"Ihr könnt mich mal" SPIEGEL-Gespräch Der eine konnte noch nie etwas mit Amerika anfangen, bei dem anderen ist es - Gregor Schöllgen

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"Ihr könnt mich mal" SPIEGEL-Gespräch Der eine konnte noch nie etwas mit Amerika anfangen, bei dem anderen ist es - Gregor Schöllgen
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                           »Ihr könnt mich mal«
 SPIEGEL-Gespräch Der eine konnte noch nie etwas mit Amerika anfangen, bei dem anderen ist es
             enttäuschte Liebe – in ihrer Kritik an den USA aber sind sich Altkanzler
Gerhard Schröder und der Historiker Gregor Schöllgen einig. In ihrem Verständnis für Russland auch.

Schröder, 76, federt durch das Büro seiner              delt, als würden sie auf Augenhöhe stehen.      SPIEGEL: Sie erwarten also von Biden kei-
Anwaltskanzlei in Hannover. Auf den Ti-                 Deshalb muss man damit rechnen, dass            nen Aufbruch?
schen liegen Kunstbücher, auf dem Boden                 auch für Trumps Nachfolger Joe Biden erst       Schröder: Der Ton wird sicher konzilian-
zwei Hanteln. Der Altkanzler begrüßt                    einmal America First gelten wird.               ter und manche Kontroverse gelöst wer-
Schöllgen, 69, der direkt vom Bahnhof                   Schöllgen: 74 Millionen Amerikaner ha-          den. Aber das transatlantische Verhältnis,
kommt und noch seine Maske trägt. Der re-               ben Trump gewählt. Die meisten von ih-          wie wir es über Jahrzehnte gekannt haben,
nommierte Historiker aus Erlangen hat vor               nen wollen offenbar keine klassische Part-      ist Geschichte. Trump hat nur zerschlagen,
Jahren eine dickleibige Schröder-Biografie              nerschaft mehr. Damit hat sich eine Ent-        was ohnehin nicht zu retten war.
verfasst. Regelmäßig diskutieren die beiden             wicklung bestätigt, die wir schon seit eini-    SPIEGEL: Über die USA schreiben Sie in
über die Weltlage. Aus diesen Gesprächen                ger Zeit beobachten.                            Ihrem Buch kaum Gutes. Ihr Vorvorgän-
ist jetzt ein gemeinsames Buch entstanden,
das in diesen Tagen erscheint. Es trägt den
Titel »Letzte Chance. Warum wir jetzt eine
neue Weltordnung brauchen«*. Ja – warum
eigentlich?

SPIEGEL: Herr Schröder, Herr Schöllgen,
was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie
die Bilder der Erstürmung des Kapitols in
Washington sahen?
Schröder: Ich habe mir nicht vorstellen
können, dass ein US-Präsident zu einem
Sturm auf das Kapitol aufruft, um das
Weiße Haus nicht räumen zu müssen. Klar
ist ja, dass Trump die Aggressivität der
Demonstranten noch befeuert hat, als er
sie aufforderte, zum Kapitol zu ziehen.
Schöllgen: Mich hat das Szenario über-
rascht, nicht aber die Eruption an sich. Ich
habe Anfang der Neunzigerjahre in Ame-
rika gelebt. Schon damals hatten viele wei-
ße Amerikaner das Gefühl, ins Hintertref-
fen zu geraten. Trump hat diese Karte
ohne jeden Skrupel gespielt.
Schröder: Seit es die Tea-Party-Bewegung
gibt, musste man mit solchen Entgleisun-
gen rechnen. Was sich in den USA in letz-
ter Zeit abgespielt hat, war mehr, als eine
zivilisierte Gesellschaft ertragen kann. Neh-
men Sie den Mord an dem Schwarzen
George Floyd, dessen Satz »I can’t breathe«
um die Welt ging. Trump hat das Vorgehen
der Polizei ja quasi gerechtfertigt.
SPIEGEL: War Trump vielleicht nur ein Be-
triebsunfall in der US-Geschichte?
Schröder: Was seine Aggressivität angeht,
ja. Und auch was seine Verachtung demo-
kratischer Institutionen betrifft. Aber außen-
politisch steht Trump durchaus in der Kon-
tinuität seiner Vorgänger. Die haben ihre
Partner auch nicht immer so behan-

* Gregor Schöllgen, Gerhard Schröder: »Letzte Chance.
Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen«.
DVA; 248 Seiten; 22 Euro.                                                                Autoren Schröder, Schöllgen: »Was sich in den USA in letzter Zeit

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"Ihr könnt mich mal" SPIEGEL-Gespräch Der eine konnte noch nie etwas mit Amerika anfangen, bei dem anderen ist es - Gregor Schöllgen
ger im Amt, der sozialdemokratische Kanz-            geblich damit zu tun, dass die Amerikaner                               passierte. Ich kann mich an eine Begeg-
    ler Helmut Schmidt, war noch fasziniert              hier waren. Dafür war ich ihnen dankbar.                                nung mit einem General im Pentagon er-
    von der Dynamik des Landes.                          Schröder: (lacht) Ich nur eingeschränkt,                                innern. Als ich erzählte, dass ich aus
    Schröder: Das habe ich nie so empfinden              denn ich bin ja auch nicht als Teil der Bour-                           Deutschland komme, fragte er mich: »East
    können. Ich habe nie in Amerika gelebt               geoisie aufgewachsen.                                                   or West?« Als ob jemand aus der DDR ein-
    und hatte auch kein Bedürfnis danach. Ich            SPIEGEL: Sie, Herr Schröder, sind 1981                                  fach so vorbeikommen könnte. Die Bereit-
    bin eben durch und durch Europäer. Herr              erstmals in die USA gereist. Da waren Sie                               schaft, sich mit Europa ernsthaft zu befas-
    Schöllgen und ich sehen die gegenwärtige             schon 37 Jahre alt. Warum erst dann?                                    sen, war selbst auf dieser Ebene nicht son-
    US-Politik sehr kritisch, auch den Zustand           Schröder: Weil ich vorher keinen Grund                                  derlich ausgeprägt.
    der Gesellschaft – ohne antiamerikanisch             hatte. Ich habe mein Abi auf dem zweiten                                SPIEGEL: Und wann waren Sie zuletzt in
    zu sein.                                             Bildungsweg gemacht, deshalb war mein                                   den USA?
    SPIEGEL: Wirklich nicht?                             Englisch schlecht. Ich bin eher nach Italien                            Schröder: Schon länger nicht mehr. Das
    Schröder: In Göttingen bin ich als Student           oder Frankreich gefahren. Doch dann wur-                                letzte Mal sollte ich mich in der Berliner
    gegen den Vietnamkrieg auf die Straße ge-            de ich als »Young Leader« in die USA ein-                               US-Botschaft von einem Konsulatsmitar-
    gangen. Aber 1963 habe ich sogar an einer            geladen. Wir sind quer durchs Land gereist                              beiter befragen lassen, was das Thema mei-
    proamerikanischen Demonstration teilge-              und haben bei Familien übernachtet. Sehr                                nes Vortrags sei und ob ich dafür bezahlt
    nommen. Nach der Ermordung von John                  angenehme Leute, amerikanische Mittel-                                  werde. Das seien nun einmal die Vorschrif-
    F. Kennedy wollten wir unsere Trauer und             klasse. Aber ich hatte immer das Gefühl,                                ten. Ich habe gedacht: »Ihr könnt mich
    unser Mitgefühl ausdrücken.                          das ist eine andere Welt.                                               mal.« Stellen Sie sich vor, so würde man
    Schöllgen: Mein Amerikabild war lange                SPIEGEL: Woran machten Sie das fest?                                    bei uns mit einem früheren US-Präsiden-
    Zeit positiv. Dass ich frei und in relativem         Schröder: Die interessierte nicht sonder-                               ten umgehen. Die Regelung stammt übri-
    Wohlstand aufgewachsen bin, hatte maß-               lich, was außerhalb ihres eigenen Umfelds                               gens nicht von Trump, sondern von sei-
                                                                                                                                 nem Vorgänger Obama.
                                                                                                                                 SPIEGEL: Die Zeithistorikerin Helga Haf-
                                                                                                                                 tendorn hat die USA als »gütigen Hege-
                                                                                                                                 mon« bezeichnet.
                                                                                                                                 Schröder: Davon kann keine Rede mehr
                                                                                                                                 sein.
                                                                                                                                 SPIEGEL: Immer schon oder erst seit
                                                                                                                                 Trump?
                                                                                                                                 Schröder: Vorher schon. Das begann mit
                                                                                                                                 Obama und wurde mit Trump nur noch
                                                                                                                                 brutaler.
                                                                                                                                 Schöllgen: Erinnern Sie sich, wie Obama
                                                                                                                                 2011 mit der Kanzlerin in der Libyenfrage
                                                                                                                                 umgesprungen ist? Deutschland war da-
                                                                                                                                 mals nichtständiges Mitglied im UN-Sicher-
                                                                                                                                 heitsrat, und die Abstimmung über Luft-
                                                                                                                                 schläge gegen die Truppen von Muammar
                                                                                                                                 al-Gaddafi stand an. Obama hatte signali-
                                                                                                                                 siert, er werde sich nicht beteiligen. Berlin
                                                                                                                                 wollte das auch nicht. Aber dann stimmten
                                                                                                                                 die Amerikaner dafür, Deutschland ent-
                                                                                                                                 hielt sich, und Merkel musste sich anhören,
                                                                                                                                 sie habe nicht mit den Verbündeten votiert.
                                                                                                                                 SPIEGEL: Gibt es überhaupt noch so etwas
                                                                                                                                 wie ein Konzept des Westens?
                                                                                                                                 Schöllgen: Solange die Sowjetunion exis-
                                                                                                                                 tierte, gab es auch einen vergleichsweise
                                                                                                                                 geschlossenen Westen. Denn der Westen
                                                                                                                                 war eine militärische, wirtschaftliche und
                                                                                                                                 auch weltanschauliche Reaktion auf den
                                                                                                                                 Osten. Ohne den Osten hätte es den Wes-
                                                                                                                                 ten in dieser Form nicht gegeben.
                                                                                                                                 SPIEGEL: Die Sowjetunion ist als Gegner
                                                                                                                                 weggefallen, aber die westlichen Staaten
                                                                                                                                 bekennen sich doch immer noch zu ge-
                                                                                                                                 meinsamen Werten wie Rechtsstaat, Demo-
                                                                                                                                 kratie und Menschenrechten.
                                                                                                                                 Schröder: Ja, das stimmt, aber man sollte
                                                                                                   Johannes Arlt / DER SPIEGEL

                                                                                                                                 auch nicht die politischen Veränderungen
                                                                                                                                 ignorieren.
                                                                                                                                 SPIEGEL: Das bedeutet?
                                                                                                                                 Schröder: Dass man zum Beispiel Russ-
                                                                                                                                 land nicht mit der Sowjetunion gleich-
                                                                                                                                 setzen sollte. Und wenn man den Zusam-
abgespielt hat, war mehr, als eine zivilisierte Gesellschaft ertragen kann«                                                      menhalt des Westens als Reaktion auf die

                                                                                                                                                                          53
"Ihr könnt mich mal" SPIEGEL-Gespräch Der eine konnte noch nie etwas mit Amerika anfangen, bei dem anderen ist es - Gregor Schöllgen
Deutschland

Sowjetunion versteht, dann liegt es nahe,      SPIEGEL: Als Putin im September 2001                                      in einem Gesamtkonzept gesehen werden,
dass deren Auflösung sich auch hier aus-       vor dem Bundestag redete, gab es noch                                     welches das Verhältnis zu Russland und
wirken muss. Sehen Sie sich Polen und          Standing Ovations, weil man hoffte, dass                                  seine Sicherheitsinteressen berücksichtigt.
Ungarn an. Sind das noch Demokratien           Putin aus Russland ein westliches Land                                    Wir brauchen, wie es einmal Hans-Diet-
oder mehr und mehr autoritäre Staaten?         machen würde.                                                             rich Genscher gefordert hat, eine Friedens-
Wo ist denn da die Wertegebundenheit           Schröder: Die Hoffnung mag da gewesen                                     ordnung von Vancouver bis Wladiwostok.
der Außenpolitik? CDU und CSU schaffen         sein, aber wer sich etwas intensiver mit                                  SPIEGEL: Was ist die angemessene Reak-
es ja nicht einmal, sich von der Partei des    Russland beschäftigte, dem musste klar                                    tion auf einen klaren Bruch des Völker-
ungarischen Ministerpräsidenten Viktor         sein, dass es schwierig sein würde, ein so                                rechts? Sanktionen?
Orbán zu trennen, sondern kooperieren          riesiges Land in eine Westminster-Demo-                                   Schröder: Davon halte ich nichts, weil ich
mit ihr im Europaparlament.                    kratie zu verwandeln. Die Deutschen ha-                                   nicht sehe, was sie erreichen sollen. Es
SPIEGEL: So hart Sie mit den Amerikanern       ben das nach dem Krieg ja auch nur mit                                    wird keinen russischen Präsidenten geben,
ins Gericht gehen, so viel Verständnis ha-     amerikanischer Hilfe geschafft.                                           der die Krim wieder rausrückt.
ben Sie für die Russen. Den Westen be-         SPIEGEL: Und so hat Putin aus Russland                                    SPIEGEL: Wenn nicht Sanktionen – was
schreiben Sie meist als Täter, Russland als    keine Westminster-Demokratie gemacht,                                     dann?
Opfer. Ziemlich holzschnittartig, oder?        sondern einen Mafiastaat.                                                 Schröder: Der Irakkrieg stand auch nicht
Schröder: Es gibt auch schöne und richtige     Schröder: Solche Etiketten werden Sie                                     unbedingt im Einklang mit den Statuten
Holzschnitte.                                  von mir nicht hören.                                                      der Vereinten Nationen. Was wollen Sie
Schöllgen: Wenn Sie unter »Täter« jeman-       SPIEGEL: Sie sind Aufsichtsratsvorsitzen-                                 machen in so einer Situation? Sie können
den verstehen, der Initiativen ergreift, die   der des staatlich gelenkten russischen Kon-                               diplomatisch aktiv werden, um Wieder-
sich nicht mehr rückgängig machen lassen,      zerns Rosneft und haben Putin immer ver-                                  holungen zu vermeiden. Und Sie können
dann sind die Amerikaner für uns tatsäch-      teidigt. In Ihrem Buch aber schreiben Sie,                                versuchen, Konflikte mit vertrauensbilden-
lich Verursacher.                              Putin habe Grenzen überschritten, »die                                    den Maßnahmen aufzulösen. Das ist
SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären.          nicht überschritten werden sollten«.                                      schwierig genug.
Schöllgen: Mit dem Untergang der Sow-          Schöllgen: Nein, in dem Buch ist von                                      Schöllgen: Nehmen Sie die offensive Sied-
jetunion hatte die Nato ihren Zweck erfüllt.   Russland die Rede, nicht von Putin.                                       lungspolitik Israels, die ebenfalls ein kla-
Man hätte sie also in ihrer bestehenden        SPIEGEL: Okay, das ist eine interessante                                  rer Bruch des Völkerrechts ist. Auch für
Form auflösen oder zumindest grundle-          Unterscheidung. Wo liegt für Sie der Un-                                  diese Politik gibt es subjektiv nachvoll-
gend reformieren können. Aber das ge-          terschied?                                                                ziehbare Gründe. Und es ist absurd zu
schah nicht. Man nahm neue Mitglieder          Schöllgen: Wir wissen, dass Putin die                                     glauben, dass die Israelis die Siedlungen
auf und verschob damit die Bündnisgrenze       maßgebliche Kraft in Russland ist, aber ob                                je wieder räumen werden – Sanktionen
in Richtung Russland.                          er nun wirklich für alles verantwortlich ist,                             hin oder her.
SPIEGEL: Und entsprach damit dem legiti-       was sich mit Russland verbindet, das wis-                                 SPIEGEL: Sie finden, wir müssen uns damit
men Wunsch vieler osteuropäischer Staa-        sen wir nicht. Deshalb haben wir diese For-                               abfinden, dass solche Konflikte durch
ten, die sich nach Jahrzehnten der Gänge-      mulierung mit Bedacht gewählt.                                            außenpolitischen Druck nicht gelöst wer-
lung vor Moskau in Sicherheit bringen          SPIEGEL: Aber noch mal – welche Gren-                                     den können?
wollten.                                       zen sind überschritten worden?                                            Schröder: Über Druck gelingt es in den sel-
Schöllgen: Ja, natürlich gab es dafür gute     Schröder: Die Annexion der Krim war ein                                   tensten Fällen. Es geht darum, über einen
Gründe, über die man reden kann. Aber          klarer Bruch des Völkerrechts. Diese Fest-                                Dialog zu Lösungen zu kommen.
versetzen Sie sich mal in die Rolle des rus-   stellung beantwortet aber nicht die Frage                                 SPIEGEL: In welchen Fällen hat Russland
sischen Präsidenten. Boris Jelzin und dann     nach dem Grund. Mal angenommen, die                                       noch Grenzen überschritten?
Wladimir Putin müssen doch gedacht ha-         Ukraine wäre tatsächlich der Nato beige-                                  Schröder: Mit seinen Hackerangriffen un-
ben, hoppla, was machen die da eigent-         treten, wie es die Amerikaner wollten.                                    ter anderem auf den Bundestag. Aber auch
lich? Die haben doch obsiegt, warum las-       Dann hätte Sewastopol, einer der wich-                                    sie haben doch nichts mit der grundsätz-
sen sie es nicht dabei? Warum kündigen         tigsten Marinehäfen Russlands, auf dem                                    lichen Frage zu tun, wie unser Verhältnis
die Amerikaner den ABM-Vertrag zur             Gebiet des westlichen Bündnisses gelegen.                                 zu Russland aussehen sollte. Wir ändern
Begrenzung von Raketenabwehrsystemen           SPIEGEL: Aber die Annexion der Krim                                       unser Verhältnis zu den USA ja auch nicht,
und bauen danach genau solche Anlagen          war ja keine Reaktion auf eine mögliche                                   wenn sie das Handy der Bundeskanzlerin
in Rumänien und Polen?                         Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Kiew                                     abhören.
Schröder: (lacht) Die sollen uns ja vor den    wollte mit der EU ein Assoziationsabkom-                                  SPIEGEL: Und die Mordanschläge auf
Mittelstreckenraketen aus Iran schützen.       men schließen.                                                            Sergej Skripal oder Alexej Nawalny? Tan-
SPIEGEL: Die meisten osteuropäischen           Schröder: Die europäische Perspektive für                                 gieren die nicht das Verhältnis zu Russ-
Staaten sind doch in Ihrer Amtszeit der        die Ukraine ist ja auch richtig, muss aber                                land?
Nato und der EU beigetreten.                                                                                             Schröder: Natürlich, das ist doch gar keine
Schröder: Ja, weil wir gesagt haben, okay,                                                                               Frage. Aber die Reaktionen hängen, wie
diese Länder können souverän entschei-                                                                                   wir es im Buch beschrieben haben, von
den, ob sie in die EU oder in die Nato wol-                                                                              einigen Fragen ab, etwa der Eindeutigkeit
len. Das ist ihr gutes Recht.                                                                                            der Beweislage und der zweifelsfreien
SPIEGEL: Aber?                                                                                                           Identifizierung der Verdächtigen. Ich habe
                                                                                           Johannes Arlt / DER SPIEGEL

Schröder: Damit war ja nicht Schluss, denn                                                                               sehr deutlich gesagt, was ich davon halte,
dann ging die Diskussion los – und zwar                                                                                  und Herrn Nawalny mein Mitgefühl aus-
vor allem aus Amerika –, Georgien und die                                                                                gedrückt.
Ukraine in die Nato aufzunehmen. Das war                                                                                 SPIEGEL: Während Sie zugleich gegen die
nichts anderes als eine Einkreisungsstrate-                                                                              »Bild«-Zeitung klagen, die ein Inter-
gie gegenüber einem Russland, das damals
sehr viel offener war für eine Kooperation     Schröder, Schöllgen, SPIEGEL-Redakteure*                                  * Konstantin von Hammerstein (2. v. l.) und Klaus
mit Europa, aber auch mit der Nato.                  »Über Druck gelingt es selten«                                      Wiegrefe (r.).

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"Ihr könnt mich mal" SPIEGEL-Gespräch Der eine konnte noch nie etwas mit Amerika anfangen, bei dem anderen ist es - Gregor Schöllgen
Johannes Arlt / DER SPIEGEL
                                  Sozialdemokrat Schröder: »Trump hat zerschlagen, was ohnehin nicht zu retten war«

view mit Nawalny abgedruckt hat, in dem              Belgien 2003 auf dem sogenannten Prali-        Wir müssen in der Lage sein, als Europäer
er Sie als »Laufburschen Putins« bezeich-            nengipfel in Brüssel diskutiert habe: die      notfalls auch allein militärisch intervenie-
net, der Mörder schütze.                             Schaffung einer wirklich einsatzfähigen        ren zu können, und zwar innerhalb der
Schröder: Meinungen dieses Blattes kom-              europäischen Armee unter der politischen       Nato-Strukturen.
mentiere ich grundsätzlich nicht. Im Übri-           Führung Europas. Wenn sich Europa zwi-         SPIEGEL: An welche Art von Einsätzen
gen kann ich mich zu einem laufenden Ver-            schen den USA und China behaupten will,        denken Sie?
fahren nicht äußern.                                 muss es unbedingt stärker werden – poli-       Schröder: An Afrika etwa. Alles, was da
SPIEGEL: Der Kreml unterhält Beziehun-               tisch und auch militärisch.                    passiert, tangiert Europa direkt. Zum Bei-
gen zu allen möglichen unappetitlichen,              SPIEGEL: In Ihrem Buch fordern Sie, die        spiel bei der Migration. Wir können doch
rechtsextremen Parteien in Europa. So hat            Nato in ihrer »bestehenden Form« aufzu-        die Franzosen nicht alleinlassen, weil die
Außenminister Sergej Lawrow gerade                   lösen.                                         da mal Kolonialmacht waren. Wenn es in
AfD-Chef Tino Chrupalla in Moskau zum                Schöllgen: Die Nato hat sich doch faktisch     Afrika eine Bedrohung für Europa gibt,
offiziellen Mittagessen empfangen. Auch              aufgelöst. Bei internationalen Einsätzen       müssen wir sie auch europäisch angehen,
eine Grenzüberschreitung?                            wie in Libyen handelt sie schon lange nicht    und im Zentrum stehen dann Deutschland
Schröder: Das halte ich für einen Fehler.            mehr geschlossen.                              und Frankreich. Wer sonst?
Ich kann das nicht nachvollziehen.                   Schröder: Sehen Sie sich an, was in der        SPIEGEL: Dann werden die Deutschen den
SPIEGEL: Amerika beschreiben Sie als                 Ägäis abläuft: Griechen und Türken ste-        Franzosen nicht mehr die gefährlichen Ein-
unzuverlässig, Russland taugt nicht zum              hen einander hochgerüstet gegenüber. Der       sätze überlassen können wie bisher. Für
Verbündeten, zugleich scheint Chinas Auf-            französische Präsident sagt, er werde den      die SPD ist das Sprengstoff.
stieg zur neuen Supermacht unaufhaltsam              Griechen notfalls beistehen. Der amerika-      Schröder: (lacht) Für meine Partei ist alles
zu sein. Wo sehen Sie Deutschlands Rolle             nische Präsident droht den Türken, er wer-     Mögliche Sprengstoff. Dafür kann ich ja
in diesem Dreieck?                                   de ihre Wirtschaft zerstören, wenn sie         nichts.
Schröder: Ganz so apodiktisch wie Sie wür-           nicht spuren. Das sind doch politische Auf-    SPIEGEL: Sie haben Ihrem Buch den Titel
de ich das nicht formulieren. Ohne die USA,          lösungserscheinungen, die man endlich          »Letzte Chance« gegeben. Glauben Sie
Russland und China werden wir keine der              zur Kenntnis nehmen …                          wirklich, dass die Welt untergeht, wenn
großen globalen Herausforderungen meis-              SPIEGEL: …und die Nato zerschlagen muss?       sie Ihre Ratschläge nicht befolgt?
tern können. Und zwischen diesen Mächten             Schröder: Es macht keinen Sinn, die mili-      Schröder: So ein Titel soll provozieren. Es
muss Europa seine Rolle finden, und zwar             tärischen Strukturen kaputt zu machen.         ist an der Zeit, dass wir über diese Dinge
als eine reformierte Europäische Union.              Die brauchen wir. Es geht um den politi-       endlich mal nachdenken.
SPIEGEL: Inwiefern reformiert?                       schen Überbau.                                 Schöllgen: Immerhin haben wir noch eine
Schröder: Erstens brauchen wir in der EU             SPIEGEL: Und das bedeutet?                     Chance. Das ist doch schon was.
dringend Mehrheitsentscheidungen. Und                Schröder: Dass wir uns ergänzend zur Prä-      SPIEGEL: Herr Schröder, Herr Schöllgen,
wir müssen endlich umsetzen, was ich                 senz der Amerikaner überlegen müssen,          wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
mit meinen Kollegen aus Frankreich und               wie wir die Nato europäisieren können.

DER SPIEGEL Nr. 3 / 16. 1. 2021                                                                                                             55
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