Deutschland auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem
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20 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N Nicole Hollenbach-Biele Deutschland auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem Elternerfahrungen in einem laufenden Systemumbau Zusammenfassung In Deutschland wird nach wie vor an der flächendeckenden Umsetzung eines inklusiven Schulsystems gearbeitet. Die öffentliche Stimmung diesbezüglich ist ambivalent. Eltern nehmen eine wichtige Rolle ein, denn letztendlich entschei- den sie darüber, wo ihre Kinder lernen. Umfragen zeigen: Wenn Eltern über Erfahrungen mit Inklusion verfügen, ste- hen sie dem gemeinsamen Lernen von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf positiver gegenüber. Insbesondere Einblicke in inklusiv arbeitende Klassen und Schulen helfen, die Chancen des gemeinsamen Lernens zu erkennen. So kann Skepsis abgebaut, verunsichernde Informationen aus der Öffentlichkeit können neu bewertet und letztlich die Umsetzung der UN-BRK im Schulsystem sichergestellt werden. Résumé En Allemagne, on travaille toujours à la mise en œuvre d’un système scolaire inclusif dans toutes les régions du pays. L’opinion publique est ambivalente sur le sujet. Les parents jouent ici un rôle important dans la mesure où ce sont eux qui décident en dernier ressort du lieu où leurs enfants seront scolarisés. Les sondages le montrent : lorsque les pa- rents ont pu faire l’expérience de l’inclusion, ils voient de manière plus positive l’apprentissage en commun d’enfants avec et sans besoin éducatifs particuliers. C’est notamment lorsqu’on a eu un aperçu des classes et écoles travaillant de manière inclusive que l’on est le plus apte à reconnaître les chances que représente l’apprentissage en commun. C’est ainsi que l’on coupe court au scepticisme, que l’on est en mesure de réévaluer des informations publiques dé- routantes, et finalement que la mise en œuvre de la CDPH dans le système scolaire peut être garantie. Permalink: www.szh-csps.ch/z2020-02-02 Einleitung des Einzelnen getroffen werden», dass «für Im Frühjahr 2009 ist Deutschland der Menschen mit Behinderungen innerhalb UN-Konvention über die Rechte von Men- des allgemeinen Bildungssystems die not- schen mit Behinderungen beigetreten. Mit wendige Unterstützung geleistet wird, um dem Artikel 24 dieser Konvention haben ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern», die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass und dass «wirksame individuell angepass- «Menschen mit Behinderungen nicht auf- te Unterstützungsmassnahmen in einem grund von Behinderung vom allgemeinen Umfeld, das die bestmögliche schulische Bildungssystem ausgeschlossen werden und soziale Entwicklung gestattet, ange- und dass Kinder mit Behinderungen nicht boten werden» (Beauftragter der Bundes- aufgrund von Behinderung vom unentgelt- regierung für die Belange behinderter Men- lichen und obligatorischen Grundschulun- schen, 2010). terricht oder vom Besuch weiterführender Auch 2019, also zehn Jahre nach dem Schulen ausgeschlossen werden». Der Arti- Beitritt Deutschlands zur UN-Behinderten- kel 24 verpflichtet weiter dazu, «dass ange- rechtskonvention, wird die Frage, wie die messene Vorkehrungen für die Bedürfnisse Lernbedürfnisse des einzelnen Kindes in der Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 21 Schule und im Unterricht angemessen be- verlieren, und welche Impulse Elternumfra- rücksichtigt und durch individuelle Massnah- gen geben können, um die schulische Inklu- men unterstützt werden können, hoch emo- sion weiter voranzubringen. tional diskutiert. Umfängliche empirische Be- lege zur Beantwortung dieser Frage fehlen Zum Ausmass an inklusiver bislang. Es gibt aber einige empirisch gesi- Beschulung in Deutschland cherte Erkenntnisse, die sich zur Versachli- Vor zehn Jahren – also im Schuljahr 2008/09 chung der Debatte und zur Diskussion der – besuchten in Deutschland fast fünf Pro- nächsten Schritte auf System-, Schul- und Un- zent (4,9 %) aller Kinder und Jugendlichen terrichtsebene eignen. Auf einige dieser Be der Klassenstufen fünf bis zehn (Zehn- bis lege werde ich in meinem Beitrag eingehen: Sechzehnjährige) an Förderschulen. Nach In drei Teilkapiteln zeige ich unter Rückgriff der Ratifizierung der UN-BRK sank diese • auf schulamtliche Statistiken Exklusionsquote den aktuellen amtlichen der 16 Bundesländer, Statistiken zufolge auf 4,3 Prozent (vgl. • auf ausgewählte Befunde aus Tab. 1). Das entspricht einem Rückgang von der Bildungsforschung und 0,6 Prozent in zehn Jahren. • auf Ergebnisse von repräsentativen In diesem Zeitraum sank deutschland- Elternumfragen weit die Anzahl der Förderschulstandorte exemplarisch auf, wie weit Deutschland die um rund 13 Prozent und auch die durch- Massgaben der UN-BRK rein quantitativ schnittliche Schülerzahl der Förderschulen umgesetzt hat, was Studien über die Leis- hat sich um rund 20 Prozent verringert. Die- tungsentwicklung von Schülerinnen und se Entwicklung ist im Wesentlichen auf Schülern in inklusiven Settings aussagen, zwei Faktoren zurückzuführen: zum einen und über welche Erfahrungen Eltern im Zu- auf die demografische Entwicklung und sammenhang mit dem inklusiven Lernen zum anderen auf eine zunehmende Umori- ihrer Kinder berichten. In meinem Fazit er- entierung der Schülerinnen und Schüler von läutere ich, weshalb wir in der BRD derzeit den Förderschulen in die allgemeinen Schu- Gefahr laufen, die UN-BRK aus dem Blick zu len (siehe Tab. 2, S. 23). Tabelle 1: Quoten1 bzw. Anteile in Prozent (Quellen: KMK, 2019a; KMK, 2019b; KMK, 2019c) Förderquote Exklusionsquote Inklusionsquote Inklusionsanteil 2017/18 7,4 4,3 2,8 41,7 2008/09 6,0 4,9 1,1 18,4 1 Inklusionsquote: Anteil der Lernenden mit Förderbedarf an allen Schülerinnen und Schülern der Primar- und Sekundarstufe I, die eine Regelschule besuchen – Inklusionsanteil: Anteil der Lernenden mit Förder- bedarf an allen Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf, die eine Regelschule besuchen – Exklusions- quote: Anteil der Lernenden mit Förderbedarf an allen Schülerinnen und Schülern der Primar- und Sekun- darstufe I, die eine Förderschule besuchen – Förderquote: Anteil der Lernenden mit Förderbedarf an allen Schülerinnen und Schülern der Primar- und Sekundarstufe – www.aktion-mensch.de/inklusion/bildung/ hintergrund/zahlen-daten-und-fakten/inklusionsquoten.html [Zugriff am 10.12.2019]. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
22 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N Nun liegt die Schulpolitik in Deutschland in ler wie internationaler Befunde deuten dar- der Hand der 16 Bundesländer. Deshalb ist auf hin, dass Kinder mit SFB (sonderpädago- es wenig verwunderlich, dass der Ausbau gischem Förderbedarf; Anm. NHB) bessere inklusiver Schulen bei gleichzeitigem Rück- Leistungen zeigen, wenn sie inklusiv beschult bau des Sonder- bzw. Förderschulsystems werden.» Allerdings bezieht sich der hier von Land zu Land sehr unterschiedlich ist: knapp referierte Forschungsstand in Deutsch- In immerhin zwölf Bundesländern hat sich land im Wesentlichen auf die Förderschwer- die Exklusionsquote über die vergangenen punkte Lernen, emotionale und soziale Ent- zehn Jahre verringert. Insbesondere Bre- wicklung sowie Sprache und legt hauptsäch men mit einer aktuellen Exklusionsquote lich Ergebnisse zu den ersten vier Schuljahren von 1,2 Prozent und Schleswig-Holstein (Grund- und Förderschule) vor. (2,1 %) zeigen, dass die UN-Konvention Diesen Studien zufolge hat der inklusi- durchaus umsetzbar ist. Demgegenüber ve Unterricht positive Effekte auf die Leis- haben sich andere Länder mit einer leicht tungsentwicklung der Schülerinnen und steigenden Exklusionsquote eher von der Schüler. Inklusiv lernende Kinder und Ju- Umsetzung der UN-BRK entfernt, sofern gendliche mit sonderpädagogischem För- man die offiziellen Zahlen als Richtwerte derbedarf erreichen tendenziell bessere verwendet. Konkret bedeutet das, dass Schulabschlüsse als vergleichbare Lernende seit dem Schuljahr 2009/2010 knapp in Förderschulen. Weniger eindeutig sind die 43 000 Kinder und Jugendliche, die ohne Ergebnisse zur schulischen Motivation und die Inklusion in Förderschulen zur Schule zum schulischen Wohlbefinden der Schüle- gegangen wären, jetzt in allgemeinen rinnen und Schüler: Die Studien weisen so- Schulen unterrichtet werden (Hollenbach & wohl beim inklusiven wie auch beim exklu- Klemm, in Vorb.). Trotzdem wechseln aktu- siven Lernen Vor- und Nachteile auf. Und: ell jährlich immer noch 23 000 Kinder und Die Wissenschaft hat entgegen landläufigen Jugendliche aus allgemeinbildenden Schu- Annahmen keine Hinweise dafür, dass durch len in Förderschulen – also von der Inklu- das gemeinsame Lernen eine Verlangsa- sion zur Exklusion. mung des Lerntempos oder andere Benach- teiligungen für Schülerinnen und Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf Vorteile des inklusiven Unterrichts entstehen. Vielmehr scheinen alle Schülerin- zeigen sich in der Leistungsentwicklung nen und Schüler von der Expertise der Lehr- der Schülerinnen und Schüler. personen in den Bereichen individuelle Dia- gnostik und Förderung zu profitieren (Stranghöner et al., 2017). Zu den empirischen Befunden In den Debatten über die Vor- und Nachteile Warum die Elternsicht auf inklusive von Unterricht in allgemeinen Schulen wird Schulen wichtig ist immer wieder die Frage nach der Leistungs- Eltern sind Expertinnen und Experten, wenn entwicklung der Schülerinnen und Schüler es um das Thema Bildung geht: Sie führen gestellt. Den Forschungsstand zu dieser Fra- mit ihren Kindern regelmässig Gespräche ge fassen Stranghöner et al. (2017, S. 127) darüber, wie sie schulisches Lernen erleben, wie folgt zusammen: «Die Mehrzahl nationa- was in der Schule und im Klassenzimmer Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 23 Tabelle 2: Entwicklung von Schüler- und Standortzahlen in Deutschland (Quellen: KMK, 2019a; KMK, 2019b; KMK, 2019c; Statistisches Bundesamt, 2009; Statistisches Bundesamt, 2019) Schüler-/Standortzahl 2008/09 2017/18 Rückgang in allgemeinen Schulen* 7 988 349 7 347 566 -8 % in Förderschulen 393 491 317 480 -19,3 % Förderschulstandorte 3302 2865 -13,2 % Schüler je Standortorte 119 111 -6,7 % * in Primar- und in Sekundarstufe I (Jahrgänge 1 bis 9 bzw. 10, Sechs- bis Sechzehnjährige) passiert oder wie unterstützend sie ihre gend eingebunden sind. Der gebundene Lehrpersonen empfinden. Die Sicht von El- Ganztag, das multikulturelle Angebot oder tern auf Schule und Unterricht ist deshalb auch das gemeinsame Lernen können noch eine äusserst wertvolle Perspektive. Gleich- so gut umgesetzt werden: Wenn Eltern sich zeitig werden Eltern bei der (Um-)Gestal- aufgrund der Unkenntnis über Alternativen tung von Schule und Unterricht in der Regel oder aufgrund individueller Überzeugungen selten einbezogen. Dagmar Killus und zum Beispiel für eine Halbtagsschule oder Klaus-Jürgen Tillmann (2011, S. 12) berich- für eine Schule in einem «besseren» Wohn- ten in diesem Zusammenhang von einem viertel entscheiden, gestalten sie letztend- strukturellen Defizit: Eltern befinden sich in lich die flächendeckenden Reformen im Bil- einer benachteiligten Position, sobald es dungswesen mit. darum geht, ihre Sichtweisen in übergrei- fende Diskurse einzubringen (z. B. zu den Themen Schulentwicklung oder Bildungs- Zum Zeitpunkt der Schulentscheidung politik). Es gibt zwei Gründe, weshalb sie rächt es sich, wenn Eltern in nicht einbezogen werden: Sie werden als Reformprozesse nicht genügend Laien betrachtet und man spricht ihnen die eingebunden sind. Fähigkeit ab, genügend Zeit und Energie in die Diskussionen investieren zu können. Gleichwohl haben Schul- und Unter- Eltern werden deshalb in den letzten Jahren richtsreformen, die im Rahmen von wissen- von der Forschung zunehmend in den Blick schaftlichen, politischen und administrati- genommen. So wurden die Eltern zum Bei- ven Prozessen entstehen, direkte (positive spiel bei PISA oder auch beim Nationalen Bil- oder negative) Auswirkungen auf die Schü- dungspanel NEPS befragt. Auch in der Mei- lerinnen und Schüler sowie auf deren Eltern. nungsforschung interessiert man sich für die Und schliesslich entscheiden in der Regel Eltern, diese werden zum Beispiel regelmäs- die Eltern, welche Schule ihr Kind letztend- sig vom Institut für Entwicklungsforschung lich besucht. So rächt es sich spätestens (IFS) befragt. Die Zielsetzungen dieser Be zum Zeitpunkt der Schulentscheidung, fragungen können von einer reinen Sensibili wenn Eltern in Reformprozesse nicht genü- sierung der bildungsinteressierten Öffentlich- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
24 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N keit über die Sichtweisen von Eltern bis hin zu Schülern mit und ohne sonderpädagogi- einer Einordnung in einen wissenschaftlichen schen Förderbedarf gemacht haben, stehen Diskurs rund um schulische Inklusion reichen selbigem hingegen tendenziell etwas kriti- (Tillmann & Killus, 2011, S. 15). scher gegenüber. Die Bertelsmann Stiftung führte im Unser Fazit: Es ist die Erfahrung, die Jahr 2015 eine repräsentative Elternumfra- dem gemeinsamen Unterricht von Kindern ge in Deutschland durch (Bertelsmann Stif- mit und ohne Behinderung die Türen öffnet. tung, 2015). Die Zielgruppe waren Eltern, Die Mehrheit der «inklusionserfahrenen» die im Rahmen einer onlinebasierten Befra- Eltern ist zufrieden mit «ihrer» inklusiv ar- gung über ihre Erfahrungen mit den Bil- beitenden Schule, empfindet die Lernsitua- dungsinstitutionen ihrer Kinder berichteten. tion im Klassenverband positiv und bewer- Die Antworten der Eltern machten deutlich, tet die Arbeit der Lehrpersonen als gut. In wie viele Mütter und Väter sich bewusst da- allen drei Aspekten sind Eltern von Kindern rüber werden, dass inklusive Bildung positi- an inklusiven Schulen zufriedener als Eltern ve Effekte für alle Kinder mit sich bringt. ohne schulische Inklusionserfahrungen. Unsere Elternumfrage zeigt zugleich die ambivalente Sicht bezüglich der flächen- Eltern, die bislang keine Erfahrungen deckenden Umsetzbarkeit des gemeinsa- mit inklusivem Lernen gemacht men Lernens. Die Frage, ob schulische In- haben, stehen selbigem tendenziell etwas klusion für alle Arten des sonderpädagogi- kritischer gegenüber. schen Förderbedarfs geeignet ist, erzeugte differenzierte Rückmeldungen der Befrag- ten. Zwar empfand die Mehrheit der Eltern Wie Eltern inklusive Schulen sehen Inklusion als wichtig für die Gesellschaft, Im Jahr 2015 berichtete ein Drittel der be- aber die Mehrheit zweifelte daran, ob inklu- fragten Eltern über eigene Erfahrungen mit sives Lernen der beste Weg für alle Schüle- schulischer Inklusion. Dieser Anteil war rinnen und Schüler ist. Diese Bedenken teil- deutlich höher als derjenige der drei Jahre ten alle Teilgruppen – unabhängig davon, zuvor durchgeführten JAKO-O-Studie (27 %, ob das eigene Kind inklusiv oder exklusiv vgl. Killus & Tillmann 2012). Diese Steige- lernt. Gleichwohl zeigte sich auch hier, dass rung ist angesichts des gewachsenen Inklu- die Erfahrungen das Vertrauen in das ge- sionsanteils der deutschen Bildungsstatistik meinsame Lernen vergrössern: Eltern von plausibel – und es kann davon ausgegan- Kindern, die inklusive Schulen besuchen, gen werden, dass beide Quoten weiter an- oder die private Kontakte zu Kindern mit gestiegen sind (Hollenbach-Biele & Klemm, sonderpädagogischem Förderbedarf ha- in Vorb.). In der Befragung aus dem Jahr ben, bewerten das Potenzial des gemeinsa- 2015 vergaben vor allem die Mütter und Vä- men Lernens tendenziell besser als Eltern, ter, deren Kind in eine inklusive Schule ging, die nicht mit dem Thema Inklusion in Berüh- mehrheitlich gute Noten an «ihre» Schule, rung kommen. Diese Bewertungen fallen im Klasse und Lehrpersonen – unabhängig Vergleich mit Schulen, die keine Kinder mit vom Förderstatus ihres eigenen Kindes. El- sonderpädagogischem Förderbedarf auf- tern, die bislang keine Erfahrungen mit in- nehmen, in vielen Aspekten häufiger positiv klusivem Lernen von Schülerinnen und aus. Die deutliche Mehrheit der «inklusions- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 25 erfahrenen» Eltern hat also das Gefühl, dass ses Lob kann ein Ansporn für alle Lehrperso- ihre Kinder bei den Lehrpersonen in guten nen sein, die Herausforderung im Umgang Händen sind, dass diese mit Schülerinnen mit Heterogenität im deutschen Klassenzim- und Schülern mit und ohne Förderbedarf mer anzunehmen – denn es lohnt sich. gut umgehen und dass alle profitieren. Diese Ergebnisse stehen in Einklang mit den Befunden anderer Elternumfragen. So Noch ist die Mehrheit der Eltern besorgt, berichten Dedering und Hostkemper (2014, dass ihre Kinder in inklusiven Schulen nicht S. 64f.): «Wir können somit zunächst einmal bestmöglich gefördert werden. festhalten, dass Eltern, deren Kinder Schulen besuchen, die sich auf den Weg der Umset- zung inklusiven Lernens gemacht haben, die Fazit Lernsituation ihrer Kinder, die Arbeit des dort Inklusion ist eine wichtige gesamtgesell- tätigen Personals und ihre eigenen Möglich- schaftliche Aufgabe des deutschen Schul- keiten, Schulleben und Lernkultur mitzuge- systems – das ist bei den Eltern in Deutsch- stalten, insgesamt sehr positiv beurteilen.» land angekommen. Bereits im Jahr 2015 Dieses positive Urteil bleibt auch nach der war die klare Mehrheit überzeugt, dass alle Kontrolle von Schulstufen und Schulform er- Kinder – unabhängig vom eigenen Lernver- halten. Dabei kommt insbesondere die Hal- halten und Förderbedarf – gut miteinander tung der Angestellten in inklusiven Schulen und voneinander lernen. Damit ist eine bei den Eltern positiv an. wichtige Grundlage geschaffen, um das ge- Auch in unserer Umfrage melden Eltern meinsame Lernen weiter auszubauen. zurück, dass die Schulen und Lehrpersonen Gleichzeitig steckt in der wiederkehrenden stärker als nicht-inklusive Schulen auf die Ambivalenz der Elternrückmeldungen über Interessen, Bedürfnisse und Stärken ihrer alle Umfragen hinweg ein klarer Auftrag für Schülerinnen und Schüler achten, sich mehr die deutsche Politik, die Forschung und die für das gemeinsame Miteinander einsetzen Praxis: Noch ist die Mehrheit der Eltern be- und kooperationsfreudiger sind. Zudem be- sorgt, dass ihre Kinder in inklusiven Schulen ziehen sie Eltern in höherem Masse ein. nicht bestmöglich gefördert werden. Sie Dieses Ergebnis hat uns in seiner Deut- sind hin- und hergerissen, ob Schülerinnen lichkeit positiv überrascht, denn an deut- und Schüler mit Förderbedarf nicht doch schen Schulen waren zum Zeitpunkt der besser an Förderschulen – also unter sich – Umfrage die Rahmenbedingungen für das lernen, und ob Kinder ohne Förderbedarf gemeinsame Lernen meistens weder ge- beim gemeinsamen Unterricht fachliche klärt noch langfristig gesichert. Zugleich Nachteile haben. waren die Resultate der Befragung ein Ge- Hier muss gut gemachte Inklusion zei- genpol zum negativen Bild von Schulen und gen, dass sich diese Befürchtungen nicht Lehrpersonen in der Öffentlichkeit. bewahrheiten. Die Erkenntnisse der Wissen- Allen Elternumfragen gemeinsam ist der schaft sind in den Köpfen vieler Eltern noch positive Befund, dass die Mehrheit der Eltern nicht angekommen: Vom gemeinsamen Ler- sehr zufrieden mit den Lehrpersonen ihrer nen profitieren Kinder ohne Förderbedarf Kinder war (und bis heute ist) und diese als ebenso wie Kinder mit Förderbedarf – und kompetent sowie engagiert wahrnimmt. Die- zwar sowohl bezüglich der sozialen als auch Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
26 E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N der fachlichen Kompetenzen. Wenn diese Literatur Erkenntnis bei Eltern ankommt, dann ist ein Beauftragter der Bundesregierung für die Be- wichtiger Schritt auf dem Weg zum inklusi- lange behinderter Menschen (2010). Die ven Schulsystem gemacht. Das zeigen auch UN-Behindertenrechtskonvention – Über- die Rückmeldungen der Mütter und Väter, einkommen über die Rechte von Men- die bereits Erfahrungen mit schulischer In- schen mit Behinderungen. Berlin. klusion sammeln konnten und ihr Potenzial Bertelsmann Stiftung (2015). Wie Eltern In- für alle Kinder positiver einschätzen als an- klusion sehen: Erfahrungen und Einschät- dere Eltern. Das sollte den Verantwortlichen zungen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Mut machen, Inklusion weiter beherzt vor- Dedering, K. & Horstkemper, M. (2014). Wie anzutreiben – auch in Zeiten, in denen der stehen Eltern zur Inklusion? In D. Killius & akute Lehrpersonenmangel an deutschen K. Tillmann (Hrsg.), Eltern zwischen Er- Schulen zum Grundproblem wird und die wartungen, Kritik und Engagement. Ein Frage «Wie können wir Inklusion gut ma- Trendbericht zu Schule und Bildungspoli- chen?» durch die Frage «Was sollen wir tik in Deutschland (3. JAKO-O Bildungs- denn noch alles machen?» überlagert zu studie) (S. 47 – 69). Münster: Waxmann. werden droht. Hollenbach-Biele, N. & Klemm, K. (in Vorb.). Zehn Jahre Inklusive Bildung in Deutsch- land: Licht- und Schattenseiten. Güters- loh: Bertelsmann Stiftung. Killus, D. & Tillmann K. (2011). Elternbefra- gung wozu? – eine Einführung. In D. Killi- us & K. Tillmann (Hrsg.), Der Blick der El- tern auf das deutsche Schulsystem (1. JA- KO-O Bildungsstudie) (S. 9 – 20). Münster: Waxmann. Killus, D. & Tillmann, K. (Hrsg.). Eltern ziehen Bilanz. Ein Trendbericht zu Schule und Bil- Dr. Nicole Hollenbach-Biele dungspolitik in Deutschland. Die 2. JA- Senior Expert Schulforschung und KO-O Bildungsstudie. Münster: Waxmann. Schulentwicklung Programm Integration und Bildung Bertelsmann Stiftung Carl-Bertelsmann-Straße 256 DE-33311 Gütersloh nicole.hollenbach-biele@ bertelsmann-stiftung.de Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
E I N S T E L L U N G E N U N D H A LT U N G E N Z U R I N K L U S I O N 27 Killus, D. & Tillmann, K. (Hrsg.). Eltern zwi- schen Erwartungen, Kritik und Engage- Impressum ment. Ein Trendbericht zu Schule und Bil- Schweizerische Zeitschrift für dungspolitik in Deutschland (3. JAKO-O Heilpädagogik, 26. Jahrgang, 2 / 2020 ISSN 1420-1607 Bildungsstudie). Münster: Waxmann. KMK (Kulturministerkonferenz) (2019a). Son- Herausgeber Stiftung Schweizer Zentrum derpädagogische Förderung in allge für Heil- und Sonderpädagogik (SZH) meinen Schulen (ohne Förderschulen) – Haus der Kantone Speichergasse 6, Postfach, CH-3001 Bern 2017/18. Berlin. Tel. +41 31 320 16 60, Fax +41 31 320 16 61 KMK (Kulturministerkonferenz) (2019b). szh@szh.ch, www.szh.ch Sonderpädagogische Förderung in För- Redaktion und Herstellung derschulen (Sonderschulen) – 2017/18. Kontakt: redaktion@szh.ch Verantwortlich: Romain Lanners Berlin. Redaktion: Silvia Brunner Amoser, KMK (Kulturministerkonferenz) (2019c). Silvia Schnyder, Daniel Stalder Rundschau und Dokumentation: Thomas Wetter Schüler, Klassen, Lehrer und Absolventen Inserate: Remo Lizzi der Schulen 2008 bis 2017. Berlin. Layout: Anne-Sophie Fraser Statistisches Bundesamt (2009). Fachserie. Erscheinungsweise 9 Ausgaben pro Jahr, jeweils in der Monatsmitte 11, Bildung und Kultur. 1, Allgemeinbil- dende Schulen, Schuljahr 2007/08 (korr. Inserate inserate@szh.ch Fassung vom 20. Dezember 2010). Berlin. Annahmeschluss: 10. des Vormonats; Statistisches Bundesamt (2019). Fachserie. Preise: ab CHF 220.– exkl. MwSt.; Mediadaten unter www.szh.ch ➝ Zeitschrift 11, Bildung und Kultur. 1, Allgemeinbil- Auflage dende Schulen, Schuljahr 2017/18. Berlin. 2247 Exemplare (WEMF / SW-beglaubigt) Stranghöner, D., Hollmann, J., Otterpohl, N., Druck Wild, E. & Lütje-Klose, B. (2017). Inklusion Ediprim AG, Biel versus Exklusion: Schulsetting und Le- Jahresabonnement se-Rechtschreibentwicklung von Kindern Digital-Abo CHF 69.90 Print-Abo CHF 79.90 mit Förderschwerpunkt Lernen. Zeit- Kombi-Abo CHF 89.90 schrift für Pädagogische Psychologie, Einzelausgabe 31 (2), 125 – 136. Print CHF 9.90 (inkl. MwSt.), plus Porto Digital CHF 7.90 (inkl. MwSt.) Abdruck erwünscht, bei redaktionellen Beiträgen jedoch nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Hinweise Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge von Autorinnen und Autoren muss nicht mit der Auffassung der Redaktion übereinstimmen. Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Website www.szh.ch Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 26, 2 / 2020
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