"Ihr könnt mich mal" SPIEGEL-Gespräch Der eine konnte noch nie etwas mit Amerika anfangen, bei dem anderen ist es - Gregor Schöllgen
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Deutschland »Ihr könnt mich mal« SPIEGEL-Gespräch Der eine konnte noch nie etwas mit Amerika anfangen, bei dem anderen ist es enttäuschte Liebe – in ihrer Kritik an den USA aber sind sich Altkanzler Gerhard Schröder und der Historiker Gregor Schöllgen einig. In ihrem Verständnis für Russland auch. Schröder, 76, federt durch das Büro seiner delt, als würden sie auf Augenhöhe stehen. SPIEGEL: Sie erwarten also von Biden kei- Anwaltskanzlei in Hannover. Auf den Ti- Deshalb muss man damit rechnen, dass nen Aufbruch? schen liegen Kunstbücher, auf dem Boden auch für Trumps Nachfolger Joe Biden erst Schröder: Der Ton wird sicher konzilian- zwei Hanteln. Der Altkanzler begrüßt einmal America First gelten wird. ter und manche Kontroverse gelöst wer- Schöllgen, 69, der direkt vom Bahnhof Schöllgen: 74 Millionen Amerikaner ha- den. Aber das transatlantische Verhältnis, kommt und noch seine Maske trägt. Der re- ben Trump gewählt. Die meisten von ih- wie wir es über Jahrzehnte gekannt haben, nommierte Historiker aus Erlangen hat vor nen wollen offenbar keine klassische Part- ist Geschichte. Trump hat nur zerschlagen, Jahren eine dickleibige Schröder-Biografie nerschaft mehr. Damit hat sich eine Ent- was ohnehin nicht zu retten war. verfasst. Regelmäßig diskutieren die beiden wicklung bestätigt, die wir schon seit eini- SPIEGEL: Über die USA schreiben Sie in über die Weltlage. Aus diesen Gesprächen ger Zeit beobachten. Ihrem Buch kaum Gutes. Ihr Vorvorgän- ist jetzt ein gemeinsames Buch entstanden, das in diesen Tagen erscheint. Es trägt den Titel »Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen«*. Ja – warum eigentlich? SPIEGEL: Herr Schröder, Herr Schöllgen, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder der Erstürmung des Kapitols in Washington sahen? Schröder: Ich habe mir nicht vorstellen können, dass ein US-Präsident zu einem Sturm auf das Kapitol aufruft, um das Weiße Haus nicht räumen zu müssen. Klar ist ja, dass Trump die Aggressivität der Demonstranten noch befeuert hat, als er sie aufforderte, zum Kapitol zu ziehen. Schöllgen: Mich hat das Szenario über- rascht, nicht aber die Eruption an sich. Ich habe Anfang der Neunzigerjahre in Ame- rika gelebt. Schon damals hatten viele wei- ße Amerikaner das Gefühl, ins Hintertref- fen zu geraten. Trump hat diese Karte ohne jeden Skrupel gespielt. Schröder: Seit es die Tea-Party-Bewegung gibt, musste man mit solchen Entgleisun- gen rechnen. Was sich in den USA in letz- ter Zeit abgespielt hat, war mehr, als eine zivilisierte Gesellschaft ertragen kann. Neh- men Sie den Mord an dem Schwarzen George Floyd, dessen Satz »I can’t breathe« um die Welt ging. Trump hat das Vorgehen der Polizei ja quasi gerechtfertigt. SPIEGEL: War Trump vielleicht nur ein Be- triebsunfall in der US-Geschichte? Schröder: Was seine Aggressivität angeht, ja. Und auch was seine Verachtung demo- kratischer Institutionen betrifft. Aber außen- politisch steht Trump durchaus in der Kon- tinuität seiner Vorgänger. Die haben ihre Partner auch nicht immer so behan- * Gregor Schöllgen, Gerhard Schröder: »Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen«. DVA; 248 Seiten; 22 Euro. Autoren Schröder, Schöllgen: »Was sich in den USA in letzter Zeit 52
ger im Amt, der sozialdemokratische Kanz- geblich damit zu tun, dass die Amerikaner passierte. Ich kann mich an eine Begeg- ler Helmut Schmidt, war noch fasziniert hier waren. Dafür war ich ihnen dankbar. nung mit einem General im Pentagon er- von der Dynamik des Landes. Schröder: (lacht) Ich nur eingeschränkt, innern. Als ich erzählte, dass ich aus Schröder: Das habe ich nie so empfinden denn ich bin ja auch nicht als Teil der Bour- Deutschland komme, fragte er mich: »East können. Ich habe nie in Amerika gelebt geoisie aufgewachsen. or West?« Als ob jemand aus der DDR ein- und hatte auch kein Bedürfnis danach. Ich SPIEGEL: Sie, Herr Schröder, sind 1981 fach so vorbeikommen könnte. Die Bereit- bin eben durch und durch Europäer. Herr erstmals in die USA gereist. Da waren Sie schaft, sich mit Europa ernsthaft zu befas- Schöllgen und ich sehen die gegenwärtige schon 37 Jahre alt. Warum erst dann? sen, war selbst auf dieser Ebene nicht son- US-Politik sehr kritisch, auch den Zustand Schröder: Weil ich vorher keinen Grund derlich ausgeprägt. der Gesellschaft – ohne antiamerikanisch hatte. Ich habe mein Abi auf dem zweiten SPIEGEL: Und wann waren Sie zuletzt in zu sein. Bildungsweg gemacht, deshalb war mein den USA? SPIEGEL: Wirklich nicht? Englisch schlecht. Ich bin eher nach Italien Schröder: Schon länger nicht mehr. Das Schröder: In Göttingen bin ich als Student oder Frankreich gefahren. Doch dann wur- letzte Mal sollte ich mich in der Berliner gegen den Vietnamkrieg auf die Straße ge- de ich als »Young Leader« in die USA ein- US-Botschaft von einem Konsulatsmitar- gangen. Aber 1963 habe ich sogar an einer geladen. Wir sind quer durchs Land gereist beiter befragen lassen, was das Thema mei- proamerikanischen Demonstration teilge- und haben bei Familien übernachtet. Sehr nes Vortrags sei und ob ich dafür bezahlt nommen. Nach der Ermordung von John angenehme Leute, amerikanische Mittel- werde. Das seien nun einmal die Vorschrif- F. Kennedy wollten wir unsere Trauer und klasse. Aber ich hatte immer das Gefühl, ten. Ich habe gedacht: »Ihr könnt mich unser Mitgefühl ausdrücken. das ist eine andere Welt. mal.« Stellen Sie sich vor, so würde man Schöllgen: Mein Amerikabild war lange SPIEGEL: Woran machten Sie das fest? bei uns mit einem früheren US-Präsiden- Zeit positiv. Dass ich frei und in relativem Schröder: Die interessierte nicht sonder- ten umgehen. Die Regelung stammt übri- Wohlstand aufgewachsen bin, hatte maß- lich, was außerhalb ihres eigenen Umfelds gens nicht von Trump, sondern von sei- nem Vorgänger Obama. SPIEGEL: Die Zeithistorikerin Helga Haf- tendorn hat die USA als »gütigen Hege- mon« bezeichnet. Schröder: Davon kann keine Rede mehr sein. SPIEGEL: Immer schon oder erst seit Trump? Schröder: Vorher schon. Das begann mit Obama und wurde mit Trump nur noch brutaler. Schöllgen: Erinnern Sie sich, wie Obama 2011 mit der Kanzlerin in der Libyenfrage umgesprungen ist? Deutschland war da- mals nichtständiges Mitglied im UN-Sicher- heitsrat, und die Abstimmung über Luft- schläge gegen die Truppen von Muammar al-Gaddafi stand an. Obama hatte signali- siert, er werde sich nicht beteiligen. Berlin wollte das auch nicht. Aber dann stimmten die Amerikaner dafür, Deutschland ent- hielt sich, und Merkel musste sich anhören, sie habe nicht mit den Verbündeten votiert. SPIEGEL: Gibt es überhaupt noch so etwas wie ein Konzept des Westens? Schöllgen: Solange die Sowjetunion exis- tierte, gab es auch einen vergleichsweise geschlossenen Westen. Denn der Westen war eine militärische, wirtschaftliche und auch weltanschauliche Reaktion auf den Osten. Ohne den Osten hätte es den Wes- ten in dieser Form nicht gegeben. SPIEGEL: Die Sowjetunion ist als Gegner weggefallen, aber die westlichen Staaten bekennen sich doch immer noch zu ge- meinsamen Werten wie Rechtsstaat, Demo- kratie und Menschenrechten. Schröder: Ja, das stimmt, aber man sollte Johannes Arlt / DER SPIEGEL auch nicht die politischen Veränderungen ignorieren. SPIEGEL: Das bedeutet? Schröder: Dass man zum Beispiel Russ- land nicht mit der Sowjetunion gleich- setzen sollte. Und wenn man den Zusam- abgespielt hat, war mehr, als eine zivilisierte Gesellschaft ertragen kann« menhalt des Westens als Reaktion auf die 53
Deutschland Sowjetunion versteht, dann liegt es nahe, SPIEGEL: Als Putin im September 2001 in einem Gesamtkonzept gesehen werden, dass deren Auflösung sich auch hier aus- vor dem Bundestag redete, gab es noch welches das Verhältnis zu Russland und wirken muss. Sehen Sie sich Polen und Standing Ovations, weil man hoffte, dass seine Sicherheitsinteressen berücksichtigt. Ungarn an. Sind das noch Demokratien Putin aus Russland ein westliches Land Wir brauchen, wie es einmal Hans-Diet- oder mehr und mehr autoritäre Staaten? machen würde. rich Genscher gefordert hat, eine Friedens- Wo ist denn da die Wertegebundenheit Schröder: Die Hoffnung mag da gewesen ordnung von Vancouver bis Wladiwostok. der Außenpolitik? CDU und CSU schaffen sein, aber wer sich etwas intensiver mit SPIEGEL: Was ist die angemessene Reak- es ja nicht einmal, sich von der Partei des Russland beschäftigte, dem musste klar tion auf einen klaren Bruch des Völker- ungarischen Ministerpräsidenten Viktor sein, dass es schwierig sein würde, ein so rechts? Sanktionen? Orbán zu trennen, sondern kooperieren riesiges Land in eine Westminster-Demo- Schröder: Davon halte ich nichts, weil ich mit ihr im Europaparlament. kratie zu verwandeln. Die Deutschen ha- nicht sehe, was sie erreichen sollen. Es SPIEGEL: So hart Sie mit den Amerikanern ben das nach dem Krieg ja auch nur mit wird keinen russischen Präsidenten geben, ins Gericht gehen, so viel Verständnis ha- amerikanischer Hilfe geschafft. der die Krim wieder rausrückt. ben Sie für die Russen. Den Westen be- SPIEGEL: Und so hat Putin aus Russland SPIEGEL: Wenn nicht Sanktionen – was schreiben Sie meist als Täter, Russland als keine Westminster-Demokratie gemacht, dann? Opfer. Ziemlich holzschnittartig, oder? sondern einen Mafiastaat. Schröder: Der Irakkrieg stand auch nicht Schröder: Es gibt auch schöne und richtige Schröder: Solche Etiketten werden Sie unbedingt im Einklang mit den Statuten Holzschnitte. von mir nicht hören. der Vereinten Nationen. Was wollen Sie Schöllgen: Wenn Sie unter »Täter« jeman- SPIEGEL: Sie sind Aufsichtsratsvorsitzen- machen in so einer Situation? Sie können den verstehen, der Initiativen ergreift, die der des staatlich gelenkten russischen Kon- diplomatisch aktiv werden, um Wieder- sich nicht mehr rückgängig machen lassen, zerns Rosneft und haben Putin immer ver- holungen zu vermeiden. Und Sie können dann sind die Amerikaner für uns tatsäch- teidigt. In Ihrem Buch aber schreiben Sie, versuchen, Konflikte mit vertrauensbilden- lich Verursacher. Putin habe Grenzen überschritten, »die den Maßnahmen aufzulösen. Das ist SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären. nicht überschritten werden sollten«. schwierig genug. Schöllgen: Mit dem Untergang der Sow- Schöllgen: Nein, in dem Buch ist von Schöllgen: Nehmen Sie die offensive Sied- jetunion hatte die Nato ihren Zweck erfüllt. Russland die Rede, nicht von Putin. lungspolitik Israels, die ebenfalls ein kla- Man hätte sie also in ihrer bestehenden SPIEGEL: Okay, das ist eine interessante rer Bruch des Völkerrechts ist. Auch für Form auflösen oder zumindest grundle- Unterscheidung. Wo liegt für Sie der Un- diese Politik gibt es subjektiv nachvoll- gend reformieren können. Aber das ge- terschied? ziehbare Gründe. Und es ist absurd zu schah nicht. Man nahm neue Mitglieder Schöllgen: Wir wissen, dass Putin die glauben, dass die Israelis die Siedlungen auf und verschob damit die Bündnisgrenze maßgebliche Kraft in Russland ist, aber ob je wieder räumen werden – Sanktionen in Richtung Russland. er nun wirklich für alles verantwortlich ist, hin oder her. SPIEGEL: Und entsprach damit dem legiti- was sich mit Russland verbindet, das wis- SPIEGEL: Sie finden, wir müssen uns damit men Wunsch vieler osteuropäischer Staa- sen wir nicht. Deshalb haben wir diese For- abfinden, dass solche Konflikte durch ten, die sich nach Jahrzehnten der Gänge- mulierung mit Bedacht gewählt. außenpolitischen Druck nicht gelöst wer- lung vor Moskau in Sicherheit bringen SPIEGEL: Aber noch mal – welche Gren- den können? wollten. zen sind überschritten worden? Schröder: Über Druck gelingt es in den sel- Schöllgen: Ja, natürlich gab es dafür gute Schröder: Die Annexion der Krim war ein tensten Fällen. Es geht darum, über einen Gründe, über die man reden kann. Aber klarer Bruch des Völkerrechts. Diese Fest- Dialog zu Lösungen zu kommen. versetzen Sie sich mal in die Rolle des rus- stellung beantwortet aber nicht die Frage SPIEGEL: In welchen Fällen hat Russland sischen Präsidenten. Boris Jelzin und dann nach dem Grund. Mal angenommen, die noch Grenzen überschritten? Wladimir Putin müssen doch gedacht ha- Ukraine wäre tatsächlich der Nato beige- Schröder: Mit seinen Hackerangriffen un- ben, hoppla, was machen die da eigent- treten, wie es die Amerikaner wollten. ter anderem auf den Bundestag. Aber auch lich? Die haben doch obsiegt, warum las- Dann hätte Sewastopol, einer der wich- sie haben doch nichts mit der grundsätz- sen sie es nicht dabei? Warum kündigen tigsten Marinehäfen Russlands, auf dem lichen Frage zu tun, wie unser Verhältnis die Amerikaner den ABM-Vertrag zur Gebiet des westlichen Bündnisses gelegen. zu Russland aussehen sollte. Wir ändern Begrenzung von Raketenabwehrsystemen SPIEGEL: Aber die Annexion der Krim unser Verhältnis zu den USA ja auch nicht, und bauen danach genau solche Anlagen war ja keine Reaktion auf eine mögliche wenn sie das Handy der Bundeskanzlerin in Rumänien und Polen? Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Kiew abhören. Schröder: (lacht) Die sollen uns ja vor den wollte mit der EU ein Assoziationsabkom- SPIEGEL: Und die Mordanschläge auf Mittelstreckenraketen aus Iran schützen. men schließen. Sergej Skripal oder Alexej Nawalny? Tan- SPIEGEL: Die meisten osteuropäischen Schröder: Die europäische Perspektive für gieren die nicht das Verhältnis zu Russ- Staaten sind doch in Ihrer Amtszeit der die Ukraine ist ja auch richtig, muss aber land? Nato und der EU beigetreten. Schröder: Natürlich, das ist doch gar keine Schröder: Ja, weil wir gesagt haben, okay, Frage. Aber die Reaktionen hängen, wie diese Länder können souverän entschei- wir es im Buch beschrieben haben, von den, ob sie in die EU oder in die Nato wol- einigen Fragen ab, etwa der Eindeutigkeit len. Das ist ihr gutes Recht. der Beweislage und der zweifelsfreien SPIEGEL: Aber? Identifizierung der Verdächtigen. Ich habe Johannes Arlt / DER SPIEGEL Schröder: Damit war ja nicht Schluss, denn sehr deutlich gesagt, was ich davon halte, dann ging die Diskussion los – und zwar und Herrn Nawalny mein Mitgefühl aus- vor allem aus Amerika –, Georgien und die gedrückt. Ukraine in die Nato aufzunehmen. Das war SPIEGEL: Während Sie zugleich gegen die nichts anderes als eine Einkreisungsstrate- »Bild«-Zeitung klagen, die ein Inter- gie gegenüber einem Russland, das damals sehr viel offener war für eine Kooperation Schröder, Schöllgen, SPIEGEL-Redakteure* * Konstantin von Hammerstein (2. v. l.) und Klaus mit Europa, aber auch mit der Nato. »Über Druck gelingt es selten« Wiegrefe (r.). 54
Johannes Arlt / DER SPIEGEL Sozialdemokrat Schröder: »Trump hat zerschlagen, was ohnehin nicht zu retten war« view mit Nawalny abgedruckt hat, in dem Belgien 2003 auf dem sogenannten Prali- Wir müssen in der Lage sein, als Europäer er Sie als »Laufburschen Putins« bezeich- nengipfel in Brüssel diskutiert habe: die notfalls auch allein militärisch intervenie- net, der Mörder schütze. Schaffung einer wirklich einsatzfähigen ren zu können, und zwar innerhalb der Schröder: Meinungen dieses Blattes kom- europäischen Armee unter der politischen Nato-Strukturen. mentiere ich grundsätzlich nicht. Im Übri- Führung Europas. Wenn sich Europa zwi- SPIEGEL: An welche Art von Einsätzen gen kann ich mich zu einem laufenden Ver- schen den USA und China behaupten will, denken Sie? fahren nicht äußern. muss es unbedingt stärker werden – poli- Schröder: An Afrika etwa. Alles, was da SPIEGEL: Der Kreml unterhält Beziehun- tisch und auch militärisch. passiert, tangiert Europa direkt. Zum Bei- gen zu allen möglichen unappetitlichen, SPIEGEL: In Ihrem Buch fordern Sie, die spiel bei der Migration. Wir können doch rechtsextremen Parteien in Europa. So hat Nato in ihrer »bestehenden Form« aufzu- die Franzosen nicht alleinlassen, weil die Außenminister Sergej Lawrow gerade lösen. da mal Kolonialmacht waren. Wenn es in AfD-Chef Tino Chrupalla in Moskau zum Schöllgen: Die Nato hat sich doch faktisch Afrika eine Bedrohung für Europa gibt, offiziellen Mittagessen empfangen. Auch aufgelöst. Bei internationalen Einsätzen müssen wir sie auch europäisch angehen, eine Grenzüberschreitung? wie in Libyen handelt sie schon lange nicht und im Zentrum stehen dann Deutschland Schröder: Das halte ich für einen Fehler. mehr geschlossen. und Frankreich. Wer sonst? Ich kann das nicht nachvollziehen. Schröder: Sehen Sie sich an, was in der SPIEGEL: Dann werden die Deutschen den SPIEGEL: Amerika beschreiben Sie als Ägäis abläuft: Griechen und Türken ste- Franzosen nicht mehr die gefährlichen Ein- unzuverlässig, Russland taugt nicht zum hen einander hochgerüstet gegenüber. Der sätze überlassen können wie bisher. Für Verbündeten, zugleich scheint Chinas Auf- französische Präsident sagt, er werde den die SPD ist das Sprengstoff. stieg zur neuen Supermacht unaufhaltsam Griechen notfalls beistehen. Der amerika- Schröder: (lacht) Für meine Partei ist alles zu sein. Wo sehen Sie Deutschlands Rolle nische Präsident droht den Türken, er wer- Mögliche Sprengstoff. Dafür kann ich ja in diesem Dreieck? de ihre Wirtschaft zerstören, wenn sie nichts. Schröder: Ganz so apodiktisch wie Sie wür- nicht spuren. Das sind doch politische Auf- SPIEGEL: Sie haben Ihrem Buch den Titel de ich das nicht formulieren. Ohne die USA, lösungserscheinungen, die man endlich »Letzte Chance« gegeben. Glauben Sie Russland und China werden wir keine der zur Kenntnis nehmen … wirklich, dass die Welt untergeht, wenn großen globalen Herausforderungen meis- SPIEGEL: …und die Nato zerschlagen muss? sie Ihre Ratschläge nicht befolgt? tern können. Und zwischen diesen Mächten Schröder: Es macht keinen Sinn, die mili- Schröder: So ein Titel soll provozieren. Es muss Europa seine Rolle finden, und zwar tärischen Strukturen kaputt zu machen. ist an der Zeit, dass wir über diese Dinge als eine reformierte Europäische Union. Die brauchen wir. Es geht um den politi- endlich mal nachdenken. SPIEGEL: Inwiefern reformiert? schen Überbau. Schöllgen: Immerhin haben wir noch eine Schröder: Erstens brauchen wir in der EU SPIEGEL: Und das bedeutet? Chance. Das ist doch schon was. dringend Mehrheitsentscheidungen. Und Schröder: Dass wir uns ergänzend zur Prä- SPIEGEL: Herr Schröder, Herr Schöllgen, wir müssen endlich umsetzen, was ich senz der Amerikaner überlegen müssen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. mit meinen Kollegen aus Frankreich und wie wir die Nato europäisieren können. DER SPIEGEL Nr. 3 / 16. 1. 2021 55
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