotthard, so lange diese Landesverräther noch ihre Hand darüber haben!» Am 19. Januar 1879 verwarfen dann aber nur die Kantone Appenzell Innerrhoden, Waadt und Graubünden die Vorlage. Damit hatte zwar die Gotthardbahngesellschaft das Schlimmste überstanden, nicht aber Favre. Angesichts des Rückstandes auf die Marschtabelle sah er seine Felle endgültig davonschwimmen. Er sollte nicht mehr erleben, wie am 29. Februar 1880 die beiden Stollen in beispielloser Präzisionsarbeit aufeinandertrafen. Im Juli 1879 brach er im Gotthardtunnel tot zusammen. DIE OPFER DES TUNNELBAUS. Favre hatte, um Grattoni aus dem Rennen zu werfen, eine zu niedrige Offerte gemacht. Die Leidtragenden waren die Arbeiter, fast ausschliesslich Italiener. Die meisten kamen aus bitterarmen ländlichen Gegenden des Piemonts und der Lombardei. Ihr Durchschnittsalter betrug 28 Jahre, der jüngste war gerade zwölf. Pro Tag verdienten sie 3 Franken 70. Favre hätte zwar für Wohnraum sorgen müssen, doch dazu war er weder organisatorisch noch finanziell in der Lage. Die Arbeiter wurden grösstenteils privat untergebracht. Manch einer in Göschenen und in Airolo hat sich so eine goldene Nase verdient. 1875 schrieb Ständerat und Oberst Hold, gewiss kein Linker: «Die 5 von 7 02.12.2013 09:40
Der Gotthardbahnbau: Querelen und Opfer | Gotthard | Juli 1995 | NZZ Folio http://folio.nzz.ch/1995/juli/der-gotthardbahnbau-querelen-und-opfer Logirung der Arbeitermassen liegt ganz in Händen der Speculation. In kleinen dumpfen Zimmern reiht sich Bett an Bett - elende, halbfaule Strohsäke. Das Lagergeld beträgt für acht Stunden 50 Cts.» Noch schlimmer waren die Verhältnisse im Tunnel: Dunkelheit, rauchgeschwängerte Luft, Dynamitgase, menschliche Exkremente, die mangels Toiletten überall herumlagen. Vor allem aber war der Aufenthalt im Tunnel, von den Langzeitschäden ganz abgesehen, höchst gefährlich. Favre hatte für Sicherheitsvorkehrungen kein Geld. 177 Mann starben im Tunnel an Unfällen, 171 Fälle sind dokumentiert: 53 Mann wurden von Rollwagen oder Lokomotiven zerquetscht, 49 von Felsstücken erschlagen, 46 durch Dynamit in Fetzen gerissen. 23 kamen anderswie ums Leben, einer von ihnen ertrank. Schuld war nach offizieller Angabe jeweils der Zufall oder der Verunglückte selbst. So erstattete die Gemeinde Göschenen folgenden Bericht an die Urner Polizeidirektion: «Den 1. October 1878, um 12 Uhr Mittags, starb im Tunnel an Kopfzerquetschung Milano Domenico. Derselbe arbeitete im Tunnelprofil 5230 mit seinem Camerad Milano Pietro. Als sie mit Bohren einer Mine beschäftigt waren, löste sich ob ihnen ein Block vom Felsen und fiel auf sie herunter. Ersterer wurde sofort getödtet, und Letzterem wurde ein Fuss entzwei geschlagen. Dieses Unglück ist Zufall und kann Niemandem als Schuld angerechnet werden.» Eindeutig war die Schuldfrage gemäss Schreiben der Urner Regierung vom 3. Mai 1879 in einem anderen Fall. «Am 28. April Mittags wurde bei Profil 70 der Mineur Bianco Giuseppe von Valsavaranche, Provinz Turin, infolge eigener Unvorsichtigkeit von einer Lokomotive überfahren und sogleich getödtet.» STREIK. Im Juli 1875 kam es in Göschenen zu einem Streik. Die Luft im Tunnel war so schlecht, dass die Arbeiter protestierend nach draussen strömten, wo sie den Tunneleingang besetzten und Lohnaufbesserung forderten. In Altdorf wurde die Polizei alarmiert. Weil nur 7 Landjäger zur Verfügung standen, wurden 15 weitere Männer, gewöhnliche Bürger, 6 von 7 02.12.2013 09:40
Der Gotthardbahnbau: Querelen und Opfer | Gotthard | Juli 1995 | NZZ Folio http://folio.nzz.ch/1995/juli/der-gotthardbahnbau-querelen-und-opfer bewaffnet und zu Hilfspolizisten ernannt. Die Streikenden empfingen die zusammengewürfelte Polizeimannschaft mit einem Steinhagel, letztere schoss in die Menge. Vier Arbeiter kamen ums Leben. Der ehemalige Geometer der Gotthardbahngesellschaft, Koppe, der die Tunnelachse bestimmt hatte, schrieb 1894: «Grossartig schön ist der vollendete Bau, aber grossartiger und schöner noch war seine Entstehung.» Konrad Kuoni Der Autor schreibt an der Universität Zürich zurzeit eine Arbeit über «Unfälle während des Baus des Gotthardbahntunnels». 7 von 7 02.12.2013 09:40
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