Die einen sticheln, die anderen

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Die einen sticheln, die anderen
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   EU und Großbritannien nach dem Brexit

     Die einen sticheln, die anderen
   drohen
   Brexit-Folgen: Eigentlich wollten EU und Briten weiter eng
   kooperieren. Nun herrscht Dauerzwist. Wem schadet das
   mehr?

   Von Markus Becker und Ralf Neukirch
   25.03.2021, 14.25 Uhr
Die einen sticheln, die anderen
Bessere Zeiten: Boris Johnson und Ursula von der Leyen im Januar 2020 in London Foto: Stefan Rousseau/
dpa

         Die Indiskretion kam für Boris Johnson zu einem denkbar
         ungünstigen Zeitpunkt. Der britische Erfolg bei den Corona-
         Impfungen sei das Ergebnis von »Gier« und »Kapitalismus«,
         erklärte der britische Premierminister am Dienstagabend bei
         einer Telefonkonferenz mit konservativen Abgeordneten
         nach Angaben mehrerer britischer Medien.

         Während in Großbritannien noch diskutiert wird, was
         Johnson mit seinen Äußerungen gemeint hat, wirkten sie auf
         der anderen Seite des Ärmelkanals wie ein
         Brandbeschleuniger. Die EU hat eigenen Angaben zufolge
         zehn Millionen Dosen Impfstoff nach Großbritannien
         exportiert, aber keine einzige Dosis von dort erhalten.
         Johnsons Worte klingen, als wolle er die Europäer dafür auch
         noch verhöhnen.

         »Von den Briten haben wir nichts bekommen«, klagte
         Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu
Die einen sticheln, die anderen
Wochenbeginn. Die EU prüft deshalb, ob sie den Export von
Impfstoff nach Großbritannien verbieten soll. »Wir werden
handeln«, drohte Sandra Gallina, die Chefeinkäuferin für
Impfstoffe, am Dienstag vor EU-Abgeordneten.

Die Reaktion aus Großbritannien folgte prompt: Die EU solle
sich vor einem Vertragsbruch hüten »und sich erwachsen
benehmen«, mahnte der britische Verteidigungsminister Ben
Wallace.

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brechen ein

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Großbritannien

Der Streit um die Impfstoffe ist der vorläufige Tiefpunkt in
einer zerrütteten Beziehung. Dabei hatten beide Seiten noch
vor kurzer Zeit gelobt, trotz Trennung freundschaftlich
miteinander verbunden zu bleiben.

Als die EU und Großbritannien an Heiligabend, fünf Jahre
nach der Brexit-Abstimmung, ein neues
Kooperationsabkommen vereinbarten, da lobte von der
Leyen: »Wir können den Brexit hinter uns lassen und nach
vorne schauen.« Und Johnson verstieg sich zu der Prognose:
Die einen sticheln, die anderen
»Wir werden euer Freund sein, euer Partner, euer
Unterstützer, und nicht zu vergessen, euer Nummer-Eins-
Markt.«

Von solchen Schwüren ist drei Monate später nichts
geblieben. Statt wie Freunde und Partner benehmen sich die
EU und Großbritannien wie geschiedene Eheleute, die dem
jeweils anderen demonstrieren wollen, wie gut es auch ohne
ihn geht. »Auf beiden Seiten gibt es Emotionen und Fehler,
die unnötig sind«, klagt der Vorsitzende des Auswärtigen
Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen.

Den Briten scheint es ein
Anliegen zu sein, den            »Die britische Regierung
Europäern die eigene             betreibt eine Politik der
Geringschätzung zu               gezielten Nadelstiche.«
demonstrieren. »Die
                                 Europaparlamentarier David McAllister
britische Regierung betreibt
eine Politik der gezielten
Nadelstiche«, klagt der Vorsitzende des Auswärtigen
Ausschusses im EU-Parlament, David McAllister. So weigert
sich London, dem EU-Botschafter den vollen diplomatischen
Status zuzuerkennen, eine Nickeligkeit, die sich nicht einmal
Staaten wie Russland oder China erlauben.

In den neuen außenpolitischen Leitlinien, die Johnson in der
vergangenen Woche vorstellte, geht es um die neue Rolle
Großbritanniens, seine Atomwaffen und die Hinwendung zur
indo-pazifischen Region. Die EU erwähnt der Freund,
Partner und Unterstützer dagegen nur nebenbei.

Nach Angaben von EU-Parlamentariern versuchen die Briten
zudem, die Europäische Union aus den Gesprächen über die
Zukunft Zyperns herauszudrängen, die Ende April stattfinden
sollen. Großbritannien sitzt als ehemalige Kolonialmacht mit
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am Tisch.

»Die britische Regierung ist besessen von der Idee der
nationalen Souveränität«, sagt Nick Witney vom European
Council on Foreign Relations (ECFR), einem
europapolitischen Thinktank. »Die Idee scheint deshalb zu
sein, die EU zu ignorieren oder sogar zu delegitimieren.«

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Dazu passt, dass Johnson im Impfstreit über das Wochenende
einzelne Regierungschefs wie Angela Merkel und den
Niederländer Mark Rutte angerufen hat, die beide nicht als
Anhänger eines Exportverbots gelten. Auch EU-Widersacher
wie der russische Präsident Wladimir Putin vermeiden den
Kontakt mit Brüssel. Putin versucht lieber, die einzelnen
Mitgliedstaaten gegeneinander auszuspielen.
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  Ist die a kt u elle Ver teilu n g der Im pf stof fe f a ir?

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Britische Exporte in die EU brechen ein

Die EU glaubte eigentlich, im Konflikt mit den Briten in der
stärkeren Position zu sein, vor allem wirtschaftlich. Die
Zahlen bestätigten dieses Bild zunächst. Die britischen
Exporte in die EU gingen im Januar um 40 Prozent zurück.
In Nordirland blieben die Regale in manchen Supermärkten
als Folge des Brexits leer.

Dennoch ist inzwischen nicht London in der Defensive,
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sondern Brüssel. Das liegt daran, dass die britische Regierung
die Impfung der eigenen Bevölkerung deutlich schneller und
professioneller managt als die EU und ihre Mitgliedstaaten.

AstraZeneca für den Premier: Boris Johnson wird geimpft Foto: ANDREW PARSONS / 10
DOWNING STREET / HANDOUT / EPA

41 Prozent der Briten haben bereits eine erste Impfdosis
bekommen. In Deutschland und im EU-Durchschnitt sind es
erst rund neun Prozent. Mittlerweile gilt Großbritannien als
Beispiel für eine erfolgreiche Impfkampagne.

Die in Europa weitverbreitete Hoffnung, der Brexit werde
den Briten noch leidtun, erfüllt sich derzeit nicht. Der
britische Impferfolg hat durchaus mit dem Brexit zu tun.
Ohne den Austritt aus der EU hätte London kaum so handeln
können wie in den vergangenen Monaten.

Daher ist auch die Kritik der Gegner des EU-Austritts
deutlich leiser geworden. »Man muss zugeben, dass derzeit
wenige Leuten sagen: Wie schade, dass wir nicht den
europäischen Weg gegangen sind«, sagt ECFR-Experte
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Witney.

                                      Die britischen Erfolge
»Ich bin nicht sehr                   haben in Brüssel zu einer
optimistisch, was die                 zunehmenden Gereiztheit
kommenden zwei oder                   geführt – und zu Fehlern.
drei Jahre angeht.«                   Ende Januar setzte die EU-
                                      Kommission einen
Nick Witney vom European Council on
Foreign Relations                     Mechanismus in Kraft, der
                                      Pharma-Unternehmen
                                      zwingt, Exporte von
Corona-Impfstoffen genehmigen zu lassen. Die hastig
aufgesetzte Verordnung erweckte den Eindruck, Brüssel
wolle wieder Kontrollen an der Grenze zwischen Irland und
Nordirland einführen.

Obwohl die Kommission den Schnitzer binnen weniger
Stunden korrigierte, war die Empörung in Irland und im
Vereinigten Königreich enorm. Auf einmal sah es aus, als
betrachte Europa den Kooperationsvertrag als Mittel, um den
Partner nach Gutdünken unter Druck setzten zu können.

London bricht die Verträge

Dabei ist es London, das die Verträge gebrochen hat. Die
britische Regierung hat sich auf die vereinbarten
Warenkontrollen an der Grenze zwischen Nordirland und
Großbritannien nur unzureichend vorbereitet. Deshalb haben
die Briten erklärt, sie würden die volle Umsetzung des
Nordirland-Protokolls einseitig hinausschieben. Bis Oktober
soll es keine Lebensmittelkontrollen nach EU-Standards
geben.
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Das stößt selbst bei Freunden Großbritanniens auf
Unverständnis. »Dass London einzelne Verpflichtungen aus
der Nordirland-Vereinbarung einseitig aufkündigt, belastet
die konstruktive Zusammenarbeit«, sagt David McAllister.
»Es ist wenig hilfreich, denn die EU ist in dieser Frage zu
flexiblen und pragmatischen Lösungen bereit.«

Es bleibt den Europäern auch nichts anderes übrig. Die
Kommission eröffnete zwar ein
Vertragsverletzungsverfahren, ist ansonsten aber weitgehend
machtlos. Sie könnte bessere Kontrollen nur an der
Außengrenze der EU zwischen Irland und Nordirland
durchsetzen. Das aber, so fürchtet man nicht nur in Brüssel,
könnte die Gewalt in dem ehemaligen Bürgerkriegsland
wieder aufflammen lassen. Die britische Regierung nutzt
diese Angst aus.

Leere Drohungen
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Dabei ist das Handelsabkommen noch nicht einmal ratifiziert.
Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion, Manfred
Weber, hatte im SPIEGEL damit gedroht, die Abstimmung
noch einmal zu verschieben. Doch am Ende wird es das EU-
Parlament nicht darauf ankommen lassen, die Vereinbarung
ganz zu kassieren. Man werde den Vertrag am 26. April
ratifizieren, sagte Parlamentspräsident David Sassoli der
Webseite Politico.

Mehr Erfolg verspricht die Drohung der EU, den Export von
Impfdosen des Konzerns AstraZeneca nach Großbritannien
zu untersagen. Das Unternehmen hatte weit weniger Dosen
nach Europa geliefert als zugesagt, die britischen
Bestellungen aber offenbar erfüllt.

Johnson scheint bereit, über einen Kompromiss mit den
Europäern zu reden. Das hat wohl auch damit zu tun, dass in
Italien 29 Millionen Dosen des Impfstoffs gefunden wurden,
von denen ein Teil möglicherweise für Großbritannien
bestimmt ist. Diese Dosen dienen der EU nun als
Druckmittel.

Leiden in »splendid isolation«

Die Konfrontationsstrategie der Briten könnte sich auch auf
anderem Gebiet als kurzsichtig erweisen. Demnächst will die
EU-Kommission entscheiden, ob sie anerkennen soll, dass die
britischen Finanzdienstleister gleichwertig mit denen in der
EU reguliert werden. Daraus wird wohl nichts werden, sollten
die Briten ihre Regeln lockern, wie Finanzminister Rishi
Sunak kürzlich angekündigt hat. Sollte nur eine »dünne
Äquivalenz« herauskommen, wäre das eher ein Problem für
den britischen Finanzplatz, sagt Ulrich Hoppe,
Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und
Handelskammer.

          Auf lange Sicht, davon sind Experten auf beiden Seiten des
          Kanals überzeugt, dürfte der Brexit den Briten mehr schaden
          als der EU – schon weil Großbritannien vor dem Brexit etwa
          die Hälfte seiner Exporte in die EU schickte, während es der
          EU nur sieben Prozent von deren Ausfuhren abnahm.

          Ob dies das britische Verhalten ändern wird, ist offen. »Ich
          bin nicht sehr optimistisch, was die kommenden zwei oder
          drei Jahre angeht«, sagt Nick Witney vom European Council
          on Foreign Relations. »Ich fürchte, wir werden so
          weitermachen und leiden in unserer splendid isolation.«

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