Die Deutsche Evangelische Kirche in Liverpool - ein Rückhalt für Seeleute und Einwanderer im 19. Jahrhundert
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Karl-Heinz Wüstner 24. Februar 2011 Hartmannweg 6 74532 Ilshofen Tel.: 07904/8801 E-Mail: khwuestner@googlemail.com Die Deutsche Evangelische Kirche in Liverpool – ein Rückhalt für Seeleute und Einwanderer im 19. Jahrhundert von Karl-Heinz Wüstner, Ilshofen Die Anfänge des kirchlichen Gemeinwesens Die Deutsche Evangelische Kirche in Liverpool kann auf eine Geschichte zurückbli- cken, die in ihren allerersten Anfängen bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhun- derts zurück reicht. In der langen Zeit ihres Bestehens hat es viel Bewegung und vie- le Veränderungen im Gemeindeleben gegeben. Historische Gegebenheiten beein- flussten das Geschehen in der Kirche und hinterließen deutliche Spuren im Leben der Gemeindeglieder. In den Anfangsjahren fanden zunächst Gottesdienste der Bethel Union in deutscher Sprache auf einem Schiff im Hafen statt. Sie richteten sich an die zahlreichen deut- schen Seeleute, die bei ungemein aufblühendem, weltweiten Handel in der Stadt am Mersey ein- und ausliefen. Die Seemänner schätzten es, einem Gottesdienst in ihrer Muttersprache beiwohnen zu können und ihre gewohnten Kirchenlieder zu singen1. Migranten erhoffen sich in Liverpool neue Lebensperspektiven Größeren Zulauf erhielt die noch nicht als fest gefügte Kongregation auftretende Gemeinde in der Folgezeit durch eine große Zahl an Auswanderern. Manche von ihnen nutzten Liverpool als Zwischenstation, um weiter nach Übersee zu reisen, an- dere wiederum fanden in der aufstrebenden Stadt eine lohnenswerte Arbeit und lie- ßen sich hier nieder. Überhaupt ergaben sich zu jener Zeit in ganz England bei fort- geschrittener Industrialisierung und florierendem Handel allseits gute Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Zentren waren naturgemäß die Industriestädte am Rande der Midlands und die großen Hafenstädte, so auch Liverpool. Die von den deutschen Auswanderern in Erfahrung gebrachten Möglichkeiten und die vielversprechenden 1 Rosenkranz 1965, S. 6.
Aussichten auf einen ordentlichen Verdienst und damit auch auf eine einigermaßen abgesicherte Lebensführung wurden umgehend nach Hause gemeldet. Eine Ket- tenmigration setzte sich in Gang. Der Antrieb für Auswanderungswillige wird seit ehedem unter der klassischen Theo- rie der Push-Faktoren und Pull-Faktoren betrachtet. Diesbezüglich ist die lohnens- werte Aussicht auf Arbeit ein Pull-Faktor gewesen, während die Perspektivlosigkeit zu Hause ein Push-Faktor war. Mehrere Krisen hatten in Deutschland lang anhalten- de Spuren hinterlassen. Zitiert werden immer wieder die Not- und Hungerjahre von 1816/17, die durch den Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 verursacht wurden. Der Ascheauswurf verdunkelte in einem solchen Ausmaß die Atmosphäre, dass globale Wetterveränderungen eintraten. Durch sie kam es auch in Deutschland zu gravierenden Ernteausfällen, die die Nahrungsversorgung der Be- völkerung aufs Äußerste einschränkten. Die Ausbreitung der Kartoffelfäule im Jahr 1845 sowie Unwetter führten nochmals zu einem dramatischen Mangel an Lebens- mitteln. Dadurch ergab sich eine fatale Teuerung. Hinzu kam noch, dass die Bevölke- rungszahlen beständig anstiegen, was weitere Versorgungsengpässe zur Folge hat- te. Wenn in bäuerlichen Familien oder kleinen Handwerkerhaushalten mehrere Söh- ne vorhanden waren, konnte oft nur einer das väterliche Erbe antreten. Die anderen mussten sich anderweitig ihren Lebensunterhalt sichern. Da kam die glückverhei- ßende Kunde aus England gerade recht. Hannoveraner Zuckersieder und norddeutsche Kaufleute finden sich als Erste ein Dem Ruf aus Liverpool folgte zunächst eine Reihe von Männern aus der Gegend zwischen Unterweser und Niederelbe in Norddeutschland. Sie gingen als Arbeiter in die Zuckerfabriken, wo Zuckerrohr aus den Kolonien unter Hitze und schweren kör- perlichen Strapazen zu raffiniertem Zucker verarbeitet wurde. Die Menschen aus dem Niederdeutschen waren überaus geschätzt, weil sie sehr anspruchslos und flei- ßig waren2. Möglicherweise konnte gerade diese Gruppe von deutschen Auswanderern bei der Einreise und bei der Ansiedlung im Zielland besondere Vorteile nutzen, denn sie ka- men aus dem damaligen Königreich Hannover. Das Königreich England und das Kö- 2 Rosenkranz 1965, S. 6.
nigreich Hannover wurden bis 1837 in Personalunion vom englischen König regiert. Die Niederdeutschen waren also de facto Angehörige des britischen Reiches. Da die meisten von ihnen einem eng begrenzten Raum entstammten, brachten sie viele Gemeinsamkeiten mit, was den Zusammenhalt der Einwanderer untereinander stärkte. Es fiel ihnen also nicht schwer, in Liverpool eine Gemeinschaft zu bilden, die über die eigentliche gemeinsame Arbeit in den Fabriken hinausging. Einigender Rückhalt waren hierbei die Gottesdienste der deutschen evangelischen Kirche. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts hin hatten sich immer mehr Gläubige eingefunden. Neben der überwiegenden Zahl an Zuckerarbeitern waren es auch Handwerker, Händler und Kaufleute norddeutscher Herkunft gewesen, die die Kirchengemein- schaft ergänzten, finanzielle Unterstützung boten und zielsetzende Funktionen über- nahmen. Die offizielle Gründung der Deutschen Evangelischen Kirche in Liverpool Für die geistliche und seelsorgerische Betreuung der zunächst noch lose verbunde- nen Gemeindeglieder sowie für die regelkonforme Abwicklung kirchlicher Aufgaben war es nunmehr unabdingbar, einen offiziellen Status innerhalb der evangelischen Kirche zu erlangen. Die Bemühungen führten zum Ende des Jahres 1846 mit der förmlichen Gründung der Deutschen Evangelischen Kirche in Liverpool zum Erfolg. Der 27. Dezember 1846 gilt als eigentlicher Gründungstag der Gemeinde3. Somit kann die Deutsche Evangelische Kirche in Liverpool zu Weihnachten dieses Jahres auf ihr 165-jähriges Bestehen zurückblicken. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Abläufe in den Zuckerfabriken zu- nehmend mechanisiert wurden, benötigte man weit weniger Arbeitskräfte. Langsam versiegte der Zustrom der norddeutschen Zuckerarbeiter und ihr Anteil an der Kir- chengemeinde ging damit ebenfalls zurück. Eine neue Gruppe von Einwanderern – Schweinemetzger aus Hohenlohe An die Stelle der Zuckersieder trat nun ab der 1860er Jahre eine ganz neue Gruppe von Einwanderern. Es waren württembergische Schweinemetzger aus dem Hohen- 3 Rosenkranz 1921, S. 36.
lohischen, vorzugsweise aus der Gegend um Gerabronn und Künzelsau4. Genau wie zuvor die Zuckerarbeiter gelangten auch sie über Kettenmigration und engmaschig geknüpfte, familiäre Netzwerke nach Großbritannien. Blieb zuvor der Aufenthalt der Zuckerarbeiter auf die großen Hafenstädte wie London und Liverpool konzentriert, so verbreiteten sich die hohenlohischen Metzger darüber hinaus in ganz Mittel- und Nordengland. In den aufstrebenden Industrieregionen hatten sie ein Betätigungsfeld entdeckt, das ihnen dauerhaft geschäftlichen Erfolg verhieß. Sie kamen in solch gro- ßer Zahl, dass sie die in manchen englischen Städten schon existierenden deut- schen Gemeinden erheblich verstärkten. In Liverpool stellten schließlich die Schwei- nemetzger zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit 67 Gemeindemitgliedern die weitaus größte Berufsgruppe5. Dasselbe gilt für Sheffield6. Nicht nur in Liverpool, sondern auch in London, Hull, Bradford und Manchester gab es Stadtteile, die im Volksmund als „German Corner“ bezeichnet wurden. Im Gegensatz zu der vorwiegend aus Männern bestehenden Gruppe der Fabrikarbei- ter in den Zuckerhäusern etablierten sich die hohenlohischen Metzger als selbstän- dige Geschäftsleute. Sie schufen Familienbetriebe, in denen Ehefrauen und Kinder mithalfen und die zusätzlich Lehrlinge und Gesellen beschäftigten. Darüber hinaus zogen sie aus ihrer Heimat eine reichliche Anzahl an weiblichen Personen nach sich, die als Haushaltshilfen, Kindermädchen oder Verkaufspersonal ihr Auskommen fan- den. Die Bedeutung der Metzger und die Grundlagen ihres geschäftlichen Erfolgs Die hohenlohischen Metzger verstanden sich bestens aufs Schlachten und Verarbei- ten von Schweinen. Ihre Kenntnisse waren geeignet, ein Schwein komplett zu ver- werten und aus ihm eine Vielfalt grundlegender, variationsreicher, schmackhafter und preiswerter Nahrungsmittel zu bereiten. Das wusste die industriell geprägte und von langen Arbeitszeiten vereinnahmte Bevölkerung sehr zu schätzen, zumal die vom Land gekommenen Industriearbeiter in den beengten Wohnverhältnissen der Indust- riestädte selbst keine Schweine mehr halten konnten. Da zudem im Textilgewerbe viele Frauen mit Spinnen, Weben, Nähen und Färben beschäftigt waren, hatten sie wenig Zeit zu kochen. „Sie hatten unter Umständen nicht einmal die Möglichkeit ge- habt, das Kochen zu lernen, da ihre Mütter auf ähnliche Weise in den Fabriken be- 4 Rosenkranz 1965, S. 14. 5 Rosenkranz 1921, S. 202 6 Newton, S. 82f.
schäftigt waren“7. Das führte dazu, dass in den Textilstädten in Lancashire ein „sehr bescheidenes kulinarisches Niveau“8 vorherrschte. So stießen die Schweinemetzger auf ein bereitetes Feld, das sie umgehend nutzten. Schnell hatten sie erkannt, „dass die Art und die Vielfalt ihrer Metzgereiprodukte alles übertraf, was in den dortigen Haushalten gekocht wurde oder was in den konservativen englischen Läden erhält- lich war“9. Jeder von ihnen war versiert in der Herstellung kulinarischer kontinentaler Köstlichkeiten und verwöhnte die englische Arbeiterklasse mit einer ganzen Reihe neuer Geschmacksempfindungen in Bezug auf gekochtes Fleisch“10. Mit fertig zube- reiteten Mahlzeiten avancierten die deutschen Metzgerläden zum „Restaurant des kleinen Mannes“11 und waren die ersten „Take-away-Einrichtungen Großbritan- niens“12, noch bevor es die Fish and Chips Saloons auf der Insel gab13. Die Versor- gung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen Fleisch - und Wurstspezialitäten machte die Metzger zu angesehenen Bürgern. Viele engagierten sich in Berufsver- bänden ihres Gewerbes, wurden in leitende Positionen berufen und bekleideten öf- fentliche Ämter. Die Schweinemetzger als einflussreiche Gruppe in der Kirche Wie andernorts sind die Metzger und ihre Familien auch in Liverpool zu gestaltenden Mitgliedern der evangelischen Kirchengemeinde geworden. Das verwundert nicht weiter, denn bereits zu Hause sind sie durchweg in protestantischen Gemeinden aufgewachsen und zu gläubigen Menschen erzogen worden. Von Jugend an wurden ihnen christliche Werte vermittelt, neben Elternhaus und Schule stellten die Kirche und der Pfarrer in ihren Wohnorten ein wichtiges Bezugsfeld dar. Oft kannten sie ei- nander schon seit ihrer Kindheit, denn auffälligerweise stammten viele der Liverpoo- ler Metzger aus Ortschaften, die wie an einer Perlenschnur aufgereiht, in den Tälern von mittlerem Kocher und mittlerer Jagst aufeinander folgten. Aus Braunsbach am Kocher kamen die Happold, aus dem weiter flussabwärts gelegenen Steinkirchen waren es Töchter und Söhne der Familien Böhm, Bürklein, Dietz und Hackel, die nach Liverpool auswanderten und aus dem benachbarten Steinkirchen zog es gleich 7 Roberts, S. 309. 8 Dto. 9 Dto. 10 Schonhut, Chapter 1. 11 Redman, F. in einer Versammlung der Londoner Schweinemetzger am 16. Mai 1895, veröffentlicht in „The Meat Trades Journal, zitiert in Gibbons, Sue, S. 27 f. 12 Gibbons, S. 11. 13 Wie Anm. 10.
eine ganze Phalanx von Geschwistern der Familien Jaag und Vogt in die Stadt am Mersey. Die Egner, Kuhn, Leiser und Reisig waren aus Künzelsau und der Metzger Schmetzer stammte aus Criesbach. An der Jagst beginnt die Perlenkette in Bächlin- gen von wo die Abkömmlinge der Familien Döhring, Dürr, Karle, Krumrein und Rüben ihr Glück in Liverpool suchten, gefolgt von zwei Brüdern Rutsch aus Oberregenbach, zwei Schwestern Stumpf aus Hohebach und den Metzgern Conrad, Dimler und Grund aus Dörzbach14. Es ist unschwer zu erkennen, wie nachbarschaftliche Bande und auch familiäre Beziehungen die Kettenmigration nährten und zu einem eng ge- flochtenen Netzwerk führten, in dem sich die Immigranten vor Ort organisierten. Die deutsche Kirche als Fokus gesellschaftlichen Lebens Für sie alle war zweifellos die Deutsche Evangelische Kirche in Liverpool eine eini- gende Klammer und ein wichtiger Ort des Austauschs. Hier kamen die Einwanderer bei den Gottesdiensten zusammen, widmeten sich im Kirchenchor15 dem heimischen Liedgut und pflegten ihre von zu Hause mitgebrachten Traditionen bei kirchlichen Festen und Feiern im Jahreslauf. Der gemeinsam gesprochene Dialekt sorgte für Verstehen untereinander und förderte die Verbundenheit. Die Veranstaltungen der Kirchengemeinde waren geeignet, sich zu treffen, sich näher kennenzulernen und gesellschaftliche Kontakte auszubauen. Neben seelsorgerischen Aufgaben sowie der Glaubens- und Wertevermittlung übernahm die Kirche also noch weitere bedeutende soziale Funktionen. Darüber hinaus erwuchs sie zu einer allgemeinen Bildungsein- richtung, indem sie ein Lesezimmer mit deutscher Literatur anbot16 und die Verant- wortlichen es schafften, unter kirchlicher Obhut eine deutsche Schule mit eigenem Lehrer einzurichten. Dort wurde den Kindern von Einwanderern, die pflichtgemäß eine englische Schule besuchten, ein Unterricht in deutscher Sprache erteilt, damit auch sie die deutschen Gottesdienste und das religiöse Leben ihrer Eltern „mit Ver- ständnis“ verfolgen konnten17. Innerhalb dieses kirchlichen und sozialen Gefüges sowie der familiären Vernetzung fühlten sich Neuankömmlinge immer wieder geborgen und behütet, zumal ihre 14 Die Namensangaben entstammen dem Kirchenarchiv der Deutschen Evangelischen Kirche in Liverpool. Hier- bei sei besonders Frau Margrit Schulte Beerbühl und der Archivverwalterin Frau Ilona Ziessler Pricken für ihre Unterstützung gedankt. 15 Rosenkranz 1921, S. 129. 16 Dto., S. 62. 17 Dto., S. 64.
Landsleute die reibungslose Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft unterstützten und gegebenenfalls Hilfe in Notsituationen gewähren konnten. Der Erste Weltkrieg und die Leidenszeit der deutschen Einwanderer Die geschilderten Grundvoraussetzungen und auch die Anerkennung, die den ho- henlohischen Metzgern wie den norddeutschen Arbeitern und Kaufleuten in Liverpool entgegengebracht wurde, hätten eigentlich zu langfristiger Integration der Zuwande- rer gereichen sollen. Doch es kam anders. Die Situation der deutschen Einwanderer und aller sonstigen deutschsprachigen Personen in Großbritannien verschärfte sich schlagartig mit dem Ausbruch des Ers- ten Weltkrieges. Sie wurden als feindliche Ausländer registriert und sie durften sich nur noch in einem eng begrenzten Umkreis bewegen. Neben behördlichen Restrikti- onen ging aber die unmittelbar größere Gefahr zuallererst von den Menschen auf der Straße aus. Wegen ihrer umfassenden Präsenz und ihrer geschäftlichen Erfolge wa- ren die deutschen Schweinemetzger von der Bevölkerung als hauptsächliche Sym- bolfiguren für deutschen Einfluss in Großbritannien erachtet worden18. Als nunmehri- ge Feinde deklariert, richtete sich der Volkszorn verstärkt gegen sie und ihre Ge- schäfte. Die Folge waren ernsthafte Ausschreitungen, wobei aufgebrachte Volks- mengen im September 1914 die Metzgerei von Ernst Rutsch angriffen, zerstörten und daraus die Metzgereivorräte stahlen19. Rutsch war auch einer der ersten Liver- pooler Metzger, die anschließend verhaftet und auf der Insel Man im berüchtigten Kriegsgefangenenlager Knockaloe interniert wurden. Ein überschäumender Aus- bruch des Aufbegehrens gegen die Deutschen in der Stadt erfolgte sodann erneut nach der Versenkung des britischen Luxusliners Lusitania vor der südirischen Küste am frühen Nachmittag des 7. Mai 1915 durch ein deutsches U-Boot. Das Ziel des Schiffes war Liverpool gewesen und von dort stammte auch ein großer Teil der Be- satzung20. Der Volkszorn war so groß, dass sich im Anschluss ein Plünderungszug durch die ganze Stadt ergoss, „der fast sämtliche deutsche Geschäfte zerstörte“ und „vereinzelt auch Privathäuser angriff“21. Dieses Schicksal widerfuhr beispielsweise der stattlichen Villa „Sea View House“ im Litherland Park, die dem Metzger Dimler 18 Panayi, S. 114. 19 Rosenkranz 1921, S. 204f. 20 Dto., S. 210. 21 Dto.
gehörte und dessen Familie gerade noch rechtzeitig aus dem Haus entfliehen konn- te22. Dimler war Kirchenvorstand der Deutschen Kirche in Liverpool gewesen23. Die durch offizielle Stellen bewusst geschürte Wut richtete sich ohne Unterschiede gegen alles, was mit Deutschland oder Deutschtum in Verbindung gebracht wurde. Eingeschlossen waren auch die Läden von deutschstämmigen Einwanderern mit bri- tischem Pass. Das Absurde an der ganzen Situation war, dass die jetzt tobenden Menschenmassen über viele Jahrzehnte lang zu deren treuen und überaus zufriede- nen Kunden gezählt hatten. Der gesellschaftliche Druck veranlasste die britische Re- gierung zu raschem und spürbarem Handeln. Die deutschen Geschäftsleute wurden schließlich zu Tausenden verhaftet und in Gefangenenlagern interniert. Ihre Frauen und Kinder unterlagen einer Repatriierungsmaßnahme und mussten nach Deutsch- land zurückkehren. Die antideutsche Stimmung in der Bevölkerung führte außerdem dazu, dass den Briten mit deutscher Abstammung das künftige Leben und Arbeiten mitten unter ihrer früheren Kundschaft erheblich erschwert wurde. Viele der Betroffe- nen sahen einen Ausweg darin, nach dem Krieg ihren Namen zu anglisieren oder ihn komplett in einen englischen Namen umzuändern, um künftig weiterer Diskriminie- rung zu entgehen. So wurde beispielsweise Cook aus Koch, Moss aus Maaß, Dean aus Dietz und Carr aus Karle. Ein Karle-Nachfahre war es übrigens auch, der in den 1920er Jahren in der Deutschen Kirche wieder einen Gottesdienst hielt, um die Kir- che vor der Auflösung zu bewahren24. Nach dem Ende des Krieges und nach der Entlassung aus der Gefangenschaft kehr- ten zahlreiche Männer ebenfalls nach Deutschland zu ihren ausgewiesenen Famili- enangehörigen zurück. Unter ihnen waren die Metzger Ernst Rutsch, Georg Bürklein und die Gebrüder Christian und Georg Dietz. Rutsch gelang es, in seiner Heimat eine Metzgerei zu erwerben und erfolgreich weiter zu führen. Auch Bürklein und Georg Dietz konnten in Deutschland ein Metzgereigeschäft übernehmen. Christian Dietz versuchte, einen Gemischtwarenladen zu betreiben. Offenbar gelang es aber den Dietz-Brüdern nicht, in Deutschland auf Dauer Fuß zu fassen. Christian kehrte mit Frau und Kindern nach etlichen Jahren wieder nach Liverpool zurück und Georg wanderte nach Amerika aus. Schlussbetrachtung 22 http://www.litherland-digital.co.uk/album_5/pages/seaview_house.htm. 23 Rosenkranz, 1921, S. 216. 24 Dto., S. 215.
In den Anfangsjahren war die Deutsche Evangelische Kirche in Liverpool eine will- kommene Anlaufstation für Seeleute. Mit den Jahren gewann sie immer mehr Bedeu- tung als Versammlungsort von Einwanderern, die dort ihre kirchliche Heimat fanden, ihrem Glauben nachgehen konnten und soziale Kontakte pflegten. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts machten Hannoveraner Zuckersieder und norddeutsche Kaufleute das Gros der kirchlichen Gemeinschaft aus. Gegen Ende des Jahrhunderts gewannen hohenlohische Schweinemetzger zunehmenden Einfluss. Diese Menschen waren auf dem besten Weg zu vollständiger Integration, als 1914 der Ausbruch des ersten Weltkrieges ihre Hoffnungen zunichte machte. Deutschland und England waren zu Feinden geworden und die Einwanderer erfuhren antideutsche Ressentiments. Nach mehreren Jahrzehnten des Erfolges im fremden Land, das viele von ihnen als neue und zukunftsträchtige Heimat betrachtet hatten, waren sie von den politischen Ereig- nissen überrollt und ihrer vielversprechenden Zukunft beraubt worden. Familien wur- den auseinander gerissen und mussten unsägliches Leid erdulden. In vielen Fällen war ein Lebenswerk zerstört. So folgte nach dem Krieg der Niedergang der deutschen Schweinemetzger und ihrer Produkte in Großbritannien. Deshalb ist auch heute nicht mehr viel von den zuvor viel gepriesenen deutschen Wurstspezialitäten in britischen Metzgereien übrig geblieben. Die Deutsche Evangelische Kirche in Liverpool schaffte es jedoch, die Kriegs- und Krisenzeit zu überstehen und sich trotz des danach noch folgenden Zweiten Welt- krieges zu behaupten. Die Zahl der Mitglieder ist wieder angewachsen und heute erfreut sich die Schar der Gemeindeglieder einer ungleich vielfältigeren Zusammen- setzung als noch im 19. Jahrhundert. Literatur: Gibbons, Sue: German Pork Butchers, in: Britain. Anglo – German Family History Publications, Mai- denhead, England, 2001. Newton, Gerald: German Life and Letters, New Series Volume XLVI No. 1, January 1993, Blackwell Publishers Oxford, UK and Cambridge, USA. Panayi, Panikos: German immigrants in Britain during the 19th century, 1815 – 1914. Berg Publi- shers, Oxford 1995. Roberts, Robert: The classic slum, Salford life in the first quarter of the century (1971), in: George Dowey Smith, Daniel Dorling, Mary Shaw: Poverty, inequality and health in Britain 1800- 2000, A reader. The Policy Press, Bristol 2001. Rosenkranz, Albert Eduard: Geschichte der deutschen evangelischen Kirche zu Liverpool, Ausland und Heimat Verlags-Aktiengesellschaft, Stuttgart 1921 Rosenkranz, Albert Eduard: Geschichte der deutschen evangelischen Kirche in Liverpool, Verlag Presseverband der evangelischen Kirche im Rheinland, Düsseldorf 1965. Schonhut, Louis: And then the sun shone. A family chronicle of the Schonhut families in England. In possession of the Schonhut family, unpublished, not paginated. Grange over Sands 1981.
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