Die Grabstätten meiner Väter - Die jüdischen Friedhöfe in Wien Tim Corbett - Vandenhoeck & Ruprecht

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Die Grabstätten meiner Väter - Die jüdischen Friedhöfe in Wien Tim Corbett - Vandenhoeck & Ruprecht
Die Grabstätten
meiner Väter
Die jüdischen Friedhöfe in Wien

                                  Tim Corbett
Die Grabstätten meiner Väter - Die jüdischen Friedhöfe in Wien Tim Corbett - Vandenhoeck & Ruprecht
Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

       © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien
ISBN Print: 9783205206729 — ISBN E-Book: 9783205212102
Die Grabstätten meiner Väter - Die jüdischen Friedhöfe in Wien Tim Corbett - Vandenhoeck & Ruprecht
Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

Schriften des Centrums für Jüdische Studien

Band 36

Herausgegeben von Gerald Lamprecht und Olaf Terpitz

                    © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien
             ISBN Print: 9783205206729 — ISBN E-Book: 9783205212102
Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

Tim Corbett

Die Grabstätten meiner Väter
Die jüdischen Friedhöfe in Wien

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

                     © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien
              ISBN Print: 9783205206729 — ISBN E-Book: 9783205212102
Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

Veröffentlicht mit der freundlichen Unterstützung durch :
Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus
Zukunftsfonds der Republik Österreich
MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien
Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI)
Gerald Westheimer Career Development Fellowship vom Leo Baeck Institute – New York

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen
schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung : Detailansicht aus Josef Daniel Huber, „Vogelschauplan“, 1769–1778, Wiener Stadt-
und Landesarchiv, Pläne und Karten: Sammelbestand, P1 – Pläne und Karten: 11.

Korrektorat : Andreas Eschen, Berlin
Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-205-21210-2

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                     ISBN Print: 9783205206729 — ISBN E-Book: 9783205212102
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              In loving memory of
             Steven “Stig” Dempster
                   1970–2017

   To die by your side / would have been /
         such a heavenly way to die.

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Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

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Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

Inhalt

Vorwort .......................................................................................... 13

1.    Jüdische Räume, jüdische Kulturen. Eine Einführung
      in die Verortung und Bedeutung der jüdischen
      Friedhöfe in der Geschichtsschreibung ......................................               15
      1.1 Der Tod, die Leiche und die Grabstätte.
            Anthropologische und kulturhistorische
            Überlegungen zur Bedeutung des Friedhofs ..........................                  24
      1.2 Kultur, Identifikation und Zugehörigkeit. Zu einigen
            Grundkonzepten der jüdischen Geschichtsschreibung ............                       30
      1.3 Gemeinschaft und Gemeinde, Judentum und
            Judenheit. Der jüdische Friedhof als einzigartiger
            Gemeinschaftsraum ...........................................................        40
      1.4 Zur Auslegung und Struktur des vorliegenden Werks .............                        47

2.    Das „steinerne Archiv“. Zu den Ursprüngen des
      jüdischen Friedhofs und seiner Dokumentation ......................... 59
      2.1 Ursprünge und Auslegung des jüdischen Friedhofs ................ 72
      2.2 Praxis rund um Trauer, Bestattung und Gedenken in
           der jüdischen Geschichte .................................................... 86
      2.3 Ursprünge und Funktion der Chewra Kadisha ....................... 101
      2.4 Ursprünge und Auslegung des jüdischen Grabsteins ............... 105
      2.5 Zur Sprache der Wiener Judenheiten .................................... 111
      2.6 Zur Deutung der Sepulkralepigraphik .................................. 118
      2.7 Zur Dokumentation der Wiener jüdischen Friedhöfe.............. 132

3.    Gemeinwesen trotz Wandel und Brüchigkeit. Der
      Friedhof in der Seegasse vom Mittelalter bis zur
      Epoche der Reform ................................................................... 141
      3.1 Brüchiger Wandel. Die Wiener Judenheiten in der
           vormodernen Zeit.............................................................. 146
      3.2 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des
           Friedhofs in der Seegasse bis 1783 ........................................ 156
      3.3 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im
           Friedhof in der Seegasse ..................................................... 163
      3.4 Zum Vergleich: Die Grabsteine des Stephansfreithofs
           beim Stephansdom ............................................................ 187
      3.5 Schlussbemerkungen.......................................................... 190

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8        Inhalt

    4.      „Toleranz“ und Etablierung der Gemeinde. Der
            Friedhof in Währing von der Epoche der Reform bis zur
            liberalen Ära ............................................................................ 193
            4.1 Von der Toleranz zur Emanzipation. Die langwierige
                  Etablierung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien .............. 199
            4.2 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des
                 Währinger Friedhofs bis 1879 .............................................. 214
            4.3 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im
                 Währinger Friedhof ........................................................... 219
            4.4 Zum Vergleich: Der St. Marxer Kommunalfriedhof ............... 250
            4.5 Schlussbemerkungen.......................................................... 253

    5.      Emanzipation und einheitliche Vielfalt. Der
            Zentralfriedhof Tor I von der liberalen Ära bis zum Zerfall............ 257
            5.1 Von der Emanzipation zum Zerfall. Wiener
                 Mikrokosmen habsburgischer Judenheiten............................ 267
            5.2 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des
                 Friedhofs beim I. Tor bis 1917 ............................................. 290
            5.3 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im
                 Friedhof beim I. Tor ........................................................... 307
            5.4 Zum Vergleich: Der Döblinger Friedhof................................ 349
            5.5 Zwischenepochal: Die Soldatengräber beim I. Tor,
                 Gruppe 76B ...................................................................... 352
            5.6 Schlussbemerkungen.......................................................... 359

    6.     Demokratie und zerstrittene Vielfalt. Der
           Zentralfriedhof Tor IV vom Ersten Weltkrieg bis zum
           „Anschluß“ .............................................................................. 361
           6.1 Demokratisierung, „Orthodoxisierung“ und
                gegenseitige Ausgrenzung. Die Kultusgemeinde
                zwischen Republik und Nationalsozialismus.......................... 366
           6.2 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des
                Friedhofs beim IV. Tor bis 1938 ........................................... 387
           6.3 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im
                Friedhof beim IV. Tor ......................................................... 412
           6.4 Die weitere Belegung des Friedhofs beim I. Tor und
                die Schaffung des jüdischen Kriegerdenkmals in der
                Zwischenkriegszeit............................................................. 438
           6.5 Schlussbemerkungen.......................................................... 453

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                           ISBN Print: 9783205206729 — ISBN E-Book: 9783205212102
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                                                                                        Inhalt      9

7.   Werten, bewahren, vernichten. Parallelitäten und
     Paradoxien im wissenschaftlichen und
     stadttopographischen Umgang mit den Wiener
     jüdischen Friedhöfen vom 19. Jahrhundert bis in die Shoah........ 457
     7.1 Denkmalschutz und Urbizid. Das komplexe
          Zusammenspiel von Bewahrung und Vernichtung
          jüdischen Kulturguts im 19. und 20. Jahrhundert ................... 465
     7.2 Rezeption und Stellenwert der Wiener jüdischen
          Friedhöfe in der wissenschaftlichen und
          stadttopographischen Literatur vor der Shoah........................ 479
     7.3 Bestrebungen zur Bewahrung bzw. Vernichtung der
          Wiener jüdischen Friedhöfe vor der Shoah ............................ 506
     7.4 Vom „Anschluß“ zur „Arisierung“. Die
          Konsolidierung der NS-Politik gegenüber jüdischen
          Friedhöfen ab März 1938 .................................................... 523
     7.5 Das Schicksal des Friedhofs in der Seegasse während
          der Shoah ......................................................................... 539
     7.6 Das Schicksal des Friedhofs in Währing während der Shoah .... 559
     7.7 Das Schicksal der jüdischen Abteilungen des
          Zentralfriedhofs während der Shoah .................................... 575
     7.8 Schlussbemerkungen.......................................................... 580

8.   Haus des Todes, Haus des Lebens. Zwang und
     (Über-)Leben am Zentralfriedhof Tor IV während der Shoah ........ 585
     8.1 Betrieb und Benützung der jüdischen Abteilungen
          am Zentralfriedhof während der Shoah ................................ 592
     8.2 Die Bestattung von Ascheurnen und
         „Nichtglaubensjuden“ beim IV. Tor....................................... 617
     8.3 Leben, Liebe und Tod am „Grabeland“ beim IV. Tor ............... 633
     8.4 Der jüdische Friedhof in belletristischen
         Auseinandersetzungen mit der Shoah ................................... 656
     8.5 Die Bestattung von verstorbenen
          jüdisch-ungarischen ZwangsarbeiterInnen beim IV. Tor.......... 663
     8.6 Schlussbemerkungen.......................................................... 667

9.   Eine neue Gemeinde? Gemeinschaftliche
     Erinnerungskonstruktionen am Zentralfriedhof Tor IV
     nach der Shoah........................................................................ 671
     9.1 „Orthodoxisierung“ und „Zionisierung“. Die
          Neuetablierung und Neuorientierung der
          Kultusgemeinde nach 1945.................................................. 678

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10      Inhalt

           9.2 Von Amalek, Märtyrertum und Israel. Die
               Konstruktion einer Kollektiverinnerung an die
               Shoah beim IV. Tor ............................................................ 703
           9.3 „Ein Denkmal und ein Name“. Die „gesammelten
               Erinnerungen“ an die Shoah beim IV. Tor.............................. 734
           9.4 Zwischen Friedhofsamt, Rabbinat und Gerichtshof.
               Die umstrittene Orthodoxisierung der Wiener
               jüdischen Sepulkralpraxis unter Ernst Feldsberg .................... 753
           9.5 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im
               Friedhof beim IV. Tor nach 1945 .......................................... 778
           9.6 Die Bezugnahme der im Ausland überlebenden
               Nachkommen zu den Wiener jüdischen Friedhöfen
               nach 1945 ......................................................................... 812
           9.7 Schlussbemerkungen.......................................................... 821

     10. … und immer schon eine Wiener G’schicht. Die
         jüdischen Friedhöfe als Schauplätze konkurrierender
         Erinnerungskulturen in der Zweiten Republik ............................. 823
         10.1 Zwischen Scham und Schuld. Der Umgang mit der
              nationalsozialistischen Vergangenheit und dem
              jüdischen Erbe in Österreich nach 1945 ................................ 832
         10.2 Der Kampf um Anerkennung, Restitution und
              Instandsetzung in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende ..... 846
         10.3 Grabschändungen als stellvertretende antisemitische
              Gewalt in der Zweiten Republik ........................................... 875
         10.4 Die innerjüdischen Konflikte rund um die
              fortdauernde Verwahrlosung der Friedhöfe nach
              dem Vergleich von 1955...................................................... 883
         10.5 Der Friedhof in der Seegasse als Präzedenzfall für
              umfassende Instandsetzungsarbeiten .................................... 904
         10.6 Die Wende im Umgang mit dem jüdischen Erbe
              Österreichs infolge der Waldheim-Affäre .............................. 916
         10.7 Der Währinger Friedhof als Kristallisationspunkt der
              österreichischen Vergangenheitsbewältigung im
              21. Jahrhundert ................................................................. 947
         10.8 Ausblick anstelle eines Schlussworts – Die Zukunft
              der jüdischen Friedhöfe in Wien .......................................... 968

     Nachwort ....................................................................................... 979

     Abbildungsverzeichnis .................................................................... 985

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Quellenverzeichnis ......................................................................... 987

Personenregister ............................................................................1025

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12

     Abb. 1 Nehemia vor den zerstörten Mauern Jerusalems. Gustav Doré, 1866.

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Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

Vorwort

  „Warum sollte ich nicht traurig aussehen, da die Stadt, wo das Haus der Grabstätte meiner
  Väter ist, verwüstet liegt, und ihre Tore durch das Feuer verbrennet worden sind?“ –
  Nehemia 2,3.

Die jüdischen Friedhöfe in Wien sind die einzigen jüdischen Orte, die ununter-
brochen von der frühen Neuzeit bis zum heutigen Tag in der Stadtlandschaft
überdauerten, wenngleich in unterschiedlichem Maße der Verwüstung, der
Vernachlässigung und des Vergessens. Inklusive der im Friedhof in der Seegas-
se aufbewahrten Grabsteine und Steinfragmente, die bis ins 13. Jahrhundert
zurückreichen, dokumentieren diese „Grabstätten der Väter“ die sonst so brü-
chige jüdische Geschichte Wiens in beispiellos ungebrochener Kontinuität vom
Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Somit bilden sie geschichtsträchtige und
emotional aufgeladene Denkmäler, materielle Zeugnisse wie auch komplexe
soziokulturelle Archive, deren Erforschung in vielerlei Hinsicht gerade erst am
Anfang steht. Vorliegendes Werk bietet erstmals eine integrierte Geschichte der
Wiener jüdischen Friedhöfe mit besonderem Augenmerk auf ihren größten,
hier zuvor weitgehend vernachlässigten Quellenkorpus: ihre mehr als hundert-
tausend erhaltenen Grabdenkmäler samt ihren Inschriften. Anhand der Anlage
und Gestaltung dieser jüdischen Räume, ihrer Einbettung in der Stadttopogra-
phie sowie dem komplexen intertextuellen Korpus ihrer Inschriften wird die
soziokulturelle Zusammensetzung der unterschiedlichen Wiener Judenheiten
in ihren jeweiligen synchronen wie diachronen Kontexten über die longue durée
ihrer Geschichte holistisch untersucht. Im Fokus stehen vor allem die Wech-
selwirkungen zwischen individuellen und familiären Selbstauffassungen und
breiteren, kollektiven Zugehörigkeitsmustern, die an diesen Orten eindring-
lich in Raum, Text und Symbolik verhandelt wurden, im Kontext sowohl der
„innerjüdischen“ Gemeinschaftsgeschichte wie der breiteren Wiener und öster-
reichischen Geschichte. Die Rezeption und Wertung der Friedhöfe sowie die
damit verbundenen Initiativen zu ihrer Dokumentation und Bewahrung oder
eben den Schändungs- und Vernichtungsaktionen seitens unterschiedlicher
nichtjüdischer AkteurInnen zeigen wiederum paradigmatisch den zentralen,
aber oftmals angefochtenen Stellenwert der lokalen jüdischen Gemeinschaften
und Kulturen durch den gesamten Verlauf der Wiener und österreichischen
Geschichte auf. Somit bietet das Werk schließlich einen fundamental neuen
und integrativen Zugang zur jüdischen Geschichte der Stadt Wien seit ihren
ersten dokumentierten Anfängen bis zum heutigen Tag.

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                  ISBN Print: 9783205206729 — ISBN E-Book: 9783205212102
Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

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Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

1.    Jüdische Räume, jüdische Kulturen. Eine Einführung in die
      Verortung und Bedeutung der jüdischen Friedhöfe in der
      Geschichtsschreibung

Am Mittwochabend, dem 21. Oktober 1931, verstarb mit 69 Jahren der einfluss-
reiche Schriftsteller Arthur Schnitzler in seinem Haus in der Sternwartestraße
71, im 18. Wiener Gemeindebezirk Währing, an einer Hirnblutung. Als gefeier-
ter, zu Lebzeiten aber auch kontroverser Schriftsteller, dessen Ableben zu einem
der spannungsreichsten Momente in der gesamten österreichischen Geschichte
erfolgte, sollten die Reaktionen auf Schnitzlers Tod – sowie der Ablauf der
Leichenfeier, der Standort der Grabstätte wie das Denkmal, das schließlich dort
errichtet wurde – reich an sozial- wie kulturhistorischen Bedeutungen sein.
Die Leichenfeier fand bereits zwei Tage nach Todeseintritt, am Freitag, dem
23. Oktober, statt. Laut Rückschau im Abendblatt der Neuen Freien Presse war
es ein eisiger, stark bewölkter Tag, die Temperaturen knapp über Null.1 Am
Morgen versammelte sich zuerst eine kleine Gruppe prominenter WienerIn-
nen, darunter die Schriftsteller Richard Beer-Hofmann, Felix Salten und Franz
Werfel sowie Werfels Frau, die Salonnière Alma Mahler-Werfel, im Haus des
Verstorbenen. Um halb zwölf Uhr wurde der einfache Holzsarg verschlossen,
in den Leichenwagen geladen, und der Leichenzug machte sich auf den langen
Weg vom gehobenen 18. Bezirk über die Ringstraße, am Burgtheater vorbei,
Richtung Südosten zum Zentralfriedhof in Simmering, den 11. Bezirk.
   Schnitzlers Sohn Heinrich hatte am Tag zuvor die „letztwilligen Verfügungen“
des Verstorbenen an verschiedene Zeitungen zur Veröffentlichung geschickt mit
der Bitte, „im Namen aller Hinterbliebenen [an] die gesamte Oeffentlichkeit,
diese Wünsche des Verewigten zu achten“. Diese Verfügungen, die am 29. April
1912 aufgenommen worden waren, verlangten neben einem „Herzstich!“ als
Garantie gegen den damals noch befürchteten Scheintod und das lebendig
Begrabenwerden:

  Keine Kränze! Keine Parte! auch in den Zeitungen nicht! Begräbnis letzter Klasse. Das
  durch Befolgung dieser Bestimmungen erübrigte Geld ist Spitalszwecken zuzuwenden.
  Keine Reden! Vermeidung alles [sic] rituellen Beiwerks. (Insbesondere Leichenwäch-
  ter u[nd] dergl[eichen].) Keine Trauer tragen nach meinem Tode, absolut keine. Arthur
  Schnitzler.2

1 Das Wetter in Oesterreich – Der Stand von heute frühe, in: Neue Freie Presse – Abendblatt, 23.
  Oktober 1931, S. 4.
2 Brief von Heinrich Schnitzler an verschiedene Redaktionen, 22. Oktober 1931, Deutsches
  Literaturarchiv (DLA) Marbach, Schnitzler, Arthur: Dokumente zu seinem Tod, NZ 85.1.4941.

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Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

16      Jüdische Räume, jüdische Kulturen

     Laut Wiener Zeitung fand entsprechend eine „Leichenfeier ohne jeden Prunk
     und in der allerschlichtesten Weise“ statt, laut Neue Zeitung „nach seinem eige-
     nen Wunsch auf die einfachste Weise“. Schnitzler wurde jedoch direkt vor der
     monumentalen Zeremonienhalle in der prachtvollen alten jüdischen Abteilung
     beim I. Tor des Zentralfriedhofs in einem prominenten Ehrengrab der Israeliti-
     schen Kultusgemeinde, der Repräsentativkörperschaft der Wiener Judenheit,
     bestattet. Der restliche Ablauf der Zeremonie zeigte indes den wesentlichen
     Punkt bei der Leichenbestattung als soziales und kulturelles Ereignis: dass es
     sich dabei weniger um die Toten als um die Bedürfnisse der Lebenden und die
     Ansprüche der hinterbliebenen Gemeinschaft dreht.
        So waren bei Schnitzlers Begräbnis mehrere Kränze von VerehrerInnen
     gespendet, die es trotz der ausdrücklichen Wünsche des Verstorbenen nicht
     unterlassen konnten, auf diese Weise ihr Beileid auszudrücken. Das Burgtheater
     stiftete einen Kranz mit rot-weißer Schleife, den Farben der Stadt Wien, die
     verkündete: „Seinem großen Dichter in den Jahren 1895–1931 das dankbare
     Burgtheater“. Weitere Kränze stifteten „In Liebe und Freundschaft S. [Samuel]
     Fischer und Frau“ sowie die „Mitarbeiter des S. Fischer Verlags“ in Berlin, einer
     der wichtigsten Herausgeber von Schnitzlers Werken, sowie die Preußische Aka-
     demie der Künste und „In Freundschaft“ der Schriftsteller Jakob Wassermann
     samt Frau Martha.3 Die Nichtbeachtung von Schnitzlers Wünschen endete
     nicht mit den Kränzen: Das Begräbnis wurde nämlich in der Zeremonienhalle
     durch eine „einfache religiöse Zeremonie“ eingeleitet. Heinrich Fischer, Ober-
     kantor der Kultusgemeinde, stimmte ein Gebet an, und ein weiterer Kantor
     sang auf dem kurzen Weg von dort zur Grabstätte ein Klagelied. Ferner war
     die Kultusgemeinde durch ihren Präsidenten Alois Pick vertreten, der vierzehn
     Jahre später drei Grabstellen weiter links bestattet werden sollte, sowie ihren
     Vizepräsidenten Josef Löwenherz, der wenige Jahre später von den Nationalso-
     zialistInnen genötigt werden sollte, die Kultusgemeinde während ihrer eigenen
     Liquidierung zu leiten. Anwesend bei der Leichenfeier waren zudem mehrere
     VertreterInnen der Stadt Wien, des Unterrichtsministeriums, des Burgtheaters,
     des Volkstheaters, des Theaters in der Josefstadt sowie der Reinhardt-Bühnen
     in Berlin, zusätzlich zu „außerordentlich zahlreiche[n] Persönlichkeiten aus
     Wiener Schriftstellerkreisen“, wie die Wiener Zeitung berichtete.4

     3 Kranz-Inschriften auf Vaters Grab, DLA Marbach, Schnitzler, Arthur: Dokumente zu seinem
       Tod, NZ 85.1.4941.
     4 Artur [sic] Schnitzler, in: Wiener Zeitung, 24. Oktober 1931, S. 9. Vgl. ferner Die heutige
       Leichenfeier, in: Neue Freie Presse, 23. Oktober 1931, S. 2; Das Leichenbegängnis Arthur
       Schnitzlers, in: Neue Freie Presse – Abendblatt, 23. Oktober 1931, S. 2 und Das Begräbnis
       Schnitzlers, in: Die Neue Zeitung, 24. Oktober 1931, S. 3.

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Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

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Abb. 2 Teilansicht der Ehrenreihe beim I. Tor. Im Vordergrund von rechts nach links die
       Grabstätten von Arthur Schnitzler, Friedrich Torberg, Gerhard Bronner und Alois Pick.
       Im Hintergrund der Ausgangspunkt der Zeremonienallee. © Autor

   Über die in schriftlichen und photographischen Quellen festgehaltene Lei-
chenfeier hinaus bildet das an Schnitzlers Grabstätte errichtete Denkmal samt
seiner Inschrift ein sowohl materielles wie textliches Zeugnis des Gedenkens
als soziales, kulturelles und vor allem gemeinschaftliches Ereignis. Das von
der Steinmetzfirma Wulkan & Neubrunn hergestellte Grabdenkmal besteht
aus einem graubläulichen Granitquader ohne Verzierungen und einer aus dem
gleichen Gestein geformten Umfriedung der einfachen Grabstätte, die heute
mit Efeu überwachsen ist. Zahlreiche Steinchen auf dem Denkmal bekunden
von gegenwärtigen BesucherInnen jüngster Zeit. Die Inschrift beginnt mit den
hebräischen Schriftzeichen „pei“ und „nun“, eine heute in jüdischen Friedhöfen
allgegenwärtige Abkürzung der Formel „po nitman“ oder „po nikbar“ (hier ist
verborgen oder begraben). Es folgen Schnitzlers Namen und Lebensdaten sowie
seines 1939 hier beigesetzten Bruders Julius und seines 1982 hier beigesetzten
Sohnes Heinrich. Ansonsten enthält die Inschrift wie viele Grabdenkmäler seit
Anfang des 20. Jahrhunderts keine Laudatio, sondern lediglich das hebräische
Wort „shalom“ (Frieden).
   Interessanterweise ist dies aber nicht der ursprüngliche Grabstein. Eine Serie
von Photographien dieses Friedhofs aus dem Jahre 1945 zeigen einen älteren

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Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

18      Jüdische Räume, jüdische Kulturen

     Grabstein mit ähnlichen Dimensionen, auf dem der Brüder Arthur und Julius
     gedacht wurde. Jene Inschrift schloss auch mit dem hebräischen Wort „shalom“,
     doch die Abkürzung „pei-nun“ war nicht mit einbegriffen.5 Wann und wieso
     das Denkmal ersetzt wurde, ist nicht überliefert; womöglich geschah dies nach
     der Beisetzung Heinrich Schnitzlers. Die auf den ersten Blick unscheinbare
     Ergänzung der zwei hebräischen Schriftzeichen sagt aber viel aus; der Aus-
     tausch des Denkmals täuscht über die vermeintliche Beständigkeit materieller
     Denkmäler hinweg und verweist auf den fortlaufenden Wandel der Erinnerung.
     In der Zwischenkriegszeit, als innerhalb der Kultusgemeinde ein regelrechter
     Kleinkrieg um den „jüdischen Charakter“ ihrer Friedhöfe wütete, der als mi-
     krokosmische Verhandlung eines breiteren und mitunter bitteren Konflikts
     rund um das Wesen der „Jüdischkeit“ überhaupt gedeutet werden kann, wur-
     de verpflichtend vorgeschrieben, dass neue Grabinschriften in den Wiener
     jüdischen Friedhöfen mindestens zwei hebräische Schriftzeichen enthalten
     mussten. Dies erklärt wenigstens in diesem lokalen Kontext die Allgegenwärtig-
     keit der Formel „pei-nun“ in der jüngsten Zeit. Diese Vorschrift beachteten viele
     UrheberInnen von Inschriften aber augenscheinlich nicht – so auch im Falle
     des ursprünglichen Grabsteins der Familie Schnitzler. Die Anbringung dieser
     Formel in den Jahrzehnten nach der Shoah kann somit als Kennzeichnung
     dieser Grabstätte als explizit „jüdisch“ verstanden werden – wenngleich das
     Denkmal ohnehin schon das hebräische Wort „shalom“ enthielt und sich in
     einem jüdischen Friedhof befand. Auch das unscheinbare Wort „shalom“ birgt
     bei näherer Betrachtung eine tiefere Bedeutung. Die üblichere, eher religiöse
     Schlussformel der jüdisch-europäischen Sepulkralepigraphik ist nämlich seit
     Jahrhunderten die Abkürzung „taw-nun-tzadi-bet-hei“ („tantzaba“ ausgespro-
     chen). Aus 1. Samuel 25,29 abgeleitet, bedeutet dies: „möge seine/ihre Seele im
     Bündel des Lebens gebündelt sein“. In den Wiener jüdischen Friedhöfen findet
     sich das Wort „shalom“ in der Moderne als Alternative zur Formel „tantzaba“
     insbesondere auf den Grabdenkmälern von Kulturschaffenden bzw. säkularen
     Verstorbenen.
        Diese subtilen Bezeichnungen auf dem neuen Denkmal an der Grabstätte
     Arthur Schnitzlers offenbaren eine der tiefgreifendsten Wandlungen in der
     gesamten jüdischen Geschichte: der weitgehende Rückzug nach innen, zu einer
     ausgeprägten, selbstbewussten, oftmals verklärten jüdischen „Tradition“, der
     sich unter den wenigen überlebenden Judenheiten in Europa nach der Shoah
     vollzog. Zusätzlich offenbaren diese zwei Schriftzeichen, die das Denkmal die-
     ses durchaus weltlichen, bürgerlichen Mannes, der als einer der bedeutendsten
     modernen Schriftsteller Österreichs gilt, als explizit „jüdisch“ kennzeichnen,

     5 O. T., o. D., Leo Baeck Institute – New York (LBI), Rothschild Transit Camp Photographs
       Collection, 1–7 Zentralfriedhof, 4.Tor, ca. 1945, DM 197, Nr. 23.

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die Wirkungsmacht und Aussagekraft von Grabstätten, die als weltanschauliche
Ausdrücke der dort Bestatteten gelten und rezipiert werden, jedoch eher die
Auffassungen der Nachkommen und ihrer breiteren, wie auch immer gear-
teten „Gemeinschaft“ repräsentieren. In diesem Beispiel zeigt sich, wie über
das Medium ihrer sterblichen Überreste hinaus das Gedenken an die Toten
in materieller Form der Grabstätte und des Grabdenkmals dazu dient, den
verstummten Toten Botschaften in den Mund zu legen und ihr Andenken für
kollektive Belange zu mobilisieren.
   Arthur Schnitzlers Wirkung war schon zu Lebzeiten mehrdeutig, die von
seinem Ableben betroffenen Gruppen divers. So finden sich in seinem Nachlass
Beileidskundgebungen von verschiedensten Seiten, deren unterschiedlichen
Auffassungen des Verstorbenen greifbar zur Schau stellen, wie die Toten von
den unterschiedlichsten Gemeinschaften und für die unterschiedlichsten, sogar
widersprüchlichsten Belange in Anspruch genommen werden können. Der
Wiener Bürgermeister Karl Seitz schrieb etwa an Julius Schnitzler: „An der Bah-
re ihres Bruders trauert aber nicht nur die Heimat des grossen Menschen und
des grossen Dichters, sondern ganz Deutschland und die Menschheit, die er
beschenkt hat.“ Beachtenswert ist hier die Vereinnahmung Österreichs seitens
eines Sozialdemokraten für ein imaginiertes „Deutschland“, ein charakteris-
tischer Ausdruck der breiten Ablehnung einer österreichischen „Nation“ in der
umstrittenen und schließlich kurzlebigen Ersten Republik. Ähnlich schrieb der
deutsche Sozialdemokrat und Reichstagspräsident Paul Löbe: „Im ganzen deut-
schen Volke wird das Andenken des Mannes in hohen Ehren bleiben, der ihm
so innige, unvergängliche Werke seiner Kunst geschenkt hat.“ Eine markant
divergierende Sichtweise vertrat indes der österreichische Unterrichtsminis-
ter, der Christlichsoziale und spätere Austrofaschist Emmerich Czermak, der
wohlgemerkt für seine mitunter offen antisemitischen Haltungen bekannt war:

  Mit Dr. Schnitzler hat Oesterreich einen seiner bedeutendsten und repräsentativsten
  Dichter, Dramatiker und Schriftsteller verloren, der es in hervorragendem Masse [Maße]
  verstanden hat die geistige Kultur unserer Heimat, wie sie sich in seiner konstlerischen
  [sic] Auffassung spiegelt, in meisterhafter Weise zu schildern und den Gebildeten aller
  Nationen zu vermitteln.

Der Kabinettsekretär des Unterrichtsministeriums, Kurt Thomasberger, schloss
sich der Auffassung an, „dass man um einen der besten und bedeutendsten
Männer des alten und neuen Oesterreichs […] trauert“ – gemeint waren das
„Alt-Österreich“ der k.u.k. Monarchie und das „neue Österreich“ der Ersten
Republik.6 Die Neue Freie Presse, das bedeutendste liberale und literarische

6 Beileidskundgebungen anlässlich des Hinscheidens von Arthur Schnitzler, DLA Marbach,
  Schnitzler, Arthur: Dokumente zu seinem Tod, NZ 85.1.4941.

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20      Jüdische Räume, jüdische Kulturen

     Presseorgan Österreichs vor der faschistischen Ära, beklagte in ähnlichem
     Wortlaut:

       Nicht Kunst und Literatur allein, ganz Oesterreich trauert um Arthur Schnitzler. […]
       Wenn es einem Dichter vergönnt war, Inkarnation zu sein eines Zeitalters, gültiger Re-
       präsentant einer Epoche, dann war es Arthur Schnitzler für das Ende des vergangenen
       Jahrhunderts und für den Beginn des neuen in Oesterreich. […] In seinen ungeheuren
       Vorzügen lag seine Begrenzung, in seinem Oesterreichertum lag seine Vollendung, zu-
       gleich aber keine Schranke. Er wußte alles und vermochte es nicht zu ändern.7

     Theodor Herzl, der Pionier der zionistischen Bewegung und ein glühender
     Verehrer Arthur Schnitzlers, hatte einst von ihm behauptet: „Er gehört hier [in
     Österreich], auf diesem Boden – so ganz und viel wie [Franz] Schubert“.8 Am 1.
     November 1918, als sich über das ganze Territorium der k.u.k. Monarchie Natio-
     nalversammlungen gebildet hatten, so am Vortag auch in „Deutsch-Österreich“,
     und das habsburgische Staatsgebilde vor dem endgültigen Kollaps stand, posi-
     tionierte sich Schnitzler selbst in seinem Tagebuch ausdrücklich „als oesterr.
     Staatsbürger jüdischer Race zur deutschen Kultur mich bekennend“.9
        Weitgehend wurde Schnitzler also bereits zu Lebzeiten als Repräsentant „Ös-
     terreichs“ verstanden, ob im Gewand der großen, plurikulturellen Monarchie
     um das Fin de Siècle oder der kleinen Alpenrepublik in der Zwischenkriegs-
     zeit – wenn er nicht gänzlich als „deutscher“ Kulturschaffender vereinnahmt
     wurde. Deutlich abwesend in all diesen Nachrufen – so auch seitens seines
     literarischen Freundeskreises, von denen viele wie Schnitzler einen jüdischen
     Hintergrund hatten – ist eine Thematisierung von Schnitzlers „Jüdischkeit“.
     Ein Milieu hingegen, das Schnitzler ganz und gar als „Juden“ auffasste, waren
     die NationalsozialistInnen, die weniger als zwei Jahre nach seinem Tod Schnitz-
     lers Werke neben jenen vieler anderer jüdischer oder als „jüdisch“ verfemter
     Kulturschaffenden demonstrativ verbrannten.
        Über Schnitzlers komplexe Auseinandersetzungen – als deutschsprachiger
     österreichischer Schriftsteller mit jüdischem Hintergrund – mit der sogenann-
     ten „jüdischen Frage“ seiner Zeit ist bereits viel geschrieben worden.10 Charak-
     teristisch für eine gewisse „innerjüdische“ Wahrnehmung Schnitzlers in den
     Jahren und Jahrzehnten nach der Shoah ist indes ein Artikel, den die Wiener

     7 Ein erschütternder Verlust für Oesterreich, in: Neue Freie Presse, 22. Oktober 1931, S. 1.
     8 Zit. nach Zohn, Harry: Three Austrian Jews in German Literature. Schnitzler, Zweig, Herzl,
       in: Fraenkel, Josef (Hg.): The Jews of Austria. Essays on Their Life, History and Destruction,
       London 1967, S. 70.
     9 Schnitzler, Arthur: Tagebuch 1917–1919, Wien 1985, S. 196.
     10 Vgl. die Zusammenfassung in Silverman, Lisa: Becoming Austrians. Jews and Culture between
        the World Wars, Oxford 2012, S. 3–4.

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Schriftstellerin Martha Hofmann 1968 in der Zeitschrift der Kultusgemein-
de veröffentlichte. Darin konstatierte sie in Bezug auf einen von Schnitzlers
bekanntesten Romanen – zugleich eines der wenigen Schriftstücke, in dem
explizit als „jüdisch“ erkennbare Figuren vorkommen – dass Schnitzlers „Weg
ins Freie“ ihn „nicht nach Zion geführt“ habe: „Damals noch nicht. Ob er ihn
1938 gegangen wäre, sei dahingestellt. Daß er sich mit der gesamten Judenheit
und daher naturgemäß auch mit dem heutigen Israel solidarisch gefühlt hat
und hätte, ist über jeden Zweifel erhaben.“11
   In diesen Worten zeigt sich paradigmatisch der nach innen gerichtete Blick
der kleinen jüdischen Nachkriegsgemeinde – sowie die zweifelhafte Zuschrei-
bung einer politischen Weltanschauung auf einen Verstorbenen, der nichts
Gegenteiliges erwidern kann. Die Nachwelt wird nie wissen, wie sich Schnitzler
zum Staat Israel positioniert hätte, da er vor dessen Etablierung verstarb. Fest
steht jedenfalls, dass eine Solidarität mit der gesamten Judenheit, die für nahezu
alle Betroffenen eine natürliche Folge des gezielten Versuchs war, die gesamte
Judenheit Europas zu vernichten, sich nicht unbedingt auf Solidarität mit dem
Staat Israel erstrecken muss. Selbst Schnitzlers Bestattung in einem Ehrengrab
der Kultusgemeinde, um auf den jüdischen Friedhof zurückzukommen, ist
nicht so bedeutungsvoll, wie sie zunächst erscheint. Wie die Neue Freie Presse
berichtete, hatte die Kultusgemeinde sich nämlich

  unmittelbar nach Einlangen der Todesnachricht mit diesem Anerbieten an die Familie
  gewandt. […] Ein später eingetroffenes Anerbieten der Gemeinde Wien, Arthur Schnitz-
  ler in einem von der Gemeinde beizustellenden Ehrengrab zu bestatten, mußte mit Dank
  abgelehnt werden, da schon vorher der Antrag der Kultusgemeinde eingenommen wor-
  den war.12

Somit war Schnitzlers Bestattung beim I. Tor und nicht in der allgemeinen
Abteilung des Zentralfriedhofs in unmittelbarer Nähe etwa der vielgerühmten
Komponisten und bedeutendsten Staatsoberhäupter Österreichs eher von Zufall
und einer gewissen Gleichgültigkeit charakterisiert. Hier zeigt sich ein weiterer
wesentlicher Punkt der Grabstätte als soziales und kulturelles Phänomen: Die
Grabstätte gedenkt der Toten, doch sie wird nicht von den Toten geschaffen
und kann somit nicht unmittelbar als Ausdruck der Gedanken, Gefühle und
Weltanschauungen der Toten aufgefasst werden.
  Tatsächlich liegen einige bedeutenden jüdischen bzw. in jüdische Familien
geborene Kulturschaffenden im allgemeinen Teil des Zentralfriedhofs bestattet,

11 Hofmann, Martha: Arthur Schnitzler und seine Umwelt, in: Die Gemeinde, 27. November
   1968, S. 6.
12 Die heutige Leichenfeier, in: Neue Freie Presse, 23. Oktober 1931, S. 2.

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22      Jüdische Räume, jüdische Kulturen

     so etwa der Komponist Arnold Schönberg, der in einem für Österreich mit
     seinem oftmals pathologischen Verhältnis zur „Jüdischkeit“ beinah als Ironie
     anmutenden Zufall direkt neben Bruno Kreisky liegt, dem österreichischen
     Bundeskanzler, der sein Leben lang das von der familiären Abstammung abge-
     leitete Etikett der „Jüdischkeit“ vehement abstritt (in den Grabstellen 32C-21A
     respektive 32C-21B. Diese Zahlen zeigen jeweils die Gräbergruppe, gegebe-
     nenfalls die Reihennummer und die Grabstellennummer an). Auch die soeben
     zitierte, 1975 verstorbene Martha Hofmann liegt in der allgemeinen, also nicht
     spezifisch jüdischen Abteilung bestattet (Grabstelle 40-40). Wie bedeutend ist
     also der Standort einer Grabstätte? Was sagt er über die Verstorbenen aus? In
     der bisher einzigen Monographie zu den jüdischen Abteilungen des Zentral-
     friedhofs, die größtenteils aus einer Auswahl von Kurzbiographien berühmter,
     zumeist männlicher dort bestatteter Persönlichkeiten besteht, behauptete die
     Historikerin Patricia Steines etwa in Bezug auf einen weiteren bedeutenden
     österreichischen Schriftsteller: „Wie viele andere zum Christentum übergetre-
     tene [Juden] ließ sich Karl Kraus bei Tor I in allernächster Nähe zur israeliti-
     schen Abteilung beisetzen.“13 Somit suggerierte sie in einer für das Feld der
     jüdischen Studien ihrer Zeit typischen Romantisierung der „Jüdischkeit“, das
     räumliche Verhältnis der Grabstätte von Karl Kraus außerhalb der jüdischen
     Abteilung (5A-1-33) zur nahegelegenen jüdischen Abteilung (ab Gruppe 5B) sei
     ein bewusster Ausdruck des komplizierten Verhältnisses des 1936 verstorbenen
     Polemikers zur jüdischen Gemeinschaft, zum Judentum und zur „Jüdischkeit“
     überhaupt.
        In Wahrheit drückte Kraus in seinem Testament seinen „innigen Wunsch“
     aus, im Park vom Schloss Janowitz/Vrchotovy Janovice südlich von Prag be-
     stattet zu werden, das in der Zwischenkriegszeit ein wichtiger Treffpunkt für
     altösterreichische Intellektuelle war. Es folgte ein „Konflikt um die Grabstätte“,
     wie der Kraus-Biograph Friedrich Rothe darlegte, der schließlich dazu führte,
     dass Kraus am 15. Juni 1936 in einem Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof
     bestattet wurde, das zufällig in einer Abteilung liegt, die an den jüdischen Teil
     des Friedhofs angrenzt.14 Somit ist ausgeschlossen, dass Kraus die Grabstel-
     le selbst erkor, geschweige denn, dass der Standort auf irgendeine Weise ein
     komplexes Naheverhältnis zum Judentum verkünden sollte. Diese Geschichte
     zeigt beispielhaft die Gefahr, Bedeutung in oberflächliche Erscheinungen im
     öffentlichen Raum hinein zu interpretieren, so gerade bei Grabstätten, die we-
     der von den Toten selbst geschaffen werden noch als direkte oder unrelativierte

     13 Steines, Patricia: Hunderttausend Steine. Grabstellen großer Österreicher jüdischer Konfession
        auf dem Wiener Zentralfriedhof Tor I und Tor IV, Wien 1993, S. 55.
     14 Rothe, Friedrich: Karl Kraus. Die Biographie, München 2003, S. 350–351.

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Zeugnisse ihrer Weltanschauungen fungieren. Wenn das geographische Nahe-
verhältnis dieser Grabstätte zum alten jüdischen Friedhof nebenan irgendeine
Bedeutung ausdrückt, dann vielleicht nur, indem sie die Verflochtenheit der
diversen kulturellen Milieus Wiens vor der Shoah aufzeigt, die an diesem riesi-
gen gemeinschaftlichen Bestattungsraum, dem zweitgrößten Friedhof Europas,
zum Ausdruck kommt.
   Die prominente Reihe, in der sich Arthur Schnitzlers Grabstätte befindet,
beschrieb Steines gleichfalls verklärend als „Rabbinerreihe“.15 In Wahrheit han-
delt es sich hier um weit mehr. Das wahre Erkenntnispotenzial des Friedhofs
als sozial- und kulturhistorisch bedeutsamer Raum – um diesen einleitenden
Exkurs abzuschließen – entfaltet sich eben erst durch eine vorsichtige, differen-
zierte und sensible Betrachtung der enormen Komplexität und Variabilität der
tausenden hier gesammelten Denkmäler. Interpunktiert von den spitzen, ver-
schnörkelten Grabstelen des ausgehenden 19. Jahrhunderts findet sich nämlich
rings um Arthur Schnitzlers Grabstätte auf engstem Raum ein Pantheon der
Wiener Judenheit in seiner modernen Blütezeit. Von den „Gründervätern“ der
Wiener Kultusgemeinde über Rabbiner, Musiker, Schriftsteller, Politiker und
Akademiker bis hin zu den betont weltlichen Prominenten, die noch in der
Nachkriegszeit hier bestattet wurden, wurde Arthur Schnitzler an prominentes-
ter Stelle im prachtvollsten jüdischen Friedhof Wiens und Österreichs bestattet,
einem Ort, der die verwobene Bandbreite an modernen jüdisch-wienerischen
bzw. österreichischen Kulturen geballt zur Schau stellt – wenngleich fast aus-
schließlich bestehend aus einflussreichen, wohlhabenden Männern. Nobilitierte
Gemeindevertreter und Revolutionäre, orthodox Religiöse und säkulare Intel-
ligenz, Zionisten und Österreicher: Auf diesem verhältnismäßig kleinen Raum
kommt die wandelnde soziokulturelle Zusammensetzung der Wiener Judenheit
über sukzessive Generationen und sogar über den Abgrund der Shoah hinaus
mit geballter Spannungskraft zum Ausdruck.
   Breitet man den Blick über die Ehrenreihe beim I. Tor auf das gesamte Fried-
hofsareal aus, überhaupt auf alle vier erhaltenen jüdischen Friedhöfe in Wien, so
zeigt sich die gesamte jüdische Geschichte der Stadt in ihrer kaleidoskopischen
Vielfalt, singulär und vielfach zugleich. In den gemeinschaftlichen Friedhöfen,
in denen die überwiegende Mehrzahl jener bestattet wurden, die sich und ihre
Angehörigen als jüdisch betrachteten, sind unzählige, diverse, mitunter wider-
sprüchliche Auseinandersetzungen mit der „Jüdischkeit“ und Bekundungen
der individuellen wie kollektiven Selbstauffassung greifbar in über hunderttau-
send Denkmälern festgehalten. Kein anderer Ort war allen Jüdinnen und Juden
Wiens durch ihre gesamte Geschichte vom Spätmittelalter bis zum heutigen

15 Steines: Hunderttausend Steine, S. 142.

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Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

24      Jüdische Räume, jüdische Kulturen

     Tag so gemeinsam wie der Friedhof. Somit veranschaulichen keine anderen
     Orte so eindringlich und gebündelt die breite politische, ständische und so-
     ziokulturelle Zusammensetzung der sukzessiven jüdischen Gemeinschaften in
     der ehemaligen Residenzstadt und späteren Bundeshauptstadt Wien, wie es die
     jüdischen Friedhöfe tun.

     1.1    Der Tod, die Leiche und die Grabstätte. Anthropologische und
            kulturhistorische Überlegungen zur Bedeutung des Friedhofs

     Ziel der Lebenden, bleibendes Zuhause der Toten: Der Friedhof wurde über die
     Jahrhunderte seines Bestehens unterschiedlich wahrgenommen als ein Ort der
     Trauer und Selbstreflexion, des Grauens und Gruselns, aber auch des Friedens
     und der Romantik. Friedhöfe rühren an die tiefsten Ströme der menschlichen
     Emotion, an ihre Gedanken, aber auch an ihr schöpferisches Potenzial. In
     diesen Freiluftarchiven stehen das Leben und Ableben, die Prüfungen und
     Triumphe, der Glaube wie die Ängste der Generationen in Stein gefroren. Der
     Tod ist ein der gesamten Menschheit gemeinsames Ereignis, somit gilt der
     Friedhof – wenngleich er ein in spezifischen historischen, geographischen und
     kulturellen Kontexten entstandenes Phänomen darstellt – als universeller Ort,
     „das bestimmte Haus aller Lebendigen“ (Hiob 30,23). Deswegen ist einer von
     verschiedenen Namen für den Friedhof im Hebräischen beit hacha’im (das
     Haus des Lebens). Auch der scheinbar pragmatischere Ausdruck beit hakwarot
     (das Haus der Gräber, eine archaische Ausdrucksform des Maskulinums kewer
     mit weiblicher Deklination), verbirgt eine tiefere Bedeutung, die sich aus dem
     Ursprung des Begriffs, ebenfalls in der Bibel, ableitet: „Warum sollte ich nicht
     traurig aussehen, da die Stadt, wo das Haus der Grabstätte meiner Väter ist [ha’ir
     beit kwarot awoti], verwüstet liegt, und ihre Tore durch das Feuer verbrennet
     worden sind?“ (Nehemia 2,3). Der Friedhof ist nämlich auch die Nabelschnur
     zur Vergangenheit: Er versinnlicht die eigene Verwurzelung in einer realen oder
     imaginierten Gemeinschaft, Kultur und Tradition, verkörpert die eingeflößte
     Verbindung zu den Ahnen.
        Die Rolle der Stadt Wien als Kristallisationspunkt sowohl für die Kultur der
     Moderne wie für die antijüdische Beraubungs- und Vertreibungspolitik des
     Nationalsozialismus, die Vorstufe zur Vernichtung, ist ausgiebig erforscht und
     längst in der öffentlichen Wahrnehmung verankert. In beiden dieser Kontexte,
     wie in vielen weiteren Kontexten auch, spielten jüdische WienerInnen in der
     Geschichte der Stadt eine zentrale Rolle, ob als aktive Beteiligte oder als mehr
     oder weniger passive Opfer. Überhaupt und weit über die Moderne hinaus zähl-
     te Wien wiederholt in seiner Geschichte zu den wichtigsten jüdischen Kultur-
     und Bevölkerungszentren Europas und der Welt: im Spätmittelalter, im 17.

                                 © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien
                          ISBN Print: 9783205206729 — ISBN E-Book: 9783205212102
Tim Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

                                                              Der Tod, die Leiche und die Grabstätte   25

Jahrhundert und vor allem im frühen 20. Jahrhundert vor dem „Anschluß“.
Um 1900 wohnte geschätzt ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung der Welt im
Habsburgerreich, und Wien war ihr Sammelbecken, ein geballter Mikrokosmos
der vielen diversen habsburgischen Judenheiten, auf Ranghöhe mit den anderen
jüdischen Metropolen ihrer Zeit wie Budapest, Warschau und New York.16 Im
Gegensatz zu diesen Städten war Wien aber insofern einzigartig, als ihre gesam-
te, kaleidoskopisch diverse jüdische Bevölkerung in einem Dachverband vereint
war: der Israelitischen Kultusgemeinde.17 Gerade deswegen bedarf es, wie der
Historiker Albert Lichtblau scharfsinnig zusammenfasste, einer andauernden
Sensibilität für die „Vielschichtigkeit und Variabilität“ der verschiedenen Juden-
heiten und jüdischen AkteurInnen, die dieser jahrhundertelangen Geschichte
Bestand verleihen, denn:

   Kontinuitäten anhand von inhaltlichen Schwerpunkten zu kreieren kann nicht darüber
   hinwegtäuschen, daß ein Charakteristikum der österreichisch-jüdischen Geschichte ge-
   nau das Gegenteil darstellt, nämlich Diskontinuität. […] Die Geschichte dieses langen
   Zeitraums zu schreiben heißt, sich der Realität der Shoah zu stellen und diese dennoch
   so zu fassen, daß sie die Geschichte davor und danach nicht völlig überschattet.18

Die jüdischen Friedhöfe in Wien ermöglichen die Rekonstruktion und das
Nachvollziehen eben dieser komplexen und brüchigen diachronen Entwick-
lung sukzessiver Judenheiten in ihrem jeweiligen synchronen Kontext über die
longue durée vom Spätmittelalter bis zum heutigen Tag über wiederholte Ver-
treibungen, Massenmorde und Zerstörungen jüdischer Gemeinschaften und
Kulturen in der Stadt hinaus, so jüngst in der Shoah. Heute vielfach als Synonym
für „längerfristig“ verwendet, meine ich hier mit longue durée in Anlehnung an
den ursprünglichen Sinn dieser Wortprägung aus der Annales-Schule jene Ebe-
ne der historischen Entwicklung, die sich über Generationen und Jahrhunderte
hinweg nur langsam wandelt, wie etwa Kulturen und Sprachen, also nicht die
Ebene der rapiden Gesellschafts-, sondern der langsamen Zivilisationsentwick-
lung. In Bezug auf die Sepulkralgeschichte, die eine greifbare und tiefsinnige
Einsicht in diese Zivilisationsentwicklung gewährt, bezeichnete der Historiker
Thomas Laqueur diese Zeitdimension auch als „Tiefenzeit“, in der sich über
den engen Wahrnehmungshorizont einzelner Individuen oder ganzer zeitge-

16 Vgl. Lichtblau, Albert (Hg.): Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensge-
   schichten aus der Habsburgermonarchie, Wien 1999, S. 43, 48.
17 Zum Verständnis der jüdischen Geschichte als „kaleidoskopartig“ vgl. Meisl, Josef: Die jüdische
   Geschichtsschreibung, in: Der Jude 5 (Februar 1922), S. 295.
18 Brugger, Eveline/Keil, Martha/Lichtblau, Albert/Lind, Christoph/Staudinger, Barbara: Ge-
   schichte der Juden in Österreich, Wien 2006, S. 514, 447.

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                    ISBN Print: 9783205206729 — ISBN E-Book: 9783205212102
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