Der Mensch im Spiegel des Anderen

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Der Mensch im Spiegel des Anderen

Thiemo Breyer

[Erscheint in: Müller, O. & Maio, G. (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und
normative Perspektiven. München: C. H. Beck 2014]

1. Einleitung

Die Metaphorik des Spiegels ist in der abendländischen Geistesgeschichte häufig verwendet
worden, um anthropologische Relationalitäten zum Ausdruck zu bringen. Das Verhältnis des
Menschen zu sich selbst, zu Anderen, zur Welt ebenso wie zur philosophischen und wissen-
schaftlichen Theoriebildung wurde mit katoptrischen Modellen in vielfältiger Weise veran-
schaulicht. In „der europäischen Modellpalette“, konstatiert Manfred Faßler, stellt der Spiegel
„die kulturgeschichtlich mächtigste Ordnungsidee“ dar.1 Im alltäglichen wie im wissenschaft-
lichen und philosophischen Sprachgebrauch dient der Spiegel als „Erkenntnis-, Wahrheits-,
Bekenntnis-, Selbstbeobachtungs-, Wissensmedium“2.
    Man denke nur an den mythischen Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt
und in suizidale Wehmut verfällt, als er bemerkt, dass es kein anderer Jüngling ist, der ihm
aus dem Wasser entgegenschaut, sondern er selbst. Man denke an das ‚Püppchen‘ (eidolon),
als das man sich selbst erblickt, wenn man einem Anderen ins Auge – genauer, in die Pupille
– linst, wie Sokrates im Alkibiades erklärt.3 Man denke ferner an die leibnizschen Monaden,
die als lebendige Spiegel das Universum und einander gegenseitig spiegeln. Oder man denke
schließlich an die Kritik des Visuozentrismus in der Erkenntnistheorie.4 In den aktuellen in-
terdisziplinären Forschungen zu intersubjektiven Vermögen des Menschen (zur Empathie und
sozialen Kognition) spielt die Spiegelmetapher erneut eine prominente Rolle. Man denke hier
an die sogenannten „Spiegelneuronen“5 in der Neurowissenschaft oder die „Spiegelsysteme“6
und „Spiegelstrategien“7 in der Psychologie. Verbunden mit dem natur- und verhaltenswis-
senschaftlichen Aufweis konkreter neuronaler und kognitiver Mechanismen ist die Hoffnung,

1
    Faßler, Ohne Spiegel leben, 9.
2
    Ebd.
3
    Platon, Alkibiades, 133a.
4
    Vgl. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature. Eine materialreiche Geschichte der Spiegelmetaphorik fin-
    det sich bei Konersmann, Lebendige Spiegel.
5
    Vgl. Rizzolatti & Sinigaglia, Empathie und Spiegelneurone.
6
    Prinz, Selbst im Spiegel, 19.
7
    Ebd., 161.

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von der Metaphorik zu einer Begriffssprache zu gelangen, d.h. Spiegelung als deskriptives
und erklärendes Konstrukt einzulösen. Die Metaphorizität als solche wird jedoch selten expli-
zit beleuchtet.
    Die folgenden Überlegungen drehen sich um die Frage, wie die intersubjektive Verwen-
dung der Spiegelmetapher phänomenologisch interpretiert werden kann.8 Um diese Frage zu
beantworten, muss zunächst das Phänomen des Spiegels selbst aufgeklärt werden, und zwar
im Hinblick auf seine Funktionsweise ebenso wie im Hinblick auf die Erscheinungsweise
dessen, was er spiegelt, sowie die Modi der durch ihn ermöglichten Selbst- und Fremdbezüge.
Diese Eigenschaften können mit den Charakteristika der Intersubjektivität in Beziehung ge-
bracht werden, um zu eruieren, wie tragfähig oder aussagekräftig die Spiegelmetapher hier ist.
Es geht also keineswegs darum, die Spiegelmetapher als deskriptiv ‚richtige‘ oder ‚falsche‘
Bestimmung der Intersubjektivität auszuweisen. Eine ‚Einlösung‘ der Metapher im phäno-
menologischen Sinne muss erhellen, welche Aspekte des Spiegelphänomens eine Analogisie-
rung mit dem Anderen erlauben und welche nicht. Die Spiegelmetapher ist überhaupt nur eine
Metapher, weil sie beide Dimensionen besitzt, die Analogie also partiell gebrochen ist. Würde
sich die Metapher gänzlich der Analogisierung fügen und ließe sie sich in eine verifizierbare
Gesamtbeschreibung überführen, so wäre sie keine Metapher mehr. Metaphern leben, mit an-
deren Worten, von der Dialektik aus deskriptiv Auflösbarem und Unauflösbarem. Diese
Spannung muss in der phänomenologischen Analyse ausgehalten und globale Bewertungen
der Metaphorik müssen zunächst eingeklammert werden. Erst wenn die einzelnen Aspekte ih-
res Sachkerns herausgearbeitet worden sind, kann man den Übertrag auf die Sphäre der In-
tersubjektivität im Hinblick auf seine Angemessenheit prüfen. Es geht im Folgenden also um
eine Metaphernkritik, im wörtlichen Sinne der Auseinanderlegung spezifischer phänomenaler
Merkmale, für die dann jeweils die metaphorische Übersetzungsleistung erörtert werden kann.

8
    Nicht besprochen werden kann die ontogenetische Entwicklung, im Rahmen derer die Fähigkeit erlangt wird,
    sich im Spiegel selbst zu erkennen. Diese in der genetischen Epistemologie zentrale Stufe der kognitiven
    Reifung ist Gegenstand einer reichhaltigen sozialpsychologischen wie philosophischen Literatur, deren Inter-
    pretation den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde. Was allerdings klar zu sein scheint ist, dass das
    Selbsterkennen im Spiegel beim Kinde mit wichtigen empathischen Fähigkeiten, mit der Ausbildung von
    selbstreflexiven Gefühlen wie Scham und Stolz, sowie mit der Verwendung selbstreferentieller sprachlicher
    Ausdrücke korreliert. Diesem Stadium des Selbstbezugs geht ein Prozess vielfältiger zwischenleiblicher und
    verbaler Interaktionen voraus, in dem der Andere für den Säugling schon lange ein sozialer Spiegel ist, bevor
    er eine Begegnung mit dem physischen Spiegel macht. Eine unmittelbare Form verkörperter Spiegelung ohne
    explizites Selbstbewusstsein ist die mimische und gestische Imitation, die schon seit der Geburt eine wichtige
    Rolle in der Affektregulierung zwischen Säugling und Bezugsperson darstellt. Vgl. hierzu Meltzoff & Moore,
    Newborn Infants Imitate Adult Facial Gestures.

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2. Der Spiegel als Metapher

Metaphern tragen nicht nur in der Alltagssprache wesentlich zum Reichtum der Kommunika-
tion bei, sondern sind auch philosophisch und historisch-semantisch von großer Bedeutung,
da sie „Erfahrungs- und Bedürfnisstrukturen zum Sprechen bringen, die für die Grundbegriffe
einer Zeit Formulierungsvoraussetzungen sind.“ 9 Sie übernehmen als Problemindikatoren
„Aufgaben der elementaren Weltorientierung“10 diesseits von konzeptueller Bestimmbarkeit
und analytischer Abstraktion. In ihrer orientierenden Funktion sind sie sprachliche Anzeichen
des Unaussprechlichen, vorläufige Medien der Welterschließung, die in ihrer Vorläufigkeit
die Endlichkeit des Verstehens signalisieren. Die Metapher wirkt als „Provisorium, und zwar
als unersetzliches Provisorium. Denn die Metapher hilft aus jener Verlegenheit, in die die Be-
griffssprache gerät, wenn sie zur Beschreibung vorbegrifflicher Erwartungen, Bedürfnisse
und Erfahrungen aufgefordert ist.“11 Hans Blumenberg deutet Metaphern daher als „Artikula-
tionsmittel des Unbegreifens und Vorbegreifens“, die ein „Vorfeld des Begriffs“ bilden, einen
thematischen Unter- oder Hintergrund, von und vor dem sich bestimmte Sinneskonfiguratio-
nen allererst gestalthaft abheben können.12 In Metaphern steckt so immer ein „Mehr an Aus-
sageleistung“13, da sie Erfahrung paradoxal auf unsprachliche Weise ins Wort setzen.14
     Traditionellerweise funktioniert die Metapher als Übertragung (1) von einer Gattung auf
eine Art, (2) von einer Art auf eine Gattung, (3) von einer Art auf eine andere Art, oder (4)
nach dem Prinzip der Analogie. Was die hier interessierende Spiegelmetapher betrifft, so wird
sie analogisch konstruiert (4). Das Analogieprinzip funktioniert durch die parallele Zuord-
nung von Elementen in unterschiedlichen semantischen Bereichen. Wird das Alter beispiels-
weise als ‚Abend des Lebens‘ bezeichnet, so lässt sich das durch folgende Zuordnung auflö-
sen: ‚Abend:Tag // Alter:Leben‘, d.h. der Abend verhält sich zum Tag wie das Alter zum
Leben. Der in der metaphorischen Wendung nicht auftauchende Begriff ‚Tag‘ muss also hin-
zugedacht werden, will man die Übertragung verstehen. Bei der Formulierung, der Andere sei
‚Spiegel meiner selbst‘, ergäbe sich entsprechend das Schema ‚Spiegel:X // Anderer:Selbst
(Y)‘. Wie ist hier die Leerstelle zu besetzen, die im vorigen Beispiel der Begriff ‚Tag‘ ein-
nahm? Der Spiegel steht zu X in einem analogen Verhältnis wie der Andere zu Y. Der im
Folgenden zu plausibilisierende Vorschlag wäre, dass X und Y nicht zwei verschiedene Enti-

9
     Konersmann, Lebendige Spiegel, 28.
10
     Ebd., 29.
11
     Ebd.
12
     Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit, 139.
13
     Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 9.
14
     Vgl. hierzu auch Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, 28.

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täten bezeichnen, sondern zwei Aspekte einer Entität, nämlich des Selbst, das einmal als
Leibkörper (X) und einmal als Person (Y) auftritt.
     Der Spiegel vermag nur die psychophysische Seite meines Wesens zu bestätigen, während
der Andere darüber hinaus meine soziale Seite spiegelt, wobei er durch seine Subjektivität
und Spontaneität auch die Möglichkeit hat, mich im Spiegeln zu negieren, d.h. mir jegliche
Anerkennung zu verweigern (siehe Abschnitt 7). Der Andere tritt mir als aktiver oder ‚leben-
diger‘ Spiegel entgegen, der kein neutrales Abbild meiner selbst liefert, sondern ein interpre-
tiertes Bild zurückwirft. Der physische Spiegel hingegen fungiert als passiver oder ‚toter‘
Spiegel, der reflektiert, was ihm vorgesetzt wird, der dabei nichts abzieht und nichts hinzutut.
Wie Ralf Konersmann bemerkt, gehört diese „Konkurrenz zwischen dem gewöhnlichen, eher
passiv zu nennenden Spiegel, der auf eine möglichst unverzerrte Wiedergabe festgelegt ist,
und dem ‚lebendigen Spiegel‘, der sich auf seine Gegenstände aktiv einstellt, [...] zu den ent-
scheidenden Wendepunkten der Bedeutungsgeschichte“15 des Spiegelbegriffs.16 Der Spiegel
als Kulturobjekt unterliegt historisch-kulturellen Evaluationen. Er ist kein neutral zu be-
schreibendes Objekt, sondern ein hochgradig aufgeladenes, mit Konnotationen und Assoziati-
onen besetztes Artefakt.
     Der Spiegel besitzt in der lebensweltlichen Erfahrung eigentümliche Anziehungskraft, die
in der Literatur häufig beschrieben wurde. Man fühlt sich mit dem Blick förmlich an- und in
ihn hineingezogen. Der Spiegel stiftet unweigerlich einen Selbstbezug, man kann nur schwer-
lich nicht hineinschauen, wenn man einen Spiegel sieht. Wer eine Einkaufsstraße entlang geht
und an einem Spiegel im Schaufenster vorbeigeht, wird häufig hineinsehen und sich darin er-
blicken. Eine Faszination des Spiegels liegt dabei möglicherweise in der Hoffnung, dass er
etwas Neues über einen selbst verraten könnte. Man könnte entdecken, dass die Frisur nicht
sitzt, oder dass man einen Fleck am Revers hat. Gerade Spiegel, die im öffentlichen Raum
platziert sind, besitzen eine solche Attraktivität, weil man in dem Moment, in dem man sich
im Spiegel sieht, gleichzeitig auch von Anderen gesehen wird (wenn auch nicht aus der Per-
spektive, die der Spiegel anbietet). Indem ich mich im Spiegel aus der Perspektive möglicher
Zuschauer betrachte und bewerte, werde ich zum Spiegel meiner selbst. Der physische Spie-
gel provoziert eine ‚intrasubjektive Intersubjektivität‘ und damit eine gewisse Selbstspaltung.
Hierin liegt eine Gefahr der Verdinglichung, die schon Nietzsche beunruhigt hat.17 So wie wir

15
     Konersmann, Spiegel, 1380.
16
     In der Philosophie zeichnet sich dieser Wandel im Verständnis des Spiegels besonders deutlich im Denken
     von Leibniz ab, der gegen Lockes These der Passivität des menschlichen Verstandes argumentiert. Vgl. hier-
     zu Albus, Weltbild und Metapher, 163.
17
     Vgl. hierzu Konersmann, Lebendige Spiegel, 18.

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im Blick der Anderen verobjektiviert werden können,18 so können wir uns auch selbst zum
Objekt werden, wenn wir uns im Spiegel betrachten – zum Objekt der Begierde (Narzissmus),
der vermeintlichen Optimierung (Schönheitswahn, Anorexie) oder der Abscheu (Scham und
Schuld).19
     Wie Konersmann in seiner philosophisch-kulturgeschichtlichen Analyse zeigt, ist die neu-
zeitliche Subjektivität von einem prekären Selbstverhältnis gekennzeichnet, das die Verwen-
dung der Spiegelmetapher für den menschlichen Bezug zu sich, zu Anderen und zur Welt na-
helegt. Ein eigener Standpunkt gegenüber der Geschichte muss in dieser Phase der
Geistesentwicklung gewonnen werden, zugleich will man sich aber in historischer Kontinuität
erfahren können. Traditionelle Orientierungsangebote verlieren ihre einheitsstiftende Kraft
und es bleibt mehr und mehr dem Individuum überlassen, sich in den unterschiedlichen Sinn-
horizonten zu verorten. Metaphorisch gilt es deshalb, eine Relation darzustellen, „in der das
Subjekt sich als sein Gegenstand reflektiert, der sich umgekehrt in ihm reflektiert“20. Hier bie-
tet der Spiegel ein Modell, in dem das Verhältnis von Selbst und Welt zu einer Adäquation
wird, da eine strenge Isomorphie zwischen Gespiegeltem und Spiegelbild herrscht. Ebenso
versinnbildlicht der Spiegel auch den reflektierenden Selbstbezug bzw. die Selbsterkenntnis
des Subjekts, das sich im Spiegelbild wiedererkennt. Der Spiegel „verbürgt dem Subjekt nicht
nur seine Präsenz, sondern auch seine Potenz.“21 Gleichzeitig gemahnt aber die Spiegelmeta-
phorik auch der Fragilität der Subjektivität. Der Spiegel kann brechen und zersplittern,
wodurch eine Vielzahl fragmentierter Perspektiven auf das Selbst entstehen, die es nicht mehr
zu einem kohärenten Selbstbild zu integrieren vermag.

3. Der Spiegel als Medium

Was sind nun die Eigenschaften des Spiegels als Medium, die zu den so skizzierten Metapho-
risierungen und Selbstverständigungen des Menschen Anlass geben? Drei augenscheinliche
Merkmale sind (1) die Objektivität, (2) der Präsentismus und (3) die vermeintliche Seitenver-
kehrung im Spiegelungsvorgang.
     Objektivität meint hier eine neutrale, rein an der Physis des Erscheinenden orientierte Wei-
se der Wiedergabe. In instrumenteller Hinsicht schätzt man den Spiegel dafür, dass er einen

18
     Sartre, Das Sein und das Nichts, Kap. „Der Blick“.
19
     Philosophische Kritik an katoptrischer Selbstkontrolle und -transparenz wird früh schon von Rousseau geäu-
     ßert, der die Geschichte der menschlichen Reflexivität als Verfallsgeschichte erzählt, als zunehmende Ent-
     fernung von der Natur und damit einhergehender Selbstentfremdung. Vgl. hierzu Konersmann, Lebendige
     Spiegel, 56.
20
     Konersmann, Lebendige Spiegel, 25.
21
     Ebd., 36.

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so wiedergibt, wie man tatsächlich, als Körper aussieht – das Spiegelbild ist das „ideale Ab-
bild“22 des Gespiegelten. Das Lob der Neutralität kann aber auch umkippen, man kann auf
den Spiegel schimpfen, etwa wenn man den eigenen Anblick im Spiegel nicht mehr erträgt,
sei es aus Scham über einen hässliches Mal am Körper oder die Zeichnung des Alters – „auch
neuer spiegel glättet alte runzeln nicht“23 –, sei es im übertragenen Sinne wegen begangener
Taten und auf sich genommener Schuld. Gleichermaßen schätzt man, im übertragenen Sinne,
den Anderen, wenn er einen so versteht, wie man ist, und dies auch so zurückspiegelt: „es
giebt keinen treuern spiegel als einen alten freund“24. Oder man schätzt derartige Ehrlichkeit
eben nicht. Das berühmte Beispiel des Sokrates, der den Athenern dialogisch den Spiegel
vorhält und sie als Unwissende entlarvt, illustriert dies paradigmatisch.25 In beiden Fällen
fungiert der Spiegel als Medium der Selbstkritik, das es erlaubt, sich sprichwörtlich an der ei-
genen Nase zu packen – und sich bei diesem selbstreflexiven Akt auch noch zu beobachten.26
Das von Charles Cooley Anfang des 19. Jahrhunderts systematisch terminologisierte „loo-
king-glass self“27 bringt diese Funktion der Selbstdisziplinierung, die auch bei Hume und
Adam Smith eine Rolle spielt, auf den Punkt. Noch weiter zurück lässt sich der Appellcharak-
ter des Spiegels zu den ‚Sünden-‘, ‚Zucht-‘ oder ‚Beichtspiegeln‘ verfolgen, die seit dem
Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert verbreitet waren und „vorschriften enthalten, sich in
der andacht zu üben, sein gewissen zu prüfen.“28 Was die Verwendung der Spiegelmetapher
im Bereich der Intersubjektivität betrifft, so finden wir hier nun bereits einen ersten sinnvollen
Übertragungspunkt. Der Andere erlaubt mir durch eine objektive, d.h. echte und ernstgemein-
te Darstellung meiner selbst einen Anhaltspunkt für Reflexionen, in denen ich mich selbst
thematisieren und prüfen kann.
     Die zweite oben genannte Eigenschaft, der Präsentismus des Spiegelungsvorgangs, be-
zeichnet die Tatsache, dass Spiegelbild und Spiegelgegenstand simultan, in synchroner Ab-
hängigkeit aufeinander verwiesen sind. Das Spiegelbild ist, wie noch zu explizieren sein wird,

22
     Peez, Die Macht der Spiegel, 397. Dies gilt jedenfalls für (nicht gekippte) Planspiegel, auf die sich unsere
     Ausführungen beschränken werden. Unebene Spiegel hingegen verzerren das Spiegelbild, z.B. erzeugen Ra-
     sierspiegel (Hohlspiegel bzw. Konkavspiegel) ein vergrößertes Spiegelbild, konvexe Verkehrsspiegel dage-
     gen erlauben, einen größeren Raum (etwa eine unübersichtliche Straßenkreuzung) auf einem kleineren Spie-
     gelbild zu überblicken.
23
     Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 16, 2230.
24
     Ebd., 2234.
25
     Der Spiegel galt lange als Metapher für Philosophie überhaupt, als Signum der Reflexivität des Denkens. Vgl.
     die Kritik der Spiegelmetapher für das neuzeitliche Philosophieverständnis Rorty, Philosophy and the Mirror
     of Nature, 12: „The picture which holds traditional philosophy captive is that of the mind as a great mirror,
     containing various representations – some accurate, some not – and capable of being studied by pure,
     nonempirical methods. Without the notion of the mind as mirror, the notion of knowledge as accuracy of rep-
     resentation would not have suggested itself.“
26
     Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 16, 2229: „sihe in deinen spiegel, nim dich selbs bey der nasen“.
27
     Cooley, Human Nature and the Social Order, 183.
28
     Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 16, 2236f.

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kein Bild im eigentlichen Sinne, da es sich nicht vom Spiegelgegenstand emanzipieren und
zum Werk werden kann (siehe Abschnitt 4). Es kann, mit anderen Worten, nicht repräsentie-
ren.29 Sobald sich etwas vor dem Spiegel befindet, wird es auch gespiegelt – das Spiegelbild
tritt in „Instantaneität“30 auf. Zu betonen ist hierbei die räumliche ebenso wie die zeitliche
Dependenz. „Über Zeit und Raum transportabel ist ein Spiegelbild nur als doppelte Repräsen-
tation“31, z.B. als Foto des Spiegelbildes. Ein fotografierter Spiegel verliert freilich seine
Funktionalität als Spiegel, wie ebenfalls noch zu erläutern sein wird. Was die Übertragung
des Spiegelmodells auf die Intersubjektivität angeht, so kann man behaupten, dass Präsenz
und Synchronie auch hier eine besondere Rolle spielen. Die leibliche Anwesenheit des Ande-
ren ermöglicht eine spezifische Form der Spiegelung, die in der fernmündlichen oder schrift-
lichen Kommunikation nicht möglich ist. In zwischenleiblichen Interaktionen wird viel un-
mittelbarer erlebt, wie der Andere auf meine Ausdrücke und Handlungen reagiert.
     Ein drittes häufig angeführtes Charakteristikum des Spiegels ist die vermeintliche Verkeh-
rung der Seiten. Die weit verbreitete Meinung, der Spiegel vertausche links und rechts, ist
aber, wie Umberto Eco verdeutlicht, unhaltbar, denn rein physikalisch betrachtet reflektiert
der Spiegel „rechts und links genau dort, wo rechts und links sind. Es ist der Betrachter [...],
der sich qua Identifikation mit seinem Abbild vorstellt, er wäre der Mensch im Spiegel, und
der dann, während er sich betrachtet, auf einmal entdeckt, daß er, sagen wir, die Uhr am rech-
ten Handgelenk trägt. Tatsache ist aber, daß er sie dort nur tragen würde, wenn er derjenige
wäre, der sich im Spiegel befindet (Je est un autre!).“32 Anders als die camera obscura ver-
kehrt also der Spiegel nichts, was er spiegelt, sondern gibt Punkt für Punkt, in parallelen, sich
nie überschneidenden Sichtstrahlen wieder, was sich vor ihm befindet. Um gegenüber der
Einsicht in die so erzeugte absolute Kongruenz die inadäquate Meinung der Spiegelverkeh-
rung zu vertreten, muss man sich als Betrachter in die Position des Spiegelbildes hineinbege-
ben, um dann festzustellen, dass man an der virtuellen rechten Hand eine Armbanduhr trägt,
während sich die Uhr eigentlich an der realen linken befindet. Ein Verständnis der Differenz
von Realität und Virtualität ist im Hinblick auf den Status des Spiegelbildes also implizit be-
reits vorausgesetzt. Dieses Differenzbewusstsein geht mit der Möglichkeit zur imaginativen
Transposition an einen virtuellen Ort und damit in eine andere Perspektive einher.

29
     Die Definition von Repräsentation, die diese Aussage rechtfertigt, besagt, dass A eine Repräsentation von B
     ist, wenn A für B steht, und zwar unabhängig davon, ob B anwesend ist oder nicht. Diese Definition wird
     vom Spiegelbild nicht erfüllt, da es selbst verschwindet, wenn das Spiegelobjekt vor ihm verschwindet. Das
     Spiegelbild kann nicht weiterbestehen und das Gespiegelte in Abwesenheit repräsentieren. Gewiss sind auch
     weniger voraussetzungsreiche Repräsentationsbegriffe möglich, mit denen das Spiegelbild als ‚instantane
     Repräsentation‘ bezeichnet werden könnte. Diesen Hinweis verdanke ich Thomas Fuchs.
30
     Faßler, Ohne Spiegel leben, 93.
31
     Kuhn, Spiegel, 375.
32
     Eco, Über Spiegel, 30f.

                                                                                                              7
Mit Blick auf die Intersubjektivität ist dieser Befund insofern aufschlussreich, als er den
Perspektivenwechsel ins Zentrum rückt, der notwendig wird, um die in der natürlichen Ein-
stellung verwurzelte, lebensweltlich einleuchtende, aber geometrisch gesehen irrige Annahme
der Seitenverkehrung zu teilen. Ein natürliches Verständnis des Spiegelungsphänomens im-
pliziert also eine imaginative, wenngleich nicht aktiv zu vollziehende, Transposition des
Selbst an den Ort hinter dem Spiegel, wo ein Anderer stehen könnte. Dass die Fähigkeit zur
Perspektivenübernahme und zum Perspektivenwechsel eine notwendige Bedingung für Empa-
thie ist, wird in der Entwicklungspsychologie ebenso wie in der Sozialphilosophie häufig be-
tont. Die Rede vom Anderen als lebendiger Spiegel plausibilisiert sich hier weiter, da diese
empathischen Fähigkeiten nur in den Interaktionen der primären und sekundären Intersubjek-
tivität erworben werden, in denen ein von zwischenleiblichen Mimesen strukturierter face-to-
face-Kontakt herrscht.33

4. Der Spiegel im intermedialen Vergleich

Setzen wir die Analyse der Eigenschaften des Spiegelbilds fort und vergleichen diese mit an-
deren Medien, so drängt sich eine offensichtliche, schon bei Plotin zu findende Unterschei-
dung auf, die den Produktionsvorgang betrifft. Plotin differenziert zwischen dem Gemälde als
geschaffenem und dem Spiegelbild als natürlichem Abbild.34 Einmal ist also ein produktives
Subjekt beteiligt, das sich aktiv und schöpferisch in den Bildprozess einbringt, einmal besteht
die Bildrelation nur zwischen dem passiven reproduktiven Spiegel und dem Abgebildeten.
Das Malen des Gemäldes ist ein zeitlicher Prozess, in dem Vorher und Nachher, Original und
Bild, durch die künstlerische Tätigkeit vermittelt werden. Das Spiegeln des Spiegels hingegen
ist ein rein mechanischer Vorgang. Während das Spiegelbild eine simultane Duplikation ist,
emanzipiert sich das Gemälde von dieser Präsenzbedingtheit und friert dabei das sich Bewe-
gende (das im Spiegelbild als Bewegtes in Bewegung erhalten bleibt) gleichsam ein. Mit die-
sem im Hinblick auf die Bewegung und Perspektivenflexibilität bedeutsamen Merkmal der
Konservativität geht die Unendlichkeit des Spiegelungsvorgangs einher. Es herrscht eine
Multiplizierbarkeit hintereinander oder einander gegenüber gestellter Spiegel bei gleichzeiti-
ger absoluter Präsenz der Referentenrelation35 – es ergibt sich eine Dialektik von Infinitismus
und Präsentismus.36

33
     Vgl. hierzu Fuchs, The Phenomenology and Development of Social Perspectives.
34
     Plotin, Enn VI, 4,10, zit. in Konersmann, Lebendige Spiegel, 81.
35
     Vgl. Konersmann, Lebendige Spiegel, 107f.
36
     In ähnlicher Weise kann man auch von der intersubjektiven Begegnung sagen, dass sie den Kern eines un-
     aufhörlichen Spiegelungsgeschehens, das als Dialog entfaltet werden kann, in sich trägt. In der Philosophie

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Anders als ein gemaltes Bild präsentiert der Spiegel das Urbild so, dass alle Merkmale, die
am Urbild selbst vorhanden sind, und nur diese, abgebildet werden. Das Portrait hingegen re-
präsentiert den Dargestellten im Sinne einer interpretierenden Reproduktion von Merkmalen
oder einer kreativen Produktion neuer Merkmale. Jedes Gemälde lässt, stellt man den Ver-
gleich mit dem Urbild her, Neues an seinem Gegenstand erscheinen oder Gleiches neu er-
scheinen – das gemalte Bild ist kein Abbild, auch wenn die Darstellung noch so naturalistisch
sein mag. Der Malvorgang lässt einen neuen Gegenstand, eben ein Werk, entstehen, dem
Spiegelbild kommt demgegenüber keine Gegenständlichkeit zu, denn es hebt sich selbst auf,
um das Gespiegelte abzubilden. Es „hat wirklich ein verschwindendes Sein. Es ist nur für den,
der in den Spiegel blickt, und ist über sein reines Erscheinen hinaus ein Nichts“37. Das Spie-
gelbild, so könnte man mit Gadamer sagen, erfüllt sich in seiner Selbstaufhebung. Im Gegen-
satz zum Bild der Malerei, das sein eigenes Sein gerade geltend macht, um das Dargestellte
sein zu lassen, verschwindet das Abbild hinter seiner Funktion. Andersherum lässt sich aber
sagen: Indem es sein An-sich-sein zugunsten des Für-mich-seins aufgibt, bezeugt sich das
Spielbild gerade in seinem Wesen als Abbild. Seine Selbstaufhebung ist ein „intentionales
Moment am Sein des Abbildes selbst“38, und es kommt wieder hinter seiner vermittelnden
Funktion hervor, sobald man eine andere Einstellung ihm gegenüber einnimmt. Will man den
Spiegel beispielsweise abwischen, wird er zum Haushaltsgegenstand, betrachtet man sich da-
nach wieder selbst in ihm, wird er erneut zum reinen Medium.39
     Ein weiterer Unterschied zwischen Spiegelbildern und gemalten Bildern sowie Fotos be-
trifft die Aspekte des Bildausschnitts und der Einstellung. Während diese bei Gemälden oder
Fotos durch die Wahl des Malers oder Fotografen festgelegt und uns als Betrachter vorgege-
ben sind, kann man sie als Spiegelbetrachter durch die freie Bewegung im Raum selbst variie-
ren.40 Um weitergehend zu überprüfen, wie sich der Spiegel im Vergleich zu anderen opti-
schen Medien verhält, ersinnt Eco ein „Experimentum crucis: man reproduziere einen Spiegel
in einer Fotografie, in einer Film- oder Fernsehaufnahme, in einem Gemälde. Diese Bilder

     ist die wesenhafte Unabschließbarkeit der interpersonalen Beziehung und des Dialogs häufig betont worden,
     womit aber auch eine ebenso wesenhafte Offenheit des Ausgangs impliziert ist. Bei der optischen Spiegelung
     ist der Ausgang nicht derart offen, weil die Referentenrelation und die Darstellungsweise ein für allemal
     festgelegt ist. Was bleibt ist die Präsenz der lebendig geteilten Gegenwart, die eine Verbindung herzustellen
     erlaubt. Der als Muster des Philosophen immer wieder herangezogene Sokrates verkörpert die Dialogidee im
     konkretesten Sinne. Er leitet die Anderen auf dem Marktplatz in echten Begegnungen zwischen sich wech-
     selseitig gegenwärtigen Personen an, sich auf den Weg der Wahrheitssuche zu machen, die selbst freilich ei-
     ne unendliche Aufgabe ist.
37
     Gadamer, Wahrheit und Methode, 143.
38
     Ebd.
39
     Die katoptrische Dialektik des Für-mich und An-sich wird im intersubjektiven Zusammenhang aufgebrochen
     durch die Tatsache, dass der Andere ebenso ein Für-sich hat, das dem Spiegel nicht zugesprochen werden
     kann, weil er nicht sehen kann.
40
     Vgl. Eco, Über Spiegel, 58.

                                                                                                                9
von Spiegelbildern funktionieren nicht als Spiegelbilder. Von Spiegeln gibt es keine anderen
Abdrücke oder Ikonen als weitere Spiegel.“41
     Spiegelbilder sind im Unterschied zu Gemälden oder Fotos, wie hierdurch gezeigt wird,
nicht transmedial iterierbar. Bilder können als Bilder erhalten bleiben, wenn sie in andere
Medien (Bilder, Filme, auch Spiegel) eingebettet werden bzw. in diesen erscheinen. Sehen
wir ein Bild in einem Foto, so ist uns sein Bildcharakter bewusst, d.h. das abgelichtete Bild
fungiert weiterhin als Bild, das von den anderen Gegenständen im Bildraum des Fotos unter-
schieden ist. Spiegelbilder hingegen transformieren sich, wenn sie in anderen Medien er-
scheinen. Betrachten wir einen fotografierten Spiegel, so ist uns selbstverständlich bewusst,
dass wir es mit einem Spiegel zu tun haben, doch fungiert er in diesem Moment eben nicht
mehr als Spiegel, da sich in ihm nichts in Abhängigkeit vom Beobachter (uns selbst) spiegelt.
Es gibt nur ein Medium, in dem diese Funktionalität des Spiegels bei Einbettung erhalten
bleibt, und das ist wiederum der Spiegel. Ein Spiegel, der sich in einem anderen Spiegel spie-
gelt, spiegelt eigentlich nicht sich, sondern leitet den von ihm gespiegelten Gegenstand an den
ihn spiegelnden Spiegel weiter – es herrscht eine intramediale Iterabilität.
     Eine Ausnahme mag der folgende Fall darstellen: Man stelle sich vor, ein Betrachter sitzt
unbewegt vor einem Spiegel, der an einer Wand hängt, und betrachtet sich frontal in diesem
Spiegel. Angenommen, man könnte mit einer versteckten Kamera aus der Augenposition des
Betrachters heraus ein Foto schießen, so könnte ein Abzug erstellt werden, der – bei entspre-
chender Vergrößerung und Feinkörnigkeit – genau dem visuellen Eindruck des Betrachters
entspricht. Würde man ihm während eines Lidschlags, bei weiterhin fixierter Augen- und
Körperstellung, diesen Abzug vorsetzen, so dass seine periphere Wahrnehmung nicht über
den Bildrand hinausreicht, so könnte er höchstwahrscheinlich nicht zwischen seiner vorheri-
gen Spiegelwahrnehmung und seiner jetzigen Fotowahrnehmung unterscheiden. Erst wenn er
beginnt, sich vor dem Foto zu bewegen, merkt er, dass sein Gesicht im (fotografierten) Spie-
gel eingefroren ist, sich also nicht in Abhängigkeit von seinen Bewegungen modifiziert. In
diesem Moment erkennt er, dass er einer Illusion unterlegen ist. Transmediale Iterabilität
hängt, wie man ausgehend von diesem konstruierten Beispielfall erkennen kann, eng mit dem
Aspekt der Bewegung zusammen. Auch ein Film erhält seine Funktionalität nur, wenn er
wiederum in einen Film eingebettet wird. Einen fotografierten oder gemalten Film gibt es
nicht, höchstens Fotos oder Gemälde einzelner Filmszenen. Ein Film im Film hingegen fun-
giert immer noch als Film. Dynamische Medien wie Spiegel und Film sind also nur intrame-
dial iterierbar, statische Medien wie Gemälde und Fotos hingegen auch transmedial.

41
     Ebd., 61.

                                                                                            10
Versucht man die Metaphorik des Spiegels erneut im Bereich der Intersubjektivität mit
phänomenalen Qualitäten anzureichern, muss die Dynamik des Spiegelungsvorgangs eben-
falls einbezogen werden. Der Andere ist in einem radikaleren Sinne ein dynamisches Medium
meines Selbst- und Fremdbezugs, weil er nicht nur, wie der physische Spiegel, mich in mei-
ner Bewegung als Bewegten und Sich-Bewegenden zur Erscheinung bringt, sondern sich
durch seine Eigenbewegung in den Prozess der wechselseitigen Spiegelung einbringt. Wie der
Andere meinen Horizont erweitert, lässt sich mit Rekurs auf die Intermedialität der Spiegel-
funktion erläutern. In der Malerei sind Spiegel häufig eingesetzt worden, um etwas zur Dar-
stellung zu bringen, was entweder lateral schon im Bildraum sichtbar ist, oder was ohne ihre
Hilfe unsichtbar bliebe. Die Fülle der bildnerischen Umsetzungen der Spiegelfunktionen ver-
weist auf die transmedialen Beziehungen, die den Spiegel als Verbindungsglied zwischen den
Ebenen der Sichtbarkeit auszeichnen.
     Im Anschluss an Michel Foucaults berühmtes Kapitel „Die Hoffräulein“ in Die Ordnung
der Dinge42 können wir erneut, in leicht modifizierter Weise, zwischen reproduktiven Spie-
geln, die das ohnehin im Wahrnehmungs- oder Bildraum Vorhandene reduplizieren, und pro-
duktiven Spiegeln, die Nicht-Gegebenes oder Unsichtbares sichtbar machen, den Blick also
auf etwas Neues öffnen, unterscheiden. An zwei bedeutenden Werken der Kunstgeschichte
lassen sich diese beiden Modalitäten nachvollziehen. Im Spiegel von Las Meninas43 sehen wir
dasjenige, was die Figuren im Bild (Maler, Infantin, etc.) sehen, nämlich das Königspaar, das
von Velázquez gemalt wird. Aber nicht die Zuschauer im Bild spiegeln uns das Paar, sondern
der Spiegel. Er zieht uns gleichsam in ihren Blick hinein, vermittelt ihre Perspektive auf das
außerhalb des Bildes Befindliche. Spiegelung ist hier die Vermittlung des Blicks der Anderen.
     Anders ist die Lage bei der Arnolfini-Hochzeit44: Hier zeigt der Spiegel nicht, was die An-
deren sehen (denn im Bildhintergrund befindet sich niemand), der Spiegel vervollständigt
vielmehr den Blick und bietet eine neue Ansicht auf das ohnehin schon Sichtbare – wiederum
handelt es sich um ein Paar. Darüber hinaus öffnet dieser Spiegel, da er ein Konvexspiegel ist,
den Bildraum auf seitlich liegende Dinge, die man von vorne nicht direkt ansichtig hat. In Las
Meninas zeigt der Spiegel demgegenüber das für die Figuren direkt sichtbare, aber für den
Betrachter unsichtbare Paar. Hierdurch wird keine Abschattungsergänzung zu einem bereits
Sichtbaren vorgenommen, sondern etwas durch die Spiegelung allererst sichtbar gemacht.
     Diese beiden Modalitäten fasst Hermann Asemissen als Formen der komplementären Dar-
stellung durch den Spiegel: „Der eine Typus erweitert die Darstellung des Bildes, indem er im

42
     Foucault, Die Ordnung der Dinge, 31-45.
43
     Velázquez, Las Meninas (1656), Öl auf Leinwand, Museo del Prado, Madrid.
44
     Van Eyck, Arnolfini-Hochzeit (1434), Öl auf Holz, National Gallery, London.

                                                                                             11
Spiegel etwas zeigt, das im Bild selbst nicht dargestellt ist, weil es sich außerhalb des Bild-
raums – in der Regel ihm gegenüber – befindet. Der andere Typus ergänzt die Darstellung
immanent, indem er im Spiegel einen weiteren Aspekt des im Bild Dargestellten sichtbar
macht.“45 Phänomenologisch könnte man ergänzen, der erste Typus erweitert das Bild durch
Aspekte, die dem Außenhorizont des im Bild Gegenständlichen angehören. Hierdurch wird
eine neue Perspektive eingeführt, die aus dem dargestellten Bildraum hinausweist. Der zweite
Typus hingegen erhellt den Innenhorizont des Bildes, indem weitere Abschattungen des im
Bildraum Befindlichen anschaulich gemacht werden.
     Was könnten diese Modi der komplementären Sichtbarmachung im Bereich der Intersub-
jektivität bedeuten? Zum einen kann der Andere Unsichtbares für mich erscheinen lassen, in-
dem er einen neuen Außenhorizont eröffnet, in den ich mich hineinbegeben kann. Er kann
mich im einfachsten Fall der gegenständlichen Wahrnehmung auf etwas hinweisen, dass au-
ßerhalb meines Sichtfeldes liegt. Aber auch im kognitiven Sinne kann er meinen Horizont er-
weitern, indem er Kenntnisse sprachlich artikuliert und mir zugänglich macht, die einen neu-
artigen, sinnvollen Zusammenhang mit meinem Wissen bilden können. Zum anderen kann er
Sichtbares anders erscheinen lassen, indem er mich auf bestimmte Aspekte der gemeinsam
betrachteten oder verhandelten Sache hinweist, die mir alleine entgangen wären. Im Hinblick
auf dasjenige, was ich auch sehe oder anderweitig mental präsent habe, eröffnet er mir durch
seine Perspektive also einen erweiterten Innenhorizont.46 Der Andere ergänzt also mein Se-
hen, aber weil er selbst ein Sehender ist, vervollständigt er es auch und macht dadurch ein
Selbsterblicken und Selbsterkennen erst möglich.

5. Spiegel und Blick

Vom Spiegel wird man nicht erblickt, sondern man erblickt sich in ihm nur selbst. Der Ande-
re hingegen erblickt mich und ich erblicke ihn. Der Selbstbezug ist in beiden Fällen ein ande-
rer. Beim Blick in den Spiegel erkenne ich mich als mich selbst, beim Blick ‚in den Anderen‘
erkenne ich mich als von ihm Erkannten. Die unterschiedlichen Blickarten, die aus den Ver-
schachtelungen von Blickrichtungen, Selbst- und Fremderkennen erwachsen, sollen im Fol-
genden differenziert werden. Zunächst ist zu sagen, dass von einem Selbstbezug – logisch wie
genetisch – nur die Rede sein, wenn es kontrastiv auch einen Fremdbezug gibt. Die Spiegel-
metapher kann jedoch so gelesen werden, dass der Spiegel eine Selbstbezüglichkeit verbürgt,

45
     Asemissen, Bild und Spiegelbild, 26.
46
     Die anthropologische Dimension solchen Zeigens und Verweisens wird gegenwärtig intensiv beforscht. Vgl.
     Radman, The Hand, an Organ of the Mind; Tomasello, Why We Cooperate.

                                                                                                         12
die Fremdheit vermeidet, da der Spiegelblick den Blick des Anderen als Anderen ausschließt
und in reiner Abbildlichkeit das Selbst zur Erscheinung bringt. Das Selbst als Oberflächener-
scheinung ist vom Selbst als selbstbewusstem und erkanntem zu unterscheiden. Schon Aristo-
teles spricht deshalb bei einem sich im Spiegel erblickenden Menschen nicht von einem genu-
inen Selbst-Bezug, sondern von einem Gesichts-Bezug, wie Rainer Marten zitiert: „‚wenn wir
unser Gesicht sehen wollen, sehen wir in den Spiegel, wenn uns selbst, auf den Freund, denn
er ist, wie wir sagen, das andere Ich (heteros ego)‘. Nach dieser Unterscheidung von Spiegeln
und Erkennen ist allein der Sichselbsterkennende nicht autark, sondern bedarf des freund-
schaftlichen Anderen, während der Sichspiegelnde für vollends selbstgenügsam gilt.“47
     Ein Selbstbezug, der einem Selbsterkennen gleichkommt, muss durch den Anderen geleis-
tet werden, durch seine empathische Zuwendung. Die Sterilität des physischen Spiegels, in
der der Schauende lediglich sein ‚Gesicht‘, nicht aber sein ganzes Selbst erblickt, steht der
Affizierbarkeit durch die Einfühlungsakte des Anderen entgegen. Der Andere erst komplet-
tiert des Einen Selbstbild, indem er ihm erlaubt, sich selbst anders zu sehen, während der
Spiegel stets nur ermöglicht, sich gleich zu sehen. Schon hier ist also die geistesgeschichtlich
zentrale Weichenstellung getroffen, die zwischen toten und lebendigen Spiegeln unterschei-
den lässt. Dennoch, so betont Marten, inhäriert der Selbstbespiegelung im physischen Spiegel
durchaus eine Dimension der Öffentlichkeit und der Einsicht in die Perspektiven der Anderen.
„Jede Spiegelung, auch die vermeintlich rein subjektive, ist öffentliche Selbstauslegung.“48
Im Spiegel sehen wir uns so, wie auch Andere uns sehen würden, allerdings erzeugt der Spie-
gel eine gewisse Frontalillusion. Wie Maurice Merleau-Ponty bemerkt, begegnet uns der An-
dere nie ganz frontal, sondern lateral, indem er in unseren Sehhorizont einbricht, uns auffällt
und aufmerken lässt.49 Insofern liefert der Spiegel eine idealtypische Ansicht unserer selbst,
die der faktischen Sichtweise eines Anderen in der Begegnung wohl nie ganz entspricht.
     Eine Korrelation, wenngleich meist eine asymmetrische, besteht im intersubjektiven Spie-
gelungsgeschehen stets zwischen den Modi der Visibilität im objektiven Sinne des Erblickt-
werdenkönnens und im subjektiven Sinne des Blickens. Im ersten Fall geht es um die Frage,
wie etwas oder jemand überhaupt erscheint, im zweiten darum, wie man sehend auf Erschei-
nendes gerichtet ist. Zur Illustration dieser Korrelativität können unterschiedliche Blickfor-
men herangezogen werden, wie etwa der narzisstische, der voyeuristische oder der exhibitio-
nistische Blick. 50 Beim narzisstischen Blick handelt es sich der Struktur nach um eine

47
     Marten, Der menschliche Mensch, 8. Vgl. Aristoteles, Magna Moralia, II 15 1213a 21.
48
     Ebd., 9.
49
     Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, 149. Vgl. hierzu Waldenfels, Sinne und Künste im Wechselspiel, 102.
50
     Vgl. hierzu Marten, Der menschliche Mensch, 13ff.

                                                                                                              13
Personalunion von Sehen und Gesehenwerden. Der Narzisst ist Subjekt und Objekt desselben
Blickvorgangs, er ist bei sich selbst wie bei einem Anderen. Dies macht ihn zum Gegenstück
des Voyeurs, der selbstverloren beim Anderen ist. Der voyeuristische Blick besteht aus einem
Sehen ohne Gesehenwerden, der Voyeur spiegelt nicht und wird nicht gespiegelt. Seine
Selbstverlorenheit (Nicht-Gespiegeltwerden durch den Anderen) kombiniert sich mit einer
Fremdverborgenheit (Nicht-Spiegeln des Anderen) – jedenfalls so lange, bis er ertappt wird.51
Im Exhibitionismus finden wir schließlich ein Gesehenwerden ohne Sehen, dessen Besonder-
heit darin besteht, dass das Sich-sehen-Lassen nicht kommunikativ ist wie das intersubjektive
Spiegeln sonst, da die Anderen nicht sehen wollen, was der Exhibitionist von sich preisgibt.
Der Exhibitionist fungiert gleichsam wie ein Zerrspiegel, der mehr zeigt, als eigentlich zu
spiegeln wäre. So konstituiert sich in den unterschiedlichen Blickformen ein Spektrum von
Untertreibungen und Überbietungen, die den Bereich der Visibilität strukturieren. Ein idealty-
pisches Regulativ stellt hierbei die von Georg Simmel beschriebene Symmetrie des Sich-
gegenseitig-Anblickens dar52 – hier bedeutet Spiegelung wechselseitiges Blicken und Er-
blicktwerden, Anerkennen und Anerkanntwerden.

6. Spiegeln und Wiedererkennen

Entlang der gedanklichen Linie, die vom Wahrnehmen und Erkennen zum Wiedererkennen
und Anerkennen – gleichsam vom Perzeptiven zum Personalen – führt, lässt sich auch die
Spiegelmetaphorik ausweiten. Alles, worin der Mensch sich erkennt, könnte dann als Spie-
gelbild seiner selbst betrachtet werden.53 Ein solches Wiedererkennen wäre jedoch zunächst
wiederum metaphorisch zu verstehen, wobei die Metapher unterschiedlich ausgedeutet wer-
den kann. Worin kann man sich überhaupt wiedererkennen und welcher Begriff legt sich ab-
hängig von der Sache, in der man sich wiedererkennt, nahe? Weiterhin lässt sich fragen, als
was man sich jeweils wiedererkennt. Eine Antwort müsste die komplexe Struktur des ‚Sich-
Wiedererkennens als etwas in etwas‘ erhellen, denn offensichtlich kann man sich – freilich
auf jeweils recht unterschiedliche Weise – in ‚Personen‘, in ‚Dingen‘ (z.B. Kunstwerken, mit
deren ‚Geist‘ man sich verbunden fühlt) ebenso wie in ‚Situationen‘ wiedererkennen (z.B.
wenn man glaubt, an einem Ort schon einmal gewesen zu sein und eine unbestimmte Ver-
trautheit spürt). Personale, okjektuale und situationale Modi der Wiedererkennung können
daher unterschieden werden, woraus sich dynamische Wechselwirkungen ergeben, die phä-

51
     Vgl. die bekannte Schlüssellochszene bei Sartre, Das Sein und das Nichts, 467.
52
     Simmel, Soziologie, 723.
53
     Vgl. Marten, Der menschliche Mensch, 45f.

                                                                                           14
nomenologisch detailliert zu erforschen wären. Im Folgenden beschränken wir uns auf die
Wiedererkennung des Selbst im Anderen.
     Besonders prägnant ist bei dieser personalen Wiedererkennung die Funktion von Vorbil-
dern, an denen man sich orientiert. Im Unterschied zu habituellen Beeinflussungen, etwa
durch Verhaltensmuster der Eltern, die man übernimmt, stellt das bewusst gewählte Vorbild
einen Aspekt, den man selbst entweder auch hat, oder den man gerne hätte, in idealer Weise
dar. Wenn man den eigenen Mangel im Vergleich mit dem Vorbild erkennt, so erkennt man
sich wieder in seiner Defizienz im Hinblick auf bestimmte Charaktereigenschaften oder be-
stimmte Handlungsbereiche (z.B. sportliche, wissenschaftliche oder politische Leistungen).
Differenzbewusstsein bei gleichzeitiger Idealisierung und Identifikation sind konstitutive
Momente der personalen Relation zwischen Vorbild und Selbst. Das Vorbild wird verehrt,
weil es in einem entscheidenden Punkt vom eigenen Selbst abweicht, in einer entscheidenden
Hinsicht ‚besser‘ ist als man selbst. Man identifiziert sich mit dem Vorbild, kommt ihm
dadurch emotional nahe und überbrückt kompensatorisch die Kluft, die objektiv besteht. In
der Verehrung steckt aber häufig auch ein Element der Verherrlichung, die diese Kluft einer-
seits noch deutlicher hervortreten lässt, andererseits aber auch eine Projektionsfläche für die
eigene Identifikation bietet. Die personale Wiedererkennung im Vorbild hängt wesentlich von
einer Differenz ab, die es zwischen Urbild und Abbild bzw. zwischen Selbst und Spiegelbild
nicht gibt.
     Die personale Wiedererkennung kann auch als emotionale Reaktion auf den Zustand eines
Anderen erlebt werden, den man beobachtet oder direkt miterlebt und dabei erkennt, dass man
eine gemeinsame Erfahrungsgeschichte hat oder einen ähnlichen Erfahrungshorizont wie der
Andere besitzt. Ich erkenne mich in dem Anderen wieder, weil ich bemerke, dass es mir auch
schon einmal so ergangen ist, wie es ihm jetzt ergeht.54 Ich analogisiere den Anderen hierbei
mit meinem vergegenwärtigten Selbst. Wenn die Analogie besonders streng ist und gleichzei-
tig die Differenz der gegenwärtigen Zustände des Anderen und des Selbst besonders stark, so
kann sich ein intensives Mitgefühl einstellen. Wenn ich mich plastisch daran erinnere, wie
traumatisch ein bestimmtes Erlebnis für mich in der Vergangenheit war, während ich einen
Anderen sehe, dem jetzt gerade dies widerfährt, dann kann mein Mitleid nicht nur besonders
intensiv werden, sondern gewinnt durch die Erfahrungssättigung auch an ‚Authentizität‘, die
dem Bemitleideten zurückgespiegelt wird.
     Gegenüber der personalen kann man die physische Spiegelung als eine spezielle Form des
selbstbewussten Sich-Wiedererkennens verstehen, und zwar als eine im wahrsten Sinne ober-

54
     Vgl. zum Kriterium des geteilten Erfahrungshorizonts Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, 500f.

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flächliche, weil es zunächst nur um meine körperliche Außenerscheinung geht. Diese Wieder-
erkennung ist unmittelbar, weil ich mir selbst erscheine: Es gibt keine Zwischeninstanzen. Im
strengen Sinne handelt es sich gar nicht um ein Wiedererkennen, sondern ein schlichtes Er-
kennen, da die Spiegelung eine Präsentation (Gegenwärtigung) und keine Repräsentation
(Vergegenwärtigung) ist.
   Untersuchen wir phänomenologisch die intentionale Struktur des Sich-Wiedererkennens
genauer, so können wir eine aktive von einer passiven Dimension dieses Prozesses unter-
scheiden. Aktiv kann ich mich beispielsweise auf die Suche nach Identifikationsfiguren bege-
ben, in denen ich mich wiederzufinden hoffe, die mir in der Spiegelung einen Anhalt für die
Konstruktion meines Selbstbildes geben können. Hier besteht freilich die Gefahr, dass ich zu
viel in den idealisierten Anderen hineinprojiziere, so dass ich ihn seiner potentiellen lebendi-
gen (eigeninitiativ gestalteten und aus seiner Individualität und Eigensinnigkeit entspringen-
den) Spiegelungsfähigkeit beraube. Durch eine übertriebene Identifikationsanstrengung mit
dem Spiegelbild, das er mir zurückwirft, entsteht die Gefahr, ihn zu einem toten Spiegel, zu
einer passiven Oberfläche zu machen. Je aktiver ich in den Spiegelungsvorgang einsteige,
desto passiver wird der Andere als lebendiger Spiegel.
   Auch historische oder literarische Figuren können als lebendige Spiegel fungieren, und
zwar dann, wenn man sich auf sie einlässt, ihrer Entfaltung in der eigenen Auseinanderset-
zung Raum gibt und die eigenen Projektionen mit objektiven Kriterien (die vom Autor oder
der Geschichte stammen können) in Zusammenhang bringt. Lebendigkeit heißt hier nicht,
dass mir ein lebendiges Gegenüber begegnet, sondern die Lebendigkeit bezieht sich auf den
hermeneutischen Prozess, der durch Spiegelung und Identifikation eingeleitet und durchge-
führt wird. Lebendig ist dieser Interpretationsvorgang dann, wenn sich eine dialogische Situa-
tion von Eigen- und Fremddeutung ergibt, zu der unterschiedliche Quellen hinzugezogen
werden können.
   Passiv ist die Spiegelung dann, wenn der Andere mir im sprichwörtlichen Sinne einen
Spiegel vorhält, mich also zwingt, auf mich selbst zu reflektieren und mich zu rechtfertigen.
Hierin steckt ein zwanghaftes Moment, das aber durchaus positiv bewertet werden kann, näm-
lich dann, wenn es mir eine Möglichkeit eröffnet, mich selbst (als Selbst und in Bezug zu An-
deren) aus einer anderen Perspektive kennenzulernen und zu verstehen. Typische Instanzen,
die einen derartigen Selbstbezug schaffen können, indem sie das Selbst gleichsam herausfor-
dern oder gar zwingen – ihm gleichsam den Spiegel vorhalten –, sind Freunde und Therapeu-
ten, aber auch religiöse oder gesetzliche Instanzen sowie fremde Kulturen.

                                                                                             16
Der physische Spiegel, der mir vorgehalten wird, bestätigt meine Körpererscheinung und
lässt mich mich als Leibkörper wiedererkennen – als der Körper, den ich habe und der iden-
tisch ist mit dem Leib, der ich diesseits des Spiegels bin. Der Andere als sozialer Spiegel da-
gegen kann mir über die Leibkörperlichkeit hinaus mein Selbst, meine Persönlichkeit, meine
Charakterzüge, etc. bestätigen, aber auch bewerten und zur Neubewertung auffordern. In die-
ser Aufforderung steckt für mich die Möglichkeit, mich selbst wiederzuerkennen als sozialer
Handelnder, der auf Andere wirkt und von diesen bewertet wird – nicht nur und nicht wesent-
lich, was die äußerliche Erscheinung, sondern die sozialen Verhaltensweisen, angeht.55

7. Spiegeln und Anerkennen

An dieser Stelle ist es notwendig, das Verhältnis von Sichtbarkeit und Wiedererkennung nä-
her zu beleuchten. Einen Ansatzpunkt hierfür liefert Axel Honneth, der zwei Formen von
Sichtbarkeit unterscheidet, nämlich eine physische und eine soziale. Durch physische Sicht-
barkeit ist der Mensch genauso charakterisiert wie alle anderen Dinge, die mindestens eine
opake Schicht haben. Im Modus dieser Sichtbarkeit wird der Mensch wahrgenommen, er im-
pliziert „eine elementare Form der individuellen Identifizierbarkeit und stellt dementspre-
chend eine erste, primitive Gestalt dessen dar, was wir ‚Erkennen‘ nennen“56. Die soziale
Sichtbarkeit übersteigt dieses Erkennen, da sie zu einer ‚Anerkennung‘ der anderen Person
aufruft. „Während wir mit dem Erkennen einer Person deren graduell steigerbare Identifikati-
on als Individuum meinen, können wir mit ‚Anerkennung‘ den expressiven Akt bezeichnen,
durch den jener Erkenntnis die positive Bedeutung einer Befürwortung verliehen wird.“57
     Die an der sozialen Visibilität sich festmachende Anerkennung, kann auf unterschiedliche
Arten ausbleiben, wenn der Eine den Anderen nicht wahrnimmt. Honneth führt drei Formen
von Unsichtbarkeit an, die durch je spezifische Vollzugsweisen des intersubjektiven Blicks
bzw. der Aufmerksamkeit geprägt sind, nämlich (1) durch eine harmlose Unaufmerksamkeit,
z.B. wenn man auf einer Party in der Menschenmenge einen Freund nicht grüßt, weil man mit
anderen Gesprächen beschäftigt ist; (2) durch selbstvergessene Ignoranz, die etwa ein Haus-
herr einer Reinigungskraft gegenüber an den Tag legen kann; (3) durch demonstratives Hin-

55
     Man könnte versucht sein, auch dem physischen Spiegel eine solche Funktionalität zu unterstellen, wenn
     man anhand des Spiegelbildes beispielsweise erkennt, dass man zugenommen hat, sich infolgedessen über
     habituell gewordene Bewegungsfaulheit oder Fresssucht ärgert und schließlich als charakterschwachen Men-
     schen kritisiert. Dennoch ist der Spiegel hierbei nur Anlass für eine Selbstreflexion, in den weiteren Aus-
     handlungsprozess der durch ihn gewonnenen Erkenntnis kann er sich nicht aktiv einbringen wie die beraten-
     de Stimme eines Anderen.
56
     Honneth, Unsichtbarkeit, 13.
57
     Ebd., 15.

                                                                                                             17
durchsehen, das z.B. ein Rassist gegenüber Mitgliedern bestimmter Ethnien praktizieren
mag.58 Soziale Unsichtbarkeit kann sich also durch Unaufmerksamkeit der Beteiligten sowie
durch zu große Selbstreferentialität eher passiv einstellen, oder aber sie kann aktiv hergestellt
werden. Sie impliziert hier wie dort ein Ausbleiben von Ausdrucksformen aus der Klasse der
„befürwortenden Gesten und Mienen“59 und zeigt damit die Rückgebundenheit der sozialen
Visibilität an die leibkörperliche Expressivität.60 Der Andere ist ein lebendiger Spiegel meiner
selbst, sofern er expressiv auf mich reagiert, d.h. wenn mein Ausdruck ihn nicht ‚kalt lässt‘,
sondern wenn er sich – willkürlich (wie in der Anteilnahme) oder unwillkürlich (wie bei der
Gefühlsansteckung) auf mich einlässt. Hierdurch bestätigt der Andere meinen ‚Wert‘ als In-
teraktionspartner.
     Der Gesichtsausdruck des Anderen stellt gewissermaßen einen „Spiegel der eigenen intel-
ligiblen Potentiale“61 dar – er aktualisiert vor meinen Augen die Möglichkeit des Perspekti-
venwechsels. Der physische Spiegel konfrontiert mich zunächst mit meiner Sichtbarkeit und
bestätigt diese positiv. Er kann mich aber weder als Unsichtbaren setzen, noch als Abwesen-
den anwesend sein lassen. Der Andere hingegen kann mich durch sein Verhalten mir gegen-
über unterschiedlich spiegeln. Wenn er mir anerkennend gegenübertritt, so bestätigt er meine
soziale Sichtbarkeit, auf meine physische Sichtbarkeit kommt es hierbei nur mittelbar an. Be-
handelt er mich aber wie einen Unsichtbaren, so beraubt er mich meiner sozialen Visibilität,
bestätigt in ihrer Negation aber zugleich meine physische.
     Der Andere ist nie ganz transparent, auch nie ganz opak, sondern immer auch reflektie-
rend, d.h. er spiegelt mir etwas von mir selbst zurück. Dies geschieht nicht im Sinne eines
physischen Reflexionsvorgangs, der den Kausalgesetzen der Optik gehorcht und mir ein vir-
tuelles Duplikat meiner selbst (meines Körpers) gibt, sondern im Sinne eines gebrochenen
Bildes meiner selbst (meiner personalen Einheit) – durch die zwischenleiblich erfahrbare
Charakteristik seiner Erscheinung, seines Auftretens oder seiner Haltung.
     Husserls Formulierung, der Andere sei „Spiegelung meiner selbst, und doch nicht eigent-
lich Spiegelung; Analogon meiner selbst und doch wieder nicht Analogon im gewöhnlichen
Sinne“62 kann, wenn man die Eigenaktivität des Anderen im intersubjektiven Spiegelungspro-
zess einbezieht, so weitergedacht werden, dass es einen eigentümlichen Bruch in der Abbild-
relation gibt, der physische von personalen Spiegelungen unterscheidet. ‚Für‘ den physischen
Spiegel komme ich als Gespiegelter nur als Körper in Frage; meine Leiblichkeit kommt dann

58
     Ebd., 12.
59
     Ebd., 17.
60
     Vgl. hierzu auch Müller, Im Vorfeld der Personalität.
61
     Ebd., 26.
62
     Husserl, Cartesianische Meditationen, 125.

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