Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...

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Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...
kapitel 6

Der osmanisch-türkische Typ
Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des
Osmanischen Reichs (17. Jh.)

6.1    Einleitende Bemerkungen1                                          1. Zentralbibliothek Zürich, Ms. or. 20; 4.7 × 308.0
                                                                            cm (ABB. 136–142).5
Bereits in einem frühen Stadium der Ausein-                              2. Universitätsbibliothek Leipzig, B. or. 328; 4.7 ×
andersetzung mit diesen Dokumenten in Rol-                                  349 cm; datiert: 21. Raǧab 1041/12. Februar 1632
lenform liess sich eine Gruppe von Belegstü-                                (ABB. 143–146).6
cken identifizieren, die mutmasslich aus dem
Osmanischen Reich stammen.2 Die hier näher
                                                                           aus Karlsruhe hervorgeht (vgl. gerade anschliessend Nr.
vorzustellenden Belegstücke sind in der Regel                              4, mit Anm. 8: Petrasch, Türkenbeute, 1991). Dieses Exem-
ca. 4.5–5.0cm breit und ungefähr 3–4m lang;                                plar liess sich trotz Anfragen an zahlreiche Institutio-
sie dürften hauptsächlich im 17. Jh. entstanden                            nen in Wien nicht identifizieren. Es liess sich auch nicht
sein. Beim Beschreibstoff handelt es sich um ein                           nachweisen im Katalog zur Ausstellung, die 1883 zum
dünnes, oft nahezu transparentes Papier.3 Die-                             Gedächtnis an den Entsatz Wiens organisiert worden war
                                                                           (vgl. Katalog der Historischen Ausstellung der Stadt Wien
ser osmanisch-türkische Typ wird im folgenden                              1883).
anhand einer näheren Untersuchung von sieben                             5 Nünlist, Handschriften 74–80 (Ms.or. 20). Diese Rolle
Dokumenten präzisiert, die sich durch ein weit-                            wurde in einer gedrechselten Holzkapsel aufbewahrt;
gehend identisches Grundmuster und eine grosse                             Höhe der Kapsel: 6.4cm; Innendurchmesser: 2.5cm (siehe
                                                                           auch Anm. 12). Dieses Belegstück wurde im Juni 2007
Anzahl gemeinsamer Gestaltungselemente aus-                                restauriert (Restaurierungsprotokoll vorhanden).
zeichnen. Es handelt sich um die folgenden Beleg-                        6 Fragmentarisch erhalten; der Anfang des Dokuments fehlt.
stücke:4                                                                   Vgl. Fleischer, Catalogus 552 (Nr. CCCLIII); siehe auch:
                                                                           http://www.islamic‑manuscripts.net/receive/IslamHSBoo
                                                                           k_islamhs_00011058.
1 Sämtliche in diesem Kapitel 6 aufgeführten Internet-                        Die Datierung ergibt sich aus einem Kolophon ganz
  Quellen wurden zwischen dem 1. und 10. Januar 2015 zum                   am Schluss der Rolle (goldene Schrift auf neutralem Hin-
  letzten Mal aufgerufen.                                                  tergrund; Rechts, senkrecht, absteigend, und links, senk-
2 Der vorliegende Abschnitt stellt die Langfassung eines Auf-              recht, aufsteigend: ‫تمت فی یوم الجمعة من شهر رجب المبارك‬
  satzes dar, der 2017 stark gekürzt veröffentlicht wurde. In              ‫ بتاریخ سنة احد وار بعون والف‬۲۱). Hier auch folgende Anga-
  Abweichung zum Vorgehen in den Kapiteln 4 und 5 wur-                     ben zum mutmasslich ersten Besitzer des Dokuments:
  den hier keine eigentlichen Katalogisate zu jedem ein-                     ‫صاحبها الحاجی احمد الحقیر الضعیف المحتاج الی رحمت اللطیف‬
  zelnen Belegstück erstellt; es hätte sich nicht gerecht-                   ‫تم‬. Danach Hinweis auf den Kopisten: ‫الکاتب الضعیف عبد‬
  fertigt, den in sich geschlossenen Text des Artikels wie-                  [‫الرحمن لیلولو بی\لیلولو یی )؟( غفر الله له ]…؟‬, also ʿAbd ar-
  der in seine Einzelteile zurückzuführen. Beim erwähn-                      Raḥmān Laylūlūbī; die Entzifferung dieses Namens ist
  ten Artikel handelt es sich um folgenden Beitrag: Nün-                     nicht gänzlich gesichert. Auf der Rückseite des Doku-
  list, Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischor-                    ments ein weiterer Eintrag mit dem Namen eines späte-
  den.                                                                       ren Vorbesitzers: „Ṣāḥibu-hū wa-māliku-hū ʿAywāz, (allen-
3 Aus dem Osmanischen Reich sind auch Belegstücke                            falls ʿAbwāz?) b. ʿAbdallāh“. ‫صاحبه ومالـکه عیواز بن عبد‬
  bekannt, bei deren Beschreibstoff es sich um starkes Papier                ‫الله‬. Eine Person dieses Namens liess sich nicht nachwei-
  handelt. Sie werden hier nicht untersucht; vgl. dazu unten                 sen. Der Name ʿAbwāz ist belegt in Nuʿman Debbagade,
  Anm. 9 und 11.                                                             Tuhfah al-sukuk. (Geschenk der gerichtlichen Dokumente.
4 Ein zusätzliches, mit den hier berücksichtigten Exempla-                   Sammlung von 670 Rechtssprüchen.) turc. Constantino-
  ren vergleichbares Belegstück soll sich in Wien befinden,                  pel, 1248/1832 (Österreichische Nationalbibliothek); darin
  wie aus einem Hinweis im Katalogtext zur Amulettrolle                      S. 10.

© Tobias Nü nlist, 2020 | doi:10.1163/9789004429154_008
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                                                                                                                          Tobias Nünlist - 9789004429154
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Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...
der osmanisch-türkische typ                                                                                                      595

3. Staatsbibliothek Berlin, Ms. or. oct. 403; 5.0 ×                 7. Historisches Museum, Budapest, BTM KO 99.
   333.0cm.7                                                             119.3; 3.5–3.6 × 162.0cm; fragmentarisch erhal-
4. Badische Landesbibliothek, Karlsruhe, Hs.                             ten (ABB. 157–159).11
   Rastatt 204; 5.0×395.0cm, datierbar in die Zeit                  Unter den angeführten Dokumenten stehen ein-
   1640–1648 (ABB. 147–151).8                                       ander einerseits die drei Exemplare aus Zürich
5. Bayerische Staatsbibliothek, München, Cod.                       und Berlin sowie teilweise Leipzig und ander-
   arab. 206; 4.5×360.0cm (ABB. 152–154).9                          seits die drei Dokumente aus Karlsruhe, Mün-
6. Württembergische Landesbibliothek, Stutt-                        chen und Stuttgart besonders nahe. Verschiedene
   gart, Cod. or. 8° 83; 4.4×362.0cm; datiert: 20.                  von diesen sechs Rollen bekannte Elemente las-
   Ḏū l-Ḥiǧǧa 1093/20. Dezember 1682 (ABB. 155–                     sen sich auch auf dem Belegstück aus Budapest
   156).10                                                          nachweisen. Dieses Exemplar ist allerdings einfa-
                                                                    cher gestaltet und dürfte unter den beigezogenen
                                                                    Dokumenten am frühesten entstanden sein. Die
7  Vgl. dazu Ahlwardt, Verzeichniss der arabischen Hand-            beiden Belegstücke aus Zürich und Karlsruhe wer-
   schriften III, Nr. 3688. W. Ahlwardt datiert dieses Doku-        den jeweils in einem Behältnis aufbewahrt. Die
   ment in die Zeit um 1150/1737. Als Besitzer nennt sich
   ganz am Schluss ein gewisser Aḥmad („Ṣāḥib wa-mālik
                                                                    andern untersuchten Rollen sind ohne Behältnis
   banda Aḥmad“). Da dieses Dokument schlecht erhal-                erhalten geblieben.12
   ten ist, war eine Untersuchung am Original nur ganz                 Die weiteren Ausführungen sind in einem ers-
   beschränkt möglich. Bei der Abfassung dieses Beitrags            ten Schritt deskriptiv orientiert und stellen die
   stand ausschliesslich ein Mikrofilm (schwarzweiss) zur           für den Inhalt und die Gestaltung der untersuch-
   Verfügung. Farbige scans liessen sich nicht beschaffen.
8 Dieses Belegstück wurde in einer silbernen Büchse                 ten Rollen wichtigen Elemente vor (Abschnitt 6.2).
   aufbewahrt. Man beachte die Analyse dieser Rolle in              Sie gehen anschliessend der ideologischen Einord-
   Petrasch, Karlsruher Türkenbeute 382 f. (Nr. 319). Vgl. den      nung der Dokumente nach (Abschnitt 6.3) und
   Auszug daraus unter: http://www.tuerkenbeute.de/sam/             versuchen darauf, den historischen Kontext zu
   sam_sch/RA204_02_de.php?vmSiteSession=b3b19056a3
   16ba7480beed0efb58b2ee. Zur Karlsruher Rolle siehe
                                                                    erschliessen, in dem sie in Gebrauch gewesen
   ausserdem bereits: Petrasch und Zimmermann, Türken-              waren und mutmasslich auch hergestellt wurden
   louis 226 f. (Nr. 538). Überdies: Die Handschriften der          (Abschnitt 6.4). Ein letzter Teil (Abschnitt 6.5) fasst
   Grossherzoglich-Badischen Hof- und Landesbibliothek in           die Erkenntnisse zusammen.
   Karlsruhe. Teil 2: Orientalische Handschriften 29 f. (Nr. 18).
   Allgemeine Angaben zur Karlsruher Türkenbeute in der
   Einleitung zu Petrasch, Die Türkenbeute (1997) IX–XXVII.
9 Diese Rolle ist aufrufbar unter http://daten.digitale‑sam         11 Vereinzelt weist der vorliegende Beitrag zur Ergänzung
   mlungen.de/bsb00039630/image_1 (Stand 22. Januar                    auf das deutlich einfacher gestaltete Belegstück Duod.
   2020). Zur Ergänzung wird hingewiesen auf Cod. arab.                Arab. 5 aus der Ungarischen Nationalbibliothek, Buda-
   205, Cod. arab. 207 und Cod. turc. 41 und 42, aus der-              pest, hin.
   selben Bibliothek. Zu Cod. arab. 205, 206 und 207 siehe:         12 Zur Frage nach der Zusammengehörigkeit von Rolle und
   Aumer, Die arabischen Handschriften der K. Hof- und                 Behältnis siehe Anm. 231. Die Rollen wurden ursprüng-
   Staatsbibliothek, alle S. 62. Zu Cod. turc. 41 und 42 siehe:        lich ganz straff aufgewickelt in diesen engen Behältnis-
   Aumer, Verzeichniss der orientalischen Handschriften 13.            sen aufbewahrt und standen unter sehr hoher Span-
10 Die Rolle hat einen Kolophon mit folgenden Angaben zur              nung. Es war wohl durchaus Absicht, diese Spannung
   Datierung: ‫تمت بعون الله وحسن توفیقه فی الیوم عشرون من‬              zu erzeugen. Wenn man die Dokumente nach langer
   ‫شهر ذ ]کذا[ الحجة شر یف تسعون ثلث الف م‬. Hier auch ein              Zeit wieder öffnet, entlädt sich diese Spannung und das
   Hinweis zum Besitzer Muṣṭafā b. ʿUṯmān (‫مالك صاحب‬                   Dokument entrollt sich mit hoher Geschwindigkeit von
   ‫)حامد الله تعالی مصطفی بن عثمان‬.                                    selbst. Die darauf enthaltenen Schutzelemente werden
       Die Württembergische Landesbibliothek, Stuttgart,               dabei allen potentiellen Störenfrieden gewissermassen
   besitzt ausserdem sieben weitere Rollen aus dem islami-             mit grosser Energie entgegengeschleudert. Aus konserva-
   schen Kulturraum, die vorliegend aber nicht näher vor-              torischen Gründen werden derartige Dokumente heute
   gestellt werden. Es handelt sich um Cod. or. 8° 13, 14, 34,         zumeist nicht mehr in ihren ursprünglichen Behältnis-
   55, 71, 84 und 85.                                                  sen selbst aufbewahrt.

                                                                                                                 Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                                 Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
                                                                                                                                   via free access
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6.2 Bemerkungen zu Inhalt und Gestaltung                      dern der Rolle Cod. or. 8° 83 (Stuttgart) wurden
    der Rollen                                                die beiden Suren 36 und 48 auf nahezu der gesam-
                                                              ten Länge der Rolle kopiert; diese zwei Koran-
Die zu untersuchenden Rollen aus osmanischen                  stellen enden auf diesem Exemplar erst kurz vor
Kontexten zeichnen sich, wie bereits angetönt,                dem Schluss des Dokuments. Ganz am Ende dieses
durch einen weitgehend identischen Aufbau aus.                Belegstücks lässt sich ein zusätzliches Textelement
Allgemein formulierend lässt sich auf den beige-              erkennen.15 Auf dem Exemplar aus Leipzig (B. or.
zogenen Belegstücken eine Zweiteilung feststel-               328) lässt sich eine ähnliche Gestaltung feststel-
len. Im ersten Teil der Rollen lassen sich verschie-          len (ABB. 143). Hier beginnt bei der Burda auf dem
dene Textelemente erkennen. Sie sind zumeist                  rechten Seitenband vorwärtslaufend Q 48. Sie wird
in aufwendig ausgeführte Figuren und Symbole                  auf dem rückwärtslaufenden Textband auf der
integriert. Diese gestalterischen Elemente tragen             linken Seite fortgesetzt und endet 85.5 cm unter-
massgeblich zur ästhetisch ansprechenden Wir-                 halb des Beginns der Mantelode (Burda). Danach
kung dieser Dokumente bei. Diese Aspekte wer-                 schliesst sich ein Gebet zum Lob Muḥammads an
den erst später untersucht (vgl. Kapitel 6.2.2). Der          (Duʿāʾ Ḥabīb Allāh). Q 36 ist auf dem Dokument
zweite Teil der angeführten Rollen hingegen ent-              aus Leipzig in Abweichung zu den Parallelstücken
hält hauptsächlich Text in Ġubār-Schrift. Hinweise            also nicht kopiert.16 Auch auf dem Dokument aus
zu diesem auf den beigezogenen Belegstücken                   dem Historischen Museum Budapest wurde im
zumeist ähnlich gestalteten Teil stehen in einem              zweiten Teil Būṣīrīs Qaṣīda notiert; auf diesem
ersten Schritt im Vordergrund (Kapitel 6.2.1).                Exemplar fehlen jedoch die beiden Seitenbänder
                                                              mit Suren 36 und 48 (ABB. 158).17 Die soeben ange-
6.2.1 Zweiter Teil der Rollen: Būṣīrīs Qaṣīdat                führten drei Texte (Burda, Suren 36 und 48) las-
      al-Burda                                                sen sich anders angeordnet jedoch ebenso auf dem
Es fällt auf, dass die Rollen aus Zürich (ABB. 137)           schlecht erhaltenen Belegstück aus Berlin nach-
und Karlsruhe (ABB. 147) im zweiten Teil eine                 weisen.18 Zusätzlich lässt sich die Mantelode auf
Kombination derselben Texte enthalten: Im brei-
ten Mittelband (Breite des Schriftspiegels: 2.5cm)                 dem Schriftband auf der linken Seite zurück bis ans Ende
der beiden Dokumente steht Būṣīrīs Qaṣīdat al-                     der Sure. Zugleich beginnt am Rollenanfang auf der lin-
                                                                   ken Seite Q 48 (al-Fatḥ). Ihr Ende wird durch einen gros-
Burda. Am linken und rechten Rand lassen sich
                                                                   sen roten Verstrenner markiert. Q 36 und Q 48 stossen
auf einem schmalen Streifen (Breite je ca. 6mm)                    jedoch nicht direkt aufeinander, sondern sind durch den
in Ġubār-Schrift (Höhe ca. 3mm) die Suren Yā-sīn                   Einschub von Q 112 (al-Iḫlāṣ) voneinander getrennt. Die
(Q 36) bzw. al-Fatḥ (Q 48, Der Sieg) erkennen.13                   letzten drei Wörter von Q 112 (la-hū kufuwan aḥad) befin-
Die Kombination derselben Texte lässt sich über-                   den sich ausserhalb des Schriftbands.
                                                              15   Es handelt sich um Q 110. Auf der Gegenseite lässt sich
dies auf Cod. arab. 206 (München) beobachten;                      eine kurze Lobpreisung Gottes und seiner Propheten
Q 36 und Q 48 beginnen hier allerdings bereits am                  erkennen. Ausserhalb des Schriftspiegels folgen unten
Rollenanfang.14 Auch auf den beiden Seitenbän-                     die Schlussverse der Qaṣīdat al-Burda.
                                                              16   Die Länge des Abschnitts mit der Burda misst auf dem
13 Auf dem Belegstück aus Zürich beginnt Q 36 am Anfang            Belegstück aus Leipzig ca. 255cm. Es fällt auf, dass eine
   der Burda auf der rechten Seite und läuft danach auf das        horizontale Überleitung des vorwärtslaufenden ins rück-
   Ende des Dokuments zu. Der Text von Q 48 beginnt am             wärtslaufende Schriftband ganz am Rollenende fehlt. Die
   Rollenende und läuft auf der linken Seite zurück zum            Höhe der Schrift in den Seitenbändern beträgt ca. 2mm.
   Anfang der Qaṣīdat al-Burda.                               17   Die schlechte Erhaltung des Dokuments hat zu bedeu-
14 Cod. arab. 206 (München): Q 36 (Yā-Sīn) läuft auf diesem        tenden Textverlusten geführt. Gerade am Anfang der
   Belegstück auf der rechten Rollenseite in einem schma-          Qaṣīdat al-Burda lässt sich der Text allerdings noch
   len Band auf das Ende des Dokuments zu. Am Schluss              erkennen.
   der Rolle steht Q 36:77 (horizontaler Übergang zum rück-   18   Die Qaṣīdat al-Burda ist auch auf Ms. or. oct. 403 (Berlin)
   wärtslaufenden Schriftband). Der Text läuft dann auf            im zweiten Teil der Rolle kopiert worden. Suren 36 und

                                                                                                              Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                              Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
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Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...
der osmanisch-türkische typ                                                                                                     597

einer deutlich einfacher gestalteten Rolle aus der                   Auch die zwei zumeist auf den beiden Seiten-
Ungarischen Nationalbibliothek feststellen.19 Es                  bändern entlang der Burda kopierten Suren 36
verdient Erwähnung, dass sich Būṣīrīs Text bereits                (Sūrat Yā-sīn) und 48 (Sūrat al-Fatḥ) weisen apo-
auf anders gestalteten Rollen belegen lässt, die ver-             tropäische Wirkung auf. Sure Yā-sīn bzw. Auszüge
mutlich um 1400 entstanden sind und hier deshalb                  daraus lassen sich auf Amuletten häufig nachwei-
nicht näher untersucht werden.20                                  sen.22 Sure Yā-Sīn befindet sich in der Mitte des
   Būṣīrīs Qaṣīdat al-Burda zählt zu den am wei-                  Korans und ist deshalb als dessen Herz (Qalb al-
test verbreiteten Schutzgebeten in der islamischen                Qurʾān) bekannt.23 Die Abschrift von Q 48 (al-Fatḥ,
Welt.21 Būṣīrī lebte im 13. Jh. und stammt aus Ober-              Der Sieg) dürfte u. a. programmatischen Charakter
ägypten. Zu seinen berühmtesten Werken zählen                     haben und dem Träger der Rolle Erfolg im Kampf
zwei Lobgedichte auf den Propheten Muḥammad,                      in Aussicht stellen.24
die Hamziyya und die Burda. Būṣīrīs Biographen                       Es fällt auf, dass dieser zweite Rollenteil auf den
berichten, dass er das Mantelgedicht verfasst habe,               beigezogenen Belegstücken nicht nur eine Kom-
als er ernsthaft erkrankt und halbseitig gelähmt                  bination derselben Texte enthält, sondern auch
gewesen sei. Nachdem er das Werk beendet hatte,                   weitgehend identisch gestaltet ist. Die folgende
betete er zu Gott und flehte um Heilung. Darauf                   Beschreibung schenkt dem Dokument aus Zürich
erschien ihm der Prophet im Traum, legte seine                    besondere Beachtung, auf dem dieser Abschnitt
Hand auf seine Stirn und hüllte ihn in seinen Man-                ca. 170cm lang ist (inklusive Titelfeld von 2.3 cm
tel, in seine burda eben, ein. Als Būṣīrī erwachte,               Höhe; ABB. 137). Die Breite des Schriftspiegels
war er geheilt. Die Berichte über dieses Wunder                   beträgt 2.5 cm. Jeder Vers wurde in einem Kästchen
verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und trugen zur                notiert, das gegenüber dem Rollenrand eine Nei-
Berühmtheit der Mantelode bei. Dem Gedicht ist                    gung von etwa 45° aufweist. In den Kästchen selbst
ein therapeutisches Element inhärent, das seine                   verläuft der Text von rechts unten nach links oben.
Popularität erklärt.                                              Durch die Neigung der Kästchen mit den Versen
                                                                  entstehen zur Linken und Rechten des Schriftspie-
   48 sind hier auf einem schmalen Seitenband notiert,            gels kleine Dreiecke. Jeweils zwei Verse sind seit-
   das die gesamte Rolle einfasst. Da die Rolle am Anfang         lich mit silbernen bzw. goldenen Dreiecken ein-
   unvollständig erhalten ist, beginnt der Text auf dem           gefasst. Auf der Zürcher Rolle wurde der Text der
   vorwärtslaufenden Schriftband erst mit Vers 36:6. (Bl.
                                                                  Qaṣīdat al-Burda in voll vokalisiertem Ġubār-Nasḫ
   18 auf dem Mikrofilm der Rolle). Am Rollenende ist
   Q 36:67–68 zu erkennen (horizontaler Übergang); darauf         mit schwarzer Tinte kopiert.
   läuft der Text auf der entgegengesetzten Seite der Rolle          Die Abschrift der Mantelode ist auf allen ange-
   an deren Anfang zurück. Q 36 endet auf Bl. 6 (Mikrofilm);      führten Belegstücken auf ganz ähnliche Weise aus-
   direkt anschliessend beginnt Q 48. Da der Rollenanfang         geführt worden. Es fällt jedoch auf, dass die Käst-
   verloren ist, endet Q 48 mit Vers 25 (Anfang; Bl. 18
   Mikrofilm). Der Schluss von Q 48 (Verse 25–29) fehlt.
                                                                  chen auf den Rollen aus Karlsruhe (ABB. 147) und
19 Ungarische Nationalbibliothek, Budapest, Duod. Arab. 5.        Leipzig (ABB. 143) deutlich steiler geneigt sind
20 Alsaleh, Licit magic, macht auf zwei Rollen aus dem            (ca. 60°). Dieselbe Beobachtung trifft auf Cod.
   Museum Dār al-Āṯār al-Islāmiyya, Kuwait, aufmerksam,
   die beide grosse Teile der Qaṣīdat al-Burda enthalten
   (DAI LNS 25 MS, mit Figur 41, S. 356).
21 Für die folgenden Ausführungen vgl. Sperl, 50. Muḥam-          22 Siehe dazu: Canaan, Decipherment 127–134, v.a. 129
   mad b. Saʿīd al-Būṣīrī (d. c. 1296): The Burda 389–411 (ara-      (Abschnitt 2).
   bischer Text mit englischer Übersetzung) und 470–476           23 Vgl. op. cit. 131. Siehe ausserdem Bain, The late Ottoman
   (Anmerkungen). Zur Qaṣidat al-Burda siehe ausserdem               Enʿam-ı şerif 53. Gemäss A. Bain handelt Q 36 auch
   Homerin, al-Būṣīrī, in EI3; Pinckney Stetkevych, From             ausführlich vom Jenseits. Es werde deshalb empfohlen,
   text to talisman: al-Būṣīrī’s ‘Qaṣīdat al-Burda’; al-Būṣīrī,      sie am Totenbett des Gläubigen zu rezitieren.
   Al-burda = (le manteau), texte arabe traduit et commenté       24 Zur Verwendung von Q 48 auf Talismanen vgl. Canaan,
   par H. Boubakeur.                                                 Decipherment 129.2.

                                                                                                                Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                                Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
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Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...
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arab. 206 (München)25 und Cod. or. 8° 83 (Stutt-            lenvierecke (wafq); 3. Die Schönen Namen Gottes
gart) zu. Auch im zweiten Teil der Rolle aus dem            und die Löblichen Eigenschaften des Propheten; 4.
Historischen Museum Budapest ist die Qaṣīdat                Die Figur Šakl-i ʿayn-i ʿalī und 5. Gebete.27 6. Ein
al-Burda in Kästchen kopiert worden. Die Burda              letzter Teil der folgenden Beschreibung macht auf
lässt sich überdies am Schluss des bereits erwähn-          die Erwähnung der vier rechtgeleiteten Kalifen auf
ten, deutlich einfacher ausgeführten Dokuments              den beiden Belegstücken aus Berlin und Leipzig
aus der Ungarischen Nationalbibliothek nachwei-             aufmerksam.
sen.26 Die Verse des Gedichts sind in diesem Fall
zwar nicht in die auf den Paralleldokumenten zu             6.2.2.1 Lanzetten und Zypressen
beobachtenden Kästchen notiert worden. Auch                 Aus den erhaltenen Teilen lässt sich schliessen,
hier wurde jedoch die zuvor festgestellte Neigung           dass das Grundmuster der Belegstücke aus Zürich
des Texts beibehalten. Es sei bei dieser Gelegen-           und Berlin am Anfang grosse Ähnlichkeiten auf-
heit in allgemeiner Form darauf hingewiesen, dass           wies. Zu Beginn des Zürcher Dokuments lässt sich
diese Schrägstellung von Textelementen den apo-             in der Rollenmitte eine lanzettenförmige Verzie-
tropäischen Charakter dieser Dokumente erhöhen              rung erkennen (Länge ca. 14.8 cm; ABB. 136). Auf
soll.                                                       ihrem silbergrauen Hintergrund steht in golde-
                                                            nen Buchstaben ‫نصر من الله وفتح قر یب و بش ِ ّر المؤمنین‬
6.2.2 Zum ersten Teil der Rollen                            ‫یا محمد‬.28 Die beiden Spickel, die sich nach einem
Der erste Teil der zu untersuchenden Rollen ist             ca. 0.3 cm breiten Leerraum gegen den Rollenrand
deutlich komplexer aufgebaut. Er enthält auf den            hin anschliessen, sind mit einem floralen Ran-
einzelnen Belegstücken zahlreiche identische Ele-           kenmuster verziert. An der Basis des ersten Zier-
mente, die massgeblich zu ihrem hohen kunsthis-             felds des Zürcher Dokuments lässt sich ein kup-
torischen Wert beitragen. Nur die Rollen aus Karls-         pelförmiges Ornament in den Farben Rot, Gold
ruhe, Stuttgart und München sind am Anfang voll-            (bzw. Braun), Blau, Grün und Weiss feststellen, wie
ständig oder nahezu vollständig erhalten. Bei den           es auch von Anfangszierfeldern von Handschrif-
Belegstücken aus Zürich, Leipzig, Berlin und Buda-          ten bekannt ist. Aus der Kuppelspitze heraus geht
pest hingegen ist es zu Verlusten gekommen. Im              eine feine goldene Linie hervor, die auf die zuvor
Fall des Dokuments aus Berlin (Ms. or. oct. 403)            erwähnte Lanzette hinweist, damit aber nicht ver-
sind sie bedeutend.                                         bunden ist. Der Leerraum zur linken und rech-
   Die folgenden Ausführungen beschreiben die-              ten Seite der Zentralachse wird erneut durch ein
sen Anfangsteil der Rollen unter besonderer                 florales Rankenmuster ausgefüllt. Unterhalb die-
Beachtung des Zürcher Exemplars. Sie machen
aber zugleich auf ähnliche Elemente oder zusätz-            27 Dieser Abschnitt weist ergänzend auf die Anrufung von
                                                               Personen aus der islamischen Heilsgeschichte hin.
liche Verzierungen auf den beigezogenen Ver-                28 Auszug aus Q 61:13: „Naṣr min al-Allāh wa-fatḥ qarīb wa-
gleichsstücken aufmerksam. Stark vereinfacht for-              baššir al-muʾminīn yā Muḥammad“ („Hilfe von Gott und
muliert lassen sich auf dem Zürcher Belegstück                 naher Sieg. Verkünde frohe Botschaft den Gläubigen, o
und – in zumeist modifizierter Form – auf den Pa-              Muḥammad!“). Auf dem Belegstück aus Berlin fehlt diese
                                                               erste Lanzette jetzt. Auf dem Dokument aus dem Histo-
ralleldokumenten fünf grössere Abschnitte mit
                                                               rischen Museum Budapest ist die Lanzette zwar vorhan-
den folgenden Hauptelementen erkennen: 1. Lan-                 den. Ob auch darauf Text stand, lässt sich aufgrund der
zetten und Zypressen; 2. Siegel (muhr) und Zel-                schlechten Erhaltung nicht mit Sicherheit feststellen. Auf
                                                               dem Karlsruher Exemplar lässt sich dieses Zitat in einem
                                                               ersten Zierelement ebenso nachweisen (vgl. ausführli-
25 Ganz am Schluss dieser Münchner Rolle ein absichtlich       cher bei Anm. 30–33). Bain, The late Ottoman Enʿam-ı
   verschmierter und jetzt unleserlicher Vermerk.              şerif 150 (Anm. 87), macht darauf aufmerksam, dass sich
26 Ungarische Nationalbibliothek, Budapest, Duod. Arab. 5      Q 61:13 in der gesamten islamischen Welt häufig auf Waf-
   (Ende).                                                     fen belegen lässt.

                                                                                                          Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                          Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
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Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...
der osmanisch-türkische typ                                                                                                      599

ses ersten Abschnitts mit der Lanzette mit dem                     beginnt nach einer hinzugefügten basmala an der
Auszug aus Q 61:13, schliesst sich ein Zierfeld                    linken Basis der Krone. Die letzten Wörter des Ver-
(Höhe: ca. 10cm) an, auf dem sich auf neutra-                      ses wurden aus Platzgründen im Innern der Krone
lem Hintergrund zwei weitere, hier goldbraun aus-                  notiert. Auf dem Stamm der Zypresse selbst steht
gefüllte, Lanzetten erkennen lassen. Darauf sind                   die basmala.33
in grüner Schrift Teile der šahāda notiert.29 Die                     Auf dem Dokument aus Karlsruhe ruht die
Zürcher Rolle wird gegen aussen im gesamten ers-                   Krone der Zypresse auf einem Stamm, auf dessen
ten Teil durch ein Zierband (Breite ca. 5mm) ein-                  mehrgliedrigen Aufbau im folgenden auf zwei
gefasst, auf dem ein goldbraunes Zickzackband auf                  Ebenen hingewiesen wird. In einem ersten Schritt
blauem Hintergrund hin- und herläuft.30                            wird die Gestaltung des Stamms von unten nach
    Auf dem Karlsruher Exemplar fällt die gerin-                   oben beschrieben. Anschliessend werden die auf
gere Abstraktion der Zierelemente auf dem hier                     dem Stamm enthaltenen Textstellen von oben
diskutierten Abschnitt auf (ABB. 148). Die darauf                  nach unten erläutert.
enthaltene erste Verzierung mit Teilen aus Q 61:13                    Der eigentliche Stamm der Zypresse geht aus
ist nicht als Lanzette ausgeführt worden, sondern                  einer mehrgliedrigen, gelb-braunen Verzierung
wird gemeinhin als Krone einer Zypresse interpre-                  hervor. Ganz zuunterst lässt sich ein hügelför-
tiert.31 In dieser Krone sind zusätzliche Textele-                 miges Element erkennen. Darin steht die Über-
mente enthalten: Dem Rand der Krone entlang                        schrift zu einem Gitterviereck direkt darunter, das
ist Q 2:255 (Thronvers) notiert worden.32 Der Vers                 die 99 Schönen Namen Gottes enthält (ABB. 149).
                                                                   Nach oben schliessen sich zwei übereinander ste-
29 Auf den beiden Lanzetten steht je der folgende Text: „Lā        hende, ineinander verschlungene Kreise an; der
   ilāha illā Allāh, Muḥammad rasūl Allāh“. An dieser Stelle       obere Kreis ist rot ausgefüllt. Nach einer vierteili-
   setzt auch das am Rollenanfang fragmentarisch erhal-            gen, achsialsymmetrisch angeordneten Verzierung
   tene Dokument aus Berlin ein. Die beiden Lanzetten ste-         schliesst sich gegen oben eine Gruppe von drei
   hen auf dem Berliner Parallelstück auf einem Hinter-
   grund, der mit Text ausgefüllt ist. Auf der rechten Lan-
                                                                   sich überschneidenden Kreisen an. Der mittlere
   zette steht „Lā ilāha illā Allāh“; auf der linken Lanzette      Kreis ist am grössten und rot ausgefüllt. Aus dieser
   lässt sich noch entziffern „Yā ḫafiyya l-alṭāf […]“, also: „O   Kreisgruppe wiederum geht die bereits erwähnte
   jener, dessen Wohltaten verborgen sind.“                        Zypresse mit Stamm und Krone hervor.34 Gemäss
30 Die Rolle aus Karlsruhe wird im ersten Teil ebenso von
                                                                   A. Fodor dürfte sie den Träger des Dokuments
   einer schmalen goldenen Zierleiste eingefasst, die zu
   beiden Seiten von zwei haarfeinen schwarzen Linien
   eingerahmt wird. Das Berliner Dokument weist hier               33 Eine ganz ähnliche Gestaltung lässt sich auf den beiden
   eine abweichende Gestaltung auf, lassen sich in diesem             Belegstücken aus Stuttgart (Cod. or. 8° 83) und München
   Fall auf der Randleiste doch bereits am Rollenanfang               (Cod. arab. 206) feststellen. Auf dem Münchner Beleg-
   Textstellen erkennen; dieselbe Beobachtung trifft auf              stück wurde der Thronvers dabei auf der rechten und
   Cod. or. 8° 83 (Stuttgart) und Cod. arab. 206 (München)            linken Seite der Spitze der Zypresse ganz am Rollenan-
   zu. Auf den Belegstücken aus Zürich, Karlsruhe und                 fang notiert.
   Leipzig setzt der Text auf den beiden Randleisten jedoch        34 Auf dem Karlsruher Belegstück wachsen aus dem Stamm
   erst im zweiten Rollenteil mit dem Beginn der Qaṣidat al-          der Zypresse rechts und links goldene tulpenartige Blü-
   Burda ein (vgl. dazu bereits bei Anm. 13 ff.).                     ten hervor, die an das stilisierte Allāh im Emblem der
31 Für die Identifikation dieser Verzierung mit einer                 Islamischen Republik Iran erinnern. Die goldenen Kelch-
   Zypresse vgl. Petrasch, Die Karlsruher Türkenbeute 382             blätter umrahmen den roten Stempel der Blüte. Über
   (Nr. 319). Siehe ausserdem: http://www.tuerkenbeute.de/            den Blüten ein freistehender goldener Strich, der sich
   sam/sam_sch/RA204_02_de.php. Die Gleichsetzung die-                als šadda interpretieren lässt. Zwei identisch gestal-
   ser Verzierung mit einer Zypresse ergibt sich ausserdem            tete Tulpenblüten bereits links und rechts der Spitze
   anhand der beiden Paralleldokumente Cod. or. 8° 83                 der Zypresse. Sie wachsen aus einem länglichen Orna-
   (Stuttgart) und Cod. arab. 206 (München).                          ment heraus, in dem sich buchstabenähnliche Elemente
32 Zur häufigen Verwendung von Q 2:255 auf Schutzmitteln              erkennen lassen. Ob es sich um eine mehrfache Abfolge
   vgl. Canaan, Decipherment 131.                                     des Ausdrucks huwa („Er“, Gott) handelt, lässt sich nicht

                                                                                                                 Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                                 Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
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Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...
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an eine Moschee erinnern. Neben Moscheebau-                             Nach diesen Bemerkungen zur Gestaltung des
ten wächst häufig ein markanter Baum, bei dem es                    Anfangsteils der Karlsruher Rolle ist auf die darin
sich um eine Zypresse handeln kann. Sie ist immer-                  enthaltenen Textelemente hinzuweisen (ABB. 148):
grün35 und kann als Lebensbaum verstanden wer-                      In der ersten Gruppe von drei Kreisen steht Q 1
den.36 Später soll auf eine alternative Interpreta-                 (al-Fātiḥa).39 Das den Kreisrändern entlang ver-
tion dieses Baums hingewiesen werden, der sich                      laufende Schriftband enthält Q 1:1–5 und wech-
einfacher ausgeführt ebenso auf den Paralleldoku-                   selt beim Übergang vom einen zum andern Kreis,
menten nachweisen lässt.37                                          wie erwähnt, die Seite. Die Schlussverse der Fātiḥa
   Auf dem Karlsruher Exemplar verläuft dem                         sind in der Mitte des zweiten bzw. dritten Kreises
Rand der einander überschneidenden Kreise ent-                      (Q 1:6–7a) und auf der rechten und linken Seite
lang ein Schriftband (ABB. 148). Der Text darin ist                 des darunter unmittelbar anschliessenden Zierele-
derart angeordnet, dass er beim Übergang vom                        ments eingefügt worden (Q 1:7b).40 Auf dem nach
oberen zum unteren Kreis die Seite wechselt.                        unten anschliessenden Abschnitt, der zur nächs-
Eine identische Textanordnung lässt sich bereits                    ten Gruppe mit zwei Kreisen überleitet, lassen
auf deutlich früher entstandenen Rollen aus ver-                    sich auf der Zentralachse die folgenden Anrufun-
mutlich mamlukischen Kontexten nachweisen, ist                      gen Gottes und Muḥammads erkennen: Yā Allāh,
darauf allerdings komplexer ausgeführt worden.                      Muḥammad, yā qayyūm, yā ḥayy, yā ḥakīm, yā
Das Gestaltungselement dieser sich überschnei-                      ʿalīm.41 Auf einem Textband steht in den beiden
denden Kreise lässt sich als Anspielung auf bzw.                    Kreisen darunter dem Rand entlang Q 112 (al-
Reminiszenz an diese älteren Belegstücke verste-                    Iḫlāṣ);42 auch hier wechselt das Schriftband beim
hen. Es weist indirekt auch darauf hin, dass die hier               Übergang vom einen zum andern Kreis die Seite.
untersuchten Rollen in ähnlichen sozio-religiösen                   Im Mittelteil der beiden Kreise mit Q 112 und auf
Umfeldern entstanden sind wie diese früheren Pa-                    der hügelförmigen Verzierung an der Basis ist wei-
rallelstücke.38                                                     terer Text enthalten. Er dient – wie schon ange-
                                                                    tönt – als Überschrift zum nächsten Teil des Doku-
      mit Sicherheit entscheiden. Ganz ähnliche Tulpenblüten        ments aus Karlsruhe und weist auf die 99 Schö-
      auch am Anfang von Cod. or. 8° 83 (Stuttgart).                nen Namen Gottes hin. Diese Namen bzw. Eigen-
35    Auf Cod. arab. 206 (München) ist diese Zypresse in der        schaften Gottes werden in einem direkt anschlies-
      Tat grün.
                                                                    senden Gitter-Viereck auch tatsächlich aufgeführt
36    Hinweis von Prof. A. Fodor; mündliche Diskussion, Buda-
      pest, 11. Juni 2014 (Prof. A. Fodor ist leider am 4. August   (ABB. 149).43
      2014 verstorben). A. Fodor stellt dieselben Überlegungen
      auch an in seinem Artikel „Types of Shīʿite amulets from           schriften 243–246 (Nr. 101) und hier Kapitel 4.8). Siehe
      Iraq“ 198 (mit Abb. 11).                                           ausserdem: Staatsbibliothek Berlin, Ms. or. oct. 218 (hier
         Dieselben Elemente (Hügel–Stamm–Krone) lassen                   Kapitel 4.3; vgl. Ahlwardt, Verzeichniss I, Nr. 369; datiert
      sich in deutlich einfacherer Ausführung ebenso auf dem             775/1373), 3. Paris, BNF, Arabe 6088, um 1400 (hier Kapi-
      Belegstück aus dem Historischen Museum Budapest                    tel 4.5).
      nachweisen. Darauf ist an dieser Stelle ein silberner Kreis   39   Vgl. dazu, Canaan, Decipherment 130.
      zu erkennen, dessen unterstes Viertel abgeschnitten ist.      40   Zur Linken und Rechten der Anrufung Yā Allāh, Muḥam-
      Aus diesem Kreis heraus geht ein Stamm hervor, der die             mad; siehe gerade anschliessend.
      Krone der Zypresse trägt. Der Stamm ist sehr einfach          41   Diese beiden zuletzt erwähnten Begriffe rechts bzw. links
      gestaltet. Im silbernen Kreis lassen sich noch verblasste          der Zentralachse. Die Ausdrücke qayyūm (der Bestän-
      Konturen erkennen; ob es sich um Textelemente oder                 dige), ḥayy (der Lebendige), ḥakīm (der Weise) und ʿalīm
      Verzierungen handelt, lässt sich aufgrund des schlechten           (der Wissende) zählen zu den Schönen Namen Gottes.
      Erhaltungszustands des Dokuments nicht entscheiden.           42   Mit Auslassung von yalid in Q 112:3 (Kopistenfehler).
37    Vgl. dazu unten bei Anm. 175–190.                             43   Dieser Abschnitt mit den Schönen Namen Gottes und die
38    Für weitere Belegstücke mit sich überschneidenden Krei-            Überleitung dazu werden erst später beschrieben (vgl.
      sen wird verwiesen auf Universitätsbibliothek Basel,               unten bei Anm. 90–93). Auch Cod. arab. 206 (München)
      M III 173 (beschrieben in Schubert und Würsch, Hand-               führt in zu einer einzigen Gruppe zusammengefassten

                                                                                                                    Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                                    Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
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Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...
der osmanisch-türkische typ                                                                                                      601

   Unmittelbar unterhalb der ersten Lanzette folgt                Kreis als bedeutendstes Gestaltungsmerkmal.48
auf dem Zürcher Exemplar ein weiterer Abschnitt                   Die folgenden Ausführungen stellen die einzelnen
mit einer Doppellanzette.44 Eine vergleichbare                    Abschnitte näher vor (ABB. 138):49
Verzierung lässt sich ebenso auf den Parallelstü-                    a. Der erste Kreis (Durchmesser ca. 3.5 cm) ist
cken aus Karlsruhe und München erkennen, folgt                    in ein goldenes Quadrat eingepasst worden. In
darauf aber erst deutlich später kurz vor dem                     der Mitte des Kreises lässt sich eine Blüte mit
Beginn der Qaṣīdat al-Burda. Diese Verzierung ist                 sechs mandelförmigen roten Blättern erkennen;
auf dem Karlsruher Belegstück erneut in der Form                  sie sind goldbraun umrandet.50 In den Leerräumen
von zwei Zypressen – hier mit goldenem Stamm                      zwischen den sechs Blättern wurde der Ausdruck
und goldener Krone – ausgeführt worden. Sie wer-                  Allāh abwechselnd in roter und blaugrüner Tinte
den von einem schmalen Streifen mit goldenem                      notiert. Dem Kreisrand entlang verläuft ein Band,
und braunem, im Mittelteil rot–silbrig-rotem, Hin-                das in Ġubār-Schrift folgenden Text enthält: ‫بسم الله‬
tergrund auseinandergehalten. Auf diesen beiden                   ‫الرحمن الرحیم یا محمد لولاك لولاك لما خلقت الافلاك إنك علی‬
Zypressen und dem Mittelstreifen ist ein Gebet                    ‫خ ُلق عظیم‬.51
notiert worden.45
   Während die beiden Dokumente aus Zürich                        48 Eine Abfolge von fünf Kreisen lässt sich ebenso auf dem
und Karlsruhe46 unterhalb dieses ersten Zierele-                     Belegstück aus Berlin nachweisen. Bain, The late Ottoman
ments mit der Inschrift von Q 61:13 bis zum Beginn                   Enʿam-ı şerif 108f. (auch 232), weist auf die von Mystikern
der Qaṣīdat al-Burda deutlich voneinander abwei-                     vertretene Auffassung hin, dass die Quadrate die Erde
chen, lassen sich auf den zwei Belegstücken aus                      symbolisieren, während der Kreis den Himmel darstelle
                                                                     (mit Verweis auf Ardalan und Bakhtiar, Sense of unity 29).
Zürich und Berlin erneut zahlreiche identische                    49 Ergänzend wird auf die Darstellung von Siegeln (muhr)
Elemente erkennen.                                                   in Enʿam-ı şerif-Handschriften hingewiesen; siehe dazu
                                                                     Bain, The late Ottoman Enʿam-ı şerif 99–114.
6.2.2.2 Siegel (muhr) und Zellenvierecke (wafq)                   50 Für ähnlich gestaltete Blüten vgl. München BSB, Cod.
                                                                     arab. 207. Es könnte sein, dass diese hier als Blüte
Unmittelbar unterhalb des Rollenanfangs mit den                      beschriebene Figur eine von oben betrachtete Der-
lanzettenförmigen Verzierungen (Einzellanzette                       wischmütze darstellen soll; dazu sind allerdings weitere
und Doppellanzette) schliesst sich auf dem Zür-                      Abklärungen anzustellen.
cher Dokument ein Abschnitt mit sechs Qua-                        51 Also: „Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers.
                                                                     O Muḥammad, wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich
draten an; die Länge dieses Abschnitts misst
                                                                     [Gott] die Himmelssphären nicht erschaffen; du hast
insgesamt 32.0cm. Beim ersten Quadrat fehlt                          wahrlich einen erhabenen Charakter.“ Bei dieser Aussage
eine Überschrift; vier weitere Vierecke werden in                    handelt es sich um einen ḥadīṯ qudsī; siehe dazu u.a. van
einem Titelfeld jeweils als muhr (Siegel) bezeich-                   Ess, Theologie und Gesellschaft IV, 456 (mit Anm. 103).
net.47 Die ersten fünf Quadrate enthalten einen                      J. van Ess bezeichnet diese Aussage als berühmtes,
                                                                     aber offensichtlich spätes Prophetenwort (ḥadīṯ qudsī)
                                                                     und verweist auf Furūzānfar, 172 (Nr. 546), und Schim-
     fünf Kreisen Q 1 (al-Fātiḥa) und Q 112 (al-Iḫlāṣ) auf.          mel, Prophet 114. Weitere Hinweise zu diesem ḥadīṯ fin-
     Die zur Fātiḥa gehörende basmala (mit vorangestelltem           den sich unter: http://vb.tafsir.net/forum10/thread31924
     Lā ilāha illā Allāh, Muḥammadun rasūl Allāh) steht auf          ‑print.html.
     dem Münchner Exemplar bereits im grünen Stamm der                   Dieser ḥadīṯ qudsī lässt sich ebenso auf dem äussers-
     Zypresse.                                                       ten Schriftband des ersten Kreises auf der Rolle aus Ber-
44   Mit dieser Doppellanzette beginnt auch Ms. or. oct. 403         lin erkennen (Bl. 4 auf dem Mikrofilm zur Rolle). Die
     (Berlin), dessen eigentlicher Anfang verloren ist.              Inschrift endet in diesem Fall nach al-aflāka aber abwei-
45   Vgl. die Ausführungen zu diesem Gebet auf Cod. arab.            chend mit Lā ilāha illā Allāh Muḥammad rasūl Al[lāh]
     206 (München) in Anm. 111.                                      (šahāda); die šahāda auch auf dem nächsten Schriftband
46   Mit seinem Parallelstück in München: Cod. arab. 206.            nach innen. Auf dem Berliner Exemplar folgt im Zentrum
47   Auch das Belegstück aus dem Historischen Museum                 ein Kreis mit dem Text: Wa-nunazzilu min al-Qurʾāni mā
     Budapest weist solche Titelfelder auf; der darin ursprüng-      huwa šifāʾun wa-raḥmatun li-l-muʾminīn (Q 17:82); zum
     lich enthaltene Text ist aber nicht mehr zu erkennen.           Gebrauch dieses Koranverses als Schutz gegen körperli-

                                                                                                                 Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                                 Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
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Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...
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   b. Auf der Zürcher Rolle folgt ein querliegen-                   worden ist. Während die sechs Strahlen des Sterns
des, weinrot umrandetes Rechteck, das in einer                      rot sind, sind das Zentrum des Sterns und die Zwi-
Kartusche die Überschrift Muhr-i rasūl („Siegel des                 schenräume zwischen den Strahlen neutral belas-
Gesandten“) enthält; das Siegel selbst schliesst sich               sen worden. Im Zentrum steht auf drei Zeilen (rot–
darauf unmittelbar an (Länge dieses Abschnitts:                     blaugrün–rot): ‫حسبی الله لا اله \ الا هو علیه توکلت وهو‬
5.5cm). Im darin enthaltenen Kreis lassen sich                      ‫\ رب العرش العظیم‬.55 In den Zwischenräumen zwi-
zwei konzentrisch angeordnete Schriftbänder und                     schen den sechs Strahlen des Sterns sind Stellen
in deren Zentrum Text auf drei waagrechten Zei-                     aus dem Koran kopiert worden, die auf Salomon
len erkennen. Der Text auf dem äussersten Schrift-                  und besonders auf seine Begegnung mit der Köni-
band lautet: ‫لا اله الا الله محمد رسول الله لا اله الا الله‬         gin von Saba anspielen. Die Einleitung kennzeich-
‫محمد رسول الله لا اله الا الله محمد رسول الله الحمد والمحمود‬        net den Text als Zitat aus dem Koran und hält fest:
‫محمد المصطفی‬.52 Auf dem inneren Schriftband steht:                  ‫قال الله سبحانه تبارك وتعالى‬. Der Text fährt im nächsten
‫یا صاحب المعجزات یا صاحب العرصات یا امیر الکائنات‬.53                Feld fort: ‫إنه من سلیمان وإنه \ بسم الله الرحمن الرحیم \ الا‬
Im Kreis in der Mitte wurde auf drei horizontalen                   ‫تعلوا علی واتونی مسلمین‬.56 Es schliesst sich im fünften
Linien (1. Linie rot, 2. blaugrün, 3. rot) der folgende             und sechsten Zwischenraum der folgende Text an:
Text zum Lob Muḥammads notiert: ‫یا سید الاولین \ یا‬                 ‫و به نستعین لا حول ولا قوت \ الا بالله العلی العظیم‬.57
‫سید الآخر ین \ یا خاتم النبیین‬.54                                      Das soeben geschilderte Hexagramm lässt sich
   c. Besondere Beachtung verdient der nächste                      ebenso auf dem Dokument aus dem Historischen
Abschnitt auf dem Zürcher Dokument (Länge:                          Museum Budapest belegen (ABB. 157). Die sechs
5.6cm). Er enthält in einem querliegenden, grün                     Strahlen des Sterns sind hier golden. Der im Stern
umrandeten Rechteck in einer Kartusche die Über-                    und darum herum enthaltene Text ist allerdings
schrift Muhr-i Sulaymān („Siegel Salomons“). Auf                    derart stark verblasst, dass er sich kaum mehr
dem goldenen Hintergrund des Quadrats lässt sich                    entziffern lässt. Ein Hexagramm ist ausserdem
ein Kreis erkennen, in den ein Hexagramm (sechs-                    auf zwei hier nicht näher berücksichtigten Beleg-
strahliger Stern bzw. Salomonssiegel) eingefügt                     stücken aus München nachweisbar (ABB. 160).58

   che Krankheiten siehe Bain, The late Ottoman Enʿam-ı             55 Q 9:129 (Schlussvers von Q 9): „Allāh, ausser dem es
   şerif 103f. Siehe ausserdem Canaan, Decipherment 131,               keinen Gott gibt, ist mir Genüge. Auf ihn baue ich mein
   der auf die Āyāt aš-šifāʾ im Koran hinweist. Sie enthalten          Vertrauen. Er ist der Herr des gewaltigen Throns.“ Auf
   jeweils einen Ausdruck, der sich vom Verb šafā („heilen“)           Rollen wird die aus der islamischen Mystik bekannte
   ableitet. Es sind dies gemäss T. Canaan: Q 9:15, 10:57, 16:69,      Vorstellung des bedingungslosen Vertrauens auf Gott
   17:82, 26:80, 41:44. Auf dem Berliner Belegstück ist die-           (tawakkul) wiederholt thematisiert: vgl. so auch auf Ms.
   ses erste Kreiselement mit der Überschrift Muhrī (sic)              or. oct. 146 (Staatsbibliothek Berlin; hier Kapitel 5.1), das
   ḫātim an-nubuwwat versehen. Zum Ḫātim an-nubuwwa                    aus einem safawidischen Kontext stammt. Zum Konzept
   (Siegel der Prophetschaft) siehe auch Bain, The late Otto-          des tawakkul siehe Reinert, Die Lehre vom tawakkul. Auch
   man Enʿam-ı şerif 94–96. Während die von ihr beschrie-              Enʿam-ı şerif-Handschriften machen auf den tawakkul
   benen Ḫātim an-nubuwwa tränenförmig sind, sind sie auf              aufmerksam; vgl. Bain, The late Ottoman Enʿam-ı şerif 121
   den vorliegend untersuchten Rollen rund.                            (Anm. 71), 245 (Anm. 92), 294 (Anm. 175). Zur Frage siehe
52 Es handelt sich um eine Wiederholung der šahāda (drei               ebenso bei Anm. 130 und 245.
   Mal) und ein Lob auf Muḥammad am Schluss.                        56 Q 27:30–31: „Wahrlich, der [Brief] ist von Salomon und
53 Also: „O Herr der Machtwunder, o Herr der Schlachtfel-              beginnt: ,Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbar-
   der, o Befehlshaber der Geschöpfe.“ Kazimirski, Diction-            mers!‘ Erhebt euch nicht gegen mich, und kommt als
   naire, gibt für den Begriff ʿaraṣa u. a. die Bedeutung an:          Gottergebene zu mir!“
   [4.] „Champ de bataille, arène, et toute place où se donne       57 „Und [Gott] ersuchen wir um Hilfe (vgl. Q 1:5). Es gibt
   quelque spectacle.“ Taeschner, Zünfte und Bruderschaften            keine Macht und keine Kraft ausser bei Gott, dem Erha-
   466, übersetzt den Ausdruck ehl-i ʿarṣāt mit „die auf dem           benen, dem Gewaltigen.“
   Gerichtsfeld Versammelten“.                                      58 1. Cod. arab. 205 (Anfang der Rolle), und 2. Cod. arab. 207,
54 Also: „O Herr der Ersten, o Herr der Letzten, o Siegel der          rechte Spalte, gegen Schluss der Rolle. Auf diesem zwei-
   Propheten.“                                                         ten Münchner Dokument ist im Innern des Hexagramms

                                                                                                                    Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                                    Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
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Der osmanisch-türkische Typ - Rollen der Andacht aus dem Umfeld von Derwischorden: Sieben Belegstücke aus dem Westteil des Osmanischen Reichs 17 ...
der osmanisch-türkische typ                                                                                                     603

Überdies ist dieses Element auf der Rolle aus Berlin                Welt nicht nur als ausserordentlich mächtiger
enthalten; die Überschrift lautet in diesem Fall                    Herrscher über die Menschen, sondern er wird
Muhrī (sic) Sulṭān Sulaymān.59 Während die Achse                    im gesamten islamischen Kulturraum auch als
des Sterns auf dem Zürcher Dokument genau                           Bezwinger der Dämonen geschätzt.63 Es lässt sich
vertikal ausgerichtet ist, ist sie auf dem Belegstück               aufzeigen, dass auch Bilqīs einen dämonischen
aus Berlin leicht nach rechts geneigt.                              Charakter hat.64
   Wenn dieser Stern auf der Karlsruher Rolle auch                     Wenn die untersuchten Rollen mehrfach Hin-
fehlt, ist Salomon darauf doch zumindest impli-                     weise auf Salomon enthalten, appellieren sie
zit präsent, wie sich aus einem in ein goldenes                     damit auch an ihn als Beschützer vor Widrigkeiten
Quadrat eingefügtes Medaillon ergibt. Darin ist                     aller Art, mit denen sich der Mensch im Alltag kon-
in goldener Schrift der bereits auf dem Zürcher                     frontiert sieht. Diesem Machthaber ist es gelun-
Vergleichsstück belegbare Auszug aus Q 27:30                        gen, die Dämonen (ǧinn) zu unterjochen, die als
notiert.60 Ein Hexagramm oder eine explizite                        Urheber von allerhand Übel ebenso bekannt wie
Erwähnung Salomons fehlt zwar auf B. or. 328                        gefürchtet sind. Wenn die Dämonen auch grund-
(Leipzig). Es fällt jedoch auf, dass sich auf diesem                sätzlich als moralisch neutral gelten, sind sie dem
Belegstück eine Figur mit der Unterschrift Muhr-                    Menschen zumeist eben doch eher unangenehm.
i Bilqīs nachweisen lässt.61 Bilqīs ist der arabische               Sie sind gemäss einem traditionalistischen Ver-
Name der Königin von Saba, auf deren Begegnung                      ständnis die Verursacher von Krankheiten ganz all-
mit Salomon die auf den Rollen aus Karlsruhe und                    gemein. Sie lassen den Menschen einerseits an ǧin-
Zürich kopierten Koranverse anspielen.62                            nitis erkranken, worunter in erster Linie Geistes-
   Diese Anspielungen auf Salomon und seine                         krankheiten zu verstehen sind. Anderseits finden
Begegnung mit der Königin von Saba sind auf                         sich vielfach Hinweise darauf, dass sie für Seuchen
den untersuchten Dokumenten wohl nicht zufäl-                       und Epidemien, ganz speziell Pestzüge (ṭāʿūn), ver-
lig eingefügt worden. Denn der bereits aus der                      antwortlich sind.65
Bibel bekannte Salomon gilt in der islamischen                         d. Auf dem Zürcher Dokument folgt nach dem
                                                                    Hexagramm in der Tat ein Abschnitt (Länge:
     auf sechs Zeilen eine Abfolge von Ziffern in roter Tinte       5.6 cm) mit der Überschrift Barāy-i ṭāʿūn (Gegen
     angebracht worden. Derartige Folgen von Ziffern haben          die Pest).66 Ein Abschnitt mit dieser Überschrift
     oft eine tiefere Bedeutung; vgl. dazu Canaan, Decipher-
                                                                    lässt sich ebenso auf dem Berliner Dokument
     ment 162 f.
59   Auch auf dem Dokument aus Berlin lässt sich ver-               nachweisen, folgt dort aber später und ist gänzlich
     teilt auf vier Zwischenräume zwischen den Strahlen des         anders gestaltet.67 Diese beiden Belegstücke schüt-
     Sterns Q 27:30–31 erkennen (leicht fehlerhaft kopiert).        zen ihren Träger damit explizit gegen die Pest. Auf
     Es schliesst sich in den beiden verbleibenden Zwischen-
     räumen und im Zentrum Q 112 (al-Iḫlāṣ) an. Bain, The
     late Ottoman Enʿam-ı şerif 114–117, macht auf Abbildun-        63 Die Prophetenlegenden (Qiṣaṣ al-anbiyāʾ) und weitere
     gen von Hexagrammen (auch Pentagrammen und Hep-                   textliche Quellen thematisieren Salomons Rolle als
     tagrammen) in Enʿam-ı şerif-Handschriften aufmerksam              Beschützer gegen allerhand Übel vielfach; vgl. dazu
     (siehe auch op. cit. 241).                                        Nünlist, Dämonenglaube, Kapitel 10: „Salomon: Kämpfer
60   Also: ‫إنه من سلیمان وإنه بسم الله الرحمن الرحیم‬. Unmittelbar      wider alles Dämonische“.
     darunter lässt sich auf dem Karlsruher Exemplar ein            64 Vgl. Nünlist, Dämonenglaube, Kapitel 10.5 „Bilqīs, die
     mit Wafq-i Iḫlāṣ (allenfalls irrtümlich falsch kopiert)           Königin von Saba, in nachkoranischen Quellen“ 464–480.
     überschriebenes Zellenquadrat erkennen, in dem die             65 Nünlist, Dämonenglaube 270f.
     ebenso auf dem Berliner Dokument enthaltene Q 112              66 Diese Überschrift in einem querliegenden, orange
     notiert worden ist (siehe zu diesem Quadrat unten bei             umrandeten Rechteck in einer Kartusche mit floralem
     Anm. 81–83).                                                      Rankenmuster auf blauem Hintergrund. Obwohl es sich
61   Dieses Siegel (muhr) enthält in einem Kreis eine Abfolge          auch hier um eine Kreisfigur handelt, wird dieses Ele-
     von Ziffern (schwarz) auf fünf Zeilen (silbern).                  ment nicht explizit als muhr (Siegel) bezeichnet.
62   Vgl. oben bei Anm. 56 und 60.                                  67 Vgl. Mikrofilm zur Berliner Rolle: Bl. 11–12.

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                                                                                                Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
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dem Zürcher Exemplar ist an dieser Stelle der fol-                                  das soeben beschriebene. Auch es enthält mehrere
gende Text in Ġubār-Schrift auf zwei konzentri-                                     Anrufungen Gottes.
schen Bändern und einem Kreis im Zentrum ent-                                          Zellenquadrate von der Art der beiden soeben
halten: ‫اللهم یا من لطیف لم یزل \ الطف بنا فیما نزل \ انت‬                           angeführten Beispiele lassen sich auch auf dem
‫القوی نجنا \ عن قهرك یوم الخلل \ حی احد صمد لهکنف قاف‬                               Vergleichsstück aus Berlin nachweisen. Auch dort
‫یا خفی الالطاف نجنا مما نخاف \ لا حول ولا قوت ولا قدرت‬                              handelt es sich um Quadrate mit 5 × 5 Zellen;
‫الا بالله العلی العظیم‬.68                                                           sie enthalten ähnliche Anrufungen Gottes wie
   e. Es schliesst sich auf dem Zürcher Belegstück                                  das Zürcher Dokument. Diese Figuren mit Zel-
ein nächster Abschnitt mit der Überschrift Muhr-i                                   lenquadraten sind dort den als Muhr-i šarīf bzw.
ʿazīz an (Länge: 5.7cm).69 Darunter befindet sich                                   Muhr-i ʿazīz bezeichneten Siegeln als selbstän-
in einem goldenen Quadrat ein Kreis mit silber-                                     dige Elemente unmittelbar nachgestellt und mit
nem Hintergrund. Darin lässt sich ein Quadrat mit                                   den Überschriften Muhr-i laṭīf bzw. Yavuzluqdan
5 ×5 Zellen erkennen, in die Textelemente einge-                                    emin olmaq-icün72 versehen. Auf dem Belegstück
fügt worden sind. Der Text ist auf den Horizonta-                                   aus Leipzig (B. or. 328) folgt unterhalb einer als
len des Quadrats abwechselnd rot und blaugrün                                       Šakl-i ʿayn-i ʿalī bekannten Figur73 eine Serie von
geschrieben (1., 3. und 5. Horizontale: rot; 2. und                                 drei Kreisen. In den ersten Kreis (Durchmesser
4. Horizontale: blaugrün). In den einzelnen Zel-                                    ca. 2.1 cm) wurde ein Quadrat mit 4 × 4 Zellen ein-
len sind Anrufungen Gottes notiert, die je durch                                    gepasst, in welchen sich einzelne Anrufungen Got-
ein Bismi [A]llāh eingeleitet werden.70 Es schliesst                                tes erkennen lassen.74
sich auf dem Zürcher Dokument ein weiterer, ähn-                                       Auf den beiden Belegstücken aus Karlsruhe
lich gestalteter Abschnitt an (Länge: 5.8cm), des-                                  und München lassen sich zwar keine Zellenqua-
sen Titel muhr-i šarīf lautet.71 Bei diesem Siegel                                  drate feststellen, allerdings enthalten beide Doku-
(muhr) handelt es sich erneut um ein Zellenqua-                                     mente zwei Rechtecke mit Zellen. Auf Cod. arab.
drat mit 5×5 Zellen, das identisch gestaltet ist wie                                206 (München) lässt sich zuerst ein Rechteck mit
                                                                                    der Überschrift Wafq Ḥayy Qayyūm in roter Tinte
68 In nicht ganz korrektem Arabisch: „O Gott, o Gütiger, der                        erkennen. Darunter folgt ein Rechteck mit 3 × 8
   nicht aufhört. Sei gütig gegenüber uns in dem, was vom                           Zellen (ABB. 152).75 In jede Zelle wurde in roter
   Himmel herabkommt! Du bist der Kräftige. Errette uns
   vor deiner Gewalt am Tag der Störung (? yawm al-ḫalal)!
   Lebendiger, Einziger, Ewiger. Dem die Flanke des Bergs                           72 „Um sich der Strenge [des Muts, der Tapferkeit] sicher
   Qāf gehört (?). O jener, dessen Wohltaten verborgen sind.                           zu sein.“ Die Entzifferung der Überschrift ist nicht gänz-
   Errette uns vor dem, was wir fürchten! Es gibt keine                                lich gesichert. Der Verfasser dankt PD Dr. Tobias Heinzel-
   Macht und keine Kraft ausser bei Gott, dem Erhabenen,                               mann, Asien-Orient-Institut, Universität Zürich, für die-
   dem Gewaltigen.“                                                                    sen Lesevorschlag.
69 Diese Überschrift in einem querliegenden, orange                                 73 Vgl. dazu unten 6.2.2.4 (bei Anm. 103), und 6.3.1 „Die Figur
   umrandeten Rechteck in einer Kartusche mit floralem                                 Šakl-i ʿayn-i ʿalī“, bei Anm. 118–163.
   Rankenmuster auf blauem Hintergrund. Ein Muhr-i ʿazīz                            74 In den einzelnen Zellen stehen die folgenden Begriffe
   auch auf dem Berliner Dokument; dort handelt es sich                                (häufig unpunktiert): 1. Zeile: Yā Allāh, al-Fattāḥ, ar-
   aber um eine kreisförmige Figur.                                                    Razzāq, al-Fattāḥ. 2. Zeile: al-Qahhār, ar-Rāziq, al-Miftāḥ
70 ‫ بسم الله \ یا وهاب بسم الله یا‬،‫ بسم الله یا عز یز‬،‫بسم الله یا رحیم‬                 (?), yā Allāh; 3. Zeile: al-Fattāḥ, ar-Rāziq, al-Qahhār, al-
   \ ‫ستار بسم الله یا اول \ بسم الله یا آخر بسم الله بالعزة )؟( بسم الله‬               Fattāḥ; 4. Zeile: al-Qahhār, ar-Razzāq, al-Fattāḥ (?), yā
   ‫ب \ یا رب یا رب یا رحمن یا رحمن‬      ِّ َ ‫ب یا الله یا الله یا الله یا ر‬
                                                                          ِّ ‫یا ر‬      Allāh. Diese Ausdrücke zählen zu den Schönen Namen
   ‫یا رحمن‬. Es handelt sich um Anrufungen Gottes, die auf                              Gottes: al-Fattāḥ (der den Sieg verleiht), ar-Rāziq und
   einzelne seiner Qualitäten aufmerksam machen.                                       ar-Razzāq (der den Lebensunterhalt verleiht), al-Qahhār
71 Diese Überschrift in einem querliegenden, grün umran-                               (der Bezwinger). In den Kreissegmenten ausserhalb die-
   deten Rechteck in einer Kartusche mit floralem Ranken-                              ses Zellenquadrats stehen die Namen der vier rechtgelei-
   muster auf blauem Hintergrund. Ein Muhr-i šarīf auch                                teten Kalifen mit ihren Beinamen (vgl. unten 6.2.2.6, bei
   auf dem Belegstück aus Berlin; es handelt sich dort aber                            Anm. 112–117).
   um ein kreisförmiges Element.                                                    75 Horizontal × vertikal.

                                                                                                                                   Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                                                   Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
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der osmanisch-türkische typ                                                                                                   605

Tinte auf neutralem Hintergrund ein einzelner                  len, wo der Text in auf der Spitze stehende quadra-
Buchstaben der beiden Begriffe ḥayy und qayyūm                 tische Zellen eingefügt worden ist (ABB. 155).83
notiert, die zu den Schönen Namen Gottes zählen.76                 Ein Rechteck mit 3 × 10 Zellen (Breite × Höhe)
Die einzelnen Buchstaben der beiden Gottesna-                  lässt sich überdies direkt unterhalb der Zypresse
men sind verstellt worden und folgen somit nicht               am Anfang des Dokuments aus dem Historischen
direkt aufeinander. Unmittelbar darunter schliesst             Museum Budapest erkennen. Um das Rechteck
sich auf dem Münchner Belegstück ein identisch                 herum selbst läuft ein schmales Schriftband. Über
gestaltetes zweites Rechteck an, das 3×7 Zellen                diesem Rechteck lässt sich eine rot umrandete Kar-
zählt und mit Wafq ḥafīẓ überschrieben ist. Auch               tusche feststellen, in der vermutlich eine Über-
der Ausdruck ḥafīẓ, („der Bewahrende“) zählt zu                schrift enthalten war; sie lässt sich jetzt allerdings
den Schönen Namen Gottes.77                                    nicht mehr entziffern. Auch die restlichen Textele-
   Ein Wafq Ḥafīẓ lässt sich ebenso auf dem Karls-             mente auf diesem Abschnitt sind derart stark ver-
ruher Dokument nachweisen und folgt dort in                    blasst, dass sich ihr Inhalt nicht mehr mit Sicher-
Anschluss an den Abschnitt mit der Doppelzy-                   heit erkennen lässt.
presse.78 Dieses Wafq-Rechteck liegt hier quer                     Derartige Zellenvierecke sind als wafq (auch
und zählt 6×3 Zellen.79 Die einzelnen Buchsta-                 wifq) bekannt.84 Diese Figuren sind zumeist als
ben des Ausdrucks ḥafīẓ sind in Zellen mit rotem,              Quadrate angeordnet, wie dies auf dem Zürcher
goldenem und silbernem (jetzt oxydiert) Hinter-                Exemplar85 und auf dem Belegstück aus Leipzig
grund geschrieben worden.80 Das zweite Zellen-                 auch tatsächlich der Fall ist. Sie lassen sich häu-
Rechteck folgt unmittelbar auf das Medaillon mit               fig in Dokumenten magischen Inhalts nachweisen.
Q 27:30. Es enthält in Übereinstimmung mit seiner              Man unterscheidet dabei zwischen wafq ʿadadī
Überschrift Wafq-i Iḫlāṣ eine Abschrift von Q 112              und wafq ḥarfī, Zahlen- und Buchstabenquadra-
(al-Iḫlāṣ); die einzelnen Begriffe der Sure sind in            ten. Auf den vorliegenden Dokumenten lassen sich
die 6×3 Zellen81 dieses Rechtecks verteilt.82 Die              allerdings nur Zellenvierecke mit Textelementen
angeschnittenen Zellen einer zusätzlichen obers-               feststellen. Magische Quadrate stricto sensu fehlen
ten Zeile sind leer. Ein Abschnitt mit der Über-               darauf gänzlich.86
schrift Wafq-i Iḫlāṣ lässt sich in modifizierter Aus-
führung auch auf Cod. or. 8° 83 (Stuttgart) feststel-          6.2.2.3 Die Schönen Namen Gottes und die
                                                                        Löblichen Eigenschaften des Propheten
76 Der Ausdruck ḥayy bedeutet „der Lebendige“, qayyūm          Auf dem Zürcher Dokument folgen darauf zwei
   „der Beständige“.                                           weitgehend identisch gestaltete längere Ab-
77 Horizontal × vertikal. Canaan, Decipherment 131, macht      schnitte, die mit den Überschriften Asmāʾ al-ḥusnā
   auf die Āyāt al-ḥifẓ im Koran aufmerksam, die jeweils       (sic, Länge: 14.9 cm; 3a) bzw. Ḥilya-i rasūl (Länge:
   einen Begriffen enthalten, der sich vom Verb ḥafaẓa
   („bewahren“) ableitet.
                                                               17.0 cm; 3b) versehen sind.
78 Vgl. vor Anm. 110.
79 Horizontal × vertikal.
80 Darunter steht in senkrecht zur Rolle angebrachten
   Begriffen Q 112 (al-Iḫlāṣ, mit Kopistenfehler). Q 112 ist   83 Diese Figur geht auf der Rolle aus Stuttgart dem
   damit auf dem Karlsruher Dokument insgesamt drei               Abschnitt mit den Löblichen Eigenschaften Muḥammads
   Mal enthalten; für die beiden andern Stellen siehe bei         (Ḥilya-i šarīf ) unmittelbar voraus; vgl. zu diesen Eigen-
   Anm. 42 und 82. Bain, The late Ottoman Enʿam-ı şerif 54,       schaften hier anschliessend 6.2.2.3 (bei Anm. 94–101).
   weist darauf hin, dass die Rezitation von Sure 112 allein   84 Vgl. Sesianao, Wafḳ, in EI2.
   jenes Verdienst verleiht, das man durch das Lesen eines     85 Vgl. bei Anm. 69–71.
   Drittels des Korans erlangt.                                86 Magische Quadrate zeichnen sich dadurch aus, dass die
81 Horizontal × vertikal.                                         Summe der auf jeder Horizontalen, Vertikalen und auf
82 Der Hintergrund der einzelnen Zellen ist rot, gelb, braun      den beiden Hauptdiagonalen des Quadrats aufgeführten
   und silbern (oxydiert).                                        Zahlen identisch ist (vgl. Anm. 84, Artikel von J. Sesiano).

                                                                                                              Tobias Nünlist - 9789004429154
                                                                                              Downloaded from Brill.com12/12/2021 02:14:46PM
                                                                                                                                via free access
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