Die Coronakrise und ihre Auswirkungen auf den Europäischen Emissionshandel - ifo Institut
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IM BLICKPUNKT Karen Pittel, Helena Cordt, Sandra Gschnaller, Mathias Mier und Valeriya Azarova Kurz zum Klima Die Coronakrise und ihre Auswirkungen auf den Europäischen Emissionshandel Das Coronavirus verbreitet sich seit Anfang des Jahres IN KÜRZE 2020 weltweit und ist weiterhin eine unaufhaltsame Gefahr. Die hochinfektiöse Lungenkrankheit Covid-19, die ursprünglich im Dezember 2019 in der chinesi- Die nationalen Shutdowns, ausgelöst durch die Corona-Pande- schen Provinz Hubei entdeckt wurde, führte in vielen mie, führten zum Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität in Ländern zum Shutdown mit der Hoffnung, die Aus- Europa. Unter anderem gingen die Treibhausgasemissionen breitung der Infektion zu verlangsamen. Damit geht (insbesondere CO 2) in Europa aufgrund des Stillstands von Pro- das Coronavirus mit weitreichenden Auswirkungen für die Wirtschaft und das öffentliche Leben einher. Der duktionsanlagen und einer gesunkenen Stromnachfrage deut- wirtschaftliche Schaden der nationalen Shutdowns lich zurück. Folglich ist auch der Europäische Emissionshandel wird weitaus höher geschätzt als die ökonomischen (EU ETS) von den Auswirkungen der Coronakrise betroffen. Da Folgen der Finanzkrise und erreicht damit ein noch Unternehmen temporär weniger CO 2 -Zertifikate benötigen, fiel nie dagewesenes Ausmaß (vgl. Dorn et al. 2020). Auch der CO 2 -Preis vorübergehend stark ab. Mit Unterstützung des wenn viele Länder diese Regelungen bereits sukzessiv EU-REGEN-Modells wurde simuliert, dass die aktuellen Ein- lockern, sind die langfristigen Folgen des Shutdown noch schwer abschätzbar. sparungen von Emissionen nur bedingt zur Erfüllung der eu- Abgesehen von der drohenden Rezession, bringt ropäischen Klimaziele beitragen können, da lediglich 140 Mio. die Coronakrise positive Nachrichten für das Klima mit (bei einer schnellen Erholung der wirtschaftlichen Aktivität) sich. Der globale Rückgang der Produktion und des bis 541 Mio. (bei einer schweren und dauerhaften Rezession) Energie- und Strombedarfs führt zu einer weltweiten zusätzliche Zertifikate annulliert werden. Auch langfristig Verringerung der Emissionen. Anfang April sank der werden die krisenbedingten Emissionsreduktionen im EU ETS tägliche weltweite CO2-Ausstoß um 17% im Vergleich zum Vorjahr. Den größten Beitrag leisten der Indus- nicht über diese Annullierungen hinausgehen, selbst wenn die trie- und Stromsektor sowie der Verkehrssektor. Zu- wirtschaftliche Aktivität dauerhaft unter dem vor der Krise sammen sind sie für 86% des Rückgangs der globalen prognostizierten Niveau bleibt. Es stellt sich die Frage, ob der Emissionen verantwortlich. Emissionsreduktionspfad des EU ETS bei einem langfristigen Der Effekt der Krise auf die gesamte Emissions- Einbruch des wirtschaftlichen Wachstums angepasst wer- bilanz von 2020 hängt maßgeblich von der weiteren den sollte, so dass Europa einen höheren Beitrag zum Errei- Dauer der Beschränkungen und der Anzahl von be- troffenen Ländern ab. Falls die Corona-Schutzmaß- chen der Klimaziele des Pariser Abkommens leisten könnte. nahmen in den meisten Ländern bereits Mitte Juni maßgeblich gelockert werden, wird eine Verringerung der globalen Emissionen um 4% geschätzt. Bleiben die flächendeckenden Beschränkungen bis Ende des der weltweit erste klimaneutrale Kontinent wer- Jahres bestehen, wird ein Rückgang von 7% erwartet den (vgl. European Commission 2020d). Vermag das (vgl. Le Quéré et al. 2020). In Europa wird für 2020 Coronavirus Europa helfen, diese Klimaziele leichter mit einer Abnahme der Treibhausgasemissionen von zu erreichen? 250 bis 450 Mio. Tonnen im Vergleich zu 2019 gerech- Ein zentrales Instrument der europäischen Kli- net (vgl. CEPS 2020). Es stellt sich allerdings die Frage, mapolitik ist der Europäische Emissionshandel (EU inwieweit die kurzfristigen Emissionseinbrüche auch ETS). Aufgrund des weltweiten Produktionseinbruchs, langfristig zu einem schnelleren Rückgang der Emis- der gefallenen Stromnachfrage und dem damit ver- sionen beitragen werden. Diese Frage ist aktuell von bundenen Rückgang von CO2-Emissionen hat das besonderem Interesse, da die Europäische Kommis- Coronavirus Auswirkungen auf den europäischen sion im Rahmen des Green Deal plant, ihr Emissions- Markt für CO2-Zertifikate. Mit Unterstützung des reduktionsziel für 2030 von 40% (gegenüber 1990) EU-REGEN-Modells, eines Modells für den europäi- auf 50–55% anzuheben. Zudem soll Europa bis 2050 schen Strommarkt (vgl. Mier und Weissbart 2020; ifo Schnelldienst 6 / 2020 73. Jahrgang 10. Juni 2020 67
IM BLICKPUNKT Weissbart und Blanford 2019), simulieren wir die tion ins außereuropäische Ausland, werden die Zertifi- langfristigen Auswirkungen auf den EU ETS. Genau kate kostenlos verteilt. Die meisten Zertifikate werden genommen wird der Effekt der Coronakrise auf die allerdings über die Europäische Energiebörse verstei- Emissionen und den CO2-Preis bestimmt. In diesem gert (vgl. European Commission 2020a). Anschließend Zusammenhang wird insbesondere auf die Rolle der können die Emissionsberechtigungen von Firmen auf Marktstabilitätsreserve (MSR) eingegangen. dem Markt frei gehandelt werden (Trade). Unterneh- men, die Emissionen vermeiden, können überschüs- Aktuelle Entwicklung auf dem Strom- und sige Zertifikate an Unternehmen mit höherem Ausstoß CO 2 -Markt in Europa verkaufen. Folglich wird der CO2-Preis durch Angebot und Nachfrage nach Zertifikaten determiniert. Das Coronavirus hat die europäischen Strommärkte Zu Beginn der dritten Handelsperiode 2013–2020 seit März fest im Griff. Die drastischen Maßnahmen wurde für 2013 ein Cap von 2 084 Mio. Zertifikaten führen zu einem massiven Rückgang des Strom- bestimmt. In den folgenden Jahren reduzierte sich bedarfs in Europa (vgl. ISIS 2020). Die Stromnach- dieses jährlich um den sogenannten linearen Reduk- frage ist allerdings bereits vor der Pandemie aufgrund tionsfaktor von 1,74% (38 Mio. Zertifikate), wodurch warmer Winter und dem allgemeinen Konjunktur- über die Zeit immer weniger Zertifikate ausgegeben abschwung der europäischen Wirtschaft gesunken. wurden. Ab 2021 steigt der lineare Reduktionsfaktor Damit verschärfte der kurzfristige negative Nachfra- auf 2,2% (48 Mio. Zertifikate), um einen vergleichs- geschock, der durch die Corona-Restriktionen aus- weise stärkeren Anreiz für klimaneutrale Investitionen gelöst wurde, die angespannte Situation auf dem eu- zu setzen und mehr Emissionen zu vermeiden (vgl. ropäischen Strommarkt zusätzlich (vgl. Energybrain- European Commission 2020c). Dies führt zu einer Re- pool 2020). Konkret zeigt sich dies in einem Einbruch duktion des Cap von 2 084 Mio. Zertifikaten zu Beginn der Stromnachfrage um 10%. Für 2020 wird des- der dritten Handelsperiode (2013) auf 376 Mio. 2050. halb ein durchschnittlicher Preisrückgang von 9% Aufgrund der Finanzkrise und des hohen Anteils erwartet (vgl. ICIS 2020). Darüber hinaus sank die internationaler Kredite bildete sich nach 2009 auf dem CO2-Intensität der Stromgewinnung durch einen hö- Markt ein Überschuss, der bis zu 2 Mrd. Zertifikate heren Anteil an erneuerbarer Energie im Zeitraum umfasste (vgl. European Commission 2020b). Da das 10. März bis 10. April 2020 im Vergleich zum Vorjahr Angebot an Zertifikaten die Nachfrage deutlich über- um fast 20% (vgl. Wartsila 2020). stieg, brach der CO2-Preis dauerhaft ein. Somit bot Zudem werden auch in anderen EU-ETS-Sektoren er keinen starken Anreiz für Investitionen in Emissi- weniger Treibhausgase emittiert. Diese Entwicklung onsvermeidung und war aus Sicht des Klimaschut- führt zu einer geringeren Nachfrage nach CO2-Zertifi- zes harter Kritik ausgesetzt. Um den EU ETS wieder katen, was sich zunächst in einem starken Preisverfall zu stärken, begann die Europäische Union 2014 den widerspiegelte. Nachdem sich der CO2-Preis seit 2019 Überschuss durch Backloading, dem Zurückhalten von auf ungefähr 25 Euro/t CO2 eingependelt hatte, stürzte für die Versteigerung vorgesehenen Emissionsberech- er Ende März auf knapp 16 Euro/t CO2 ab. Anfang Ap- tigungen, zu reduzieren (vgl. European Commission ril erholte sich der Zertifikatspreis allerdings wieder 2020b). Insgesamt wurde die Auktion von 900 Mio. leicht und bewegt sich seitdem auf einem Preisniveau Zertifikaten auf einen späteren Zeitpunkt verschoben von 20 Euro/t CO2 (vgl. Ember 2020). (vgl. European Commission 2019). Seit Janaur 2019 wirkt mit der Marktstabilitäts- DER EUROPÄISCHE EMISSIONSHANDEL reserve (MSR) ein langfristiges Instruments zur Be- schränkung des Überangebots. Durch die MSR soll Der EU ETS wurde 2005 eingeführt und umfasst alle die Widerstandsfähigkeit des Systems gegenüber 31 Länder des Europäischen Wirtschaftsraums. In der größeren Schocks durch eine flexiblere Anpassung europäischen Klimapolitik spielt er eine zentrale Rolle, des Angebots verbessert und zugleich die Verschie- da er insgesamt 45% der gesamten Treibhausgasemis- bung des Ausstoßes von Emissionen in die Zukunft sionen erfasst (vgl. European Commission 2020a). Als eingeschränkt werden. Die MSR stellt eine temporäre marktorientierte Politik zur Festlegung eines Preises Reserve für sich auf dem Markt befindende überschüs- für CO2 folgt der EU ETS den Grundsätzen eines Cap- sige Zertifikate dar. Die im Rahmen des Backloading and-Trade-Systems. Das Cap, sprich die Obergrenze, zurückgehaltenen 900 Mio. Zertifikate wurden 2019 in bestimmt, wie viele Treibhausgasemissionen in einem die MSR übertragen. Der Mechanismus der MSR sieht bestimmten Zeitraum insgesamt ausgestoßen werden vor, dass weitere Zertifikate dem Markt entzogen wer- dürfen. Jedes Zertifikat berechtigt den Eigentümer den, wenn mehr als 833 Mio. Zertifikate zirkulieren. zum Ausstoß einer Tonne CO2-Äquivalent. Produkti- Diese TNAC (Total Number of Allowances in Circulation) onsanlagen energieintensiver Branchen, Kraftwerke berechnet sich aus der Differenz von Angebot und und Flugzeugbetreiber sind verpflichtet, ihre Emissio- Nachfrage, wobei das MSR-Volumen zusätzlich – als nen jedes Jahr mittels Zertifikaten abzudecken. Unter Form der Nachfrage – abgezogen wird. anderem an Branchen mit hohem Risiko für Carbon Von 2019 bis 2023 werden 24% der TNAC in die Leakage, der Verlagerung emissionsintensiver Produk- MSR eingebracht und genau jene Menge weniger ver- 68 ifo Schnelldienst 6 / 2020 73. Jahrgang 10. Juni 2020
IM BLICKPUNKT steigert. Ab 2024 werden nur noch 12% der zirkulie- die jeweils nächste Handelsperiode via Banking renden Zertifikate der MSR zugeschlagen (vgl. Schmitt übertragen werden. Ebenfalls übertragen werden 2017). Zertifikate werden aus der MRS ausgeschüttet durch die MSR zurückgehaltene (noch nicht an- (200 Mio. bis 2023, 100 Mio. ab 2024), wenn weniger nulierte) Verschmutzungsrechte. als 400 Mio. zirkulieren (vgl. European Commission 2020b). Darüber hinaus werden ab 2023 sich in der Mit Unterstützung des EU-REGEN-Modells können MSR befindende Zertifikate annulliert, sprich end- wir die Auswirkungen der Pandemie auf den EU ETS gültig aus der Reserve entfernt, wenn das Volumen simulieren. Der Effekt der Coronavirus-Pandemie der MSR das Auktionsvolumen des vorherigen Jahres auf den Stromsektor wird mittels fallender Preise für überschreitet. Diese Maßnahmen gewährleisten, dass fossile Brennstoffe, sinkende industrielle CO2-Emissi- bei einem kontinuierlichen Überangebot Emissionsbe- onen und einer reduzierten Stromnachfrage model- rechtigungen nicht nur temporär, sondern permanent liert (die Emissionen der Stromerzeugung ergeben aus dem Markt genommen werden. Dies impliziert, sich modellendogen). Das EU-REGEN-Modell optimiert dass insgesamt mehr Emissionen vermieden werden, standardgemäß in Fünfjahresschritten. Um die Aus- als durch das fallende Cap vorgegeben sind. Die MSR wirkungen der Coronakrise besser erfassen zu kön- soll damit einen Beitrag zur kosteneffizienten Umset- nen, werden die Jahre 2019 und 2020 jeweils einzeln zung der europäischen Klimaziele bis 2030 leisten (vgl. betrachtet. European Commission 2020c), indem sie Schwankun- Die ursprünglichen Erwartungen über die Ent- gen des Zertifikatspreises reduziert und Erwartungen wicklung für den EU ETS gehen vom business as usual über zukünftige Preise stabilisiert. aus, d.h., sie berücksichtigen den exogenen Schock durch das Coronavirus nicht. Im Kontrast dazu werden AUSWIRKUNGEN AUF DEN EU ETS: drei mögliche Szenarien definiert, die unterschiedliche MODELLBASIERTE PROGNOSE wirtschaftliche Folgen der Coronakrise beschreiben. Damit kann der Effekt der Krise auf den Ausstoß von Wir simulieren die Dynamik des EU ETS mitsamt MSR Emissionen aus Stromgewinnung und Industrie zwi- unter folgenden Annahmen: schen den verschiedenen Szenarien variieren. Für alle drei Szenarien gilt, dass das Coronavirus im Januar 1. Das Cap bestimmt von 2026 an die Summe aus und Februar 2020 noch keine Auswirkungen in Europa frei allokierten und auktionierten Zertifikate unter hatte, im März jedoch der Ausbruch der Pandemie Berücksichtigung der MSR. Mögliche Nicht-Zutei- die Wirtschaft als exogener Schock traf. Im Falle ei- lungen von Emissionszertifikaten (z.B. durch den ner schnellen Erholung (Szenario 1) wird ab 2021 von deutschen Kohleausstieg und die ungeklärte Rolle einer Rückkehr des Produktionsniveaus und Strom- des Vereinigten Königreichs) sowie sogenannte bedarfs zu den ursprünglichen Prognosen vor dem (zusätzlich ab 2020) geschaffene International Corona-Schock ausgegangen. Im Falle einer schritt- Credit Entitlements werden lediglich im Zeitraum weisen Erholung (Szenario 2) wird erwartet, dass die 2021 bis 2025 betrachtet. allgemeinen Auswirkungen der Krise aufgrund der 2. Unter Berücksichtigung der MSR werden 2020 bestehenden Corona-Schutzmaßnahmen zusätzli- 63% der Zertifikate auktioniert (die EU-Kommis- che fünf Jahre lang anhalten werden. Erst ab 2026 sion gibt für die gesamte zweite Handelsperiode ist die Wirtschaft vollkommen erholt. Beide Szena- 57% an, allerdings ohne Einfluss der MSR). Die- rien gehen davon aus, dass der Strombedarf und die ser Anteil steigt bis 2050 (linear) auf 100%. Somit wirtschaftliche Aktivität ihre ursprünglichen Niveaus gibt es keine durch Carbon Leakage induzierten wieder erreichen werden. Hingegen wird im Falle ei- Freizuteilungen ab 2050 mehr. ner schweren Rezession (Szenario 3) ein persistenter 3. Die vom EU ETS erfassten Sektoren (ohne Luft- verkehr und Stromerzeugung) werden in einem Abb. 1 Industriesektor zusammengefasst. Das Verhält- Entwicklung der CO₂-Emissionen nis von industriellen CO2-Emissionen zu denen Stromerzeugung GT Industriesektor der Stromerzeugung verändert sich von 0,85 im 1,8 Schnelle Erholung Jahr 2019 (718 Mio. zu 844 Mio. CO2-Emissionen) 1,6 Schrittweise Erholung zu 3,06 im Jahr 2050. Eine solch exemplarische Schwere Rezession 1,4 Vermeidungskostenkurve für den Industriesek- 1,2 tor reflektiert, dass die Stromerzeugung gerin- 1,0 gere CO2-Vermeidungskosten hat als z.B. die 0,8 Stahlerzeugung. 0,6 4. Wir unterteilen die künftige vierte Handelsperi- 0,4 ode (2021 bis 2030) in zwei Teile und nehmen an, 0,2 dass alle künftigen Handelsperioden ebenfalls 0,0 fünf Jahre andauern. Überschüssige Zertifikate 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 (gekauft, aber noch nicht benutzt) können in Quelle: Berechnungen des ifo Instituts. © ifo Institut ifo Schnelldienst 6 / 2020 73. Jahrgang 10. Juni 2020 69
IM BLICKPUNKT Abb. 2 schnellen Erholung, Kreise unter einer schrittwei- Entwicklung des Zertifikatspreises sen Erholung und Rauten unter einer schweren Re- Business as usual Schnelle Erholung zession wider. In diesem Fall sinken die Emissio- Euro/Tonne Schrittweise Erholung Schwere Rezession nen von 1,62 Gigatonnen 2019 auf 0,35 Gigatonnen 210 bis 2050 ab. Wie in Abbildung 1 erkennbar, sin- 180 ken die Emissionen im Industrie- und Stromsek- 150 tor zusammengenommen in allen drei Szenarien 2020 120 um 209 Mio. Tonnen. Dies ist auf den kurzfristigen Ef- fekt der Coronakrise zurückzuführen. Bereits ab 2021 90 nähern sich die Emissionswerte in den drei Szenarien 60 wieder dem business as usual an. 30 Abbildung 2 stellt die Preisentwicklung für Emis- 0 sionszertifikate dar. Der CO2-Preis unter dem business 2019 2020 2021‒2025 2026‒2030 2031‒2035 2036‒2040 2041‒2045 2046‒2050 as usual 2020 beträgt 25 Euro/tCO2 und steigt kontinu- Quelle: Berechnungen des ifo Instituts. © ifo Institut ierlich bis auf 199 Euro/tCO2 2046–2050. Die Corona krise hat, zumindest unter schneller und schrittweiser Abb. 3 Erholung, kaum einen Einfluss auf den Preis. Lediglich Entwicklung des Zertifikateüberschusses und des Zugangs in die Marktstabilitätsreserve 2031–3035 sind die Preise etwas höher und 2046–2050 Überschusszertifikate etwas geringer. Mrd. Marktstabilitätsreserve Zugang Im Falle einer schweren Rezession liegt der 3,6 Schnelle Erholung 3,2 Preis unter dem Business-as-usual-Niveau. Bis 2050 Schrittweise Erholung 2,8 Schwere Rezession führt dies zu einem Preisrückgang von 14,9% auf 2,4 169 Euro/tCO2. 2,0 Der Blick auf die Entwicklung des CO2-Preises und 1,6 der Emissionen zeigt, dass die MSR ihrer Rolle gerecht 1,2 wird. Im Folgenden wird die genauere Auswirkung der 0,8 Coronakrise auf die Anzahl der überschüssigen Zerti- 0,4 fikate und das MSR-Volumen erläutert. 0,0 Abbildung 3 zeigt die Entwicklung des Zertifikats- -0,4 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 überschusses (rot) sowie die resultierende Verschie- Quelle: Berechnungen des ifo Instituts. © ifo Institut bung von Zertifikaten in die MSR (blau). In allen Sze- narien steigt der Überschuss an Zertifikaten im Jahr Abb. 4 2020 aufgrund des pandemiebedingten Rückgangs Entwicklung der Annullierungen und des Volumens der Marktstabilitätsreserve der Emissionen leicht an. Infolgedessen werden 2021 Volumen der Marktstabilitätsreserve mehr Zertifikate, nämlich 314 statt 264 Mio., in die Mrd. Annulierungen 2,5 MSR übertragen. Der Überschuss bleibt bis 2023 be- Schnelle Erholung Schrittweise Erholung stehen, wo der Annullierungsmechanismus zu greifen 2,0 Schwere Rezession beginnt. Von da an hat die Corona-Pandemie kaum Einfluss auf das Marktgeschehen, weil sowohl im 1,5 business as usual als auch in den drei Szenarien je- weils die gleichen Grenzwerte (400 bzw. 833 Mio. zir- 1,0 kulierende Zertifikate) erreicht werden. Abbildung 4 veranschaulicht die Entwicklung des 0,5 MSR-Volumens (rot) und die damit verbundene An- 0,0 nullierung von Zertifikaten (blau). Die Coronakrise 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 führt insbesondere ab 2022 zu einer höheren Anzahl Quelle: Berechnungen des ifo Instituts. © ifo Institut an Zertifikaten in der MSR. Daraus folgend werden ab 2023 wesentlich mehr Zertifikate annulliert. Insgesamt Rückgang der Industrieproduktion und Stromnach- werden im business as usual 2 629 Mio. Zertifikate an- frage um 5% erwartet. nulliert. Diese Zahl steigt durch die Coronakrise um Mit Hilfe der modellbasierten Ergebnisse lassen 140 Mio. (schnelle Erholung), 281 Mio. (schrittweise sich Aussagen darüber treffen, wie sich die Emissio- Erholung) bzw. 541 Mio. (schwere Rezession). nen, Zertifikatspreise sowie die MSR unter den ver- Die Ergebnisse lassen auf zwei wichtige Folge- schiedenen Szenarien im Vergleich zum business as rungen schließen. Auf der einen Seite gleicht die MSR usual bis 2050 entwickeln. die kurzfristigen Auswirkungen der Corona-Pande- Abbildung 1 zeigt die Entwicklungen des Emis- mie je nach Szenario teilweise oder sogar mehr als sionsniveaus. Die durchgezogene Linie repräsen- vollkommen aus (dem initialen Rückgang 2020 von tiert das Business-as-usual-Szenario, Quadrate 209 Mio. durch die Pandemie stehen Annullierungen spiegeln die Ergebnisse unter der Annahme einer von 140 bis 541 Mio. Zertifikaten gegenüber). Das hat 70 ifo Schnelldienst 6 / 2020 73. Jahrgang 10. Juni 2020
IM BLICKPUNKT allerdings nicht mit einem Mehr an Zertifikaten, son- der Faktor automatisch angepasst werden. Eine solche dern einer größeren Menge an zirkulierenden Zerti- Änderung könnte beispielsweise im Rahmen der EU- fikaten zu tun. So ist auch der CO2-Preis (abgesehen ETS-Reform eingeführt werden, die das Ziel der Klima- von einem kurzfristigen Kriseneinbruch im März) kaum neutralität, wie es der EU Green Deal für 2050 vorsieht, durch die Coronakrise beeinflusst, und die Anreize für implementiert. Da eine solche Reform voraussichtlich Investitionen in CO2-neutrale Technologien bleiben be- erst mittelfristig umgesetzt werden könnte, würde sie ständig. Eine positive Nachricht für den Klimaschutz. die wirtschaftliche Erholung aktuell nicht gefährden. Da der Emissionsreduktionspfad im EU ETS aller- Die Ankündigung einer solchen Reform könnte jedoch dings auf 2,2% pro Jahr festgelegt ist, ergeben sich für Unternehmen wichtige Anreize setzen hinsichtlich – jenseits der Annullierung von Zertifikaten im Rah- der klimafreundlichen Verwendung von Corona-In- men der MSR – keine weiteren positiven Effekte für vestitionshilfen. Damit könnte sich die Coronakrise das Klima. Selbst wenn sich das Wachstum in der EU zu einer Chance für den langfristigen EU-Beitrag zum als Folge der Coronakrise dauerhaft vermindert, ver- Klimaschutz erweisen. bleibt das Emissionsniveau vergleichbar hoch, da sich schlicht die Emissionsintensität erhöht (siehe dazu ins- LITERATUR besondere das Szenario schwere Rezession). Es stellt CEPS (2020), The European Green Deal after Corona, verfügbar unter: sich die Frage, ob in einem eintretenden Szenario mit https://www.ceps.eu/download/publication/?id=26869&pdf=PI2020-06_ European-Green-Deal-after-Corona.pdf. schwerer Rezession der Emissionsreduktionsfaktor Dorn, F., C. Fuest, M. Göttert, C. Krolage, S. Lautenbacher, R. Lehmann, nicht angehoben werden könnte, um damit eine Re- S. Link, S. Möhrle, A. Peichl, M. Reif, S. Sauer, M. Stöckli, K. Wohlrabe duktion der Emissionen zu erreichen. Europa könnte und T. Wollmershäuser (2020), »The Economic Costs of the Coronavirus Shutdown for Selected European Countries: A Scenario Calculation«, damit seinen Beitrag zum Erreichen der Pariser Kli- EconPol Policy Brief 25. maziele erhöhen. Ohne eine Anpassung des Systems Ember (2020), »Carbon Price Viewer«, verfügbar unter: hat dagegen selbst eine schwere Rezession keinen https://ember-climate.org/carbon-price-viewer/. zusätzlich positiven Effekt auf den Klimaschutz. Energybrainpool (2020), »Corona-Pandemie und Energiemärkte«, verfüg- bar unter: https://blog.energybrainpool.com/corona-pandemie-und-ener- giemarkt-eine-quantitative-abschaetzung-ueber-mittelfristige-entwick- FAZIT: DIE MSR ALS STABILISIERUNGSMECHANIS- lungen/. MUS DES EU-ETS FUNKTIONIERT GUT European Commission (2019), Report on the functioning of the European carbon market, verfügbar unter: https://ec.europa.eu/transparency/reg- doc/rep/1/2019/EN/COM-2019-557-F1-EN-MAIN-PART-1.PDF. Zusammengefasst zeigen die Autoren, dass die MSR European Commission (2020a), »Emissions trading system«, verfügbar als Stabilisierungsmechanismus des EU ETS auch unter: https://ec.europa.eu/clima/policies/ets_en. in der Coronakrise gut funktioniert. Es wären nach European Commission (2020b), »Market Stability Reserve«, verfügbar unter: https://ec.europa.eu/clima/policies/ets/reform_en. den vorliegenden Berechnungen keine zusätzlichen European Commission (2020c), »Revision for phase 4 (2021–2030)«, ver- Maßnahmen zur Stabilisierung des Emissionsniveaus fügbar unter: https://ec.europa.eu/clima/policies/ets/revision_en. und des CO2-Preises erforderlich. Diese Erkenntnis European Comission (2020d), »2030 climate & energy framework«, ver- ist zunächst positiv und bestätigt die Widerstands- fügbar unter: https://ec.europa.eu/clima/policies/strategies/2030_en. fähigkeit des Cap-and-Trade-Systems. Andererseits ICIS (2020), »European power and carbon markets affected by COVID-19 – an early impact assessment«, verfügbar unter: https://www.icis.com/ liegt es aber auch in der Natur des Systems, dass der explore/resources/news/2020/03/27/10487371/european-power-and-car- zusätzliche Emissionsrückgang aufgrund der Corona- bon-markets-affected-by-covid-19-an-early-impact-assessment. krise auf die Annullierung der Emissionszertifikate in Le Quéré, C., R. Jackson, M. Jones, A. J. P. Smith, S. Abernethy, R. M. Andrew, A. J. De Gol, D. R. Willis, Y. Shan, J. G. Canadell, P. Fried- der MSR beschränkt bleibt. Selbst bei einer tiefgrei- lingstein, F. Creutzig und G. P. Peters (2020), »Temporary reduction in fenden Rezession mit langfristigen wirtschaftlichen daily global CO2 emissions during the COVID-19 forced confinement«, Nature Climate Change, online, verfügbar unter: https://doi.org/10.1038/ Folgen, werden die Emissionen nicht schneller sinken s41558-020-0797-x. als im Business-as-usual-Szenario, trotz einer im Ver- Mier, M. und C. Weissbart (2020), »Power markets in transition: Decar- gleich geringeren Produktionsmenge. Allerdings sind bonization, energy efficiency, and short-term demand response«, Energy Economics, online, 104644. Prognosen über die Erholung der Wirtschaft von der Schmitt, A. (2017), »Kurz zum Klima: Der EU-Emissionshandel – be- aktuellen Krise extrem unsicher, und Maßnahmen, die kannte Probleme, neue Lösungen?«, ifo Schnelldienst 70(9), 48–50. eine Anpassung des Systems vorschlagen, sollten dies Wartsila (2020), »European responses to Covid-19 accelerate the electri- berücksichtigen. city system transition by a decade«, verfügbar unter: https://www.wart- Eine Möglichkeit, der Unsicherheit über die zu- sila.com/media/news/17-04-2020-european-responses-to-covid-19-acce- lerate-the-electricity-system-transition-by-a-decade-according-to-wartsi- künftige Entwicklung Rechnung zu tragen, wäre, den la-analysis-2689055. linearen Reduktionsfaktor an das Wachstum in der EU Weissbart, C. und G. Blanford (2019), »A Framework for Modelling zu koppeln. Fällt das Wachstum über einen längeren the Dynamics of Power Markets – the EU-REGEN Model«, ifo Working Paper 307. Zeitraum geringer aus, als der ursprünglichen Berech- nung des Reduktionsfaktors zugrunde gelegt, könnte ifo Schnelldienst 6 / 2020 73. Jahrgang 10. Juni 2020 71
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