DIE KRISE DES GESICHTS ODER DIE GESICHTSLOSE GESELLSCHAFT - JÜRGEN KLAUKE
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Peter Weibel DIE KRISE DES GESICHTS ODER DIE GESICHTSLOSE GESELLSCHAFT Überlegungen zur Serie Antlitze (1972–2000) von Jürgen Klauk Das Theaterstück der Stunde stammt von Jean-Paul Sartre und wurde 1944 unter dem Titel Huis clos - Geschlossene Gesellschaft) uraufgeführt. Es hat den globalen Lockdown der Jahre 2020 bis 2021 vorweggenommen Das Kunstwerk der Stunde heißt Antlitze und stammt von Jürgen Klauke: eine 96-teilige Serie von vermummten An litzen, die Klauke seit 1972, dem Jahr des Terroranschlags bei der Olympiade in München, sammelt und 2000 erstmals als großformatige Serie für seine Retrospektive in der Bundeskunsthalle Bonn ausgestellt hat. Es hat die von der Corona-Pandemie verursachte Vermummungs Welle antizipiert Diese Sammlung von Fotos vermummter Gesichter aus dem Massenmedium Zeitung sind extreme Zeugnisse von Klaukes lebenslanger Beschäftigung mit dem Menschen, dem Bild und Körper des Menschen, mit dem Porträt und dessen Präsenz in den Massenmedien. Im Spiegel des G sichts stellt er die Frage: Was ist der Mensch? Anders als die Porträtmalerei, die vom realen Menschen ausgeht, beziehen sich Klaukes Porträts von Vermummten auf Fotos in Massenmedien, also auf mediatisierte Porträts. Der Maler geht bei der Suche nach dem menschlichen Antlitz von einer realen, erkennbaren Person aus, Klauke hingegen vom Foto einer anonymen Person. Klaukes Reproduktionen fotografischer „Antlitze“ stellen also eine vollkommene Inversion der historischen Porträtmalerei dar, um nicht zu sagen, eine Opposition. Diese Opposition wird noch gesteigert. Normalerweise dient ja ein gemaltes Porträt dazu, die Einzigartigkeit und Individualität der abgebildeten Person zu betonen. In Klaukes Antlitzen ist das Gegenteil der Fall: Die Person verschwindet. Das Porträt dient sogar dazu, die Individualität und Einzigartigkeit der abgebildeten Person, ihre erkennbaren Gesichtszüge, zu tilgen, auszulöschen, zu anonymisieren. Die Antlitze der Vermummten löschen also die historische Funktion der Porträtmalerei aus. Statt Individualporträts, statt Charakterbilder sehen wir weder Charaktere noch Individuen, sondern nur Anonyme ohne Antlitz. Daher ist der Titel von Klaukes Fotoserie eine aufklärende Antinomie. Die Krise des Gesichts ist angesichts der Corona-Pandemie deutlich geworden. Klauke leitet das Porträt nicht wie der Maler von der Ikone ab, sondern von der Kloake der Massenmedien, nicht von sakraler Kultur, sondern von trivialem Trash. Er beleidigt das Bild, das die Maler im Sinne ihrer geistlichen und weltlichen Auftraggeber vom Bild des Menschen geschaffen haben. Er profaniert es Doch Klauke hat der viel beschworenen Ausdrucksfähi keit des Gesichts und der Anatomie insgesamt schon immer erkenntnistheoretisch misstraut. All die Unterscheidungen und Bewertungen, all die Einsichten und Au sagen, die im Namen des Gesichts ausgesprochen wurden, hielt er für ambivalent, um nicht zu sagen irreführend. Das Gesicht sagt nichts Wahres, es dient nicht der Wahrheitsfindung. Die „Wahrheit“ wird nicht im Gesicht ausgedrückt, in der „facial expression“ einer Person. Das Gericht des Gesichts hat kein Gewicht. Die Kommunikation „face-to-face“ ist von geringer Kanalkapazität und garantiert keinen störungsfreien Informationsaustausch. Facial expression kann leicht false expression sein. Auch das „sprechende Gesicht“ kann lügen. Das „Facial Action Coding System“ kann kein wahres von einem falschen Lächeln unterscheiden. Durch das gesamte Œuvre Klaukes zieht sich eine Kritik der praktischen und theoretischen Expressivität des Menschen. Er seziert mit dem Skalpell seiner inszenierten Fotografie das Geschwulst von Anatomie, Physiologie, Pathologie, Mimik, das die „Kultur“ im Lauf von Jahrhunderten verklumpt hat. Er kritisiert den Aberglauben, man könne sich von Anderen ein Bild machen durch ein Bild von ihnen, durch ihre Gesichter, s t . g e e - . . (
ihre Augenabstände, ihre Nasenformen. Man könnte also von äußeren anatomischen Merkmalen auf innere Eigenschaften schließen. Um diesem inhumanen, rassistischen Kommunikationscode zu entgehen, hat Klauke in seinen Performances und inszenierten Fotografien schon immer das Äußere maskiert, mit Kleidung, Make- up, grotesken Stereotypen persifliert. Er hat sich in seiner Kunst verstellt, um die Maskerade der Expressivität, die Verzerrungen der physiognomischen Hypothesen zu entstellen Sicht bedeutet so viel wie Sehvermögen und davon a g leitet sind die Worte Gesicht oder Angesicht. Fahren auf Sicht heißt, Fahren soweit die Sicht reicht, soweit wir sehen. Wenn nun Gesichter wechselseitig nicht mehr gesehen oder gesichtet werden können, weil sie vermummt sind, dann handelt es sich um gesetzlich veror nete Sichtredu tion. Klaukes vermummte Antlitze sind daher Gesichter ohne Sicht. Das Gesicht ist ein blinder Schirm, kein Bild, am allerwenigsten ein wahres Bild, das sich ein Anderer vom Selbst des Trägers machen kann. Die bisherige Arbeit am Bildnis des Menschen war von Gesichtsblindheit gezeichnet. In Wirklichkeit ist die klassische physiognomische Porträtmalerei Prosopagnosie, ein Akt der Nichterkennung von Gesicht. Daher diese großartige Geste, dass Klauke uns unter dem Titel Antlitze Gesichter zeigt, die wir nicht erkennen können, weil sie vermummt sind. Klauke zeigt uns das Porträt als Prosopagnosie (Gesichtsblindheit). Klauke will uns zeigen, dass wir ohnehin nie in der Lage waren, durch Bilder Gesichter zu erken-nen und durch Gesichter Charaktere. Facial re o nition und dadurch emotion detection erteilt er eine Absage. Daher spielt Klauke in allen seinen Arbeiten mit Miene spiel, mit Körpermasken, Maskeraden, Make-up, mit Ausdrucksgebärden, mit Körpercodes, mit Dresscodes, mit Kleidungsstücken, Versatz- und Ersatzstücken. Affekte und Ausdruck, Emotion und Expression werden zu reinen Schauflächen, Bühnenformen, Schaubühnen für Inszeni rungen Jahrzehnte bevor der „Gender Trouble“ (Judith Butler, 1996) entdeckt wurde, betrieb Klauke schon die Subversion der Identität, indem er die binäre Codierung weiblicher und männlicher Geschlechtsmerkmale in seinen inszenierten Fotografien infrage stellte und das biologische Geschlecht (Sex) vom sozialen (Gender) trennte. Seine Identitätskritik ging aber über das Geschlech liche hinaus. In seinen frühen Fotoserien wie Physiognomien (ab 1972) und Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse (1976/77) arbeitete Klauke deutlich die Unterscheidung zwischen Person und Persona, zwischen biologischer und sozialer Identität heraus. Seine Identitäts- und Subjektkritik konzentrierte sich immer wieder auf das Gesicht und seine soziale Rolle bzw. Codierung: die Maske. Insofern ist es naheliegend, dass Gesichter, die sich maskieren, die unter Maskierungen fast verschwinden, dass Gesichter, die fast zur Gänze verhüllt und vermummt sind, Klauke faszinieren. Für ihn gibt es offenbar keine Gesichter, sondern nur Masken, zumindest keine „wahren“ Gesichter. Seine Kritik des Gesichts zeigt sich auch darin, dass er selbst in seinen frühen inszenierten Fotografien meist geschminkt ist und die Maske des Make-up verwendet. Diese Maskierung dehnt er im Lauf der Zeit vom Gesicht mittels spezieller Kleidungsstücke und Objekte auf den ganzen Körper aus. Die vermummende Maske ist die vernichtendste Kritik des Gesichts, weil sie das Gesicht auslöscht. Klauke sammelt die Bilder Vermummter schon seit 1972, also zu Beginn seines künstlerischen Werkes, weil er in den Menschen, die sich vermummen, vielleicht Sympathisanten seiner Kritik der Ideologie des Gesichts sieht, wie sie zum Beispiel in einer seiner besten Fotoserien zum Ausdruck kommt: Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse (12-teiliges Fototableau, 1976/77). In diesem Tableau sehen wir zwölfmal das Gesicht von Jürgen Klauke, abwechselnd einmal lächelnd und einmal finster blickend. Jedes Foto weist eine Berufsbezeichnung auf. Unter den grimmigen Fotos stehen Berufsbezeichnungen wie Richter und Priester, unter den lächelnden Physiognomien stehen Berufe wie Artist und Anarchist. Die Bedeutung der Bilder, die Deutung der Physiognomie ist also arbiträr, kommt nicht von innen, sondern von außen, ist beobachterrel tiv, sozial codiert. Klauke widerspricht der landläufigen Annahme, dass man vom Gesicht, der Physiognomie und der Mimik auf den Charakter schließen kann. Klauke zeigt, dass schon zwei Gesichtsausdrücke, mit verschiedenen Berufs- beziehungsweise Personenbezeichnungen verbunden, sehr viele unterschiedliche Ausdruckswerte und plausible Rollen ergeben. Klauke dekonstruiert und kippt durch die Kombination von Selbstporträts und Berufsbezeichnungen die Verbindungen zwischen Maske und Gesicht, Persona und Person. Die Ausdrucksfähigkeit des Gesichts, seine Expressivität, Affektivität und Authentizität werden angezweifelt. In dieser Arbeit wird das Gesicht endgültig als Maske demaskiert und wird Identität als kulturell codiert decodiert. Das menschliche Antlitz wird bei Klauke eben nicht zu einem Spiegel, sondern höchstens zu einem d k e . b c e g t n . a
blinden Spiegel, zu einer Maske, die nichts widerspiegelt, die leer ist, also vermummt. Es gibt keine Gesichter, es gibt nur Masken. Es ist daher kein Wunder, dass Klauke bei seiner Analyse des Gesichts als Maske schließlich bei der Vermummung landet. Es gibt keine Masken mehr, sondern nur noch Vermummte. Klauke beginnt also das Spiel der Masken und Gesichter mit Vermummten In einem Interview mit Manfred Grübl weist Klauke selbst darauf hin, dass ihn bei seiner Fotoserie Antlitze (1972–2000) die Dialektik von Identität und Anonymität, von Gesicht und Maske in ihrem medialen Kontext intere sierte: „Mein persönliches Interesse wurde zum Einen durch die Maske an sich geweckt, und zwar durch jene, die Anonymität will und gleichzeitig mediale Präsenz benötigt zur Vervielfachung ihres Anliegens. Also nicht: Maske über’n Kopf – rein in die Bank – Geld her – raus aus der Bank – Maske ab und nichts wie weg.“ 1 Klauke verweist zu Recht auf die Dialektik von Anonym tät und Aufmerksamkeit hin, auf ihre wechselseitige Bedingung. Jeder Bankräuber weiß, dass Banken mit Vide kameras überwacht werden. Deswegen muss er sich maskieren, vermummen, damit er nicht identifiziert werden kann. Er muss seine Identität, seine Person, seinen facial fingerprint löschen. Er muss sich anonymisieren. Der Vermummte bewaffnet sich gleichsam mit einem Visier, um nicht ins Visier der Fahndung und der Polizei zu geraten. Die Kopfbedeckung ist ein Helm, zwar nicht aus Metall wie bei Söldnern und Rittern des Mitte alters, sondern nur aus Stoff, aber sie dient dem gleichen Zweck: dem Schutz. Der Täter schützt sich vor Erkennung. Denn gerade darauf beruht der Schrecken der Fahndungsfotos, dass alle aufgerufen sind, die Täter zu identifizieren und damit zu helfen, sie zu finden. Ich kenne diese Schrecken und Angst aus meinen eigenen aktionistischen Jahren unter dem Motto: Bekannt aus Film, Funk, Fernsehen und: Fahndungsplakaten. Im Zeitalter medialer Omnipräsenz, in dem mit Überwachungskameras im öffentlichen Raum und mit sozialen Medien in privaten Räumen alle Bewegungen der BürgerInnen, seien es physische Bewegungen oder Datenbewegungen, verfolgt und gespeichert werden können, ist natürlich Vermummung eine attraktive Strategie. Nachdem die Datenvorratsspeicherung bedeutet: digitale Datenspuren können nicht gelöscht werden, ist es am besten, es werden erst gar keine Spuren hinterlassen. Die Persönlichkeitsrechte werden paradoxerweise nur gewahrt, indem ihre Gewahrwerdung verhindert wird. Anonymisierung bedeutet: das soziale Ansehen einer Person wird gewahrt beziehungsweise bewahrt, indem das Ansehen verhindert wird. Die Vermummung ist also der neue Helm, um vor Angriffen zu schützen – das gilt besonders in Corona-Zeiten, nämlich vor Angriffen des Virus. Im Zeitalter der globalen Vernetzung und Überwachung, in dem alle persönlichen Daten der Nutzer von den Big Five der Plattform- Firmen (Facebook, Amazon, Apple, Microsoft und Google) gesammelt, gespeichert und schließlich verkauft werden, hat sich eine neue Form der Vermummung entwickelt, eine informationelle Vermummung, die dark net heißt. Man will sein Leben nicht preisgeben, das heißt ohne Preis verkaufen, und daher wird das Leben versteckt. Logischerweise blüht auch im dark net, in der digitalen Welt der Vermummung, die Kriminalität wie in der analogen Welt der Vermummung Wie Textstellen geschwärzt werden, um Geheimnisse zu schützen, werden heute Fotos und Gesichter geschwärzt, durch schwarze Augenbalken oder Verpixelung. Die Ze sur erhält ein neues Gesicht, indem sie sich direkt das Gesicht vornimmt. Doch gerade die Funktion der Maske beziehungsweise Vermummung als Selbstzensur, die offensichtlich Geheimnisse schützt, zum Beispiel das Geheimnis der Identität, erweckt das Interesse der Öffentlichkeit In der Tat, gerade die Maskierung erweckt Aufmerksa keit, löst mediale Erregung aus. Gerade durch die Maskierung und Vermummung erreichen die Terroristen ihr Ziel: Angsterzeugung und mediale Aufmerksamkeit. Durch mediale Erregungsstrategien multiplizieren die Medien den Effekt des Realen, verstärken die Wirkung des terroristischen Aktes. Die Berichterstattung vervielfacht nicht nur das Ereignis, sondern stellt das Ereignis und seine Wirkung erst her. Auf den Hochglanzfotos mancher Illustrierten wirken vermummte Rebellen, Soldaten, Terroristen mit ihren bunten Tüchern vor dem und um das Gesicht oft sogar wie Statisten einer Modenschau. Vermummte stellen sich dar und zur Schau für die Medien. Sie werden zu 1Siehe Version Nr. 1, Interview von Manfred Grübl mit Jürgen Klauke: http://www.juergenklauke.de/texte/2008_02_gruebl.html[Zugriff: 25.2.2021] s . . . m i o l n .
Aspekten eines Inszenierungsstils. Die Vermummung ist eine Inszenierung und da die Medien selbst Wirklichkeit inszenieren, belohnen sie Inszenierungsakte in Politik und Kunst. Die Terroristen inszenieren sich mit Maskierungen bewusst für die Massenmedien. Die Maskierungen dienen nicht nur dazu, Identitäten zu beschützen. Sie dienen auch der Erregung von Aufmerksamkeit, der Erzeugung von Angst. Die Vermummungen sind visuelle Reizworte für die Erregungs- und Empörungsgesellschaft.2 Paradoxer- und typischerweise sind nicht nur Enthüllu gen (am Badestrand oder im Boudoir), sondern auch Verhüllungen geeignetes Material für öffentliche Er-regung wellen von Empörung. Gruppen von Menschen, Minderheiten, die der Mehrheit ihren Willen oktroyieren wollen, wissen, dass in der Mediengesellschaft Skandalkommunikation die größte Aufmerksamkeit erzielt. Daher belohnen die Massenmedien, die Yellow Press etc. die grausamsten Verbrechen, die größten Dummheiten mit höchster Aufmerksamkeit, weil sie von der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ 3 leben. Aufmerksamkeit zählt und bezahlt sich buchstäblich. Darum machen die Massenmedien selbst darauf aufmerksam, was zu einer Aufregung führen könnte. Aufregung und Aufmerksamkeit sind reziprok. Um die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer zu e -wecken, steigern und steuern die Massenmedien daher selbst die Aufregung. Das ist die Botschaft des journ listischen Begriffs „Aufmacher“. Ob Frauen oder Geheimnisse enthüllt werden, die mediale Währung ist die gleiche Diese Dynamik, diese Wechselbeziehung von Gier nach Aufmerksamkeit in den Medien, um Ziele zu erreichen, und die Gier der Medien nach potenziell aufmerksamkeitserregenden Ereignissen führen zu ständigen Erregung zuständen, die schließlich leerlaufen und einen narkotisierenden Effekt auslösen. Deswegen muss die Dosis der Skandalisierung gesteigert werden. Je lauter die Medien schreien, umso mehr verhallen ihre Rufe im Nichts. Deswegen werden ihre Rufe noch gellender. Diese destruktive Form der Dialektik führt zu immer schlimmerer Vulgarität, immer mehr Verderben und Verbrechen, die von den Massenmedien immer mehr belohnt werden. Eine Gesellschaft, die Trash-TV produziert und akzeptiert, bekommt am Schluss die Rechnung serviert: einen Trash-Präsidenten, Mr. Trump. Trump profitierte vom dysfunktionalen Szenario der Skandalkommunikation und benutzte vier Jahre lang Beleidigungen, Verhöhnungen etc. als Oxygen für das Feuer seines Ruhms und Erfolgs. Der anonymisierte Terror durch die Vermummung der Antlitze (in München) wurde in der Mediengesellschaft der wirksamste, weil millionenfach multiplizierte Terror. Was nur in München geschah, ereignete sich durch die mediale Verbreitung überall auf der Welt. Klaukes Kritik des Gesichts, exemplifiziert an der Vermu mung, ist also auch eine Gesellschafts- und Medie kritik. Das Gesicht nimmt in der Geschichte der Malerei und Foto-grafie eine zentrale Stelle ein. Klaukes Werk ist eine Kritik dieser Rolle des Gesichts. Deswegen beginnt er seine subversive Analyse der Porträtmalerei und -fotografie mit der Annihilierung des Gesichts, dem Verbergen des Gesichts durch Vermummung. Gesichter sind für Klauke sozial codiert und Teil unseres kulturellen Kostüms. Auch die Vermummung ist ein Kostüm. Die Krise des Gesichts im 20. Jahrhundert, kommentiert von KünstlerInnen und PhilosophInnen, hat Klauke mit einer logischen Konsequenz sondergleichen in den drei Stufen: Gesicht, Gesicht als Maske, Maske als Vermummung, zu Ende gebracht. Die Corona-Krise und ihr Maskenzwang haben die Krise des Gesichts endgültig offenbart. Wie Sartres Stück Huis clos (Geschlossene Gesellschaft) sind auch Klaukes Antlitze ein prophetisches Werk, dem 2020 seine- Stunde schlug. Werke sind übrigens immer dann prophetisch, wenn sie aus der Tiefe ihrer Analyse schöpfen, also fundamental sind 2Stéphane Hessel, Empört Euch! Übersetzt von Michael Kogon, Berlin: Ullstein, 2011; Jens Bergmann, Bernhard Pörksen (Hrsg.), Medienmenschen: Wie man Wirklichkeit inszeniert, Münster: Solibro, 2007; Jens Bergmann, Bernhard Pörksen (Hrsg.), Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung, Köln: Herbert von Halem, 2009; Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung, München: Hanser, 2018; Philipp Hübl, Die aufgeregte Gesellschaft, München: Bertelsmann, 2019 3Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit: ein Entwurf, München: dtv, 2007 (EA, München 1998) n s . n s m . r a . .
Sartre beschreibt in Huis clos die „geschlossene Gesellschaft“ der Corona-Krise 2020. In seinem Stück befinden sich drei Menschen nach ihrem Tod in der Hölle. Sie haben Ausgangssperre, darin besteht die Folter. Sie sind in einem kleinen Raum zusammen eingeschlossen und ständig den Blicken der Anderen ausgesetzt. Die berüh -te Botschaft des Stückes lautet demzufolge „Die Hölle sind die anderen.“ Dies ist die Situation der Corona-Gesellschaft von heute: Alles ist geschlossen. Wir leben in einer geschlossenen Gesellschaft, wir haben Ausgangssperre, sind in den eig nen vier Wänden eingeschlossen, wohnhaft in Wohn-haft, und dürfen unsere Quarantäne-Quartiere nicht verlassen. Deswegen sprechen wir vom Lockdown, abgeleitet vom englischen Wort „lock“ für Schloss. „Huis clos“ heißt heute Lockdown. Die Hölle sind die anderen, die Gefährder, die uns infizieren, und Krankheit und Tod über uns bringen könnten. Klaukes vermummte Antlitze von 1972 könnten also heißen: „visages clos“, verschlossene, vermummte Gesichter, oder „gesichtslose Gesellschaft“. Am Beispiel der Masken für die Medien, der vermummten Gesichter der Terroristen, stellt Klauke nicht nur die Rolle des Gesichtes, des Porträts in der Geschichte der Malerei und der Fotografie infrage, sondern stellt darüber hinaus grundsätzliche Fragen zum Subjektstatus des Menschen, der sich angeblich im Gesicht spiegelt. Ist die Physiognomie ein Ausdruck des Selbst des Menschen? Nein, sagt Klauke. Selbstausdruck und Selbstsein sind nicht dasselbe. Bereits im 17. Jahrhundert hat Shakespeare mit seinem Satz „Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler, sie treten auf und gehen wieder ab.“ darauf hingewiesen, dass wir alle nur Schauspieler sind, Maskenträger, die eine Rolle, eine Persona spielen. Wenn die Bühne der Welt ein Kriegsschauplatz ist, ein „theatrum belli“, wie Machiavelli schrieb, dann beginnt auch das Spiel mit der Sichtbarkeit. Denn klug handelt auf der Weltbühne, wer nichts preisgibt, wer seine Pläne und Absichten hinter einer Maske verbirgt. Das Gesicht, das normalerweise als sichtbarer Ausdruck des Selbst gilt, wird dann unsichtbar und leer. Die Sicht auf das Gesicht wird verwehrt durch Maskierungen und der höchste Grad der Maskierung ist die Vermummung. Die Terroristen beherrschen das Theater des Krieges durch das Spiel der Sichtbarkeit, eben weil sie sich auf der Weltbühne vermummen Mit seiner Fotoserie von vermummten „Antlitzen“ stellt Klauke uns nach fast 50 Jahren vor einige aktuelle Fra-gen. Was bedeutet das, wenn nicht nur Terroristen, sondern alle Menschen eine Maske tragen, wenn alle Menschen ihr Gesicht verhüllen, das Kostbarste, das, was jeden Menschen ausmacht, das menschliche Antlitz. Das Gesicht ist ja nicht nur Antlitz, sondern metaphorisch das Symbol des Menschen schlechthin. Es steht für Individualität, Identität, Einzigartigkeit des Subjekts. Es verkörpert das Bildnis des Menschen. Die Evolution endet für viele im menschlichen Gesicht. Die Verehrung des Gesichts als vera icon des Menschen reicht vom Turiner Grabtuch des Menschensohns bis zum Starkult. Was bedeutet das, wenn durch die Corona-Krise alle Menschen gezwungen werden, ihr Gesicht zu verstecken. Was bedeutet es für eine Kultur, in der das Gesicht als Humanum im Zentrum steht, wenn nun dieses Gesicht verschleiert, verhüllt, vermummt wird? Wenn das Gesicht abgeschafft wird, wird dann nicht auch das Humane abgeschafft? Wenn niemand mehr erkannt werden kann, weil er vermummt ist, wird dann auch die Erkenntnis abgeschafft? Was ist das für eine Gesellschaft, in der mit dem Gesicht die Sichtbarkeit verschwindet und im Namen der Sicherheit verunsichert wird? Was wird durch diese Unsichtbarkeit des Gesichts sichtbar entsichert? Was bedeutet der staatlich verordnete Gesichtsverlust durch Gesichtsmasken? Das Gesicht gilt als der sprechende Körperteil des Menschen, das Menschliche am Menschen. Verlieren wir mit unserem Gesicht auch unsere Menschlichkeit? Vermummte Menschen ohne Gesichtszüge galten bisher als Terroristen, aggressive angsteinflößende Typen. Werden wir nun alle zu Terroristen im neuen theatrum belli. Verlieren wir Vermummte mit unseren Gesichtszügen auch die Züge der Menschlichkeit? Sind diese staatlich verordneten Vermum-mungen nicht staatlich verordnete Gesichtszerstörungen, ein Zerkratzen, ein Säureattentat, ein Auslöschen unserer Antlitze? Der Schutz des Gesichts durch Visiere oder Vermummungen geht immer auf Kosten der Sicht. Wir werden nicht nur weniger gesehen, wir sehen auch weniger. Die erzwungene Sichtbarkeitsreduktion schützt nicht nur uns und Andere vor Infektion, sondern vor allem vor Identifikation. Wir wissen nicht mehr, wer die Anderen sind. Die Anderen wissen nicht, wer wir sind. Sichtbarkeit redu tion bedeutet Reduktion von Voraussicht, Weitsicht, Umsicht und Verantwortung. Wir nehmen uns gegenseitig ins Visier und verstecken uns hinter Visieren beziehungsweise Vermummungen. Der Ausnahmefall des Terrors (in München) wird zum Normalfall (im Alltag). Die ganze Gesellschaft, alle ihre Mitglieder, befinden sich im war on terror. Das Theater des Terrors wird nun überall gespielt. m . s k e
Einerseits wächst eine Milliardenindustrie und -forschung zur Gesichtserkennung: Kameras an allen Gebäuden und eine komplexe Software dienen der Obsession der Gesichtserkennung und Überwachung. Andererseits wer-den im Gegenzug die Gesichtserkennung erschwert, die Gesichter unkenntlich gemacht und durch Mundschutz Masken anonymisiert. Diese Anonymisierung des Ge-sichts ist wie ein Vorbote zur endgültigen Verwirklichung jener „Anonymen Gesellschaft“ 4, vor der uns ein anderer großer Kölner Künstler und Denker, nämlich Hans G Helms, gewarnt hat. Klauke verweist selbst auf diesen Aspekt im zitierten Interview mit Grübl: „Die Antlitze zeigen die anonymen Ikonen der Medienwelt als signifikante Antlitze einer immer anonymer werdenden Welt. Die Vermummungen löschen Identitäten und schaffen gleichzeitig neue. Die Antlitze ohne Gesicht werden durch ihre Dauerpräsenz wieder zu Gesichtern, durch uns, die in ihnen zu lesen lernen.“ 5 Ist diese Auslöschung des Gesichts, diese Anonymisierung, diese Entindividualisierung vielleicht der Anfang einer neuen Form des Faschismus, eines „Überwachungskapitalismus“ 6 ? Mit der Vermummung wird nicht nur das Gesicht, sondern letztlich auch das Individuum negiert. Es entsteht eine homogene Masse von Vermummten, von unkenntlichen Individuen, die leicht verwaltbar und steuerbar sind Normalerweise verhüllen Menschen ihr Gesicht, wenn sie Norm- und Gesetzesüberschreitungen vorhaben, wenn sie eine illegale Tat vorbereiten und aus Angst vor Strafe unerkannt bleiben wollen, wenn sie zum Beispiel eine Bank überfallen, einen Einbruch verüben oder einen Terroranschlag ausüben. Sind wir nun alle, da wir unser Gesicht verhüllen, potenzielle Verbrecher? Die Verordnung der Vermummung kommt aber nun erstaunlicherweise vom Staat. Normalerweise verbietet der Staat Vermummungen. Vor Kurzem gab es noch gesetzliche Ver-mummungsverbote. Wer vermummt in der Öffentlichkeit auftritt, macht sich dem Staat gegenüber verdächtig. Nun hat sich die soziale Situation vollkommen umgedreht. Aus dem Vermummungsverbot wird ein Vermummungsgebot. Du musst dich verhüllen! Der Staat befiehlt die Vermummung und die Staatsangestellten, Polizisten, Beamte, etc. sind bei ihren Einsätzen selbst vermummt. Die sogenannten Staatsbeschützer schauen selbst aus wie die sogenannten Staatsfeinde, sie sind maskiert wie Terroristen. Mit Visieren und Vermummungen kämpfen sie gegen Vermummte. Staatsterror gegen Individua - terror? Anonyme Gewalt auf beiden Seiten Klauke im Interview mit Grübl: „Beim Lesen in den neuen Weltgesichtern kann man über all das Gesagte hinaus ins Stolpern kommen, denn die Zugehörigkeiten von „Gut“ und „Böse“ sind verwischt, seitdem Militär, Polizei und Sonderkommandos ebenfalls Anonymität beim Aufspüren des Anonymen vorziehen – so dass man am Ende nicht mehr weiß, wem man ins Antlitz schaut.“ 7 Genau: Niemand weiß mehr, wem er ins Antlitz schaut Die Sichtreduktion als Gesichtsreduktion dient ebenfalls der Anonymisierung der staatlichen Agenten und deren Schutz. Allerdings macht sie auch sichtbar, dass die Augenbinde der Justitia mittlerweile alle staatlichen Institutionen erfasst hat: Exekutive wie Legislative, nicht nur die Judikative sind blind. Durch die Vermummung mit Masken können sich die Gesichter, das Gegenüber, nicht sehen und erkennen. Ist eine gesichtslose Gesellschaft das Symptom einer sichtlosen, blinden Gesellschaft, die nicht erkennen will und 4Hans G Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln: DuMont-Schauberg, 1966 5Siehe Version Nr. 1, Interview von Manfred Grübl mit Jürgen Klauke: http://www.juergenklauke.de/texte/2008_02_gruebl.html 6Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt am Main/New York: Campus, 2018 7Siehe Version Nr. 1, Interview von Manfred Grübl mit Jürgen Klauke: http://www.juergenklauke.de/texte/2008_02_gruebl.html . - . . . . . . l
kann, dass ihr Gesellschaftsmodell kollabiert, nämlich die Gesellschaft als Geschäftsmodell, in der Massenmobilität, Massenkonsum, Massentourismus, Massentierhaltung, Massenkultur, Marktexpansion, Wachstum und Profit im Zentrum stehen? Ist die gesamte Gesellschaft von Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) b fallen und sichtlos? Zeigt die soziale Prosopagnosie, die staatlich verordnete Blindheit, das Ende eines Geschäftsmodells an, das nicht erkannt wird Aktuell macht sich verdächtig und sogar strafbar, wer sich nicht vermummt. Verdächtigt jeder jeden, weil jeder infiziert sein könnte, ohne es zu wissen, und damit jeder die Gesundheit und das Leben Anderer gefährdet? Der pandemische Imperativ, die Covid-Devise lautet: Erstens, verhalte dich so, als wärst du infiziert, um die Anderen zu schü zen. Zweitens, verhalte dich so, als wären die Anderen infiziert, um dich selbst zu schützen. Dieser Imperativ macht uns alle zu Verdächtigen. In der Tat, wir sind alle gefährdet und Gefährder, wir sind alle virtuelle Verbrecher in Zeiten der Corona-Krise. Die Maskenpflicht, die Vermummung, ist die Visualisierung des Verdachts. Vor lauter Angst voreinander halten wir Distanz zueinander und verdächtigen einander. Verdacht ist das Medium der Paranoia. Klauke wittert seit Langem die paranoide Struktur unserer sozialen Systeme8 . Was bedeutet diese widersprüchliche Situation für die Zukunft des gemeinsamen Lebens? Werden wir alle in einer anonymen Gesellschaft leben? Wird die ganze Gesellschaft zu einer GmbH, zu einer Gesellschaft mit b schränkter Haftung? In Frankreich heißt die Aktiengesellschaft Société anonyme, denn deren Mitglieder seien anonym, damit sie nur beschränkt haftbar sind und begrenzt Verantwortung übernehmen müssen. Heißt das, dass wir in Zukunft in einer Gesellschaft leben werden, in der die Verantwortung für die Konsequenzen des eigenen Handelns abgeschafft wird? In einer Gesellschaft unbegrenzter Verantwortungslosigkeit Der Philosoph Emmanuel Lévinas hat die Verantwortung ins Zentrum seines Denkens über das Gesicht gestellt. Für Lévinas geht der Logos, der Geist, vom Gesicht des Anderen aus. Er verankert den Logos im Gesicht des Anderen. Das Antlitz des Anderen ruft im Menschen die Verantwortung für den Anderen wach. Daher, so seine idealistische These, wird niemand von Angesicht zu Angesicht töten. Das Gesicht des Anderen sagt schweigend: Du wirst nicht töten. Ist der Logos das „erste Wort“, so ist für Lévinas offensichtlich das Gesicht das „zweite Wort“ und sogar das stärkere. Es gebietet der Unvernunft Einhalt und verhindert den Mord. Was für Barthes das Bild war, „der TOD in Person“ 9 , ist für Lévinas das Gesicht: „Wir begegnen dem Tod im Angesicht des Anderen.“ 10 – „Der Tod macht für das Angesicht des Anderen empfänglich, Ausdruck des Gebotes: ‚Du wirst nicht töten.‘“ 11 – „Zugleich ist das Antlitz das, was uns verbietet, zu töten.“ 12 Doch die Erfahrung des Holocaust, der vom abendländischen Humanismus nicht verhindert werden konnte, sät Zweifel, ob der Anblick des Antlitzes das Töten verhindert. Immerhin wurde bei Erschießungskommandos das Gesicht des Delinquenten mit einer Kapuze verhüllt, damit das Gesicht 8Siehe Peter Sloterdijk, „Pronoia, Paranoia, Metanoia. Bagatellen zur Kritik der schlimmen Vernunft“, in: Jürgen Klauke. Ästhetische Paranoia, hrsg. von Toni Stooss und Peter Weibel, Ostfildern: Hatje Cantz, 2010, S. 96–101 9Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 23 10Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit, hrsg. von Peter Engelmann, Wien: Passagen, 1996, S. 116 11Ebd., S. 117 12Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, hrsg. von Peter Engelmann, Wien: Passagen, 1986, S. 65 e e . t ? . . . ? .
verschwindet. Wenn wir nun nicht mehr face-to face kommunizieren, werden wir dann leichter töten? Wenn nun die Menschen statt von Angesicht zu Angesicht nur mehr von Vermummten zu Vermummten blicken, werden sie dann leichter töten? Die unethische Diskussion des Deutschen Ethikrats zur Triage legt diesen Schluss bereits nahe Die Krise des Gesichts schwelt schon lange in der Kunst, doch in Klaukes Fotoserie Antlitze bricht sie sich endgültig Bahn. In seiner frühen Phase der fotografischen Persona-Darstellungen, der inszenierten Fotos, hat scheinbar sein Gesicht eine zentrale Rolle gespielt. Aber ebenso haben Make-up und Masken, die er vom Gesicht auf den ganzen Körper ausdehnte, sein maskierter, mit Kostümen und Objekten besetzter Körper, seine objektzentrierten Körperaktionen schon immer eine Krise des Gesichts inszeniert. Diese Krise des Gesichts zeigt sich final im vermummten Gesicht, denn die Vermummung negiert das Gesicht. Die Maske löscht das Gesicht, das angeblich zentrale Humanum. Die Menschen laufen ohne Gesicht herum, heißt das ohne Menschlichkeit? Sie verhüllen ihr Gesicht, um sich vor einem unsichtbaren Feind zu schützen. Sie haben Angst. Die Angst geht um, die Angst vor einer Krankheit, die zum Tode führen könnte. Das Leben wird – aus Angst vor der „Krankheit zum Tode“ 13 – auf das biologisch Notwendige reduziert, auf das „nackte Leben“ 14 : Aus Angst, das Leben zu verlieren, vermummt sich der Mensch und opfert beziehungsweise verliert sein Gesicht. Das nackte Gesicht wird geopfert, um nicht das nackte Leben zu verlieren oder zu opfern. Was für ein Tausch: das nackte Gesicht gegen das nackte Leben. Die Vermummten zahlen den Zoll beziehungsweise Preis für das nackte Leben. Das nackte Gesicht wird verhüllt, das soziale und kulturelle Leben wird geschlossen, um das Tor zum nackten Leben offen zu halten. Die Angst legitimiert den Ausnahmezustand. Die Vermu mung, die Unsichtbarmachung des Gesichts, ist ein sichtbares Zeichen für die Herrschaft der Angst. Die Menschen werden seit jeher durch die Verbreitung von Angst und Schrecken in Schach beziehungsweise Gefangenschaft gehalten Ein weiteres Drama Sartres kann dem Verständnis der Gründe und der Funktion der Angst dienen. Im Drama Die Fliegen15 errichtet der Mörder Egisthe seine Diktatur mit den Mitteln der Angst. Fliegen symbolisieren die Angst. Oreste beendet das Schreckensregime, indem er die Fliegenplage beseitigt. Dadurch befreit er die Menschen von der Angst. Angstfrei sein ist der Anfang der Freiheit. Macht basiert darauf, dass die Menschen nicht wissen, dass sie eigentlich frei sind. Daher sind Phob kratie und Plagen seit ägyptischen Tagen ein wirksames Herrschaftsinstr ment. Die moderne Staatstheorie wurde von Thomas Hobbes mit der Herrschaft von Angst begründet. Als Levi than bezeichnet Hobbes in seinem Buch Leviathan16 ein gigantisches- Seeungeheuer, das den Menschen Angst einflößt und einflößen soll. Auf diesem Floß der Angst treibt der moderne Staat noch immer. Herrschaft durch Angst, Phobokratie, gilt heute wie damals. Nun ist das Virus aufgetaucht, ein Monster der Angst. Covid ist der neue Leviathan. Klauke analysiert diese sozialen und humanen Voraussetzungen der Angst, der Paranoia, des Todes mit neuen, von ihm erfundenen künstlerischen Mitteln. Der Tod des Gesichts ist der Fotografie immanent, aber auch 13Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode [1849]. München: R wohlt, 1969 14Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002 15Jean-Paul Sartre, Les Mouches, Paris: Gallimard, 1947. 16Thomas Hobbes, Leviathan [1651], Hamburg: Felix Meiner, 1996 . u a - o . m . o . .
schon, ohne dass sie es bemerkte, der Malerei. Die vermummten Antlitze sind der visualisierte Beweis für die These von Roland Barthes, Fotografie sei die Wiederkehr der Toten: „In der Phantasie stellt die PHOTOGRAPHIE […] jenen äußerst subtilen Moment dar, in dem ich eigentlich weder Subjekt noch Objekt, sondern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt; ich erfahre dabei im kleinen das Ereignis des Todes (der Ausklammerung): ich werde wirklich zum Gespenst. […] so sehe ich, daß ich GANZ und GAR BILD geworden bin, das heißt der TOD in Person […].“ 17 Die Antlitze zeigen: im Medienzeitalter wird jedes Ich zum Gespenst, zum Zombie, das nur durch Impla tate überlebt. Das „self-fashioning“ 18 der Renaissance setzt sich im Ich-Implantat fort. Gesichter sind heute nicht mehr Ausdruck der Identität, sondern das Reich der Ich-Implantate, und dieses ist das Reich der Gespenster, Zombies, Scheintoten, living deads. Die vermummten Gesichter in den Straßen und Medien veranschaulichen vielleicht den kommenden Zustand der Menschheit: living deads, marching morons.19 Die vermummten Gesichter sind die Vorzeichen einer Blindheit. Es handelt sich dabei um jene Blindheit gegenüber sich selbst, die bereits Denis Diderot in seinem Brief über die Blinden 20 thematisiert hatte. Die Menschen sind blind gegenüber sich selbst. Sie blicken in blinde, vermummte Gesichter. Jacques Derrida setzte in seiner be-rühmten Ausstellung Mémoires d’aveugle. L’autoportrait et autres ruines 21 ( Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbst-porträt und andere Ruinen ) diese Analyse von Diderot in die Gegenwart fort. Das Selbstporträt ist für Derrida eine Ruine wie das Selbst. Die Vermummten sind Ruinen ihrer selbst Diedrich Diederichsen hat recht, wenn er in „Permanenz der Projekte – Selbstdarstellbarkeit und Transformierbarkeit“ 22 feststellt, ein „entscheidendes Phänomen“ in Klaukes Kunst ist der „Einsatz seines Gesichts“, zum Beispiel in Physiognomien (1972/73 und 1974/75). In der Tat, von Anfang an arbeitet Klauke in seinen fotografischen und performativen Werken mit seinem Gesicht, aber mit der Absicht, das Gesicht zu diskreditieren. Er stellt das Gesicht zur Schau, um es bloß zu stellen. Von Anfang an dominiert die Kritik des Gesichts. Das Gesicht wird als Maske demaskiert, mit einem Furor, der an Gilles Deleuze und Felix Guattari erinnert, die im Abschnitt „Das Jahr Null. Die Erschaffung des Gesichts“ ihres Buches Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (1980) schreiben: „Das Unmenschliche im Menschen, das ist das Gesicht von Anfang an […]. Wenn der Mensch eine Be-stimmung hätte, so bestünde sie wohl darin, dem Gesicht zu 17Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S. 23 18Stephen Greenblatt, Renaissance self-fashioning: from More to Shake peare, Chicago [u. a.]: Univ. of Chicago Press, 1980 19Cyril M. Kornbluth, „The Marching Morons“, in: Galaxy Science Fiction, Volume 2, No. 1, Amsterdam: World Editions Inc., April 1951 20Denis Diderot, Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient [1749], Paris: Gallimard, 2004 21Jacques Derrida, Mémoires d’aveugle. L’autoportrait et autres ruines, Paris: Réunion des Musées Nationaux, 1990 22Diedrich Diederichsen, „Permanenz der Projekte. Selbstdarstellbarkeit und Transformierbarkeit“, in: Absolute Windstille. Jürgen Klauke – das fotografische Werk, hrsg. von Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, 2001, S. 272 . . s n . . . . .
entkommen […]. Ja, das Gesicht hat eine große Zukunft, aber nur, wenn es zerstört und aufgelöst wird.“ 23 Deleuze und Guattari sehen also im Gesicht nicht das Menschliche, sondern im Gegenteil das Unmenschliche. Die Krise des Gesichts führt im 20. Jahrhundert zur Auflösung und Ablehnung des Gesichts. In einigen seiner berühmtesten Arbeiten wie Grüße vom Vatikan (1976) hat Klauke auf die Quelle dieses Furors blasphemisch wie die Surrealisten hingewiesen: die katholische Kirche und ihre Repressionen des Leibes und der Sinne Müssen wir uns dem Gesicht entziehen, weil der Kult um das Gesicht zu einem vom Christentum hervorgebrachten Phänomen gehört? Um das „wahre Gesicht“ (vera facies), dem Hans Belting ein außerordentliches Buch gewidmet hat, herrscht ein regelrechter Kult.24 Während für die Griechen der Begriff „Person“ noch die Bedeutu gen „Gesicht“ und „Maske“ umfasste, wurde im Latein schen differenziert und unter persona nur noch der Begriff „Maske“ subsumiert. Das lateinische Wort persona wird abgeleitet von per- sonare (durchklingen, durchtönen), denn der Schauspieler, der sein Gesicht hinter einer Maske verbirgt, wirkt noch mit seiner Stimme.25 Das Gesicht ist demnach ein kulturelles Phänomen, es ist nichts Natürliches. Jedes Gesicht ist eine Maske, jede Person ist nur persona. Persona heißt auch ein Film von Ingmar Bergmann über Identitätstausch aus dem Jahr 1966. Personae 26 (1909) lautet auch der Titel einer berühmten Gedichtsammlung von Ezra Pound, denn auch Pound hat es sich versagt, mit einer einzigen, angeblich wahren Stimme zu sprechen. Er kennt weder eine wahre Stimme noch ein wahres Gesicht. Daher spricht er stattdessen mit den Stimmen vieler Kulturen und vieler Personen in seinen Cantos Klauke verabschiedet sich vom religiösen Kult des Gesichts. Die Porträtmalerei hat die sakrale Ikone säkularisiert. Klauke geht einen Schritt weiter: er profaniert die Porträtmalerei. Mit seinen inszenierten Fotos stellt er Persona her, keine „wahren Gesichter“, sondern zeigt Gesichter als deformierte Masken sozialer und geschlechtlicher Rollen. Person und Gesicht, Subjekt und Antlitz haben eine arbiträre Beziehung. Das Antlitz, so Klauke, ist keine Antwort und kein Garant für die Menschlichkeit. Antlitze übernehmen – anders als von Lévinas erhofft – keine Verantwortung, sondern sind Masken. Das Gesicht ist im doppelten Sinne kein kreatürlich-natürliches Element: Es repräsentiert nicht das Subjekt, die Instanz, die „Ich“ sagt, es repräsentiert aber auch nicht einen Schauspieler, denn Künstler und Darsteller sind ja derselbe Jürgen Klauke. Das Paradox über den Schauspieler (1770–1773) von Denis Diderot beschreibt das Paradox des europäischen Subjektbegriffs. Das Subjekt formiert sich, gemäß Lacan, im Bilde des Spiegels, also an der Persona, am Schauspieler, am Darsteller, um Person zu werden. Maskierte und Vermummte formieren sich aber in einem verzerrten Spiegel. Ist das Ergebnis dann ein verzerrtes oder gelöschtes Subjekt Wider eine jahrhundertealte Tradition der religiösen Verherrlichung des Gesichts in der Porträtmalerei und -fotografie offenbart Klauke die verdrängte Krise des Gesichts im 20. Jahrhundert. Er unterminiert buchstäblich den Glauben an das Gesicht. Indem er das Gesicht verschleiert, maskiert, vermummt, zerreißt er den sakralen Schleier, der das Gesicht hofiert. Angesichts der barbarischen Verstümmelungen, die Menschen anderen Menschen antun, sind die Andachtsübungen um das menschliche Antlitz blanker, nackter, unmenschlicher Hohn. Die vielfältige Zerstörung des Humanum im 20. Jahrhundert spiegelt als visuelle Antwort die Zerstörung des Gesichts (als Ort des Humanen) und die Zerstörung des Gesichts spiegelt sich in 23Gilles Deleuze, Félix Guattari, „Das Jahr Null. Die Erschaffung des Gesichts“, in: dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve, 1992, S. 234f 24Vgl. Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München: C. H. Beck, 2005 25Ebd., S. 75 26Ezra Pound, Personae, London: Elkin Mathews, 1909 . . n . . . ? i .
der Vermummung. Die Vermummten sind daher die eigentlichen und wahren Gesichter des kommenden Jahrhunderts Die Anbetung des Gesichts durch Porträtmalerei und Porträtfotografie, seien es Selbst- oder Fremdbildnisse, die dem Gesicht in der Geschichte der Malerei eine Schlüsselstellung einräumt, haben die Massenmedien fortgesetzt. Das Faszinosum des Gesichts hat sich durch die Massenmedien, von den Illustrierten bis zum Film, noch gesteigert. Die Faszination beginnt mit der Ve ewigung des eigenen Gesichts als Bild. Nachdem das reale Gesicht, da seine Lebenszeit begrenzt ist, früher oder später verfällt, war es eine unerhörte und höchst privilegierte Anmaßung beziehungsweise Behauptung der Fürsten und Könige, Kardinäle und Bischöfe, sie könnten im Bild ewig leben. Im Individualporträt wurde die neuzeitliche Erfindung des Subjekts beziehungsweise des Individuums nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern auch zelebriert und zementiert. Der Vergänglichkeit des Körpers wurde die Unvergänglichkeit des Bildes gegenübergestellt. Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray (1890) beruht auf einer hübschen Axiomatisierung dieses Sachverhalts. Wilde zeigt: Das Porträt ist die säkulare Mumifizierung des Selbst im Bilde. Hier, in dieser Erkenntnis, zeigt sich schon der Ansatz von Klauke. Die „Vermummten“ sind Ausdruck der Krise des Gesichts, die im Porträt selbst schon angelegt ist: das Porträt ist die Mumifizierung des Selbst. Das Porträt ist also in Wirklichkeit schon ein Vermummen beziehungsweise Mumifizieren. Klaukes „Vermummte“ sind also nur die extrem logische Konsequenz einer jahrhundertelangen Geschichte des Gesichts Klauke folgt in seiner Kritik des Porträts Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Hegel widmete in seinen Vorlesungen über die Ästhetik (ab 1800) einen berühmten Abschnitt dem Porträt. Er lobte das Porträt und führte aus, dass die Linien von Stirn, Nase etc. zum System des Geistigen ge-hören und den Charakter einer geistigen Individualität hervortreten lassen. Beim Porträt geht es also um die Wahrheit des Ausdrucks und des besonderen Daseins, das heißt um den geistigen Ausdruck. Hegel zufolge muss der geistige Charakter (das „ideale Modell“) das Überwiegende und das Hervortretende sein. Wenn dies gelingt, ist das Porträt „dem Individuum ähnlicher als das wirkliche Individuum selbst“ 27, so lautet die berühmte Form lierung. In Hegels negativer Ästhetik ist das Bild der Person der realen Person ähnlicher als die reale Person. Die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage muss man sich einmal vor Augen halten: Ein Bild kann dem Individuum ähnlicher sein als das wirkliche Individuum selbst. Dieses Hegel’sche Diktum gilt heute im Zeitalter der Medien und der plastischen Chirurgie mehr denn je. Das Selbst folgt dem Diktat des Bildes. Man lässt sich operieren, damit man so wahrgenommen wird, wie man möchte, dass einen andere wahrnehmen. Die Selbstnachahmung auf der Grundlage eines Bildes wird ident mit der Fremdwah nehmung und -nachahmung. Das Selbst inszeniert sich für andere, wird das Selbst der anderen. Daher opfert man das Selbst dem Bild beziehungsweise das Gesicht der Maske. Wer sich sehen lassen will, inszeniert sich als Bild. Die Kunst, sich geltend zu machen, gelingt als inszeniertes Selbst. Person-Sein kann in der Mediengesellschaft nur mehr als Persona-Sein funktionieren. Man stellt sich als Bild her und richtet sich nach dem Bild, das man wünscht, Andere mögen es von einem haben. Die Porträts von Vermummten sind also ein radikaler Akt der Verweigerung, sich nach einem Bild zu richten, am allerwenigsten nach dem Bild anderer. Das vermummte Gesicht zeigt den Abgrund und die Nacht des Gesichts. Das vermummte Gesicht beziehungsweise Porträt ist das Zeichen einer Gesellschaft, die gesichtslos ist. Wenn das Gesicht der Gesellschaft sich im menschlichen Gesicht spiegelt, was ist dann eine gesichtslose Gesellschaft? Ist eine Gesellschaft von gesichtslosen Menschen menschenlos beziehungsweise unmenschlich? Nähert sie sich der Leblosigkeit? Ist das Gesicht als Selbstausdruck eines lebenden Menschen noch ein Gesicht, wenn der Mensch tot ist? Ist dann das Gesicht endgültig nur mehr eine Maske, nämlich eine Totenmaske? Sind die vermummten Antlitze Totenmasken light? Antonin Artaud hat in seinem Text „Le 27Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 3, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990, S. 104 . . r . r u
visage humain“ 28 1947 genau diese Frage ge-stellt und geantwortet, dass „die Züge des Gesichts nicht wirklich, nicht wahr, nicht echt sind.“ „Das menschliche Antlitz, so wie es ist, sucht sich noch selbst. Es trägt eine Art beständigen Tod in sich, von dem es der Maler retten muss, indem er ihm seine wahren Züge zurückgibt.“ 29 Die Krise des Gesichts begann in dem Augenblick, in dem es in den Verdacht geriet, auch nur eine Maske zu sein, die man aufsetzt oder verliert, wie die Redewendu gen „ein Gesicht aufsetzen“ oder „sein Gesicht- verlieren“ nahelegen. Das Gesicht übernimmt die Funktion einer Maske, damit ihr Träger eine bestimmte soziale Rolle einnehmen kann. Das Gesicht ist Zeichen der Person und die Maske spiegelt die soziale Rolle der Person. Jeder Mensch hat daher ein Gesicht und eine Maske beziehungsweise Gesicht und Maske sind ident. Auf der sozialen Bühne ist jeder ein Schauspieler, wie wir von Shakespeare wissen. Der Spieler trägt eine Maske, durch die seine Stimme hörbar ist, durchtönt (per-sonare), durchdringt. Jeder Mensch braucht eine Maske, um auf der sozialen Bühne seine Stimme erheben zu können und zur Geltung zu bringen. Die Demokratie ist die Bühne der freien Wahl der Stimmen und Masken. Daher hat in der Demokratie jeder ein Anrecht auf eine Maske. So hieß schon ein Versprechen der Renaissance: „sua cuique persona“ (jedem seine Maske), wie auf dem Schiebedeckel eines Porträts von 1510 steht, das Ridolfo del Ghirlandaio zugeschrieben wird. Der Schiebedeckel zeigt eine Maske und man vermutet unter der Maske ein Gesicht. Aber wer den Deckel entfernt, sieht wieder eine Maske und kein Gesicht. Klauke ist diesem Leitspruch immer gefolgt, er zeigte Masken statt Gesichter und Masken unter den Masken. Heute, im Zeitalter der Corona-Pandemie, muss jeder eine Maske tragen. Maskenwahl wird zu Maskenzwang – ist aus dem Versprechen der Renaissance und Demokratie ein Diktat geworden? Zwei Menschen geben darauf Antwort, die unter patriarchalischen beziehungsweise kolonialen Bedingungen ihre Stimme und ihr Gesicht nicht verlieren wollten. Beide sind als Theoretiker der Maske von enormer Aktualität. Die lesbische Feministin und Anti-Faschistin jüdischer Ab-stammung Lucy Schwob, die eine Zeitlang dem Surrealismus nahestand, hat für die Kunst des 20. Jahrhunderts und das Medium der Fotografie Entscheidendes geleistet, indem sie ihr fotografisches Œuvre, ihre Selbstporträts, auf Masken aufbaute, und seit 1917 unter dem männlichen Namen Claude Cahin publizierte, oft mit Texten ihrer Lebensgefährtin Suzanne Malherbe alias Marcel Moore. In zahlreichen Selbstporträts und Fotomontagen hat sie unter steter Verwendung vieler Masken das Subjekt als Sprachspiel jenseits der normierten Geschlechterrollen und als multiples Selbst inszeniert (z. B. in ihrem Buch Aveux non avenus, Paris: Editions du Carrefour, 1930). Sie zeigte kein wahres Ich. Sie zeigte nur Persona. In der patriarchalischen Gesellschaft konnte sie nicht anders überleben. Ein weiblicher Mensch wird in einer patriarchalischen rassistischen Welt gezwungen, sich selbst zu verleugnen beziehungsweise zu entfremden, um inkludiert werden zu können. Eine ähnliche Diagnose stellt Frantz Fanon. Diese schizoide Struktur des Subjekts unter den politischen Bedingungen in Europa, nämlich rassistisch, kolonialistisch, hat der in der französischen Kolonie Martinique geborene Frantz Fanon in seinem Buch Schwarze Haut, weiße Masken30 1952 erhellend beschrieben. Ein farbiger Mensch wird in einer weißen Gesellschaft in eine neurotische Situation geworfen und gezwungen, eine weiße Maske anzunehmen, um der eigenen Entfremdung, der entfremdeten Selbstwahrnehmung als „kolonialistisches Subjekt“ zu entkommen und durch eine maskierte Subjektkonstruktion die Anerkennung 28Antonin Artaud, „Le visage humain“, in: Œuvres, Paris: Galerie Pierre, 1947, S. 1534 29Antonin Artaud, zit. nach: Hans Belting, Faces – Eine Geschichte des Gesichts, München: C. H. Beck, 2013, S. 115 30Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken (Peau noire, masques blancs), Paris: Seuil, 1952 n . . .
der weißen Gesellschaft zu gewinnen. In seinem Hauptwerk Die Verdammten der Erde31 von 1961 ruft er daher auf: „Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft.“ Sind daher die Vermummten die neuen Verdammten dieser Erde? Leben wir nicht noch immer in einem Europa, das nicht aufhört, vom Ge-sicht zu reden und Gesichter zu malen beziehungsweise zu fotografieren, und dabei das Gesicht verstümmelt und vermummt, wo immer es kann Das Renaissance-Versprechen „jedem seine Maske“ wur-de zur Schizo-Maske des Kapitalismus und- Kolonialismus und schließlich des Überwachungs- und Kontrol staates. Das Versprechen wurde zur Verpflichtung der Vermummung zur totalitären Maske. Die Vermummten sind vielleicht die eigentlichen Gesichter der modernen Welt: Antlitze ohne Gesicht, Ruinen des Selbst Es gibt ein weiteres Bild am Ende des 16. Jahrhunderts, von dem wir Heutigen lernen können, nämlich einen Kupferstich von Agostino Carracci, Porträt des Komödianten Giovanni Gabrielli, genannt „Il Sivello“ von 1599. Es zeigt den Schauspieler mit einer Maske in der Hand und dem Motto „solus instar omnium“ (als Einzelner allen gleich). Damit ist wahrscheinlich ursprünglich die Verwandlungsfähigkeit gemeint, die damals üblich war, nämlich dass durch Maskenwechsel die vielen Rollen eines Theaterstückes mit zwei bis drei Schauspielern besetzt werden konnten, wobei männliche Akteure auch weibliche Rollen spielen konnten.32 Im Altgriechischen heißt Maske „prosopon“. Damit ist gemeint „das, was den Augen (eines anderen) gegenüber ist“. Diese Definition gilt aber auch für das Gesicht, das Antlitz. Gesicht heißt also nichts anderes als das Gesichtete, das, was den Augen gegenüber ist, egal ob Maske oder Gesicht. Doch wenn das Gesicht hinter der Vermummung verschwindet, was wird dann gesichtet? Nur die anonymisierende Maske? Insofern war das Motto „solus instar omnium“ hellsichtig. Frei übersetzt heißt es nämlich: „Einer gleicht allen“. Durch die Vermummung werden wir alle gleich, gibt es keinen Einzelnen, keine Individuen mehr. Man muss sich daran erinnern, das Wort Individuum kommt von „dividere“ (lateinisch: teilen). Das Individuum ist also das Unteilbare, das soziale „Atom“, was auf Griechisch auch so viel wie „unteilbar“ heißt. Läutet also die globale Vermummung das Ende des Individuums und der Individualität ein, wie wir sie seit 500 Jahren kennen? Homogenisiert die Vermummung die Gesellschaft in Menschen, die alle gleich sind Klauke verweist deshalb auf die Vermummten als „Antlitze“, um vor der anonymisierenden, gesichtslosen, homogenen Gesellschaft zu warnen. Klauke sagt nicht wie Arthur Rimbaud, der Herald der Moderne: „Das ist ein Anderer“, sondern er sagt mit seiner Kunst: „Ich sind viele. Ich sind viele Masken. Keiner gleicht keinem“. Ich+Ich hieß bereits 1970 eine Fotosequenz über multiple Identitäten. Ansonsten ist Ich ein Desaster- Feld, siehe die Arbeit Desaströses Ich (1995–1997). Klaukes Werk Antlitze ist apokalyptisch wie Heinrich von Kleists Essay „Über das Marionettentheater“ (1810): der Mensch als letztes Kapitel der Geschichte der Welt. Die Krise des Gesichts gipfelt in der Verhüllung und Vermummung des Gesichts. Die Vermummung ist die finale Maske. Die Maske wird zur Totenmaske. Die Antlitze ohne Antlitz sind vielleicht ein Requiem auf die Gattung Mensch. Die Vermummten sind vielleicht die Gesichter des Totentanzes der heutigen Welt, die Totenmasken der aktuellen Gesellschaft Sind die vermummten Gesichter Mumien? Endet die Ge-schichte des Menschen mit dem Ende der Geschichte des Gesichts? Was bedeutet das, wenn die Gesichter Masken der Vermummung sind – ist dann das Humanum tot? Allenthalben vermummte Menschen: die Nacht des Gesichts hat sich auf die Menschen gesenkt. Die „Nacht der Welt“ (Hegel) wird durch die Nacht des Gesichts sichtbar. 31Frantz Fanon, Die Verdammten der Erde (Les damnés de la terre), Paris: Maspero, 1961 (neu erschienen bei La Découverte et Syros, Paris 2002) 32Richard Weihe, Die Paradoxie der Maske: Geschichte einer Form, München: Wilhelm Fink, 2004 . l . . ? ? .
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