Deutscher Studienpreis | 2. Preis Sozialwissenschaften
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Deutscher Studienpreis | 2. Preis
Sozialwissenschaften
Herausforderungen deutscher Versorgungssysteme
durch traumatisierte Kinder und Jugendliche mit
Fluchthintergrund: Eine Chance für neue Zugänge
zwischen Pädagogik und Psychotherapie
Der Zustrom an geflüchteten Kindern und Jugendlichen stellt
Deutschland und ganz Europa vor eine gesellschaftspolitische und
gesundheits-ökonomische Herausforderung. Diese Dissertation
beschäftigt sich mit der psychosozialen Versorgung von traumatisierten
Kindern und Jugendlichen im deutschen Gesundheits- und Sozialsystem.
Untersucht werden Faktoren der Wirksamkeit von Traumatherapie und
die Implementation einer Intervention an der Schnittstelle zwischen
Klinik und Pädagogik. Die Ergebnisse zeigen, warum Traumatherapie
wirkt und dass diese wichtige Langzeiteffekte hat. Die Entwicklung und
Evaluation einer Trauma-fokussierten Intervention für minderjährige
Geflüchtete in deren sozialem Kontext (Jugendhilfe) ermöglicht eine
Symptomreduktion und damit Teilhabe an Alltag und Gesellschaft.
Abgeleitete Implikationen für Gesundheitsökonomen, soziale und
psychiatrische Professionen, sowie das Gesundheitssystem können
wegweisend für eine nachhaltige und erfolgreiche Integration sein.
Elisa Pfeiffer promovierte an der Universität Ulm im Fachgebiet
Psychologie.Der vorliegende Beitrag wurde beim Deutschen Studienpreis 2020 mit dem
2. Preis in der Sektion Sozialwissenschaften ausgezeichnet. Er beruht auf der
2019 an der Universität Ulm eingereichten Dissertation »The Effect of Traum-
focused Interventions on Pediatric Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) and
Posttraumatic Cognitions« von Dr. Elisa Pfeiffer.
Herausforderungen deutscher kann. Ständig hat er Gedanken wie »Seit
Versorgungssysteme durch trau- dem Krieg ist mein Leben zerstört, ich
matisierte Kinder und Jugendli- bin ein kaputter Mensch« und ist dauer-
che mit Fluchthintergrund: Eine haft angespannt. Bei seinen Freunden
versucht er sich nichts anmerken zu las-
Chance für neue Zugänge zwi-
sen, aber an manchen Tagen schließt er
schen Pädagogik und Psychothe-
sich lieber in seinem Zimmer ein, weil
rapie er keine Kraft mehr hat. Er fühlt sich
für das Erlebte verantwortlich und
Im Folgenden erhalten Sie zunächst ei- schuldig. Trotz der freundlichen Wohn-
nen Einblick in den Alltag eines trau- gruppenmitarbeiter ist er einsam. Zu
matisierten geflüchteten Jugendlichen: seiner Familie hat er keinen Kontakt
mehr, seit er diese in der Türkei verlo-
Adeel1 ist 16 Jahre alt und lebt seit ren hat. Er hat Angst, dass er diese nie
zwei Jahren in einer Jugendhilfeeinrich- wiedersehen wird. Wie lange er in sei-
tung in Deutschland. Im Oktober hat er ner neuen Heimat Deutschland bleiben
eine Ausbildung zum Elektriker ange- kann, weiß er nicht. Sorgen um sein
fangen, was ihm große Freude bereitet. Asylverfahren begleiten ihn jeden Tag.
Er hat schon einige Freunde gefunden,
aus seinem Heimatland Syrien und aus Der aus Syrien stammende Jugendli-
Deutschland. Was die meisten Men- che Adeel ist einer von fast zwei Millio-
schen in seinem Umfeld nicht über ihn nen Geflüchteten, die seit 2014 in
wissen, ist, dass er seit seiner monate- Deutschland Schutz gesucht haben (Sta-
langen Flucht mehrmals die Woche tistisches Bundesamt, 2019). Unbeglei-
Albträume vom Krieg und Bilder vom tete minderjährige Geflüchtete stellen
Bootsunglück vor Griechenland vor Au- hierbei eine besonders vulnerable Per-
gen hat. In diesen Momenten hat er sonengruppe dar, da sie während ihrer
große Angst und versucht sich selbst zu Flucht und im neuen Heimatland auf
beruhigen. Vor allem im Unterricht sich alleine gestellt sind und keine Si-
muss er darauf achten, dass keiner be- cherheit durch die Familie erfahren
merkt, dass sein Kopf gerade schreckli- können. Aus zahlreichen deutschen
che Bilder und Geräusche von früher und internationalen Studien wissen
abspielt. Bei der Arbeit fällt es ihm zu- wir, dass minderjährige Geflüchtete
nehmend schwer, sich zu konzentrie- vor, während und nach ihrer Flucht
ren und wach zu bleiben, da er nachts eine Vielzahl traumatischer Ereignisse
generell nur wenige Stunden schlafen
1
Fiktives Fallbeispiel
1Deutscher Studienpreis 2020 | 2. Preis Sozialwissenschaften Elisa Pfeiffer erleben, welche die individuellen Be- zumeist mehrere Monate. Es gibt kaum wältigungsmechanismen übersteigen. Grund zur Annahme, dass dieser Trend Besonders häufig treten Gewalterfah- in absehbarer Zeit zu einem Ende kom- rungen innerhalb und außerhalb der men oder sich gar umkehren wird. Die Familie, Kriegserlebnisse und der Ver- sogenannte Flüchtlingskrise im Jahre lust einer nahestehenden Person auf. 2015 wurde zu einer großen gesell- Etwa 95% der minderjährigen Geflüch- schaftlichen, politischen und gesund- teten berichten mindestens ein trauma- heitsökonomischen Herausforderung tisches Erlebnis, jeder zweite entwi- und ist in ihrer gesellschaftspolitischen ckelt infolgedessen eine Traumafolge- Relevanz daher kaum zu überschätzen. störung wie beispielsweise die Posttrau- Die Gesellschaft wurde durch die neuen matische Belastungsstörung, kurz Herausforderungen zwischen »Will- PTBS. Die Probleme, die Adeel berichtet kommenskultur« und aufstrebenden (Schlafstörungen, Albträume, sozialer rechten Bewegungen zunehmend ge- Rückzug etc.), passen zum Symptom- spalten. Nicht nur in Deutschland, son- bild einer PTBS oder Depression. Beides dern in ganz Europa spüren viele Men- sind gut behandelbare Störungsbilder, schen: Wir leben in unsicheren Zeiten. doch Adeel wird wahrscheinlich keine Überforderte Hilfesysteme wie die Ju- Behandlung bekommen. Aufgrund ver- gendhilfe oder Schulen, Psychiatrien schiedener struktureller (z.B. zu wenig und andere Krankenhäuser wurden Psychotherapeuten, fehlende Kosten- stark geprägt. übernahme und Dolmetscher) und indi- An genau dieser Versorgungslücke vidueller (z.B. Mangel an Wissen zu psy- von einer Vielzahl traumatisierter min- chischen Störungen, Sprachbarriere, derjähriger Geflüchteter mit Trauma- Angst vor Stigmatisierung) Barrieren, folgestörungen und einem überlasteten erhielten im Jahre 2015 nur etwa 4% al- Hilfesystem setzt die vorliegende kumu- ler betroffenen Geflüchteten in lative Dissertation an. In insgesamt fünf Deutschland eine entsprechende Be- Publikationen zu drei Studien wurden handlung (BPtK, 2015). Das deutsche Ge- zwei Themenbereiche erforscht: 1) sundheitssystem war und ist nicht aus- Grundlegende Mechanismen und Lang- reichend auf eine angemessene Versor- zeiteffekte von Traumatherapie bei gung von psychisch erkrankten Ge- traumatisierten Kindern und Jugendli- flüchteten vorbereitet. Die EU-Aufnah- chen mit PTBS und 2) die Entwicklung merichtlinie verpflichtet die Aufnah- und Evaluation einer Trauma-fokussier- mestaaten jedoch, der besonderen ten Gruppenintervention speziell für Schutzbedürftigkeit dieser Population minderjährige Geflüchtete in Jugend- Rechnung zu tragen. Bei nicht kranken- hilfeeinrichtungen. versicherten minderjährigen Geflüch- teten obliegt die Gewährung einer Psy- chotherapie den Jugend- und Sozialäm- tern. Der Genehmigungsprozess wird jedoch von den Institutionen sehr un- terschiedlich gehandhabt und dauert 2
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Traumatherapie für traumatisierte in der ersten Fragestellung untersucht,
Kinder und Jugendliche ob die Veränderung in dysfunktionalen
posttraumatischen Kognitionen zu ei-
Traumata und Störungsbilder wie ner Symptomreduktion während der
PTBS bleiben auch in Deutschland häu- Therapie führt. In dieser Studie wurde
fig unerkannt und unbehandelt. Eine eine vergleichsweise große und hetero-
unzureichende psychische Heilung in- gene Stichprobe traumatisierter Kinder
folge der Traumatisierung ist zum ei- und Jugendlicher in Deutschland (N =
nen stark assoziiert mit erhöhter Psy- 159) in einer randomisiert kontrollier-
chopathologie und damit verbunden ten Studie (RCT; Tf-KVT vs. Warte-
Hospitalisierungen und Inanspruch- gruppe) untersucht. Die klinische Stu-
nahme von psychosozialen Leistungen die wurde an mehreren universitären
und zum anderen mit akademischen und kommunalen psychiatrischen Kli-
Schwierigkeiten und Verhaltensproble- niken durchgeführt, die repräsentativ
men. Dies führt langfristig zu gesund- für die Versorgungslage in Deutschland
heitlichen Folgen für das Individuum, sind. Die Ergebnisse zeigen, dass je hö-
aber auch damit verbundenen hohen her die Veränderung in den Kognitio-
Gesundheitskosten für die Gesellschaft. nen innerhalb der Tf-KVT Bedingung
Weltweit erhalten nur wenige Kinder war, desto höher war die Symptomre-
und Jugendliche eine evidenzbasierte duktion. Die gezielte Veränderung die-
Traumatherapie, obwohl diese zumeist ser Kognitionen ist somit ein bedeuten-
als Kurzzeittherapien konzipiert und der Wirkmechanismus in der Trauma-
für Psychotherapeuten leicht erlernbar therapie und vermutlich auch in ande-
sind. Die Trauma-fokussierte kognitive ren kognitiven Therapien. Besonders
Verhaltenstherapie (Tf-KVT; Cohen, für psychosoziales Fachpersonal sind
Mannarino & Deblinger, 2016) ist die diese Erkenntnisse äußerst wichtig, da
Traumatherapie für Kinder und Jugend- sie innerhalb ihrer Therapie besonde-
liche mit der höchsten wissenschaftli- ren Fokus auf die Identifikation und
chen Evidenz, wie mehr als 20 welt- Umstrukturierung dieser Kognitionen
weite Studien belegen. Zu den tatsächli- legen sollten. Somit ermöglicht diese
chen Wirkmechanismen und den Lang- Publikation den anwendenden Psycho-
zeiteffekten dieser Therapie bestand im therapeuten, ihre Therapie zu verbes-
Vorfeld dieser Dissertation allerdings sern.
noch erheblicher Forschungsbedarf. Obwohl die Wirksamkeit der Tf-KVT
Dysfunktionale posttraumatische Kog- bereits in mehreren Studien belegt
nitionen, also Gedanken, wie sie Adeel wurde, fehlen wissenschaftliche Unter-
äußert (»ich bin kaputt«), sind bekann- suchungen zu Langzeiteffekten in der
terweise sowohl ein Faktor für die Ent- regulären psychiatrischen Versorgung.
wicklung als auch für die Aufrechter- Daher wurde in einer zweiten Publika-
haltung der PTBS. Da die Tf-KVT ein tion mit der gleichen Studienpopula-
kognitiv verhaltenstherapeutischer An- tion die Nachhaltigkeit der Therapieef-
satz ist, in welchem besonders diese fekte untersucht. Die Ergebnisse zei-
Kognitionen adressiert werden, wurde gen, dass die therapierten Kinder und
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Jugendlichen nach dem Therapieende Entwicklung und Evaluation einer
sowohl ein höheres Funktionsniveau Trauma-fokussierten Gruppeninter-
als auch statistisch und klinisch signifi- vention speziell für minderjährige Ge-
kant weniger Symptome in einer Reihe flüchtete in Jugendhilfeeinrichtungen
von Traumafolgestörungen berichteten:
PTBS, Depression, Angst und ADHS. Schon früh erkannte unsere Arbeits-
Diese Therapieeffekte sind nicht nur gruppe an der Kinder- und Jugendpsy-
stabil geblieben, die Kinder und Jugend- chiatrie/ Psychotherapie (KJPP) Ulm die
lichen haben sich teilweise nach 6 und desolate psychische Versorgung von
12 Monaten in ihrer Symptomatik sogar traumatisierten minderjährigen Ge-
nochmals verbessert. flüchteten. Im Rahmen der vorliegen-
Die dargestellten Studienergebnisse den Dissertation wurde, mit Unterstüt-
legen nahe, dass der nächste Schritt die zung der »World Childhood Founda-
bundesweite Dissemination der Thera- tion« und Partnern aus der Jugendhilfe,
pie für eine Vielzahl traumatisierter die niedrigschwellige Trauma-fokus-
Kinder und Jugendlicher sein muss. sierte Gruppenintervention »Mein
Hierfür muss einerseits Fachpersonal in Weg« (Pfeiffer & Goldbeck, 2019) entwi-
der Anwendung der Therapie gezielt ge- ckelt. Hierfür waren die Erfahrungen
schult werden, und andererseits müs- aus der Tf-KVT Studie grundlegend.
sen Klinikleitungen ermutigt werden, Die Gruppenintervention »Mein Weg«
die Therapie nachhaltig in den Struktu- wird von jeweils zwei Jugendhilfemitar-
ren ihrer Klinik zu implementieren. So- beitern, welche von erfahrenen Klini-
mit wird die generelle Versorgung trau- kern geschult und angeleitet werden,
matisierter Kinder und Jugendlicher innerhalb der Jugendhilfeeinrichtung
mit oder ohne Fluchthintergrund in durchgeführt und umfasst sechs 90-
Deutschland verbessert. minütige Gruppensitzungen mit drei
Da die Tf-KVT in der Reduktion ver- bis sechs Teilnehmern. Die angenom-
schiedener Traumafolgestörungen lang- menen Wirkmechanismen der Inter-
fristig wirksam ist und als ambulante vention sind zum einen die konkreten
Kurzzeittherapie abgerechnet werden Trauma-fokussierten Inhalte (z.B. Kon-
kann, entstehen pro Patient nur ge- frontation mit den traumatischen Er-
ringe Kosten für die Krankenkassen und eignissen), die von evidenzbasierten
die Gesellschaft. In Anbetracht der ho- Traumatherapien wie der Tf-KVT abge-
hen Gesundheitskosten, die mit unbe- leitet und für die Zielgruppe weiterent-
handelten traumatisierten Menschen in wickelt wurden, und zum anderen die
Zusammenhang stehen, sind diese Pub- Gruppenkomponente. Die meisten Ge-
likationen für Gesundheitsökonomen flüchteten stammen aus kollektivisti-
wegweisend und sollten die Dissemina- schen Gesellschaften, in welchen der
tion der evidenzbasierten Verfahren zu- Einzelne stets als Teil einer Gruppe
sätzlich fördern. wahrgenommen wird. Das Gruppenset-
ting ermöglicht den Teilnehmern ein
Gefühl von Kohäsion, Partizipation und
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Dazugehören, was ihnen im Alltag auf- gleiche zwischen den zwei Bedingun-
grund von Ausgrenzungsmomenten o- gen konnten zeigen, dass die Teilneh-
der Diskriminierung erschwert wird. mer in der Interventionsbedingung
Der Interventionsteilnehmer macht nach acht Wochen signifikant weniger
konkret die Erfahrung, dass andere PTBS-Symptome und Depression be-
Ähnliches erlebt haben, ähnliche Symp- richteten als die Teilnehmer in der Kon-
tome haben und der Weg zur Heilung trollbedingung. Dies bestätigt die Wirk-
gemeinsam gegangen werden kann. samkeit der Intervention. Die Abbruch-
In zwei wissenschaftlichen Studien rate war vergleichbar mit anderen
und drei Publikationen wurden die Ef- Gruppenangeboten, und wie in der Pi-
fektivität der Intervention in Bezug auf lotstudie wurden keine akuten Krisen
die Reduktion der Symptome (PTBS und der Interventionsteilnehmer gemeldet.
Depression), die Machbarkeit und Si- In einer weiteren Analyse wurden die
cherheit untersucht. In der initialen Pi- Langzeiteffekte für weitere drei Monate
lotstudie in sechs Jugendhilfeeinrich- bestätigt und verschiedene Prädiktoren
tungen berichteten die 29 Teilnehmer für die Symptomreduktion identifi-
signifikant weniger PTBS-Symptome ziert.
nach der Interventionsteilnahme. Zusammenfassend konnten sowohl
Durch eine niedrige Abbruchrate und die Pilot- als auch die RCT-Studie zeigen,
keine mit der Intervention in Verbin- dass »Mein Weg« eine effektive, sichere
dung gebrachten Sicherheitsrisiken und machbare Komponente in der psy-
konnten erste Hinweise für die Mach- chosozialen Versorgung von traumati-
barkeit und Sicherheit der Intervention sierten Geflüchteten in Deutschland ist.
und somit der Trauma-fokussierten Ar- Nach der wissenschaftlichen Evalua-
beit in der Jugendhilfe gefunden wer- tion war es ein wichtiges Anliegen der
den. Um sicherstellen zu können, dass Autoren, die Intervention im Rahmen
die Symptomreduktion auf die Teil- der Dissertation nachhaltig in Jugend-
nahme an der Intervention und nicht hilfeeinrichtungen zu implementieren
auf eine spontane Symptomreduktion und die Dissemination zu fördern. Hier-
oder andere Faktoren zurückzuführen für wurde in Arbeitsgruppen mit ver-
ist, wurde anschließend eine RCT-Stu- schiedenen Stakeholdern aus der Ju-
die mit insgesamt 99 Teilnehmern in gendhilfe, Kliniken und Jugendämtern
sieben Jugendhilfeeinrichtungen Möglichkeiten zur festen Etablierung
durchgeführt. Im Anschluss an ein ini- der Intervention nach Projektende erar-
tiales Symptomscreening und eine Prü- beitet. Gleichzeitig wurden weitere Ju-
fung der Einschlusskriterien wurden gendhilfeeinrichtungen geschult. Insge-
die Teilnehmer nach dem Zufallsprin- samt wurden somit innerhalb der Dis-
zip entweder in die reguläre pädagogi- sertation mehr als 340 minderjährige
sche Versorgung plus »Mein Weg« (Inter- Geflüchtete in 17 Jugendhilfeeinrich-
ventionsbedingung) oder in die regu- tungen auf ihre Symptomatik unter-
läre pädagogische Versorgung (Kontroll- sucht, mehr als 40 Gruppensitzungen
bedingung) randomisiert. Gruppenver- »Mein Weg« wurden durchgeführt und
fast 100 Jugendhilfemitarbeiter wurden
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geschult und supervidiert. Die mitwir- und Jugendlichen gezielt Trauma-fokus-
kenden Jugendhilfeeinrichtungen siert zu arbeiten. Diese Dissertation
wünschten sich im Anschluss an die hebt deutlich hervor, wie zentral die
Studie ähnliche Ansätze und Versor- Weiterbildung von sozialen Professio-
gungsangebote für fremdunterge- nen im Bereich Trauma, Traumathera-
brachte deutsche Kinder und Jugendli- pie und Traumapädagogik ist. Trauma-
che. Gemeinsam mit einem Konsor- folgestörungen können durch entspre-
tium des Universitätsklinikums Ulm chende Schulungen besser vom Soziali-
und der Baden-Württemberg Stiftung sationskontext eines Kindes erkannt
wurde somit das Projekt »Ankommen«, und entsprechend behandelt werden.
welches strukturierte Biographiearbeit Eine tiefergehende Weiterbildung in
im Gruppensetting zu kritischen Leben- angrenzenden Berufsgruppen wie Rich-
sereignissen in der Jugendhilfe unter- ter oder Beamte sind wünschenswert,
sucht, ins Leben gerufen. um auch eine Entlastung von Asylbe-
werbern in deren Verfahren zu ermög-
Implikationen lichen. Besonders Ehrenamtliche tra-
gen zum gesellschaftlichen Zusammen-
Die Implementation einer Trauma-fo- halt in Deutschland und in anderen eu-
kussierten Intervention innerhalb der ropäischen Ländern bei. Diese mehr zu
Jugendhilfe und nicht in einem klini- befähigen, kann ein Grundstein im In-
schen Setting ist ein absolutes Novum tegrationsprozess sein. 3) Gruppenin-
in der deutschen Gesundheitsversor- terventionen tragen auch der Kostenef-
gung und hat wichtige praktische und fizienz Rechnung. Das Gruppenformat
gesellschaftspolitische Implikationen: ermöglicht es, viele Betroffene gleich-
1) Interventionen wie »Mein Weg«, die zeitig zu adressieren und Kosten für ein-
in einer bekannten Atmosphäre durch zeltherapeutische Maßnahmen zu re-
Jugendhilfemitarbeiter und nicht in ei- duzieren. Auch in zukünftigen »Flücht-
ner möglichweise stigmatisierten Kli- lingswellen« können die Erkenntnisse
nik stattfinden, sind ein Weg, um die dieser Dissertation von Bedeutung sein.
(psychische) Barriere zu einer Behand- Nicht nur ein Zustrom an traumatisier-
lung zu reduzieren. Die Hemmschwelle ten Geflüchteten, sondern beispiels-
des Patienten zur Psychiatrie entfällt, weise Naturkatastrophen hinterlassen
die Jugendhilfe stellt eine bekannte und eine Vielzahl traumatisierter Men-
sichere Atmosphäre dar, eine Unmittel- schen, für die mit Gruppeninterventio-
barkeit der Intervention wird gewähr- nen eine erste rasch umsetzbare Versor-
leistet. Auch bei deutschen Kindern und gung gewährleistet werden kann. 4) In
Jugendlichen kann dies einen Weg zu den letzten Jahren wurde von verschie-
Destigmatisierung von psychischen Stö- denen deutschen und europäischen Au-
rungen und Behandlungen darstellen. torengruppen der Ansatz von gestuften
2) Die Intervention von Jugendhilfemit- Versorgungsmodellen vorgeschlagen,
arbeitern durchführen zu lassen, dient die jedem Einzelnen ein Hilfsangebot
dem »Empowerment« dieser und der Be- entsprechend seines individuellen Be-
fähigung, mit traumatisierten Kindern darfs adaptiv und flexibel anbieten. Die
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Intervention »Mein Weg« stellt hierbei hätte er mehr Anschluss zu Gleichaltri-
eine wichtige Komponente in Form ei- gen und würde die deutsche Kultur bes-
ner niedrigschwelligen frühen, aber ge- ser kennen lernen. Das Leben im Exil
zielten Intervention für Menschen mit kann für traumatisierte Geflüchtete
mild-moderaten Symptomen dar. Grup- nur fruchtbar sein, wenn sie eine adä-
peninterventionen ersetzen jedoch quate Behandlung, orientiert an den in-
keine (Trauma-) Therapie durch einen dividuellen Bedürfnissen, erhalten. Im
Kliniker. 5) Eine gute psychosoziale Ver- Jahr 2015 wurde die Bundeskanzlerin
sorgung mit Traumatherapie und nied- und Naturwissenschaftlerin Dr. Angela
rigschwelligen Interventionen für trau- Merkel weltweit für ihren bedeutungs-
matisierte Minderjährige ist nur durch schweren Satz »Wir schaffen das« gefei-
eine positive und enge Zusammenar- ert, was den Grundstein der »Willkom-
beit an der Schnittstelle zwischen Kli- menskultur« in Deutschland legte und
nik und Pädagogik zu erreichen. Die für gleichzeitig Hoffnung innerhalb der Ge-
sich genommen teilweise überforder- sellschaft schuf, dass der steigende Zu-
ten Hilfesysteme profitieren in Krisensi- strom an neuen Mitbürgern zu bewälti-
tuationen vom Wissenstransfer und gen ist. Diese Dissertation zeigt, dass
von offener Kommunikation zwischen dies durch die positive Zusammenar-
den Disziplinen anstatt von hierar- beit zweier gesellschaftstragender Sys-
chisch abgegrenzten Systemen. teme möglich werden kann.
Fazit Bundespsychotherapeutenkammer
(Btk), 2015. Psychische Erkrankungen
Die vorliegende Dissertation legt den bei Flüchtlingen. file:///D:/Studien-
Grundstein dafür, die psychische Ge- preis/20150916_ bptk_standpunkt_psy-
sundheit von traumatisierten Geflüch- chische_erkrankungen_fluecht-
teten in Deutschland zu verbessern und linge.pdf. Download-Datum: 06.01.2020
somit die Bedeutung der notwendigen
Bundesamt für Migration und Flücht-
psychosozialen Versorgung für eine er-
linge (2019). Download:
folgreiche Integration im Allgemeinen
https://www.bamf.de/ DE/Themen/Sta-
besser zu verstehen. Jugendliche wie A-
tistik/Asylzahlen/BundesamtInZah-
deel können maßgeblich von nied-
len/bundesamtinzahlen-node.html.
rigschwelligen Interventionen wie
Download-Datum: 10.01.2020
»Mein Weg« oder der Traumatherapie
Tf-KVT profitieren. Eine Symptomre- Cohen, J. A., Mannarino, A. P., &
duktion führt zu einer deutlich höhe- Deblinger, E. (2016). Treating trauma
ren Funktionalität und Lebensqualität and traumatic grief in children and ad-
im Alltag, mehr Teilhabe an der Gesell- olescents. New York: Guilford.
schaft und nicht zuletzt einer guten In- Pfeiffer, E., & Goldbeck, L. (2019).
tegration. Ohne Schlaf- und Konzentra- Mein Weg–Traumafokussierte pädago-
tionsprobleme könnte Adeel sich in der gische Gruppenintervention für junge
Schule beispielsweise deutlich besser Flüchtlinge (1. Aufl.). Göttingen: Ho-
entwickeln, ohne sozialen Rückzug grefe.
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