DER NÖ BAUERNBUND UND DER STAATSVERTRAG

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Ludwig St eine r

DER
NÖ BAUERNBUND
UND DER
STAATSVERTRAG
    Am 11. September 2005 lud der NÖ Bauernbund seine Mitglieder und Freunde
zur traditionellen Wallfahrt nach Mariazell ein. Sie stand im „Gedenkjahr 60 Jahre
Wiedererrichtung der Republik Österreich und 50 Jahre Staatsvertrag“ unter dem Motto
„Freiheit in Verantwortung“. Die Festrede hielt Staatssekretär a.D. Ludwig Steiner. Der
am 14. April 1922 in Innsbruck geborene Steiner war im April 1955 als Sekretär von Bun-
deskanzler Julius Raab Mitglied der österreichischen Regierungsdelegation bei den ab-
schließenden Staatsvertragsverhandlungen in Moskau. Er ist somit der einzige noch leben-
de österreichische Zeuge dieser geschichtsträchtigen und für Österreich entscheidenden Tage.
Aus dem im Folgenden wiedergegebenen Vortrag „Österreichs Weg zum Staatsvertrag“ (bei
dem nur die Bezüge auf die Bauernbundwallfahrt gekürzt wurden) geht die große Rol-
le hervor, die dem niederösterreichischen Bauernbündler Leopold Figl dabei zukam.

    Es gehört zu einer funktionierenden Gemeinschaft, dass sie in der Lage ist – über
alle unterschiedlichen Meinungen in der Tagespolitik hinweg –, Feste zu feiern und
der Eckpunkte der eigenen Geschichte zu gedenken.
    Ein solches Bedenken ist im Leben jedes Einzelnen und im Leben eines ganzen
Volkes von Zeit zu Zeit recht gut, ja unerlässlich, wenn dies ohne jede Vorbehalte             STAATSVERTRAG
alle Aspekte der eigenen Vergangenheit und der Verantwortlichkeiten umfasst. Jede              Schon vor der Unterzeichnung
                                                                                               1955 beschäftigten sich viele
Art von Verdrängung eines Teils unserer Geschichte ist nicht nur unsinnig, sondern
                                                                                               Publikationen mit dem ersehnten
auch moralisch unvertretbar. Gerade auch bei Verbrechen der Vergangenheit muss                 Staatsvertrag. Die Karikaturen
immer der furchtbaren Leiden der Opfer und deren Angehöriger gedacht werden.                   auf den folgenden Seiten sind
                                                                                               obiger Schrift, erschienen 1952,
    Als im Jahr 2004 in der Innenpolitik die Frage zu diskutieren begonnen wurde,
                                                                                               entnommen.
wie die wichtigsten Jahrestage der Republik – Ende des furchtbaren Krieges und

DE R N Ö BAU ER N BU N D U N D SEIN E GESCHICH T E
Der NÖ Ba u er n b un d un d der Staatsver tra g
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                               Befreiung vom verbrecherischen nationalsozialistischen Regime, 60. Jahrestag der
                               Wiedererrichtung unserer Republik Österreich und 50 Jahre Abschluss des Staats-
                               vertrages – 2005 begangen werden sollten, wurde sofort die Frage gestellt, ob man
                               überhaupt solche Eckpunkte unserer Geschichte feiern darf oder ob man sich aus-
                               schließlich der Befassung mit den Verbrechen der Vergangenheit und den Tätern
                               zuwenden müsste.
                                   Be- oder Gedenken, das sei zu unterscheiden, hieß es, schließlich wurde gar ge-
                               sagt, am 15. Mai 1955 hätte Außenminister Figl bei der Unterzeichnungszeremonie
                               des Staatsvertrags die in den Saal gerufenen Worte „Österreich ist frei!“ so nicht sa-
                               gen dürfen. Schließlich sei Österreich 1945 durch den opferreichen Einsatz der Alli-
                               ierten vom Nationalsozialismus befreit worden.
                                   Diese Befreiung wurde allerdings sehr unterschiedlich je nach Bundesland, je
                               nach einrückenden Truppen erlebt. Die April- und Maitage des Jahres 1945 sind
                               also den Menschen in unserem Lande mit ganz verschiedenen Erlebnissen in blei-
                               bender Erinnerung. Schließlich kann in einem freien Land niemandem vorgeschrie-
                               ben werden, wann und bei welcher Gelegenheit sich jemand befreit zu fühlen hat
                               oder was jemand bei welcher Gelegenheit zu empfinden hat.
                                   Der überwiegende Teil der Österreicher verstand und erlebte hingegen im Mai
                               1955, dass der Ruf „Österreich ist frei!“ der wirklich vollständigen Freiheit galt, auch
                               im Wissen um die Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 durch den Kampf-
Der fünfprozentigen            einsatz unter schweren Opfern der alliierten Truppen. Dieses „Österreich ist frei!“
Minderheit österreichischer
                               gerade aus dem Munde eines Mannes, der 1945 die Befreiung aus der Todeszelle
Kommunisten mit ihrem
Ruf: „Ami, go home!“           erlebte, galt eben der vollen Souveränität Österreichs als freier Staat in der Mitte der
antwortete der amerikanische   Völkergemeinschaft.
Außenminister Dean Acheson         Und sogar weit mehr: Am 15. Mai 1955 haben die Bürgerinnen und Bürger
anlässlich eines Besuches in
Wien: „Zur Vermeidung von
                               plötzlich ganz einfach Österreich als den Staat erlebt, der nun erstmals in der Ge-
Missverständnissen: drei von   schichte der Republik seit 1918 wirklich ihnen allen gehörte.
den vier Besatzungsmächten         In diesem Zusammenhang wird auch oft die Frage gestellt: Was hat Österreich, was
in Österreich wollen nach
                               haben die Österreicher selbst zur Erringung der vollständigen Freiheit beigetragen?
Hause gehen.“
                                   Ein ehemaliger hoher sowjetischer Funktionär hat 2005 bei einem Vortrag auf
                               der Schallaburg gemeint, was die österreichische Bevölkerung an Anstrengungen ge-
                               macht habe oder welche Qualität die österreichische Politik gehabt habe, sei uner-
                               heblich für die Entscheidung der Großmächte über die Zukunft Österreichs gewesen.
                               Die Großmachtpolitik und damit reine Großmachtinteressen hätten letztlich ent-
                               schieden – und nichts anderes. So ist das aber sicherlich nicht gewesen.
                                   Heute, da uns weitgehend sowjetische Dokumente zur Einsicht zur Verfügung
                               stehen, weiß man, dass die Haltung unserer Bevölkerung, die Haltung der politisch
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Handelnden Österreichs in den Staatskanzleien der Großmächte, auch in einer Dik-
tatur wie der Sowjetunion, bei Planungen und Entscheidungen ihrer Politik in der
Behandlung des Problems Österreich eine wichtige Rolle gespielt hat.
     So gibt es etwa sowjetische Dokumente, aus denen klar hervorgeht, wie der dama-
lige Generalsekretär der KP der UdSSR, Chruschtschow, seine Politik des vollstän-
digen Rückzugs sowjetischer Truppen und Einrichtungen aus Österreich im Polit-
büro der KP begründet hat.
     „Österreich ist“, sagte er, „trotz der Anwesenheit sowjetischer Truppen
nicht sozialistischer im Sinne der Sowjetunion geworden. Die Bevölkerung
will uns heute nicht mehr. Zuerst haben sie uns als Befreier begrüßt und
gefeiert und nun demonstrieren sie gegen uns. Wozu haben wir dann dort
Truppen stationiert? Wenn du Krieg willst, so sage es, dann müssen wir die
Truppen gewaltig verstärken – wenn du Frieden willst, dann brauchen wir
dort keine Truppen.“
     Er nannte als Erfolg seiner Politik, dass die UdSSR Österreich aus dem
direkten Einfluss der „Imperialisten“ (gemeint sind USA und die Bundes-
republik Deutschland) herausgebrochen habe.
     Tatsache ist, dass der sowjetisch besetzte Teil Österreichs das einzige
Territorium in Europa war, in dem es der sowjetischen Besatzungsmacht
nicht gelang, ihm ihr politisches System überzustülpen!
     In Österreich verlief die Geschichte auch dank der Haltung der Bevölke-
rung anders als in der C̆SSR, in Ungarn, in Bulgarien, in Rumänien, in der
DDR und in Polen.
     Diese Haltung der Bevölkerung war für die sowjetischen Besatzer un-
übersehbar. Politisch Führende, besonders auch die des NÖ Bauernbundes,
wiesen in unzähligen Kundgebungen, Sonntag für Sonntag, immer klar auf unsere
weltanschaulichen Grundlagen, auf unseren festen christlichen Glauben hin. In vielen
Gottesdiensten und Wallfahrten, gerade auch bei der Bauernbundwallfahrt, wurde
für die vollständige Befreiung gebetet.
     Ein besonderes Ereignis war, als Ende 1953 bei einem Rosenkranz-Sühnekreuzzug
für die verfolgten Christen im kommunistischen Mittel- und Osteuropa tausende
auf der Wiener Ringstraße demonstrierten; an der Spitze ein Teil der Bundesregierung!
     Der Ausgangspunkt zur Umsetzung dieser Glaubenshaltung in die praktisch wirk-
same österreichische Politik war zweifellos die Nationalratswahl im November 1945,
in der vor allem die Frauen – viele Männer waren noch in Kriegsgefangenschaft –
in ihrem Wahlverhalten den Ausschlag für ein großartiges Bekenntnis zu einer plu-
ralistischen Demokratie in Freiheit gegeben haben.

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                             Es waren besonders diese Frauen, die nicht nur im Krieg, sondern auch in der
                         Nachkriegszeit oft Unsägliches erleben und erleiden mussten und die alle Schick-
                         salsschläge tapfer durchgestanden haben. Sie haben damit einen tatsächlich ge-
                         schichtlichen Beitrag für die spätere volle Freiheit unserer Republik geleistet.
                             Niederösterreich hat in dieser politischen Entwicklung eine ganz besondere Rolle
                         gespielt. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zeigte ganz offen und sehr
                         mutig, dass sie entschieden gegen das sowjetische System war. Diese Haltung stärkte
                         entscheidend die politische Festigkeit von Gemeinderäten, Bürgermeistern, Land-
                         tagsabgeordneten, der Chefs der Berufsorganisationen und damit auch der politi-
                         schen Führung unseres Landes.
                             Die Geschlossenheit des NÖ Bauernbundes in seiner weltanschaulichen Über-
                         zeugung und seiner klaren politischen Haltung hat den Persönlichkeiten der ersten
                         Stunde der wiedererstandenen Republik den unbedingt notwendigen Rückhalt und
                         das unbedingt notwendige Prestige gegeben. Dies war für Verhandlungen mit der
                         Besatzungsmacht, gerade auch mit den örtlichen Kommandanten, unerlässlich,
                         wollte man der Bevölkerung bei den zahllosen Schwierigkeiten dieser Zeit hilfreich
                         beistehen.
                             Die Führung des NÖ Bauernbundes spielte in den ersten Apriltagen 1945 eine
Der Eckpfeiler des       ganz entscheidende Rolle für den inneren Zusammenhalt der Republik, etwa bei der
österreichischen         Gründung der ÖVP als einer gesamtösterreichischen politischen Kraft.
Staatsvertrags ist           Der starke Wille zur Geschlossenheit des NÖ Bauernbundes war ein wesentli-
die Moskauer Erklärung
vom 1. November 1943.
                         ches Element, damit die provisorische Regierung Renner einigermaßen funktionsfä-
                         hig war und schließlich schrittweise von den anderen Bundesländern anerkannt
                         wurde. Ohne diese Leistungen wäre der Zusammenhalt unserer Republik in Frage
                         gestellt worden und dieser Zusammenhalt war damals ernsthaft in Gefahr und
                         damit auch das Schicksal unseres Österreich. Dabei bewährten sich der Idealismus,
                         der unermüdliche Einsatz und der unerschütterliche Glaube an Österreich von
                         Leopold Figl oder den Landeshauptleuten Josef Reither (1945–1950) und Johann
                         Steinböck (1950–1962) sowie von Landwirtschaftsminister Josef Kraus und ande-
                         ren starken niederösterreichischen Persönlichkeiten. Sie hatten – ja, sie konnten –
                         nicht vergessen, was ihnen die Nationalsozialisten angetan haben. Aber es ging ihnen
                         auch darum, nicht Hass mit Hass zu beantworten.
                             Leopold Figl hat acht Jahre lang als der aus den ersten freien Wahlen hervorge-
                         gangene Bundeskanzler in der schwierigsten Phase unserer Republik die Hauptlast
                         der Verantwortung für ganz Österreich getragen. Man muss sich einmal vorstellen,
                         welche Schwierigkeiten in diesen acht Jahren von 1945 bis 1953 über den damaligen
                         Bundeskanzler Figl hereingebrochen sind.


     Und noch etwas war diesen Persönlichkeiten der ersten Stunde eigen: Sie mach-
ten einen tatsächlichen politischen Neubeginn für Österreich, sie zogen die Lehren
aus den tragischen, verhängnisvollen Fehlern der Zeit zwischen 1918 und 1938. Diese
Männer haben tatsächlich aus der Geschichte gelernt und hatten den Mut, die Ent-
schlossenheit und die Zähigkeit, diese Erkenntnisse in der Neugestaltung Österreichs
voll umzusetzen.
     Von dieser Situation 1945 bis zum berühmten „Österreich ist frei!“ am 15. Mai
1955 lag allerdings ein unglaublich langer, mühseliger Weg. Für österreichische Patri-
oten hat dieser lange Weg schon am 13. März 1938 begonnen.
     In diesem Zusammenhang möchte ich aber doch auf ein Ereignis hinweisen, das
viele Jahre vorher stattgefunden hat und das die Haltung des NÖ Bauernbundes
gegenüber dem Nationalsozialismus unübersehbar klarstellt.
     Am 2. Februar 1934 hat in Wien eine Bauerndemonstration von 150.000 Teil-
nehmern gegen die damaligen nationalsozialistischen Umtriebe in Österreich statt-
gefunden. Der Organisator dieser machtvollen Demonstration war Leopold Figl.
     Während des Krieges war es lange Zeit für die österreichischen Patrioten nicht
klar zu erkennen, was bei einem Sieg der Alliierten mit Österreich geschehen würde.
Man war überzeugt, dass der Nationalsozialismus sicherlich letztlich besiegt würde,
aber: War die Hoffnung auf eine anschließende Auferstehung Österreichs überhaupt
berechtigt? Zwar gab es Ende 1941 in einer Rede Churchills einen Hinweis darauf,
dass Österreich wiedererstehen müsste. Diese Rede wurde aber erst viel später in
Österreich bekannt.
     Molotow berichtete Jahrzehnte später, Stalin habe ihm 1941 gesagt, es müsse das
Ziel der UdSSR sein, Österreich von Deutschland zu trennen.
     Erst die Moskauer Deklaration der drei Alliierten (GB, USA, UdSSR) über Öster-
reich vom 1. November 1943 gab uns eine klare Perspektive: „Die Regierungen der
USA, des Vereinigten Königreiches und der UdSSR erklären, sie wünschen, ein frei-          Zu Anfang des Jahres 1946
es, unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen“, und andererseits: „Öster-         machte der amerikanische
                                                                                           Außenminister Byrnes den
reich wird daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-
                                                                                           ersten Schritt zu einem
deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und dass anläss-       österreichischen Staatsvertrag.
lich der endgültigen Abrechnung die Bedachtnahme darauf, wie viel es selbst zu sei-        Außenminister Molotow
ner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.“                            erklärte, die Zeit dafür
                                                                                           sei noch nicht gekommen.
     Das war, soweit es Österreich betraf, ein klar formuliertes grundsätzliches Kriegs-
ziel der Alliierten. Allerdings sagte dies noch nichts über die Art der Verwirklichung
des Zieles aus. Noch Wochen nach der vollständigen Befreiung Österreichs vom
Nationalsozialismus – errungen durch den Kampfeinsatz und unter großen Opfern
der alliierten Truppen – und damit dem Ende des furchtbaren Krieges war es vorerst

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                                 nicht klar, ob überhaupt und allenfalls in welcher juridischen Form die Wieder-
                                 errichtung Österreichs entsprechend dem konkreten Inhalt und dem Geist der
                                 Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 erfolgen sollte.
                                      Die Proklamation zur Wiedererrichtung der Republik Österreich am 27. April
                                 1945 durch die provisorische Bundesregierung Renner wurde vorerst lediglich von
                                 der Sowjetunion zur Kenntnis genommen.
                                      Das Grundmuster der österreichischen Staatsvertragspolitik war bis zu Stalins
                                 Tod am 5. März 1953 – falls man es verkürzt sagen will – das Bestreben, ein solides
                                 Vertrauensverhältnis zu den Westmächten aufzubauen und zu erhalten, in der Hoff-
                                 nung, dass nur diese den Sowjets eine Zustimmung zum Abschluss des Staatsvertra-
                                 ges abringen könnten.
                                      Das führte allerdings zu einer Überschätzung der Möglichkeiten der Westmächte,
                                 die sich gerade in einer Phase einer kräftigen Abrüstung befanden, während die So-
                                 wjetunion ihre Streitkräfte modernisierte und voll aufrüstete. Sicherlich eine Fehl-
                                 einschätzung der Österreicher – allerdings auf Grund westlicher, nebulöser Andeu-
                                 tungen, was etwa die USA, Frankreich und Großbritannien für Österreich zu tun
                                 bereit wären beziehungsweise welches Risiko diese Staaten unter starkem sowjeti-
                                 schem Druck für Österreich einzugehen bereit wären.
                                      Es wurde schließlich klar, dass die Zustimmung der Sowjetunion zum Abschluss
                                 des Staatsvertrages nur in einem direkten Gespräch Österreich – Sowjetunion aufbe-
                                 reitet werden könnte. Da von allem Anfang an alle Staatsvertragsverhandlungen aus-
                                 schließlich mit allen vier Siegermächten gleichzeitig geführt wurden, mussten alle Kon-
                                 taktgespräche zu diesem Problem mit der Sowjetunion so geführt werden, dass bei
                                 den Westmächten nicht neues Misstrauen und Verdächtigungen entstehen konnten.
                                      Im Laufe des Jahres 1953 wurde von Bundeskanzler Raab in den wöchentlich
                                 vorgesehenen Besuchen beim sowjetischen Hochkommissar versucht, in diesen
                                 direkten Gesprächen wenigstens ein unbedingt notwendiges Mindestmaß an gegen-
Außenminister Byrnes
                                 seitigem Vertrauen herzustellen. Die Ernennung Leopold Figls zum Außenminister
erklärte: „… es ist unfassbar,
dass wir Verträge mit Italien    war dabei ein wesentliches Element, da Figl trotz – und vielleicht gerade wegen –
und den Balkanstaaten            seiner festen weltanschaulichen Haltung ein gutes Gesprächsklima mit den Sowjets
abschließen sollen, ohne         aufrechterhalten konnte.
gleichzeitig auch Schritte
zur Beendigung des formellen
                                      Im Jänner 1954 bei der Berliner Konferenz der alliierten Außenminister schien
Kriegszustandes mit Öster-       man vorerst einer Lösung in Sachen Staatsvertrag näher zu kommen, da eine Ab-
reich zu unternehmen.“           koppelung der österreichischen von der deutschen Frage möglich schien.
                                      Überaus bedeutend war ein direktes Gespräch von US-Außenminister J. F. Dulles
                                 mit Molotow, in dem Dulles andeutete, dass eine international anerkannte Neutra-
                                 lität Österreichs die Basis für eine Lösung sein könnte. Molotow konnte zu diesem


Zeitpunkt dieser Idee nichts abgewinnen. Letztlich scheiterte wieder einmal alles an
einem der berühmten „Njets“ Molotows. Nach dieser gescheiterten Berliner Außen-
ministerkonferenz gab es dann doch im weiteren Verlauf des Jahres 1954 erste An-
zeichen, die auf eine Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik hoffen ließen.
     Die Regierung der UdSSR hat im Juni desselben Jahre Österreichs Landwirt-
schaftsminister Thoma zur Teilnahme an der Allsowjetischen Landwirtschaftsaus-
stellung nach Moskau eingeladen. Bundesminister Thoma konnte bei der Gelegen-
heit mit den höchsten sowjetischen Stellen überaus wichtige Gespräche führen.
     Bei weiteren Gesprächen während des Jahres 1954, die Bundeskanzler Raab mit
dem sowjetischen Hochkommissar führte, wurde bald klar, dass das wichtigste Ele-
ment für eine Bereitschaft der Sowjetunion zum Abschluss des Staatsvertrages in der
Klarheit über die zukünftige grundsätzliche Politik Österreichs lag.
     Es war klar, dies konnte nur eine international festverankerte Neutralität sein.
Raab strebte seit seinem Amtsantritt als Bundeskanzler im Jahr 1953 die Neutralität
nach Schweizer Muster an.
     Am 8. Februar 1955 erfolgte eine Erklärung Molotows vor dem Politbüro der          Am 23. Juni 1947
KP der UdSSR, die Elemente enthielt, die auf eine neue Linie der sowjetischen Staats-   erklärten sich die
vertragspolitik schließen ließen. Botschafter Norbert Bischoff konnte in Moskau         Vereinigten Staaten bereit,
                                                                                        auf die Bezahlung
weitere Präzisierungen erreichen.
                                                                                        aller amerikanischen
     Am 24. März 1955 übergab Molotow an Bischoff die sowjetische Antwortnote           Besatzungskosten durch
auf eine österreichische Note von einigen Tagen zuvor. Bei diesem Anlass sprach         Österreich zu verzichten.
Molotow im Namen der Sowjetregierung eine Einladung aus an ,,Bundeskanzler
Raab und andere Vertreter Österreichs, zu Gesprächen nach Moskau zu kommen“.
     Die Bundesregierung nahm diese Einladung nach zwei Tagen intensiver Bera-
tungen zwischen den Koalitionspartnern an.
     Es ist überaus bemerkenswert, dass in der Vorbereitung der Moskaureise zwi-
schen den österreichischen Ministerien intensive und sehr erfolgreiche Gespräche
über die vielen Einzelheiten des Vertragsentwurfes geführt wurden, aber nicht über
die politische Grundsatzentscheidung, von der Erfolg oder Misserfolg abhängen
musste: nämlich von welchen politischen Grundsätzen sich Österreich in seiner zu-
künftigen Außenpolitik leiten lassen wolle. Vor der Abreise der österreichischen
Regierungsdelegation am 11. April 1955 zu den entscheidenden Staatsvertragsver-
handlungen nach Moskau gab es keinen Beschluss über die Frage „Neutralität“,
– weder in der Regierung (Koalition ÖVP/SPÖ)
– noch im Plenum des National- oder Bundesrates
– noch in einem Ausschuss des Nationalrates oder Bundesrates
– noch in einem der beiden Parlamentsklubs der Regierungsparteien.

DER N Ö BAU ER N BU N D U N D SEIN E GESC HICH T E
Der NÖ Ba u er n b un d un d der Staatsver tra g


                                     Bundeskanzler Raab und Außenminister Figl gaben im ÖVP-Klub eine Infor-
                                 mation über den möglichen Ablauf der Verhandlungen in Moskau und über die Art
                                 der technischen und protokollarischen Reisevorbereitungen, welche die Sowjets mit
                                 einer Gründlichkeit vornahmen, die auf ein sehr gutes Verhandlungsklima schließen
                                 ließ. Dafür gab es Applaus, aber es fand keine Abstimmung statt. Im SPÖ-Parla-
                                 mentsklub gab es, so wurde gesagt, nur die klare Feststellung, in Moskau werde nicht
                                 über Neutralität gesprochen.
                                     Ich möchte auf einige Aspekte der Verhandlungen besonders hinweisen. Das
                                 Hauptinteresse der Sowjets galt der zukünftigen Grundsatzpolitik Österreichs in
                                 diesem überaus sensiblen Teil Europas, in der Mitte zwischen den Großmächten. Es
                                 war verständlich, dass die Sowjets nach dem allfälligen Abzug ihrer Truppen eine
                                 gewisse Sicherheit haben wollten, damit Österreich nicht in den direkten Einfluss-
                                 bereich der NATO fallen würde. Was die wirklichen Beweggründe waren, warum
                                 die Sowjets endlich bereit waren, über den Abschluss des Staatsvertrages ernsthaft zu
                                 reden, war damals nicht klar. Nicht nur Österreich, auch die übrige Welt wusste sehr
                                 wenig bis nichts über Beweggründe sowjetischer Politik. Es gab viele Vermutungen
                                 und Spekulationen über diese Politik – greifbare Tatsachen waren nicht verfügbar.
                                     Die Verhandlungen mit den Sowjets waren daher ein großes Wagnis, und es ge-
                                 hörte politischer Mut und Entscheidungskraft dazu, in diese Verhandlungen einzu-
                                 treten. Vor diesen Moskauer Verhandlungen war in Österreich außerdem keine brei-
                                 te Unterstützung für eine Neutralität vorhanden. Die Menschen in unserem Lande
Der Rat der Außenminister
willigte ein, dass die UdSSR
                                 hatten Sorge, dass Österreich einem allfälligen späteren Druck der UdSSR gegen
für gewisse, von den Sowjets     unsere Unabhängigkeit nicht standhalten könnte. Dabei war man sich im Klaren,
als „deutsches Eigentum im       dass wir als neutraler Staat ohne Hilfe von außen auskommen würden müssen.
Ausland“ beanspruchte Ver-
                                     Das Wort „Neutralität“ und dessen Sinngebung wurde ja schon vor 150 Jahren
mögenswerte 150 Millionen
Dollar in bar erhalten sollte.   erfunden. Die Frage war aber, wer den Mut hatte, für die Neutralität Österreichs öf-
Dieser Preis war zwar hoch,      fentlich einzutreten und diese Idee kraftvoll durchzusetzen – innenpolitisch in Öster-
doch wäre dadurch die            reich – und andererseits die Sowjets für die Position der Neutralität aufgeschlossen
Besetzung Österreichs beendet
und seine Souveränität
                                 zu machen. In der damals harten Ost-West-Auseinandersetzung galt nur die Betrach-
wiederhergestellt worden.        tung nach dem Freund-Feind-Muster: „Bist du nicht für mich, dann kannst du nur
                                 gegen mich, also mein Feind sein.“ In der österreichischen Bevölkerung herrschte
                                 noch im Februar/März 1955 weitgehend Ablehnung einer Neutralität Österreichs,
                                 weil die Menschen das Gefühl hatten, Österreich könnte zu schwach sein, die Neu-
                                 tralität gegen Erpressungen von außen aufrechtzuerhalten. Sogar noch am Beginn
                                 der Verhandlungen in Moskau gab es innerhalb der österreichischen Delegation keine
                                 Einigkeit über die Frage der Neutralität. Vizekanzler Schärf und Staatssekretär Kreisky
                                 konnten nur die ablehnende Haltung ihres Parteivorstandes vertreten.


    Bei den Gesprächen in Moskau vom 11. bis 15. April 1955 konnte in mühsa-
men und langwierigen Verhandlungen in Sachfragen Übereinstimmung gefunden
werden: über die Heimkehr der Kriegs- und Zivilhäftlinge, über das „Deutsche Ei-
gentum“, die Erdölfelder, über den Rückkauf der DDSG (Donau-Dampfschifffahrt-
Gesellschaft m. b. H.) und die Ablöselieferungen für das „Deutsche Eigentum“. Dies
allerdings hieß, dass letztlich die zukünftige Außenpolitik Österreichs klargelegt sein
musste. Erst als Raab klar aussprach, dass Österreich sich als ein neutraler Staat de-
klarieren wolle, und zwar auf der Grundlage eines Verfassungsgesetzes, welches der
Nationalrat nach Abzug des letzten alliierten Besatzungssoldaten beschließen werde,
war der Durchbruch gelungen.
    Wie nun dieser Erfolg Österreichs in Moskau möglich wurde, darüber gab es die
unwahrscheinlichsten Vermutungen und angeblich witzige „Sager“. Die Auslands-
presse ging nicht sehr wohlwollend mit diesen Nachrichten über den österreichischen
Erfolg um. Das ging von „sich über den Tisch ziehen lassen“, „die Sowjets unter den
Tisch getrunken haben“ bis zur angeblichen Wirkung des österreichischen „Schmähs“.
Natürlich war auch einfach von Wunder die Rede. In Wahrheit gab es in Moskau              Solange es keinen
                                                                                          Staatsvertrag gibt,
sehr eingehende Diskussionen über alle Einzelheiten der noch offenen Probleme des
                                                                                          können die Sowjets
Vertragsentwurfes. Die österreichische Delegation zeigte sich als überaus fachkundi-      mit der Ausbeutung
ger und zäher Verhandlungspartner der Sowjetunion gegenüber. Es wurde auch nicht          Österreichs fortfahren.
an offenen Worten gespart, wenn dies notwendig erschien.
    In der Fülle der eindrucksvollen Erlebnisse gibt es eines, das mich überaus be-
rührt hat und das besonders zeigt, mit welcher Haltung die österreichische Delega-
tion mit den Sowjets verhandelt hat:
    In Moskau selbst war bereits am 13. April 1955 mehr als die Hälfte der Materien
behandelt und provisorisch abgeschlossen worden. Die einzelnen Kapitel des Ver-
tragstextes wurden von den Sowjets unter der Voraussetzung abgeschlossen, dass über
die politischen Grundsatzfragen Einigung erzielt werde.
    Molotow gab am späten Nachmittag einen Empfang im Spiridonowska-Palais.
Dabei kam es zu einem eigenartigen Vorfall. Molotow, ein sowjetischer Dolmetscher,
Figl und ich standen beisammen und tauschten Belanglosigkeiten über Wetter und
die Schönheit des Kremls und so weiter aus. Plötzlich sagte Figl: „Herr Ministerprä-
sident Molotow, Sie können sich kaum vorstellen, wie beeindruckend für mich
schon in der Zwischenkriegszeit der Name Molotow, ,der Hammer‘, war; ein Sym-
bol der großen Sowjetmacht.“ Das ging noch so einige Sätze in einer etwas blumigen
Sprache weiter. Aber dann kam etwas Besonderes.
    Figl sagte: „Aber am meisten beeindruckt war ich, als wir einmal im KZ um
fünf Uhr früh bei eisiger Kälte am Appellplatz antreten mussten, gefroren haben

DER N Ö BAU ER N BU N D U N D SEIN E GESC HICH T E
Der NÖ Ba u er n b un d un d der Staatsver tra g


wir – einige Häftlinge sind vor Schwäche umgefallen –, und dann haben wir nach
endlosen Stunden plötzlich zu unserem maßlosen Erstaunen Ihre Stimme aus dem
Lautsprecher des Konzentrationslagers gehört. Das war damals, als Sie den Vertrag
mit Hitler abgeschlossen hatten.“
    Ich dachte, nun bricht die Welt zusammen, aber Molotow sagte nur „da, da“ (ja, ja).
Figl hatte damit signalisiert, wir wissen und erinnern uns sehr gut, am Beginn die-
ses furchtbaren Krieges gab es den Hitler-Stalin-Pakt – und Figl und seine Leidens-
genossen mussten die Qualen der KZ-Haft über sich ergehen lassen.
                           Figl gab damit auch einen Hinweis auf das Verhalten der
                       Staatengemeinschaft im März 1938, als sich alle Staaten beeil-
                       ten, die von Hitler geschaffene Situation mit der Einverlei-
                       bung Österreichs durch entsprechende Handlungen sofort an-
                       zuerkennen.
                           Dieses Gespräch Figl/Molotow hatte noch eine sehr be-
                       deutungsvolle Fortsetzung. Als am Ende der Außenminister-
                       konferenz am 14. Mai 1955 in Wien der Text des Staatsver-
                       trages schon fix und fertig für die Unterzeichnung am nächs-
                       ten Tag im Belvedere vorlag und nur noch eine letzte Zustim-
                       mung der Außenminister erfolgen sollte – das war nur noch
                       ein formeller Akt –, sagte Figl, er könne diesen Vertrag so nicht
                       unterschreiben. Die Präambel – also das Vorwort – spreche
                       von einer Mitverantwortung Österreichs am Krieg, aber Öster-
                       reich habe damals als Staat nicht existiert, er könne vor seinen
gefolterten und ermordeten KZ-Kameraden nicht verantworten, so etwas zu unter-
schreiben. Plötzlich war Stille und fast ein greifbares Entsetzen im Konferenzraum.
Es war die Angst, in letzter Minute könnte der langersehnte Staatsvertrag und damit
die so lange erwartete endgültige Freiheit Österreichs aufs Spiel gesetzt sein. Da mel-
dete sich Molotow zu Wort und erklärte, er brauche diesen Absatz des Vertrages
nicht. Die anderen drei Außenminister folgten ihm und verzichteten auf diesen
Absatz der Präambel. Damit war dann der Weg frei für den historischen nächsten
Tag, den 15. Mai 1955.
    Es war dies ein großartiger persönlicher Erfolg für Leopold Figl und damit eben-
so für Österreich. Am 15. Mai 1955 haben fast alle Österreicher mit dem Wort
„Österreich ist frei!“ – wahrscheinlich erstmals seit 1918 – empfunden, dies ist nun
das Österreich, das ihnen allen gehört.
    Von diesem Tag an hat sich die kritische Einstellung der Österreicher gegenüber
der Neutralität sehr rasch in uneingeschränkte Zustimmung gewandelt. Ein natio-


nales Selbstbewusstsein begann sich zu entwickeln. Die volle politische Respektie-
rung der österreichischen Neutralität in aller Welt – eine Neutralität, die keine
Gesinnungsneutralität sein wollte – erfolgte erst ein Jahr später, als Österreich sich
in der Folge der ungarischen Revolution als stabiler Faktor in der Mitte Europas
zwischen den feindlichen Weltmächten voll bewährte. Es lieferte den tatkräftigen
Beweis, dass diese österreichische Neutralität sehr wohl für Flüchtlinge und politisch
Verfolgte vorbehaltlos eintrat.

ZEITZEUGE Ludwig Steiner erlebte als Sekretär von Bundeskanzler Raab und als Vertrauter von Leopold Figl
das Werden des Staatsvertrages mit. Die Fotos zeigen ihn im Staatsvertragsjahr 1955, dann 1985 und schließlich
2005 bei der NÖ Bauernbundwallfahrt.

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