PENETRIERTE MÄNNLICHKEIT - Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzähltexten der literarischen Moderne (1905-1969) - Vandenhoeck & Ruprecht

 
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PENETRIERTE MÄNNLICHKEIT - Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzähltexten der literarischen Moderne (1905-1969) - Vandenhoeck & Ruprecht
PENETRIERTE
MÄNNLICHKEIT
Sexualität und Poetik in
deutschsprachigen Erzähltexten
der literarischen Moderne
(1905–1969)

BENEDIKT WOLF
Benedikt Wolf, Penetrierte Männlichkeit

    Literatur – Kultur – Geschlecht

            Studien zur Literatur- und
                Kulturgeschichte

                Herausgegeben von
Anne-Kathrin Reulecke und Ulrike Vedder

              in Verbindung mit
       Inge Stephan und Sigrid Weigel

                        Band 72

          © 2018 Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar
    ISBN Print: 9783412511036 — ISBN E-Book: 9783412504403
Benedikt Wolf, Penetrierte Männlichkeit

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Benedikt Wolf, Penetrierte Männlichkeit

                     Benedikt Wolf

 Penetrierte Männlichkeit
    Sexualität und Poetik in deutschsprachigen
Erzähltexten der literarischen Moderne (1905–1969)

                                2018
      BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

                © 2018 Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar
          ISBN Print: 9783412511036 — ISBN E-Book: 9783412504403
Benedikt Wolf, Penetrierte Männlichkeit

  Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung
                                 und die Fonte Stiftung

           Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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                   im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

                               Umschlagabbildung:
    Michelangelo Merisi da Caravaggio, Der ungläubige Thomas (1600/1) (Detail).
Öl auf Leinwand, 107 x 146 cm. Potsdam, Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten
            Berlin-Brandenburg, Bildergalerie von Sanssouci, GK I 5438.

             © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien
             Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com
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                   Korrektorat: Rebecca Wache, Castrop-Rauxel
                           Satz: Michael Rauscher, Wien

                             ISBN 978-3-412-50440-3

                        © 2018 Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar
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Benedikt Wolf, Penetrierte Männlichkeit

                                                              Für Akın

                                 schafft das iota subscriptum nicht ab
                                    besonders nicht unter dem omega

                                                 es ist schade, wenn die
                                                   allerkleinste unzucht
                                         unsres alphabets verschwindet

                                                Dinos Christianopoulos

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Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     11

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   13
        Penetration als Leerstelle 13 | Mynonas Der Schmarotzer: Eckpunkte
        für eine literaturwissen­schaft­liche Untersuchung penetrierter Männ­
        lichkeit 17 | Ansätze zu einer Historiographie penetrierter Männ­
        lichkeit 21 | Historische Homosexualitätskonzepte 24 | Untersu­
        chungszeitraum 35 | Ansätze zur literaturwissenschaftlichen Erfor­
        schung penetrierter Männlichkeit 38 | Heteronormativitätskritische
        Lektüre 43 | Eine Poetologie penetrierter Männlichkeit 48

Penetrierte Männlichkeit: theoretische Zugänge . . . . . . . . . . . . . .             53
       Freud, der anale Partialtrieb und die Urszene 54 | Nach Freud: he­
        teronormativitätskritische Relektüre und Fundamentalkritik des Ödi­
        pus 66 | Wie penetrierte Männlichkeit konzeptualisieren? 72

1   Dethematisierung – Allusion – Pornographie: Strategien der
    narrativen Vermittlung von Analverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . .           83
    1.1 »Mehr Tränen als Sperma«? Felix Rexhausens Die Sache und die
        ­historischen Bedingungen des Erzählens von Analverkehr . . . . . . 84
    1.2 Dethematisierung und Allusion in der sogenannten homosexuellen
         Belletristik des frühen 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 88
        Dethematisierung 91 | Allusion 92
    1.3 Pornographie: Felix Rexhausens Berührungen . . . . . . . . . . . . . 109

2 Ironie: Narzissmus und Maskerade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
    2.1 Die »Echtheit des Kinädentums«: Penetrierte Männlichkeit als
        Desublimierung und Maskerade in Otto Julius Bierbaums Prinz
        Kuckuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
        »Es hat sich bei ihm alles aufs Gehirn geschlagen«: Karl Krakers
        Weg der ­Desublimierung 125 | »Habe ich diese unerhörten, mir
        ganz fremden Dinge überhaupt erlebt?« Henry Felix’ Anverwandlung
        penetrierter Männlichkeit 137 | »Er ist, mit einem Worte, der Typus
        des Parasiten«: Ironie und Antisemitismus – antisemitische Ironie 153

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8                                                                                  Inhalt

    2.2 »Verkehrtheit« und »Vertauschbarkeit«. Penetrierte Männlichkeit
        als Moment des Karnevalesken in Thomas Manns Bekenntnisse des
        Hochstaplers Felix Krull . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
        Erzählte Heteronormativität 160 | »Liebeserziehung« als Drama –
        Männlichkeit als Maskerade 166 | Vertauschbarkeit, penetrierte
        Männlichkeit und existenzielle Ironie 180

3 Metapher: Sexualität in Erziehungsinstitutionen . . . . . . . . . . . . 182
     Metaphernkonzepte 183 | Das Konvikt zu W. und das Waisenhaus:
     repressive und produktive Dimensionen der Macht 190
    3.1 Die Entdeckung der analen Signifikanten: Robert Musils
        Die Verwirrungen des Zöglings Törleß . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
        i: Törleß’ epistemologisches Begehren und die Zirkularität der Signifi­
        kation 196 | B.: Das sodomitische Törlein und die analen Signifikan­
        ten 205 | Das Geständnis als illokutiver und perlokutiver Akt 223
    3.2 Der Primat des Signifikanten und das Concetto ›flicken‹: Hubert
        Fichtes Das Waisenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
        Das Waisenhaus als polyphoner Roman 229 | Lindenblatt und Sarg­
        attrappe: Metaphern penetrierter Männlichkeit 243 | Die paradigma­
        tische Konstruktion der rätselhaften Signifikanten und das ­Concetto
        »flicken« 259

4 Metonymie: Wunden im männlichen Körper .. . . . . . . . . . . . . . 271
    4.1 Die rosa Wunde und die Grenzen des Schriftkörpers: Franz Kafkas
          Ein Landarzt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
        »Amorphes Druckbild«? Schrift und Struktur 281 | Rosa, Rose, Ro­
        sette 288 | »Niemals komme ich so nach Hause«: Die kontinuierliche
        ­Katastrophe und der ›kleine Sprung‹ der Schrift 300
    4.2 Ist die Wunde ein Grab? Ist der Anus ein Spiegel? Identität,
          Alterität und Trauma in Hans Henny Jahnns Die Nacht aus Blei .. . 308
         Symmetrien und Spiegelungen 314 | Ist die Wunde ein Grab? Das
         Ideal-Ich und die Wiederkehr des z­ erstückelten Körpers 321 | Ist
         der Anus ein Spiegel? Die Struktur der Fiktion und die analen
         ­Korrespondenzen 340

5 Relative Explizität: Sexuelle Unmittelbarkeit und Vermittlung durch
  penetrierte Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
    5.1 Der penetrierte Knabenkörper im erotischen Dreieck:
        Arnolt Bronnens Die Septembernovelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

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Inhalt                                                                                 9

        Sexuelle Penetration im homoerotischen Männerbund 357 | Erzähl­
        verfahren und Figurenkonstellation: Septembernovelle und Tod in
        Venedig 362 | Die Triangulation homosozialer Beziehungen durch
        die Frau 365
    5.2 Zirkulation der Körper – Zirkulation der Körperteile: Hans Henny
        Jahnns Jeden ereilt es .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
        Eine homosexuelle Beziehung? 377 | Die ›Regel vom Loch‹ und die
        Zirkulation der Körper 380 | Die ›Regel vom Loch‹ und die Zirku­
        lation der Körperteile 383

Penetrierte Männlichkeit, Poetik und Heteronormativität . . . . . . . . . 389
       Erzählte penetrierte Männlichkeit 389 | Erzählung penetrierter
       Männlichkeit 402 | Penetrierte Männlichkeit und Heteronorma­
       tivität 406 | Diachrone Entwicklungen? 408 | Forschungsdeside­
       rate 413

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

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Benedikt Wolf, Penetrierte Männlichkeit

Danksagung

Die vorliegende Untersuchung wurde im Frühjahr 2017 von der Philosophischen
Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel Penetrierte Männ-
lichkeit. Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzählungen der literarischen
Moderne (1905–1969) als Dissertation angenommen.
    Der Weg zur fertigen Dissertation war lang, verschlungen und beschwerlich.
Er begann mit der Begegnung mit Queer Theory und der Auseinandersetzung mit
feministischen Positionen im Umfeld des Münchener Queer Kafes und führte zu
einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zur literarischen Moderne an der Hum­
boldt-Universität zu Berlin. Auf diesem Weg kam es zu zahlreichen Begegnungen,
Bekanntschaften und Freundschaften, die meine Auseinandersetzung mit der The­
matik penetrierter Männlichkeit geprägt und bereichert haben.
    Bedanken möchte ich mich an erster Stelle bei dem Erstbetreuer der Arbeit,
Andreas Kraß, der ein Thema, das vielen anderen Professor_innen wohl als etwas
abseitig erschienen wäre, ohne mit der Wimper zu zucken zur Betreuung ange­
nommen und dann über die Jahre immer ermutigend und kritisch begleitet hat.
Der Zweitgutachterin meiner Arbeit, Ulrike Vedder, möchte ich für ihre Kritik und
Beratung meinen herzlichen Dank aussprechen.
    Ohne meine Freund_innen wäre das Arbeiten an der Dissertation nicht mög­
lich gewesen. Die Unterstützung in allen Lebenslagen, die ich durch David Fritz,
Theresa Huber, Patsy l’Amour laLove, Melitta Poppe, Mechtild Spaett und Magda­
lena und Thomas Wolf erfahren habe, war und ist eine der größten Bereicherungen,
die ich im Leben habe.
    Für freundschaftlichen Beistand und politische Diskussionen möchte ich mich
bei Veronika Dimke, Valentin Emerson, Dominik Lindner, Luxuria Rosenburg
und Colin und Max Turner bedanken.
    Für kritische Anmerkungen und wissenschaftliche Diskussionen danke ich
Andreas Blödorn, Markus End, Patsy l’Amour laLove, Esther Mader, Haimo Stie­
mer, Barbara Wiedemann sowie den Teilnehmer_innen der Doktorand_innenkol­
loquien von Andreas Kraß und Ulrike Vedder.
    Harald Liehr, Julia Beenken und Lena Krämer-Eis vom Böhlau Verlag danke
ich für die sorgfältige Begleitung der Publikation.
    Meinen Eltern Barbara Wiedemann und Alexis Wolf danke ich für die langjäh­
rige Unterstützung (nicht nur) meiner Studien.
    Ermöglicht wurde meine Dissertation durch ein Stipendium der Rosa-Luxem­
burg-Stiftung. Den Mitarbeiter_innen und Stipendiat_innen der Stiftung möchte
ich für vielfache Anregungen und Unterstützung danken.

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Einleitung

Penetration als Leerstelle

   Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib umfaßt hielt,
   mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut,
   zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den
   Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der
   Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank.
   Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt
   zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und
   kehrte in den Kampf zurück.1

Eines der berühmtesten Interpunktionszeichen der deutschsprachigen Literatur, der
Gedankenstrich in Heinrich von Kleists Die Marquise von O. … (1808), bezeichnet
den Ort im Text, an dem ein sexueller Akt zur Sprache zu kommen hätte, würde diese
Versprachlichung nicht durch die Regeln des Diskurses verhindert. Der Sprachlosig­
keit der Marquise korrespondiert die Sprachlosigkeit der Erzählung. Wolfgang Iser
hat die Leerstelle in rezeptionsästhetischer Perspektive als ein konstitutives Merkmal
literarischer Texte herausgestellt. Nach Iser unterscheiden sich literarische von expo­
sitorischen Texten dadurch, dass sie ihren Leser_innen die Möglichkeit entziehen,
ihren Wirklichkeitsgehalt zu überprüfen.2 Dieser »Unbestimmtheitsbetrag«3 werde
in den Leerstellen der Texte erzeugt. »[L]iterarische Gegenstände kommen«, so Iser,
»dadurch zustande, daß der Text eine Mannigfaltigkeit von Ansichten entrollt, die
den Gegenstand schrittweise hervorbringen und ihn gleichzeitig für die Anschauung
des Lesers konkret machen«.4 Die Abfolge solcher ›Ansichten‹ ist jedoch keine konti­
nuierliche. Ein lückenloses Panorama der Ansichten lässt sich in einem literarischen
Text schlicht nicht herstellen. Es entstehen Stellen der Diskontinuität zwischen den
Ansichten: »Die Beziehungen, die zwischen solchen übereinander gelagerten Ansich­
ten bestehen, werden in der Regel vom Text nicht ausformuliert […]. Zwischen den

 1 Kleist (1990), Die Marquise von O…., S. 144 f. Literatur wird abgekürzt mit Nachnamen,
   Erscheinungsjahr und Kurztitel zitiert. Die vollständigen bibliographischen Angaben finden
   sich im Literaturverzeichnis. Siglen werden ebenfalls zu Beginn des Literaturverzeichnisses
   aufgelöst.
 2 Siehe Iser (1988), Die Appellstruktur der Texte, S. 232.
 3 Ebd.
 4 Ebd., S. 234.

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14                                                                                   Einleitung

›schematischen Ansichten‹ entsteht eine Leerstelle, die sich durch die Bestimmtheit
der aneinander stoßenden Ansichten ergibt«.5 Den Leser_innen literarischer Texte
wird die Anstrengung abverlangt, diese nicht-formulierten Beziehungen selbst her­
zustellen. Der literarische Text »signalisiert« zwar die »Anschließbarkeit seiner Seg­
mente«,6 die Bestimmung des Charakters der Beziehungen zwischen den Ansichten
bleibt jedoch dem Prozess des Lesens anheimgestellt. Auch Kleist präsentiert den
Leser_innen der Marquise von O…. zwei Ansichten: ein Vorher und ein Nachher.
Der Gedankenstrich markiert eine Leerstelle, das fehlende Verbindungsglied zwi­
schen der Ansicht der niedersinkenden Marquise und der Ansicht des Grafen F…,
der den Arzt ruft und den Hut nimmt. Was zwischen den beiden Wörtern »Hier«
und »traf« geschehen ist, wird nicht erzählt.7
    »Prozeduren der Ausschließung« gehören nach Michel Foucaults Analyse der Ord-
nung des Diskurses zu denjenigen Mechanismen, mit denen der Diskurs »kontrolliert,
selektiert, organisiert und kanalisiert« wird. Sie betreffen in besonderer Weise den
Bereich der Sexualität.8 Dass sich die Literatur gerade die Leerstelle zunutze macht,
um von sexuellen Handlungen zu erzählen, liegt aus einer diskurstheoretischen
Perspektive nahe. Doch die Diskursrestriktion, das »verbotene Wort«,9 bedeute, so
Foucaults in Sexualität und Wahrheit entfaltete These, gerade kein völliges Verstum­
men des Sprechens über den tabuisierten Gegenstand Sexualität. Historisch habe sie
vielmehr gerade zu einer »Anreizung zu Diskursen«10 geführt, die Foucault vor allem
an der christlichen Beichte illustriert. Der Tabuisierung des Sexuellen entspreche die

     quasi unendliche Aufgabe, sich selbst oder einem anderen so oft als möglich alles zu sagen,
     was zum Spiel der Lüste, der zahllosen Gefühle und Gedanken gehört, die in irgendeiner
     Weise den Körper und die Seele mit dem Sex verbinden.11

Und so kreist auch der gesamte Text der Marquise von O…. um dasjenige Ereignis,
für das ein karger Gedankenstrich eingetreten ist.12 Mit der Füllung dieser Leer­
stelle sind die Leser_innen betraut. Ganz alleingelassen werden sie freilich mit dieser
Aufgabe, die sich letztlich erst vom Schluss des Textes her lösen lässt, nicht. Neben

 5 Ebd., S. 235.
 6 Iser (1990), Der Akt des Lesens, S. 284.
 7 Vgl. zum Gedankenstrich der Marquise von O…. als Leerstelle Eybl (2007), Kleist-Lektüren,
   S. 112, Scholten (2011), Die Verfilmung der Leerstelle, S. 145–147.
 8 Foucault (2007), Die Ordnung des Diskurses, S. 10 f. (Hervorhebung im Original).
 9 Ebd., S. 16.
10 Foucault (1983), Der Wille zum Wissen, S. 23.
11 Ebd., S. 26.
12 Vgl. Scholten (2011), Die Verfilmung der Leerstelle, S. 145.

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Penetration als Leerstelle                                                          15

der Leerstelle und dem Indiz der Schwangerschaft mobilisiert Kleists Novelle Tro­
pen, um anzudeuten, was zwischen der Marquise und dem Grafen vorgefallen ist.
So erinnert sich an einer Stelle der Graf an einen Schwan, den er »einst mit Kot
beworfen, worauf dieser still untergetaucht, und rein aus der Flut wieder empor­
gekommen sei«.13 Der Tropus der Metapher übersetzt den sexuellen Akt in eine
fremde Bildwelt. So führt der Text, wenn er die Mutter der Marquise von »so vielen
vortrefflichen Eigenschaften, die er [der Graf F…] in jener Nacht, da das Fort von
den Russen erstürmt ward, entwickelte«,14 sprechen lässt, den Tropus der Ironie
ein, die Bezeichnung durch das Gegenteil. Der Text der Marquise von O…. ist um
einen sexuellen Akt herum gebaut. Die Eigenart dieses sexuellen Aktes wird im
Indiz der Schwangerschaft angedeutet und immer wieder in räumlichen Figuren des
Eindringens konkretisiert als eine vaginale Penetration.15 Wenn die Marquise den
Grafen bei seinem unvermuteten Besuch fragt, wo er in ihren Garten eingetreten
sei, antwortet dieser: »durch eine hintere Pforte, die ich offen fand. Ich glaubte auf
Ihre Verzeihung rechnen zu dürfen, und trat ein«,16 und äußert damit metonymisch
verschoben die »männliche Sicht auf die Vergewaltigung«.17 Der penetrative Akt
der Marquise von O…. strebt permanent danach, zur Sprache zu kommen – und
zugleich ist ihm seine Versprachlichung aufgrund der Regeln der Gattung und der
zeitgenössischen Schicklichkeit versagt. Dieses Spannungsverhältnis wird geradezu
zum generativen Prinzip der Novelle.
    Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Diskursrestrik­
tion und Diskursivierung nicht der Sexualität im Allgemeinen, sondern einer Figur
des Sexuellen im Besonderen: der Figur der penetrierten Männlichkeit. Die Arbeit
fragt nach den Möglichkeitsbedingungen und den Realisierungen des literarischen
Sprechens über Männer, die penetriert werden. Während die Heteronormativität
der Weiblichkeit Penetrabilität geradezu als ›Wesensmerkmal‹ einschreibt, tasten
Männer, die sich penetrieren lassen, in diesem Akt die Grundfesten eines binären
Geschlechterverhältnisses an, das für sie sowohl ein heterosexuelles Begehren als auch
die insertive Sexualpraxis und die Abpanzerung des Körpers gegen die Penetration
durch andere vorsieht. Andreas Kraß hat in einem Beitrag zur deutschsprachigen
Literatur des 13. Jahrhunderts gezeigt, dass im Bereich der ›Sodomie‹ die »Span­
nung zwischen Tabuisierung und Diskursivierung« in besonderer Weise virulent ist.
Sexuelle Praxis, die nicht durch die Ehe sanktioniert ist, trifft das Tabu weit stärker
als den prokreativen heterosexuellen Vaginalverkehr. Doch zugleich scheint der als

13   Kleist (1990), Die Marquise von O…., S. 156.
14   Ebd., S. 158.
15   Siehe Eybl (2007), Kleist-Lektüren, S. 109–140.
16   Kleist (1990), Die Marquise von O…., S. 170.
17   Eybl (2007), Kleist-Lektüren, S. 114.

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16                                                                                     Einleitung

›Sodomie‹ rubrizierte Bereich sexueller Praxis in besonderer Weise seine Diskursi­
vierung herauszufordern: Die »stumme Sünde« Sodomie ist zugleich eine »rufende
Sünde«.18 Das ›verbotene Wort‹ wird beantwortet durch das uneigentliche Wort.
    Penetrierte Männlichkeit wird in dieser Arbeit nicht unter den Vorzeichen eines
vormodernen Sodomiedispositivs,19 sondern unter denen des modernen Sexuali­
tätsdispositivs untersucht. An die Stelle einer sündhaften Praxis tritt nach Foucaults
Analyse im Diskurs der Moderne eine sexuelle Identität:

     Man darf nicht vergessen, daß die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie
     der Homosexualität sich an dem Tage konstituiert hat, wo man sie […] weniger nach einem
     Typ von sexuellen Beziehungen als nach einer bestimmten Qualität sexuellen Empfindens,
     einer bestimmten Weise der innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen
     charakterisiert hat. Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht,
     als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphrodi­
     tismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homo­
     sexuelle ist eine Spezies.20

Das ist der Hintergrund, vor dem sich eine Untersuchung penetrierter Männlich­
keit in der Moderne bewegt. Der Dskursgegenstand Penetrierte Männlichkeit lässt
sich nicht mehr als eine bloße Konfiguration sexueller Praxis analysieren, sondern
ist in den Kontext einer spezifischen, einer genuin modernen Identität gerückt. In
diesem Kontext wird gewöhnlich ein gedanklicher Kurzschluss vollzogen, der selbst
symptomatisch für ein Denken unter den Vorzeichen des Sexualitätsdispositivs
ist: Ein Mann, der sich penetrieren lässt, wird klassifiziert als unmännlich und als
homosexuell. Ein Untersuchungsfokus nicht auf homosexuelle, sondern auf pene­
trierte Männlichkeit fordert einige methodische Entscheidungen, die ich an einem
kurzen Text des Schriftstellers und Philosophen Salomo Friedlaender (1871–1946)
illustrieren möchte.

18 Siehe Kraß (2009), Sprechen von der stummen Sünde (Zitate S. 125).
19 Vgl. ebd., S. 134–136.
20 Foucault (1983), Der Wille zum Wissen, S. 47.

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Mynonas Der Schmarotzer                                                                       17

Mynonas Der Schmarotzer: Eckpunkte für eine literaturwissenschaftliche
­Untersuchung penetrierter Männlichkeit

Melchisedek Bumöller, der Protagonist von Friedlaenders Groteske Der Schmarot-
zer (1921/24),21 hat ein Problem. Zuerst leidet er »an der Verdauung«,22 genauer
an einem Bandwurm, und als ihm der durch ärztliche Behandlung genommen
ist, vermisst er ihn: »Mir fehlt wirklich etwas«, äußert er seiner Ehefrau gegenüber,

   – zum erstenmal verstehe ich diese Redensart tatsächlich! Ich fühle mich wie ausgehöhlt, weißt
   Du, verzeih! Aber so gewiß fühlt eine Jungfrau und verlangt buchstäblich nach Ausfüllung
   ihrer lechzenden Leere, nach Schwängerung, nach … naja!23

Der in heterosexueller Ehe lebende Bumöller bringt seiner Gattin gegenüber ein
Begehren nach »Ausfüllung« zum Ausdruck, dessen anatomischer Ort mit dem
Verdauungstrakt in Zusammenhang steht, genauer mit dem »Hinterausgang«:24 ein
Begehren, anal penetriert zu werden. Signifikant an der Formulierung dieses Begeh­
rens ist zweierlei. Bumöller setzt sich erstens im Zuge der Versprachlichung seines
rezeptiven Begehrens in eine Analogiebeziehung zur Weiblichkeit einer »Jungfrau«
und damit implizit seinen Anus in eine Analogiebeziehung zur Vagina. Und zweitens
weist seine Rede an der Stelle, an der vom konkreten Vorgang seiner Penetration zu
sprechen wäre, in Kleist’scher Manier eine durch Interpunktionszeichen markierte
Leerstelle auf, die auf ein abbrechendes »naja« zuläuft. Bumöllers Männlichkeit
erfährt im Zuge der Formulierung rezeptiven Begehrens eine Identifizierung mit
Weiblichkeit, sein Diskurs eine empfindliche Störung. Unter heteronormativen
Bedingungen bedeutet, so legt der Text nahe, das rezeptive Begehren eines Mannes
eine Störung sowohl der sexuellen als auch der Zeichenökonomie.
    Dass und wie Bumöller sein Begehren zu formulieren in der Lage ist, wird
ermöglicht durch die zeitgenössischen sexualwissenschaftlichen und psychoanaly­
tischen Diskurse, auf die der Text satirisch antwortet, wenn er als sein Argumenta­
tionsinteresse die Widerlegung der psychoanalytischen Ätiologie angibt. Nicht die
Sexualität, so der Erzähler, sei »das Grundmotiv alles menschlichen Treibens«, sexu­
elle Perversionen seien vielmehr »späte Nachwirkungen vollkommen andersartiger

21 Den Text publizierte Friedlaender unter seinem Schriftstellerpseudonym Mynona zuerst 1921
   unter dem Titel Der homosexuelle Bandwurm und nahm ihn dann 1924 in die Sammlung Das
   Eisenbahnunglück oder der Anti-Freud auf, siehe den Kommentar der Hgg. in Friedlaender/
   Mynona (2008), Der Schmarotzer, S. 679.
22 Ebd., S. 522.
23 Ebd., S. 524 (Hervorhebung im Original).
24 Ebd., S. 522.

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18                                                                                  Einleitung

Ursachen«.25 Andererseits bezieht der Text allerdings sexualwissenschaftliche Dis­
kursbestände produktiv in sein Erzählen ein. Erst ein Sexualwissenschaftler findet
die Lösung für Bumöllers Problem: »Dr. M. Feldhirsch, de[r] renommierte[] Besie­
ger der Psychopathia sexualis«.26 Feldhirsch, hinter dem unschwer der Sexualwissen­
schaftler und Homosexuellenaktivist Magnus Hirschfeld (1868–1935) zu erkennen
ist,27 nimmt eine Diagnose vor, aus der er eine Therapie folgen lässt: »Ihr Gatte
ist […] homosexuell und braucht einen Liebling.«28 Die Therapie erweist sich als
wirksam. Der »fesche[] Begleiter«, den Feldhirsch Bumöller verschafft, führt zu
einem befriedigenden Zustand: »Melchisedek war wie erlöst«.29 Dabei verdeckt
die Diagnose allerdings den wahren Grund für den Therapieerfolg. Im Text fin­
den sich keine Hinweise auf ein exklusiv homosexuelles Begehren Bumöllers. Sein
Begehren ist vielmehr strikt auf die Praxis der ›Ausfüllung‹ zentriert. Der Liebling
reiht sich als letztes Glied in eine Kette potenzieller oder tatsächlicher Akteure der
›Ausfüllung‹ ein, die vom Bandwurm eröffnet und vom »Stuhlzäpfchen«30 weiter­
geführt wird. Drittes Glied zwischen Zäpfchen und ›Liebling‹ ist ein Körperteil
der Ehefrau: »›Ach Du,‹ flüsterte er plötzlich und umhalste die Seinige, gib mir
Deine Hand! Oh, Deinen lieben Zeigefinger«.31 Bumöllers Sexualität ist weniger
vom Geschlecht seiner begehrten Objekte als von einer konkreten sexuellen Praxis
bestimmt: der rezeptiven analen Penetration.
     Anhand von Mynonas Schmarotzer lassen sich die Ausgangsüberlegungen illust­
rieren, die der vorliegenden Studie zugrunde liegen, die es sich zur Aufgabe macht,
literarische Figurationen penetrierter Männlichkeit in der deutschsprachigen Erzähl­
literatur zwischen 1905 und 1969 zu erforschen. Die Studie untersucht auf einer
ersten Ebene die ›Störung‹, die penetrierte Männlichkeit auf sexuell-geschlechtlicher
Ebene in den Diskurs einführt. Vor dem Hintergrund einer das heteronormative
Geschlechterverhältnis strukturierenden und stabilisierenden Matrix der Heterose­
xualität, in der sex, gender und desire in angeblich kausaler Folge angeordnet werden
zu zwei hierarchisierten und aufeinander bezogenen Positionen, die ihre Konsistenz
laufend durch performative Akte hervorbringen,32 vor dem Hintergrund zudem

25 Ebd.
26 Ebd., S. 524 (Kursivierung im Original).
27 Über die »Psychopathia sexualis« ist zusätzlich auf einen zweiten Sexualwissenschaftler, den
   Autor der gleichnamigen Studie, Richard von Krafft-Ebing (1840–1902), verwiesen.
28 Friedlaender/Mynona (2008), Der Schmarotzer, S. 524.
29 Ebd., S. 524 f.
30 Ebd., S. 524.
31 Ebd.
32 Siehe die knappe Erläuterung der heterosexuellen Matrix bei Butler (1991), Das Unbehagen
   der Geschlechter, S. 21, Anm. 6.

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einer (kontrafaktisch) behaupteten Dominanz des heterosexuellen Vaginalverkehrs
erscheint ein männlicher Körper, der penetriert wird, als ein neuralgischer Punkt
der Heteronormativität. Er verweist in skandalöser Weise auf die Kontingenz des
Geschlechterverhältnisses.
    Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist penetrierte Männlichkeit und
nicht männliche Homosexualität. Es geht dieser Studie um die spezifische Position
des penetrierten Mannes, die, wie zu zeigen sein wird, gerade nicht in männlicher
Homosexualität aufgeht,33 dabei jedoch andererseits keineswegs unabhängig von
ihr ist. Die Ablösung penetrierter Männlichkeit von männlicher Homosexualität ist
eine analytische. Sie ist notwendig, um den spezifischen Gehalt penetrierter Männ­
lichkeit zu erfassen, sie steht zugleich aber vor dem Hintergrund einer diskurshisto­
rischen Legierung von penetrierter Männlichkeit und männlicher Homosexualität,
die zu Effekten wie der Fehldiagnose Feldhirschs führt. Der Hintergrund ausdiffe­
renzierter nicht-literarischer Diskurse ist mithin eine grundsätzliche Voraussetzung
der Analyse literarischer Figurationen penetrierter Männlichkeit. Neben den bereits
angesprochenen sexualwissenschaftlichen und psychoanalytischen Diskursen sind
für den gewählten Untersuchungszeitraum der juristische Diskurs in Bezug auf die
im § 175 des Reichsstrafgesetzbuches inkriminierte »Widernatürliche Unzucht […]
zwischen Personen männlichen Geschlechts«34 und der Diskurs der homosexuel­
len Emanzipationsbewegung in Betracht zu ziehen. Literarische Texte greifen, wie
sich im Verlauf der Lektüren zeigen wird, durchgehend Wissensbestände aus den
genannten Diskursen auf, überschreiten diese Wissensbestände jedoch zugleich
permanent und arbeiten an ihrer Umschrift.
    Bumöllers Selbstvergleich mit der ›nach Ausfüllung lechzenden Jungfrau‹ reprä­
sentiert eine konventionelle Art der Formulierung penetrierter Männlichkeit. In
einer Diskursordnung, die grundsätzlich durch eine heteronormative Geschlechter­
binarität strukturiert ist, wird penetrierte Männlichkeit reflexhaft an Weiblichkeit
angeschlossen. Da die Zuweisung von Attributen zu den beiden einzig intelligib­
len Geschlechtern von einem mächtigen »taboo against the sameness of men and
women« regiert wird, das die beiden Geschlechter Männlichkeit und Weiblichkeit
erst hervorbringt,35 ist penetrierter Männlichkeit die diskursive Formulierung vor­
derhand nur als eine ›weibliche‹ Entität möglich.36 Allerdings: Ein Mann, der sich
penetrieren lässt, ist keine Frau – diese Einsicht behält auch im heteronormativen

33 Dieser Umstand lässt sich schon durch den einfachen Fakt, dass Männer sich in heterosexu­
   ellen Konstellationen anal penetrieren lassen, belegen, vgl. hierzu Rothmund (2016), (Ver)
   uneindeutige(nde) Sexualpraktiken (?).
34 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (o. J.), § 175.
35 Siehe Rubin (1975), The Traffic in Women, S. 178.
36 Siehe Kemp (2013), The Penetrated Male, S. 12.

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Denken Gültigkeit. Der Mann ist zwar in heteronormativer Sicht durch seine
Nicht-Penetrierbarkeit definiert,37 doch diese ist eine notwendige und keineswegs
hinreichende Voraussetzung von Männlichkeit. Darüber hinaus ist er – immer in
der Sicht der Heteronormativität – definiert als ein Wesen mit einem männlichen
Geschlechtskörper – und der bleibt dem penetrierten Mann durchaus erhalten
(wenn er auch zuweilen umgedeutet wird). Der eigentliche Skandal am Spektakel
des Analverkehrs zwischen Männern besteht im sichtbaren Penis des penetrierten
Mannes.38 Die Formulierung penetrierter Männlichkeit als ›weiblich‹ ist mithin
eine konventionelle Möglichkeit ihres Eintritts in den Diskurs, eine Möglichkeit
mit gewissen offensichtlichen Defiziten. In Mynonas Groteske treten zwei weitere
Möglichkeiten auf. Dem in der Interpunktion markierten Abbruch des Diskur­
ses steht eine Strategie der spielerischen semiotischen Neuformierung gegenüber.
Denn im Sinne des Argumentationsanliegens einer Widerlegung psychoanalytischer
Ätiologie spricht sich der Text für eine semiotische Ätiologie der rezeptiv-analen
Perversion des Protagonisten aus. Die Perversion, so der Erzähler, sei im Namen
begründet: »[D]er Stammname schmarotzt hier gleichsam im edlen Organismus
des weihevollen Vornamens«.39 Wie der Bandwurm im Analbereich des Protago­
nisten ›schmarotzt‹, so hat sich der prosaische Name ›Bumöller‹ am »weihevollen«
›Melchisedek‹ festgesetzt. Vor diesem Hintergrund erscheint der verstellte Name des
sexualwissenschaftlichen Deus ex Machina Feldhirsch als die konsequente Umsetzung
jenes »überaus lustige[n] Hinterstzuvörderst«,40 das der Erzähler am Ende des Textes
anregt. Der sexuell-geschlechtlichen ›Störung‹, die penetrierte Männlichkeit auslöst,
entspricht eine semiotisch-narrative ›Störung‹, auf die der literarische Diskurs hier
nicht nur mit dem markierten Abbruch und der konventionellen Weiblichkeits­
metapher, sondern auch mit einer semiotischen Umschrift reagiert.41
    Ina Hartwig hat in einer bedeutenden Arbeit von 1998 die Frage nach der Sexu-
ellen Poetik im 20. Jahrhundert gestellt. Ausgehend von der Foucault’schen These,
dem Sex komme in der Moderne die Funktion zu, für die Wahrheit des Menschen
zu garantieren, unterstreicht Hartwig die Bedeutung des Zusammenhangs von
Sexualität und Poetik in der modernen Literatur:

       Wenn also die Sexualität für die Selbstdefinition des Menschen so wichtig geworden ist, dann –
       sagt die Literatur – muß die Sexualität sich umgekehrt am Wichtigsten messen lassen. […]

37      Siehe Sáez/Carrascosa (2011), Por el culo, S. 21.
38      Siehe Edelman (1994), Seeing Things, S. 185.
39      Friedlaender/Mynona (2008), Der Schmarotzer, S. 523.
40      Ebd., S. 525.
41		    Vgl. zu Mynonas Schmarotzer Wolf (2014), Zur Theorie, Geschichte und Politik penetrierter
        Männlichkeit, S. 235–240.

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Ansätze zu einer Historiographie penetrierter Männlichkeit                                 21

   Ja, weil die Sexualität mit überaus wichtigen anderen Sujets korrespondiert, kann überhaupt
   von sexueller Poetik gesprochen werden.42

In seiner diskursiven Verfasstheit und mit seiner Zuweisung einer Wahrheitsfunktion
an den Sex erlange das Dispositiv Sexualität in der Moderne eine solch immense
Bedeutung für literarische Zeichensysteme, dass es zur Herausbildung regelrechter
sexueller Poetiken komme.
    Die vorliegende Arbeit stellt die Frage nach den sexuellen Poetiken, die sich mit
der Formulierung penetrierter Männlichkeit verbinden, und sie stellt diese Frage,
indem sie die doppelte ›Störung‹ untersucht, die penetrierte Männlichkeit im lite­
rarischen Diskurs auslöst: die ›Störung‹ im Bereich der Heteronormativität und die
›Störung‹ des Diskurses. Sie fragt nach der Position penetrierter Männlichkeit im
System Heteronormativität, wie sie in literarischen Texten zur Darstellung kommt,
und sie fragt nach den Schreibweisen, die sich mit ihr verbinden. Wird penetrierte
Männlichkeit in den untersuchten Texten als ein verworfenes Anderes konstruiert,
gegen das sich Heteronormativität stabilisiert, oder wird sie als eine Position erzählt,
von der aus Heteronormativität in Frage gestellt wird? Welche poetischen Verfah­
ren verbinden sich im discours mit der Figuration penetrierter Männlichkeit und
wie verhalten sie sich zu der erzählten penetrierten Männlichkeit in der histoire?

Ansätze zu einer Historiographie penetrierter Männlichkeit

Um diesen Fragen nachzugehen, wählt die Arbeit einen Untersuchungszeitraum in
den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts, genauer den Zeitraum zwischen
den Jahren 1905 und 1969. Die Wahl des Untersuchungszeitraums erklärt sich aus
einer historischen Perspektive auf männliche Homosexualität, die der US-ameri­
kanische Literaturwissenschaftler David Halperin profiliert hat. Halperins Modell
einer Geschichtsschreibung männlicher Homosexualität, die von der oben zitierten
These Foucaults von der Konstituierung der Homosexualität im Übergang von einer
Thematisierung sexueller Praxis zu einer Thematisierung sexueller Identität ausgeht
und diese diskurshistorisch entfaltet, ermöglicht es, penetrierte Männlichkeit in
ihrer historischen Spezifik – und das heißt vor dem Hintergrund des Dispositivs
Homosexualität – zu untersuchen. In der Perspektive Foucaults ist Homosexuali­
tät keine transhistorische Konstante, sondern im späten 19. Jahrhundert ein neuer
Wissensgegenstand. Vor ihrer Diskursivierung im sexualwissenschaftlichen Diskurs
habe es Homosexuelle im modernen Sinne nicht gegeben. Vorgängige Formen
gleichgeschlechtlicher Erotik (etwa antike Knabenliebe und mittelalterliche und
frühneuzeitliche Sodomie) waren anders akzentuiert, knüpften an andere Diskurse an

42 Hartwig (1998), Sexuelle Poetik, S. 12 (Hervorhebung im Original).

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und führten andere Differenzen ein.43 Von Foucaults Datierung der Konstituierung
der Kategorie Homosexualität auf das späte 19. Jahrhundert geht Halperins diskurs-
und dispositivgeschichtlicher Ansatz aus. Halperin arbeitet für die Prähistorie der
Homosexualität, die Zeit vor der Installation des Sexualitätsdispositivs, vier Modelle
heraus. Effemination, also die diskursive Zuschreibung als ›weiblich‹ konnotierter
Züge an Männer, war über lange Zeit gerade nicht exklusiv mit homosexueller
Praxis verbunden, sondern galt als das Symptom eines »Exzesses« von Begehren
überhaupt.44 Unter Päderastie versteht Halperin zweitens das historische Diskurs­
modell, das spezifische Beziehungen zwischen männlichen Personen beschreibt,
in deren Zentrum »die sexuelle Penetration eines untergeordneten Mannes durch
einen anderen Mann« steht. In diesem Modell wirkt eine soziale Differenz, die
z. B. durch das Alter oder den Stand markiert wird, konstituierend für die sexuelle
Praxis.45 Freundschaft, genauer Männerfreundschaft, bezeichnet demgegenüber ein
homosoziales Beziehungsmodell, das durch fundamentale Egalität und reziproke
emotionale Besetzung gekennzeichnet ist.46 Unter Inversion schließlich versteht
Halperin eine Diskontinuität im Bereich des sozialen Geschlechts, die, anders als
bei der Effemination, das geschlechtliche Fundament eines Mannes antastet, eine

     Umkehr der Geschlechtsidentität, […] eine umfassende Kapitulation der Männlichkeit
     zugunsten der Weiblichkeit, […] eine Veranlagung, die Geschlechterrolle in jeder Hinsicht
     zu überschreiten: vom persönlichen Verhaltensstil, dem physischen Erscheinungsbild und
     der Art zu fühlen bis hin zur sexuellen Attraktion durch »normale« Männer und zur Bevor­
     zugung einer rezeptiven oder »passiven« Rolle im Sexualverkehr mit ihnen.47

Das prähomosexuelle Modell der Inversion konstruiert eine fundamentale Weib­
lichkeit im Mann, die u.a. die Praxis des rezeptiven Analverkehrs einschließt: als
ein Merkmal der Inversion der Geschlechtsidentität.
    Bis zur Formierung der Homosexualität als neuartiger Diskursgegenstand im 19.
Jahrhundert existierten die prähomosexuellen Diskursmodelle, so Halperin, mehr

43 So steht etwa im antiken Diskurs über Knabenliebe und Kinäden weniger das Geschlecht des
   begehrten Objekts im Zentrum als vielmehr dessen Alter und Stand, vgl. Foucault (1989),
   Der Gebrauch der Lüste, S. 237–286, Halperin (2002), How to Do the History of Homo­
   sexuality, S. 32–38 und 92–99.
44 Siehe Halperin (2003), Ein Wegweiser zur Geschichtsschreibung der männlichen Homose­
   xualität, S. 181.
45 Siehe ebd., S. 185.
46 Siehe ebd., S. 192–197.
47 Ebd., S. 197.

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oder weniger parallel.48 Die Leistung der Formierung zum Dispositiv der Homose­
xualität liege in der Integration dieser Modelle in eine spezifische ›Sexualität‹. Das
Projekt, die genannten Diskursmuster in eine ›Homosexualität‹ zu integrieren, setzt
zwangsläufig Konflikte in Gang und ruft Reibungen hervor. Denn einzelne Ele­
mente der prähomosexuellen Modelle widersprechen sich offensichtlich. Die kon­
stitutive Egalität der Männerfreundschaft ist nicht mit der konstitutiven Inegalität
der Päderastie zu vereinbaren. Und die Modelle, die eine unangetastete Männlich­
keit ihrer Protagonisten voraussetzen, so der Männerfreunde und des insertiven
Päderasten, treffen unvermittelt auf diejenigen Modelle, die eine tendenzielle (Effe­
mination) oder strukturelle (Inversion) ›Weiblichkeit‹ ihrer Akteure veranschlagen.
    Halperin versteht sein diskurshistorisches Modell als ein Instrument der Histo­
risierung der Widersprüche und Diskontinuitäten, die für männliche Homosexu­
alität in einer synchronen Betrachtung kennzeichnend sind. Die Konstruktion der
männlichen Homosexualität homogenisiert diskursiv heterogene Diskursbestände.49
Die fundamentale Inkonsistenz der Kategorie Homosexualität, wie sie synchron
vorliegt, hat Eve Kosofsky Sedgwick eindrücklich herausgearbeitet. Sedgwick macht
in Epistemologie des Verstecks eine »radikale, irreduzible Inkohärenz« im modernen
Homosexualitätskonzept aus.50 Diese Inkohärenz ergebe sich aus dem komplexen
Zusammenspiel zweier Paare konkurrierender Definitionsansätze dessen, was Homo­
sexualität genannt wird. Erstens zielten zwei einander widersprechende Definitio­
nen von Homosexualität auf die Reichweite des Konzepts ab. Eine minorisierende
Definition verstehe Homosexualität als das Wesensmerkmal einer abgrenzbaren
Minderheit, die ausschließlich homosexuell sei. Der minorisierenden stehe eine
universalisierende Auffassung entgegen, die eine ubiquitäre Relevanz und Verfügbar­
keit homosexuellen Begehrens behauptet: Nicht nur manifest homosexuelle, auch
heterosexuelle Menschen hätten nach dieser Auffassung mit ihrem homosexuel­
len Begehren umzugehen.51 Dem ersten Paar konkurrierender Definitionen stehe,
so Sedgwick, ein zweites Paar gegenüber, das die Frage der Geschlechtsidentität
betreffe. Eine Klasse von Definitionen, die homosexuelle Männer als in irgendeiner
Weise ›weiblich‹ verstehe, trete mit einer Klasse von Definitionen in Konkurrenz,
die das gleichgeschlechtliche Begehren mit einer Identifizierung mit dem eigenen
Geschlecht verkoppele.52

48     Siehe ebd., S. 177–211.
49     Siehe ebd., S. 178 f.
50     Sedgwick (2003), Epistemologie des Verstecks, S. 136.
51		   Siehe ebd., S. 136 f.
52     Siehe ebd., S. 138–140.

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Historische Homosexualitätskonzepte

Die Inkohärenzen in der Definition männlicher Homosexualität spiegeln sich in
der Geschichte sich wandelnder Homosexualitätskonzepte seit der Mitte des 19.
Jahrhunderts wider. Der Widerspruch zwischen minorisierenden und universalisie­
renden Konzeptionen manifestiert sich historisch vor allem in der Frage, ob Homo­
sexualität angeboren oder erworben sei, der Widerspruch zwischen dem Inversions­
modell und dem Modell gleichgeschlechtlicher Identifizierung vor allem in bewe­
gungsstrategischen Fragen. Foucault datiert die Konstitution der Homosexualität
im modernen Sinne auf einen Aufsatz des Psychiaters Carl Westphal (1833–1890)
von 1870,53 der den Titel Die conträre Sexualempfindung, Symptom eines neuropa-
thischen (psychopathischen) Zustandes trägt.54 Der Titel markiert deutlich, dass es
sich bei den ersten Homosexualitätskonzepten vor allem um medizinische Katego­
risierungen handelt. Der Begriff ›Homosexualität‹, den Westphal nicht verwendet,
wurde allerdings schon ein Jahr früher, 1869, von dem österreichisch-ungarischen
Schriftsteller und Journalisten Karl Maria Kertbeny (1824–1882)55 eingeführt. Bei
Kertbenys Publikationen handelt es sich nicht um psychiatrische Schriften, son­
dern vielmehr um Pamphlete, die gegen den preußischen Sodomieparagraphen
argumentierten.56 Der Historiker Robert Beachy kritisiert vor dem Hintergrund
einer Diskussion, die schon vor 1870 einsetzte, Foucaults einseitige Betonung des
psychiatrischen Diskurses. Das Konzept der Homosexualität habe sich, so Beachy,
von Anfang an in der Interaktion zwischen Wissenschaft und Bestrebungen für eine
homosexuelle Emanzipation herausgebildet.57 Die ›Erfindung der Homosexualität‹
sei aus dieser Perspektive auf die Zeit um 1850 zu datieren. Zentrale Bedeutung
auf der Seite des medizinisch-psychiatrischen Diskurses habe hier ein Aufsatz des
Berliner Rechtsmediziners Johann Ludwig Casper (1769–1864) von 1852,58 auf der
Seite der Emanzipationsbestrebungen der Kampf des Juristen Karl Heinrich Ulrichs
(1825–1895) seit den 1860er Jahren.59
    Caspers60 Beitrag hat aus dem Grund große diskurshistorische Bedeutung, weil
er zum ersten Mal im medizinischen Diskurs die Möglichkeit angeborener Homo­
sexualität durchspielt. Casper referiert in seinem Artikel vor allem Fallgeschichten

53   Siehe Foucault (1983), Der Wille zum Wissen, S. 47.
54   Westphal (1870), Die conträre Sexualempfindung.
55   Vgl. zu Kertbeny Herzer (2009), Karl Maria Kertbeny.
56   Siehe Beachy (2014), Gay Berlin, S. 31.
57   Siehe ebd., S. xiv–xvii.
58   Casper (1852), Ueber Nothzucht und Päderastie.
59   Siehe Beachy (2014), Gay Berlin, S. 5 f.
60   Vgl. zu Casper Grau (2009), Johann Ludwig Casper.

                          © 2018 Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar
                    ISBN Print: 9783412511036 — ISBN E-Book: 9783412504403
Benedikt Wolf, Penetrierte Männlichkeit
Historische Homosexualitätskonzepte                                                            25

aus seiner forensischen Praxis. Dabei geht es aufgrund der juristischen Vorgaben
um den Nachweis von verbotenen Handlungen an den untersuchten Körpern.
Nach der Abhandlung von Fällen heterosexueller »Nothzucht«, also Vergewalti­
gung, kommt Casper gegen Ende des Aufsatzes zu Fällen von »Päderastie«, die
vom § 143 des preußischen Strafgesetzbuches, dem Vorgänger des reichsdeutschen
§ 175, verfolgt wurden. Dabei nimmt er eine Unterscheidung vor, die für die wenig
später sich entwickelnde Sexualwissenschaft kanonisch wird: »Die geschlechtliche
Hinneigung von Mann zu Mann ist bei vielen Unglücklichen – ich vermuthe aber
bei der Minderzahl – angeboren, während sie bei vielen anderen Männern erst im
spätern Leben, als Folge einer Uebersättigung im gewöhnlichen Dienste der Venus,
auftaucht«.61 Mit dieser Unterscheidung zwischen angeborener Homosexualität und
homosexueller Betätigung aus »Uebersättigung« nimmt Casper eine minorisierende
Definition männlicher Homosexualität vor. Bei einer Minderheit der Päderasten sei
die gleichgeschlechtliche Neigung ein angeborenes Wesensmerkmal. In der späteren
Sexualwissenschaft wird in dieser Linie stets zwischen ›angeborener‹ und ›erworbener‹
Homosexualität unterschieden. Richard von Krafft-Ebing62 etwa unterscheidet in
seiner zum Standardwerk der Sexualwissenschaft avancierten Psychopathia sexualis
(zuerst 1886) zwischen » e i n g e b o r e n e [ r ] « und » e r w o r b e n e [ r ] « ›konträrer
Sexualempfindung‹. Während die ›angeborene konträre Sexualempfindung‹ »spon­
tan, ohne äussere Anlässe« auftrete, sei die ›erworbene konträre Sexualempfindung‹
auf »ganz bestimmte[] schädliche[] Einflüsse« zurückzuführen.63
    Auch für den Begriff der Inversion stellt Caspers Aufsatz von 1852 wichtige Vor­
aussetzungen bereit. »Nicht wenige dieser Männer«, so Casper, »pflegen ein mehr
weibisches Aeussere zu haben. Sie sind weibisch eitel in ihrem Anzuge, die Haare
in Locken gekräuselt, Ringe bedecken die Finger und Riechwässer werden reichlich
verbraucht«.64 Indem er Bestände aus dem Diskursmodell der Effemination aufgreift,
legt Casper den Grundstein für ein Homosexualitätskonzept, in dem der Tropus
der Inversion eine prominente Rolle innehat.65 Im heteronormativen Kurzschluss
muss ein Mann, der Männer begehrt, ›weiblich‹ sein.66
    Allerdings findet sich bei Casper kein Begriff, der die Minorität der angeboren
Homosexuellen bezeichnen könnte (Päderasten sind sie nur, insofern sie päderas­
tische Handlungen vollziehen).67 Einen solchen Begriff führt der vermutlich erste

61   Casper (1852), Ueber Nothzucht und Päderastie, S. 62.
62   Vgl. zu Krafft-Ebing Sigusch (2009), Richard von Krafft-Ebing.
63   Krafft-Ebing (1984), Psychopathia sexualis, S. 225 f. (Hervorhebungen im Original).
64   Casper (1852), Ueber Nothzucht und Päderastie, S. 62 f.
65   Vgl. auch Beachy (2014), Gay Berlin, S. 22 f.
66   Vgl. Sedgwick (2003), Epistemologie des Verstecks, S. 138 f.
67   Allerdings kennzeichnet Casper einige Jahre später das »Laster« der Päderastie als »gleichsam

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