Ein "Weight Watchers"-Programm für Gletscher
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G e owis s e n s c h a ften Exped ition Planet Erde Ein „Weight Watchers“-Programm für Gletscher Weltweit verzeichnen Forscher einen zunehmenden Rückgang der Gebirgsgletscher. Mit einem neuen methodischen Ansatz versucht die Kommission für Erdmessung und Glaziologie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften den entsprechenden Gewichts- verlust der Gletscher direkt zu vermessen. Im März 2014 begann hierfür eine Messreihe am Svartisen, einem Gletscher in Nord- norwegen – in einem spektakulären Labor unter einer 200 Meter dicken Eisschicht. Abb. 1: Vermessungsarbeiten zur Koordinatenübertragung in das Alle Abb.: Chr. Gerlach Tunnelsystem. Im Hintergrund: der Moränensee Engabrevatnet und der Holandsfjord. 28 Akademie Aktuell 04-2014
G e owis s e n s c h a ften Exped ition auf Gebirgsgletscher zu untersuchen und zu dokumentieren, werden unter anderem Massen- bilanzen ausgewählter Gletscher erstellt. Für den am intensivsten untersuchten Gletscher, den Vernagtferner in den Ötztaler Alpen, erstellen die Wissenschaftler diese Bilanz jährlich. Hier- bei setzt man klassischerweise geometrische Verfahren ein, bei denen Flächen oder Höhen- änderungen gemessen werden. Seit dem Zusammenschluss der Gletscherfor- Vo n Ch ri st i an Ge rl ach schung mit der Erdmessungskommission im Jahr 2010 wird als komplementäres Verfahren die Gravimetrie, also die Vermessung der Schwere- H ö hlen u n d Gletsc her üben eine hohe beschleunigung der Erde, getestet. Als einziges Anziehungskraft auf so manchen Abenteurer Messverfahren ist sie direkt sensitiv für Mas- aus. Umso spannender müsste es wohl sein, senänderungen. In der terrestrischen Gletscher- Abb. 2: Das tragbare Relativgra- eine Höhle unter einem Gletscher zu erforschen. überwachung ist die Gravimetrie ein Novum. Bei vimeter der KEG, das nach dem Nun steht die Höhlenforschung nicht gerade im satellitengestützten Messverfahren ist sie seit Prinzip der Federwaage arbeitet Fokus der Kommission für Erdmessung und Gla- dem Start der deutsch-amerikanischen Mission (links). ziologie (KEG), doch wurde im März dieses Jahres GRACE im Jahre 2002 als wertvolles Instrument eine einwöchige Expedition in ein subglaziales, zur Quantifizierung von Massenverschiebungen Abb. 3: Absolutgravimeter FG5 künstliches Tunnelsystem durchgeführt, um sich im Erdsystem etabliert und heute aus der globa- des Projektpartners NMBU. Der von dort aus der Anziehungskraft des darüber len geophysikalischen Erdüberwachung kaum freie Fall einer Testmasse in ei- liegenden Gletschers zu widmen. Dabei ging es mehr wegzudenken. Allerdings ist die Auflösung ner Vakuumkammer im oberen weniger um die Anziehungskraft als Attraktivität auf räumliche Bereiche mit einer Ausdehnung Zylinder wird ausgemessen, im ästhetischen Sinn, sondern als Attraktion, also von mehreren hundert Kilometern beschränkt. um die Erdbeschleunigung zu als physikalische Kraft, die nach Newton eine Kleinere Details können nicht erfasst werden. bestimmen (Mitte). Eigenschaft aller Massen ist. Daher fokussiert sich die Anwendung von GRACE auf die großen polaren Eisschilde in Grönland Karten-Quelle: www.norgeskart.no Abb. 4: Lageplan des für die Gra- Gletscherforschung und Gravimetrie und der Antarktis sowie auf große vergletscher- vimetermessungen genutzten an der Akademie te Gebiete, etwa in Alaska oder den asiatischen Abschnitts des Tunnelsystems. Hochgebirgen. Die Überwachung einzelner Das Gletscherlabor befindet Seit den 1960er Jahren ist die Gletscherfor- Alpengletscher, etwa des Vernagtferners, wäre sich unter der Zunge des En- schung an der Bayerischen Akademie der damit undenkbar. Gerade auf diesen räumlichen gabreen, 1,5 Kilometer vom Ein- Wissenschaften als Kommission etabliert. Skalen liegt jedoch das Hauptaugenmerk der gang entfernt unter einer etwa Um die Auswirkungen von Klimaänderungen Gletscherforschung an der Akademie. Daher 200 Meter dicken Eisschicht. 30 Akademie Aktuell 04-2014
Expeditio n Geowissen sc h a fte n Abb. 5: Innenansicht des vorde- wurde seit 2010 begonnen, in jährlichen Kam- Schwereänderung anzuschließen oder die Rela- ren Tunnelabschnitts zwischen pagnen den Massenverlust des Vernagtferners tivmessungen mit einem Absolutgravimeter zu Eingang und Gletscherlabor mit terrestrischen Gravimetern zu erfassen und komplettieren. Absolutgravimeter der höchsten (links). die Ergebnisse den klassischen, geometrischen Genauigkeit sind Laborgeräte, bei denen der freie Verfahren gegenüberzustellen. Fall einer Testmasse in einer Vakuumkammer Abb. 6: Vermessungsarbeiten im mittels Laserinterferometrie ausgemessen wird. unbeleuchteten wasserführen- Relativ präzises Instrumentarium Dass man solche präzisen Laborgeräte für die den Abschnitt des Tunnelsys- Gletscherforschung leider kaum nutzen kann, ist tems zwischen Gletscherlabor Zur Unterstützung dieser Arbeiten konnte 2012 evident, denn selten findet man am Gletscher und Ausgang. Gelegentliche aus Mitteln des Akademienprogramms ein Laborbedingungen vor. Kies- und Sandbänke wurden modernes und effizientes Relativgravimeter an- für die Anlage der Gravimeter- geschafft werden. Es arbeitet nach dem Prinzip Schwarzes Eis mit spektakulärer Zunge: stationen genutzt. Zur dauer- der Federwaage: Eine kleine Testmasse, die an Svartisen und Engabreen haften Markierung wurden einer Metallfeder angebracht ist, dehnt diese, Messmarken in die Felswand wobei die Dehnung umso stärker ist, je größer Ausnahmen bestätigen natürlich auch hier die eingebohrt. die Erdbeschleunigung ist. Deren Wert liegt bei Regel, namentlich am Engabreen. Dieser Ausfluss- etwa 9,8 m/s2 und variiert global zwischen 9,78 gletscher des „schwarzen Eises“, des westlichen am Äquator und 9,83 an den Polen. Mit moder- Svartisen in Nordnorwegen liegt mit einer geogra- nen Gravimetern kann diese Variation zwischen phischen Breite von 66°41‘ knapp nördlich des Pol und Äquator etwa mit einer Genauigkeit von Polarkreises. Der Svartisen ist mit einer Fläche von eins zu einer Million vermessen werden. Aus den 220 km2 der zweitgrößte Gletscher des norwegi- zeitlichen Variationen der Schwere an einem schen Festlands (also ohne etwa die Gletscher auf Ort kann man damit auch kleine lokale Mas- Spitzbergen). Damit ist er deutlich größer als der senänderungen ableiten. Die Beschränkung der in den Berner Alpen gelegene Aletschgletscher, Relativgravimetrie liegt im Wörtchen „relativ“. der mit seinen gut 80 km2 als größter Gletscher Dieses drückt aus, dass nur Variationen gemes- der Alpen gilt. Zum Vergleich: Der Vernagtferner sen werden können, nicht jedoch der Absolut- hat eine Fläche von nur knapp 8 km2. Das Einzugs- betrag der Schwere. Zudem führen mechanische gebiet des Engabreen erstreckt sich über einen Eigenschaften der Feder dazu, dass sich der Gerä- Höhenbereich von etwa 1.500 m, wobei die mit tenullpunkt über die Zeit verschiebt. Misst man 1.580 m höchste Stelle auf dem Gletscherplateau beispielsweise in zwei aufeinander folgenden des Svartisen liegt und das untere Ende der Glet- Jahren die relative Schwere am Vernagtferner, so scherzunge fast bis auf Meeresniveau herabführt. können die Werte nicht direkt miteinander in Be- Bereits Ende des 19. Jahrhunderts war die Zunge ziehung gesetzt werden. Daher ist es notwendig, des Engabreen, die nur per Schiff über den direkt entweder an einen Referenzpunkt mit bekannter nördlich gelegenen Holandsfjord erreichbar ist, ein beliebtes Ausflugsziel. Unter anderem waren dort der norwegische Polarforscher Fritjof Nansen und der deutsche Kaiser Wilhelm II. zu Besuch. 04-2014 Akademie Aktuell 31
G e owis s e n s c h a ften Exped ition Gletscherforschung und Wasserkraft in Norwegen Systematische Gletscherbeobach- tungen begannen in Norwegen etwa um 1900, wobei damals lediglich Längenänderungen der Gletscher vermessen wurden. Ab 1948 übernahm das gerade gegrün- dete Norwegische Polarinstitut die routinemäßige Überwachung, nicht nur in den Polarregionen, sondern auch auf dem Festland. In dieser Zeit wurden für wenige ausgewähl- Abb. 7: Zielmarke zur Winkel- te Gletscher die ersten Massenbi- und Streckenmessung vor dem lanzen erstellt. Erst als man in den Eingang zum Tunnelsystem. Im 1960er Jahren begann, das Potential Hintergrund die Gletscherzunge des Schmelzwasserabflusses der des Engabreen. Gletscher in großem Stil für die Energiegewinnung nutzbar zu ma- chen – Norwegen bezieht heute ca. 98 % seiner Energie aus Wasserkraft –, wurde das Höchste Präzision im Labor Überwachungsprogramm ausgeweitet und dem Wasserwirtschafts- und Energiedirektorat (NVE) Der direkte Zugang zur Gletschersohle war für unterstellt. 1994 nahm am östlichen Ufer des die KEG-Expedition allerdings nicht von Bedeu- Holandsfjord das Svartisenkraftwerk, eines der tung. Vielmehr wurde ausgenutzt, dass man qua- größten Wasserkraftwerke Norwegens, seinen si mitten am Gletscher (wenn auch unter dem Betrieb auf. Das Schmelzwasser des Gletschers, Eis gelegen) Laborbedingungen vorfindet, die es das sich an der Gletschersohle in kleinen Bächen erlauben, ein hochpräzises Absolutgravimeter und Flüssen sammelt, wird durch ein künstliches zu platzieren. Das Gerät vom Typ FG5 stellten die Tunnelsystem angezapft und über mehrere Kilo- Projektpartner der Norwegischen Universität für meter zum Svartisenkraftwerk geleitet. Umwelt- und Biowissenschaften (NMBU) bereit. Der Vergleich mit den für die Zukunft geplanten Forschen unter dem Eis Wiederholungsmessungen soll Aufschluss über zeitliche Massenvariationen geben, die durch Als weltweit einzigartig darf das subglaziale For- das Abschmelzen der Eismassen hervorgerufen schungslabor bezeichnet werden, das sich etwa werden. 1,5 Kilometer innerhalb des Berges unter der Glet- schersohle und damit unter einer ca. 200 Meter Da Gravimeter immer nur den Gesamteffekt dicken Eisschicht befindet. Dort haben die For- aller in der Umgebung erfolgenden Massenän- scher direkten Zugang zum Gletschereis – von derungen erfassen, können aus Messungen unten. Hier werden Studien etwa zum Zusam- an einer einzelnen Beobachtungsstation kei- menhang zwischen Druck, Wasserführung und ne eindeutigen Aussagen darüber getroffen Gletscherbewegung gemacht. Unter anderem werden, wo die Massenänderung stattgefunden wurden daraus Viskositätsparameter im Bewe- hat. Beispielsweise würde das Abschmelzen gungsverlauf von Gletschereis bestimmt. Im von einem Kubikmeter Eis auf der relativ zum Gletschereis findet sich auch Leben – beispiels- Messlabor tiefer gelegenen Gletscherzunge weise in Form von Bakterien. Das subglaziale den gleichen Effekt ergeben wie der Zuwachs Labor ermöglicht hier die Erforschung von von einem Kubikmeter Eis auf dem relativ zum Lebensbedingungen unter extremen Umwelt- Messlabor höher gelegenen Gletscherplateau – bedingungen, wie sie auch an anderen Orten auf vorausgesetzt, der Abstand zum Labor ist jeweils der Erde (etwa in Grönland) oder anderswo im gleich. Beides, das Abschmelzen unterhalb des Sonnensystem (etwa am Mars oder den Eismon- Labors und der Massenzuwachs darüber, würde den des Jupiter) herrschen. So diente das Labor auch der Technologieentwicklung für die 2018 geplante Satellitenmission ExoMars der Europäi- schen Weltraumagentur ESA. 32 Akademie Aktuell 04-2014
Expeditio n Geowissen sc h a fte n den gemessenen Schwerewert verkleinern. Es ist und Frühjahr begangen werden kann. Sobald im daher ratsam, die Schwere auf mehreren räum- Frühsommer die Schmelzsaison beginnt, führt lich verteilten Stationen zu beobachten. Neben der Tunnel zu viel Wasser. Zum Zeitpunkt der den FG5-Messungen wurde entlang des Tunnels Messungen im März rann in weiten Teilen nur ein Profil mit 17 weiteren Messstationen ein- ein kleines Rinnsal von 10 bis 20 Zentimetern gerichtet, die mit Relativgravimetern im Bezug Tiefe den Tunnel entlang. zum Absolutpunkt eingemessen wurden. Für die Zukunft ist die Anlage zusätzlicher Messpunkte Aktuelle und zukünftige Messarbeiten an der Oberfläche geplant. Um die räumliche Lage der Stationen und damit Der für die gravimetrischen Arbeiten verwendete den geometrischen Bezug zu den umliegen- Bereich des Tunnelsystems hat eine Gesamt- den Gletschermassen zu bestimmen, wurden länge von dreieinhalb Kilometern. Er verläuft neben den gravimetrischen Arbeiten auch GPS- vom Tunneleingang auf der Nordseite der Beobachtungen an den beiden Tunnelportalen Engabreen-Gletscherzunge vollständig unter durchgeführt und im Tunnel ein klassischer dieser hindurch und endet an einem kleinen Polygonzug aus Winkel- und Streckenmessun- Ausstieg auf der gegenüberliegenden Bergseite. gen angelegt. Inklusiv des An- und Abtransports von Instrumenten und Ausrüstung war das fünfköpfige Team von KEG, NMBU und NVE sechs Tage Abb. 8: Die Gletscherzunge des lang beschäftigt, die Messungen Engabreen vom Holandsfjord durchzuführen. Damit wurde nicht aus gesehen. Der Pfeil deutet nur der erste subglaziale Absolut- die Lage des Forschungslabors schwerewert überhaupt gemessen, an. Der Gletscher ist an dieser sondern insbesondere auch die Stelle etwa 200 Meter dick. Der Grundlage geschaffen, um in den Eingang zum Tunnelsystem kommenden Jahren die zu erwar- befindet sich links, außerhalb tenden zeitlichen Schwereände- des Bildausschnitts. rungen aufzuzeichnen und mit den Massenvariationen des Gletschers in Beziehung zu setzen. Dies ist vor allem deswegen so interessant, weil die Gletscherzunge in starkem Maße von Spalten durchzogen und zerklüftet ist, wodurch sie kaum begehbar und damit den klassi- schen glaziologischen Messme- thoden nur schwer zugänglich ist. Die gravimetrische Methode kann hier einen wertvollen Beitrag zur Massenbilanzierung liefern. Die mit dem Absolutgravimeter erreichte Messgenauigkeit entspricht dabei dem Abschmelzen einer Eisschicht von knapp 10 Zentimetern Dicke. Die nächsten Messungen sind für 2015 geplant. n Der Autor Dr. Christian Gerlach ist wissen- Er ist in zwei Abschnitte gegliedert, den vorderen schaftlicher Mitarbeiter der Teil, der dem Zugang zum Gletscherlabor dient Kommission für Erdmessung und und durch eine massive Staumauer von dem Glaziologie der Bayerischen Aka- eigentlich wasserführenden Teil des Tunnelsys- demie der Wissenschaften. Sein tems abgeriegelt ist, sowie den hinteren Teil, der Arbeitsschwerpunkt liegt in der zu eben diesem wasserführenden Bereich ge- Messung und Modellierung des hört. Dies bedeutet auch, dass der hintere, etwa Erdschwerefeldes für Anwendun- zwei Kilometer lange Abschnitt nur im Winter gen in den Erdwissenschaften. 04-2014 Akademie Aktuell 33
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