Die Lage im Sahel Konsequenzen für das internationale Engagement - Thomas Schiller
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Quelle: © Eric Gaillard, Reuters. Die Lage im Sahel Konsequenzen für das internationale Engagement Thomas Schiller Auslandsinformationen online
Die Sahelregion steht nunmehr seit mehreren Jahren im Fokus der europäischen und deutschen Außen-, Sicherheits- und Ent- wicklungspolitik. Trotz eines erheblichen Engagements der internationalen Staatengemeinschaft seit der erfolgreichen französischen Militäroperation Serval gegen terroristische Gruppen in Mali im Januar 2013, hat sich die Sicherheitslage jedes Jahr weiter verschlechtert. Nicht allein dschihadistische Vereinigungen wie G SIM und E IGS1 tragen zu dieser instabilen Lage bei, sondern auch lokal geprägte, in Teilen ethnische Konflikte, bewaffnete Milizen und organisierte Kriminalität. Was sind die Hintergründe dieser sich verschärfenden Lage und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die europäische und deutsche Unterstützung der Sahelstaaten2? Die Lage Nicht allein die Zivilbevölkerung ist betroffen, sondern vor allem auch die Sicherheitskräfte Die Zahlen sind eindeutig: In fünf Jahren, von der Staaten sind direkte Ziele der terroristischen 2014 bis 2019, verzeichnen die Daten von Gruppen. Ihr Ziel ist die Schaffung staatsfreier ACLED, einer auf die Analyse von Konflikten Räume und die Errichtung eigener, parastaatli- spezialisierten N GO, einen drastischen Anstieg cher Strukturen. In vielen Regionen gibt es entwe- politischer Gewalt im Sahel. Allein zwischen der überhaupt keine oder nur noch eine geringe, 2018 und 2019 hat sich die Opferanzahl in der auf einige zurückgezogene Posten beschränkte Region auf über 5.360 verdoppelt.3 Und dies Präsenz der Sicherheitskräfte. Die Opferzahlen sind nur die bekannten und – soweit dies in der in den Reihen von Armee, Gendarmerie und Region überhaupt möglich ist – bestätigten Opfer. Polizei sind hoch. Ein Beispiel aus Mali: Allein Aus Gesprächen mit Flüchtlingen aus dem Zent- die Attacke auf das Militärcamp im nordöstli- rum Malis oder mit lokalen Politikern der Region chen Indelimane Anfang November 2019 kos- Tillabéri in Niger ergibt sich die begründete Ver- tete mindestens 49 Soldaten das Leben. Nach mutung, dass die direkten und indirekten Opfer- Einschätzung von Sicherheitsexperten sind die zahlen der Gewalt im Sahel noch höher sein Verlustraten der malischen Armee, im Verhältnis dürften.4 Hauptbetroffene der instabilen Lage zu den sich im Feld befindlichen Streitkräften, sind Zivilisten. Direkt als Opfer von Angriffen extrem hoch. Die Attacken auf Militärcamps auf Dörfer oder indem sie zur Flucht gezwungen und Polizeistationen in Burkina Faso, Mali und werden oder weil ihnen die Lebensgrundlagen Niger in 2019 (unter anderem In-Atès, Chinego- entzogen werden. Bauern können ihre Felder dar, Indelimane) haben nicht allein gezeigt, dass nicht mehr bestellen, Viehzüchter verlieren ihre terroristische Gruppen in der Lage sind komplexe Herden durch Raub oder zumindest Teile davon und aufwendige Angriffe durchzuführen, sondern als „Abgaben“ an bewaffnete Gruppen. Indirekt leider auch die Unfähigkeit der Streitkräfte der führt die Unsicherheit dazu, dass Märkte nicht Region selbst befestigte Stellungen ausreichend mehr öffnen bzw. viele Menschen diese nicht zu sichern und zu verteidigen. Insbesondere mehr erreichen können. Durch die Schließung die Streitkräfte Malis und Burkina Fasos sind in zahlreicher Schulen in den betroffenen Regionen einem beklagenswerten Zustand, und dies trotz erodiert selbst die ohnehin geringe Basis für Bil- massiver Unterstützung vor allem der malischen dung und Ausbildung. Sicherheitskräfte seit mehreren Jahren. Nr. 21 (Mai 2020) 2
Weite Gebiete der Staaten Burkina Faso, Mali Gewalt. Lokale, traditionelle Autoritäten wie und Niger sind längst nicht mehr unter Kont- Dorfchefs und religiöse Führer werden entweder rolle des Staates. Dies betrifft unter anderem nicht länger akzeptiert oder sind Ziel der terroris- den Norden und das Zentrum Malis, den Nor- tischen Gruppen. Mit dieser Entwicklung bricht den und Osten Burkina Fasos oder den Nord- ein weiterer Stabilitätsfaktor in vielen Gebieten westen Nigers. In diesen Regionen haben sich weg. terroristische Gruppen festgesetzt, aber auch Selbstverteidigungsmilizen haben sich gebildet, Ein hochkomplexes und überaus gefährliches oftmals auf ethnischer Basis. Diese Milizen, wie Problem entsteht durch die Beteiligung von Mit- z. B. die sogenannten Koglweogo in Burkina Faso, gliedern der Volksgruppe der Peul in einer Viel- sind oftmals lokal stark verankert und ersetzen zahl terroristischer Gruppen. Diese Volksgruppe den Staat. Die Selbstverteidigungsgruppen lebt in Westafrika von Guinea und Senegal im richten sich entweder gegen die Bedrohung Westen bis hin nach Nigeria und dem Tschad. durch Terroristen oder existieren – wie die Kogl- Viele Peul sind traditionell Viehzüchter und weogo – schon seit längerem zur Herstellung treiben teilweise bis heute ihre Rinderherden von Ordnung und Recht gegenüber Kriminellen über tausende Kilometer durch Westafrika. Der in Regionen, in denen der Staat nicht präsent ist aktuell prominenteste Peul dürfte wohl Amadou oder als unfähig gilt. Beispielhaft für diese Ent- Koufa, Gründer der Katiba Macina im Zentrum wicklung steht auch die Miliz der Volksgruppe Malis, sein.7 Amadou Koufa ist mittlerweile der Dogon „Dan Na Ambassagou“ im Zentrum einer der prominentesten Führer der al-Qaida Malis. Dieser Miliz werden Übergriffe gegen die nahen Gruppierung G SIM. Für viele Menschen Volksgruppe der Peul5 vorgeworfen, sie selbst in der Region sind damit die Peul Verbündete sieht sich jedoch als Schutzmacht der Dogonbe- der Terroristen. Ein gefährliches Amalgam, wird völkerung gegen die terroristischen Gruppen und damit doch eine gesamte Volksgruppe unter den andere Banditen. Ein Beschluss der malischen Generalverdacht der Sympathie mit terroristi- Regierung zur Auflösung der Dogonmiliz nach schen Gruppen gestellt, was mit Blick auf ihre dem Massaker im zentralmalischen Dorf Ogos- Siedlungsgebiete in ganz Westafrika ethnische sagou verpuffte wirkungslos, hat die Regierung Konflikte weiter befeuern könnte. Leider wird doch keine Möglichkeiten – und nach Auffassung diese Verallgemeinerung mit Blick auf die Peul einiger Beobachter – auch nicht den Willen, die auch in Europa wiederholt.8 Auflösung durchzusetzen.6 Die Bedeutung der lokalen Konflikte kann für Seit mehreren Jahren haben sich vor diesem den Umfang der Instabilität in der Region nicht Hintergrund lokale und ethnische Konflikte wei- überschätzt werden. Viele terroristische Gruppen ter verschärft und verkomplizieren die Situation nutzen diese Konflikte geschickt aus. Durch die weiter. Viele dieser lokalen Konflikte bestehen Abwesenheit des Staates oder den schlechten seit langem, unterschwellig oder offen. Allerdings Ruf, den dieser genießt, stellen sie sich – oder konnten in früheren Jahren Konflikte oftmals andere Milizen – als verlässliche Ordnungshüter durch lokale Autoritäten eingehegt werden. Die dar. Die Abwesenheit des Staates in vielen Regi- aktuelle Verschärfung ergibt sich durch die Instru- onen ist jedoch kein neues Phänomen. Seit ihrer mentalisierung dieser Konflikte durch bewaffnete Unabhängigkeit ist es den meisten Sahelstaaten Gruppen – nicht allein Terroristen – und teilweise nie gelungen, die volle Kontrolle über ihr Territo- auch seitens des Staates sowie durch die zuneh- rium auch wirklich auszuüben und ihre staatliche mende Verbreitung von Waffen, die Auswirkun- Präsenz überall zu verstetigen. Mit Blick auf die gen des demografischen Wachstums und der riesigen Räume, die defizitäre Infrastruktur und damit verbundenen Perspektivlosigkeit junger die geringen Ressourcen dieser Staaten ist dies Menschen sowie dem Aufbrechen traditioneller auch nicht verwunderlich. Spätestens seit dem Führungsstrukturen. Gerade Letzteres spielt eine Beinahezusammenbruch Malis 2012/2013 und nicht unerhebliche Rolle bei der zunehmenden dem Sturz des langjährigen Staatschefs Blaise 3 Auslandsinformationen online
Compaoré in Burkina Faso 2014 hat sich dieser Parallel dazu wurde die Entwicklungszusammen- Kontrollverlust weiter verstärkt. arbeit für den Sahel ausgeweitet. Deutschland beteiligte sich – zum ersten Mal in Westafrika – in Die Ursachen der aktuellen Krise des Sahel rei- erheblichem Umfang, sowohl bei der E UTM als chen also weit zurück und haben viel mit der Fra- auch der MINUSMA. gilität der Staaten der Region zu tun. Die prekäre Sicherheitslage ist keineswegs eine bloße Kon- Der Fokus der internationalen Gemeinschaft sequenz der Aktivitäten terroristischer Gruppen. war ganz klar und nahezu ausschließlich auf Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass einerseits die Mali gerichtet, einzig die französische Anti meisten ursprünglichen Anführer der dschihadis- terroroperation Barkhane hatte immer schon tischen Gruppen ursprünglich aus dem Norden, einen sahelweiten Ansatz. Auch die deutsche aus dem damaligen Bürgerkriegsland Algerien, Öffentlichkeit nahm und nimmt bis heute den nach Nordmali ausgewichen sind und anderer- Konflikt in der Sahelzone als Einsatz in Mali wahr. seits der Zusammenbruch Libyens nach dem Mag dies mit Blick auf die auf Mali beschränkte Sturz des langjährigen Diktators Gaddafi 2011 Beteiligung der Bundeswehr in den beiden Missi- eine wesentliche Rolle beim Aufbau und der onen EUTM und M INUSMA begründet erschei- Bewaffnung der zahlreichen bewaffneten Grup- nen, so entspricht es nicht der Realität in einer pen im Norden Malis 2012 gespielt hat. Diese Region, in der Grenzen wenig bedeuten. Kombination aus externen und internen Faktoren hat das Pulverfass Sahel explodieren lassen. Dieser enge Blick auf Mali erstaunt umso mehr, als bereits 2014 die Staaten Burkina Faso, Mali, Die Internationale Gemeinschaft ist spätestens Mauretanien, Niger und Tschad das Staatenbünd- seit 2013 in erheblichem Umfang in der Region nis G5 Sahel ins Leben riefen. Das erklärte Ziel engagiert. Nachdem 2012 terroristische Gruppen war die Stärkung von Entwicklung und Sicherheit die Separatistenmilizen einiger Touareg-Grup- in der Region. 2015, im Zuge der Migrationskrise pen beiseitegeschoben hatten und im Norden und den Bildern von illegalen Migranten an den Malis, in Timbuktu und Gao, ihre Herrschaft Stränden des Mittelmeers in Libyen, rückte Niger etablieren konnten, kam es in Malis Hauptstadt als Drehkreuz der sogenannten zentralen Mittel- Bamako zu einem Putsch der Armee. Es folgte meerroute in den Blickpunkt, auch in Deutsch- eine chaotische Situation in einem ohnehin land. Aber noch bis vor Kurzem wurde – vor schwachen Staat. Die Entscheidung des französi- allem in der Wahrnehmung in Deutschland – das schen Staatspräsidenten François Hollande, den Engagement in Mali und Niger als quasi komplett drohenden Vormarsch terroristischer Gruppen voneinander getrennt betrachtet: hier Stabilisie- aus dem Norden Malis Richtung Süden mit dem rung und Antiterrorkampf, dort Entwicklung und Einsatz eigener Truppen zu verhindern, führte im Management der illegalen Migrationsströme. Vie- Januar 2013 zur erfolgreichen Operation Serval. len Kennern der Region war jedoch mit Blick auf In der Folge versuchte die internationale Staa- die Fragilität der Staaten, die Unterentwicklung tengemeinschaft den als innermalischen Nord- und die riesigen Räume seit Langem klar, dass Süd-Konflikt begriffenen Ursprung der Krise die Instabilität den gesamten Sahelraum betrifft. diplomatisch durch das im Jahr 2015 unterzeich- Heute stehen vor allem die drei Staaten des zen- nete Abkommen von Algier zu lösen. Zugleich tralen Sahel – Burkina Faso, Mali und Niger – ins- wurden der Kampf gegen die terroristischen gesamt vor einer desaströsen Situation. Gruppen durch Frankreich nahtlos mit der Ope- ration Barkhane fortgeführt, eine VN-Mission Welche Schlussfolgerungen zur Umsetzung des Friedensabkommens und zur sind daraus zu ziehen? Stabilisierung Malis (MINUSMA) geschaffen und mit EUTM Mali, EUCAP Sahel Mali und EUCAP Der Fokus der internationalen Gemeinschaft auf Sahel Niger Trainings- und Beratungsmissionen den Terror bzw. die terroristischen Gruppen trifft zur Stärkung der Sicherheitskräfte aufgesetzt. also nur einen Teil des Problems der Instabilität Nr. 21 (Mai 2020) 4
in der Region, gewissermaßen mehr eines von Diese Komplexität der Lage wird, so scheint vielen Symptomen als die Ursache. Der französi- es, auch heute noch nicht wirklich erkannt. Die sche Experte Mathieu Pellerin bringt die aktuelle größte Bedrohung der Sicherheit geht zwar aktu- Lage mit Blick auf die sogenannten dschihadis- ell sicherlich von den terroristischen Gruppierun- tischen Gruppen auf den Punkt: Der Dschiha- gen aus, aber die größte Bedrohung der Stabilität dismus im Sahel sei vor allem glocal und müsse in der Region bleiben die fragilen staatlichen verstanden werden „[…] nicht prioritär als eine Strukturen verbunden mit Armut und Perspektiv gleichförmige Bewegung religiöser Natur, son- losigkeit einer extrem jungen und weiter wach- dern als Agglomeration lokaler aufständischer senden Bevölkerung. Brennpunkte, die sich aus teilweise sehr alten gesellschaftlichen, politischen oder ökonomi- Vor diesem Hintergrund konzentriert sich schen Spaltungen speisen.“9 das internationale militärische und politische Engagement entweder auf die Bekämpfung des Die Konflikte in der Sahelregion lassen sich daher Symptoms Terrorismus oder versucht die Leere, nicht auf einen simplen Antiterrorkampf reduzie- die die Staaten in vielen Bereichen lassen, zu ren. Bei der Lösung des Problems kann daher, um füllen. Aber weder kann die Operation Bark- nur ein Element der klassischen Strategie gegen hane langfristig die nationalstaatlichen Sicher- religiös motivierten Terror zu nennen, eine Dera- heitskräfte ersetzen, noch können beispielsweise dikalisierung von Terroristen oder Sympathisan- internationale Akteure wie die MINUSMA auf ten nur ein sehr kleiner Bestandteil sein. Denn Dauer die Funktionen übernehmen, die vor allem nahezu alle Experten sind sich einig: Der religiöse die Staaten der Region selbst ausfüllen müssen. Faktor spielt im Sahel nicht die zentrale Rolle im Die Hoffnung, die man mit Beginn des internati- Zulauf der terroristischen Gruppen. Islamischer onalen Engagements 2013 hatte, dass die Staaten Fanatismus mag bei einigen Rekruten eine Rolle der Region – unterstützt und geschützt durch die spielen, insbesondere bei den Führungskadern, internationale Gemeinschaft – schrittweise ihre aber nur eine untergeordnete Rolle bei der Masse zentralen Aufgaben selbst übernehmen können, der Angehörigen von G SIM oder E IGS.10 Häufig erwies sich als Illusion. Die Analyse des französi- wird nicht nur bei der Rekrutierung von Terro- schen Generalstabschefs François Lecointre mit risten die Vielschichtigkeit der Motivationslagen Blick auf Mali fasst dies gut zusammen: „Unser übersehen. Gleiches gilt auch für die lokalen Kon- Optimismus wurde enttäuscht und Barkhane flikte, die oftmals allzu sehr vereinfacht werden. wurde nicht begleitet durch eine Rückkehr des So trifft beispielsweise der vielfach beschriebene Staatsapparats und der Erneuerung der Streit- Konflikt zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern kräfte, vor allem der malischen. Zudem fand in diesem schematischen Kain-und-Abel-Bild die konkrete Umsetzung des Friedens- und gar nicht zu. Im Nordwesten Nigers, um nur ein Aussöhnungsabkommens nicht statt, das Chaos Beispiel zu nennen, stehen sich – auch dies eine in Gebieten wie in Azawad oder Liptako bleibt Vereinfachung! – mit Tuareg und Peul zwei tradi- bestehen, wo die Präsenz des Staates, wenn sie tionelle Viehzüchtergruppen gegenüber. Unter- aufrechterhalten wurde, nicht akzeptiert, ja sogar schätzt wird zudem häufig das Konfliktpotenzial, bekämpft wurde.“12 dass durch die Usurpation (aus Sicht der Betrof- fenen) von Land durch reiche Malier oder Nigrer Die Analyse der Experten ist nahezu einheit- auf dem Weg des modernen, staatlichen Grund- lich: Das zentrale Problem sind die staatlichen rechts erfolgt. In Burkina Faso wiederum sind die Strukturen der Region, d.h. ihre komplette Abwe- Beamten der Wasser- und Wälderbehörde Corps senheit bzw. ihre Schwäche sowie ihre Wahrneh- des Eaux et Forêts, in vielen Regionen geradezu mung als korrupt und ineffizient. Dies hat Folgen, verhasst, da sie traditionelle Jäger bestrafen und die weit über die problematische Sicherheitslage als hochkorrupte Vertreter eines für die Landbe- hinausreichen und den staatlichen und auch völkerung unverständlichen staatlichen Umwelt- gesellschaftlichen Zusammenhalt dieser Staa- schutzsystems gelten.11 ten insgesamt infrage stellen. Denn selbst in 5 Auslandsinformationen online
relativ sicheren und noch stabilen Regionen, wie Bevölkerung zum internationalen Engagement. zum Beispiel im Westen Malis, ist die Autorität Vor allem Frankreich aber auch die MINUSMA des Staates gering. So berichtete ein malischer stehen in der gesamten Sahelregion in der Kri- Präfekt, dass er während seiner Arbeit in der tik. Gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht Region Kayes kaum Respekt seitens der Bevölke- Frankreich hat sich mittlerweile eine regelrechte rung genossen habe. Ein Grund hierfür sei unter Ablehnung bis hin in die Kreise der Eliten entwi- anderem die Tatsache, dass die geringen staat- ckelt. Es kursieren Verschwörungstheorien, die lichen Ressourcen, die er mobilisieren konnte, Frankreich unterstellen, im eigenen Interesse die im Vergleich mit den Rücküberweisungen von terroristischen Gruppen in der Region am Leben Auslandsmaliern an ihre Dörfer in dieser tradi- zu erhalten. Wie sonst könnte es denn sein, dass tionellen Auswanderungsregion derart gering diese von der französischen Armee nicht schon seien, dass niemand auf die Idee käme, etwas längst zerschlagen seien?14 vom malischen Staat zu erwarten.13 Aber was ist die Alternative zum bisherigen „More of the same“ oder Neustart des Vorgehen? Das bisherige, erhebliche entwick- internationalen Engagements? lungs- und sicherheitspolitische Engagement der internationalen Gemeinschaft ist im Grundsatz Bisher setzt die internationale Staatengemein- keineswegs fehlgeleitet. Was aber fehlt, ist eine schaft im Wesentlichen auf drei Lösungsan- klare Ausrichtung auf die wesentlichen Faktoren, sätze: militärische Terrorismusbekämpfung, die für eine Stabilisierung der Region zentral Ausbildung der lokalen Sicherheitskräfte und sind. Diese sind vor allem die Kernfunktionen klassische Entwicklungszusammenarbeit. Kurz der Staaten der Region. Eine Neuausrichtung des zusammengefasst könnte man die Logik des internationalen Engagements bedeutet daher in bisherigen Engagements so beschreiben: Die erster Linie eine deutlichere Prioritätensetzung, internationalen Truppen wie Barkhane oder das Einfordern von mehr Engagement auf der MINUSMA sollen den Staaten der Region den Partnerseite und eine Effizienzsteigerung in den Zeitraum verschaffen, den sie für die Stärkung militärischen Unterstützungsmaßnahmen. ihrer eigenen Kräfte brauchen. Hierfür erhalten sie Ausbildungshilfe und Materialunterstützung 1. Zahlreiche Experten sind der Auffassung, unter anderem durch die EUTM. Parallel dazu dass die Anstrengungen der internationalen soll die zivile Entwicklungszusammenarbeit den Gemeinschaft zuvörderst auf die Kernfunk- gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und tionen des Staates konzentriert werden ökonomische Perspektiven schaffen. sollten:15 Hierzu gehört nicht allein eine verbesserte Unterstützung der Streit- und Dieser Dreiklang – Stabilisierung durch inter- Sicherheitskräfte der Region, sondern aller nationale Truppen, Ausbildungs- und Material- Kernfunktionen, d. h. Justizwesen, Bildungs- hilfe, Entwicklungszusammenarbeit – hat bisher, sektor, Territorialverwaltung, Gesundheits- analog zum vergleichbaren Ansatz in Afghanis- wesen und die zentralstaatlichen Instituti- tan, keine nachhaltigen Effekte gezeitigt. Ganz onen. Hinzu kommt, dass die Staaten des im Gegenteil: Insbesondere die Eliten in Mali Sahel, auch mit dem besten Willen und bei haben bisher nur sehr geringe Anstrengungen bester Nutzung ihrer Ressourcen, nicht unternommen, um den nach dieser Logik vor- gleichzeitig ihre Ausgaben für ihren Sicher- gesehenen Aufbau eigener Fähigkeiten bei den heitsapparat ausweiten und zeitgleich die Sicherheitskräften entschieden voranzutreiben. dringend benötigten Aufwendungen für Stattdessen verlässt man sich darauf, dass bei- Bildung oder Verwaltung leisten können. Es spielsweise die M INUSMA wie selbstverständ- handelt sich um einige der ärmsten Staaten lich nationale Wahlen absichert oder malische der Welt. Auch hier muss die internationale Politiker sicher von A nach B transportiert. Wäh- Unterstützung ansetzen. Zu den defizitä- renddessen erodiert die Zustimmung in der ren Kernfunktionen des Staates treten die Nr. 21 (Mai 2020) 6
erwähnte unzureichende Infrastruktur und belastbare Beziehungen aufgebaut, Landes- die riesigen geografischen Räume. Eine wirk- kenntnis erworben und Projekte verstetigt liche Kontrolle des Staatsterritoriums kann werden. Ein positives Beispiel bietet demge- nur erfolgen, wenn die Infrastruktur (vor genüber die deutsche Ertüchtigungsinitiative. allem Straßen) dies ermöglicht. Auch hier Sowohl Bedarfe wie auch die Projekte selbst kann die Staatengemeinschaft unterstützen. werden zusammen mit den lokalen Partnern Sollten die von der internationalen Staaten- in den Streitkräften ermittelt und konkretisiert. gemeinschaft angekündigten erheblichen Es entsteht eine vertrauensvolle Zusammenar- Mittel jedoch nicht wirklich konzentriert ein- beit, die jeweiligen Akteure kennen sich. gesetzt werden, sondern sich in einer Vielzahl von gleichberechtigten Prioritäten verzetteln, Mit Blick auf die dramatische Lage im Sahel wird damit kaum ein durchschlagender Erfolg bleibt das internationale Engagement in der erzielt werden.16 Region aktuell unverzichtbar. Jedoch wird sich die internationale Staatengemeinschaft auf 2. Einhergehen sollte eine gezieltere Unterstüt- Dauer nicht an die Stelle der Staaten der Region zung der Staaten mit der klaren Formulierung setzen können. Diese müssen, je früher desto von Zielen nach der Devise des Förderns besser, ihre Kernfunktionen zumindest in großen und Forderns. Es sollte beispielsweise nicht Teilen selbst übernehmen können: Das Ziel kann länger toleriert werden, dass die malischen daher nur die Stärkung der Staaten der Region in Streitkräfte bis heute – trotz wiederholter For- ihren wirklichen Kernfunktionen sein, verbun- derungen der internationalen Gemeinschaft – den mit Hilfen für den Infrastrukturausbau. Dies nicht über ein Personalmanagementsystem sollte nicht allein durch Unterstützung in Schwer- verfügen, das diesen Namen verdient. Unter punktbereichen wie Sicherheit und Verwaltung, den aktuellen Umständen kann niemand in sondern auch mit Blick auf die bekannten Gover- Bamako verlässlich sagen, wie hoch die Zahl nance-Probleme, durch Konditionierung erfolgen. der malischen Soldaten eigentlich ist, wer in welchen Einheiten dient oder wo. Wie unter diesen Voraussetzungen Ausbildungs- Thomas Schiller ist Leiter des Regionalprogramms programme für die malischen Streitkräfte Sahel der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Bamako, Mali. effektive Resultate erzielen sollen, ist rätsel- haft. Auch auf der Einnahmeseite sollten die Staaten in die Pflicht genommen werden. Der Vorsitzende des malischen Unternehmerver- bands wies jüngst in drastischen Worten auf die äußerst geringen Zolleinnahmen des Lan- des hin, als ein Beispiel für die von Korruption und Vetternwirtschaft geprägte Importwirt- schaft und die Potenziale für den malischen Staat, seine eigenen Einkünfte zu erhöhen.17 3. Darüber hinaus besteht auch Verbesserungs- potenzial in den aktuellen Ansätzen militäri- scher Unterstützung. So würde beispielsweise mehr Kontinuität in der Präsenz der Füh- rungsebene und der Trainer der E UTM zu einer Verbesserung der Ausbildung sicherlich beitragen. Die aktuelle Rotation, selbst der Leitung der EUTM nach nur sechs Mona- ten, ermöglicht es allein zeitlich nicht, dass 7 Auslandsinformationen online
1 GSIM (Groupe de Soutien à l’islam et aux musul- 14 Die massive Kritik an Frankreich vertritt beispiels- mans), ein al-Qaida-naher Verbund mehrerer Terror- weise auch der in Deutschland bekannte Musiker gruppen; EIGS steht für Etat Islamique dans le Salif Keita. Monier-Reyes, Lucie / Duhamel, Sébas- Grand Sahara, eine sich zum sogenannten Islami- tien 2019: Au Mali, Salif Keita accuse la France de schen Staat bekennende Terrorgruppierung. financer les djihadistes, TV5MONDE, 16.11.2019, 2 In diesem Beitrag bezieht sich die geografische in: https://bit.ly/2W5NiUH [04.05.2020]. Bezeichnung Sahel auf die Staaten des G5 Sahel- 15 Serge Michailof ist einer der Advokaten einer Verbundes: Burkina Faso, Mali, Mauretanien, stärken Fokussierung auf die Kernfunktionen des Niger und Tschad. Der Fokus liegt dabei auf der Staates. Veröffentlichungen siehe u. a.: Fondation Entwicklung in den drei Staaten des zentralen pour les études et recherches sur le développement Sahel (Burkina Faso, Mali und Niger). Die ebenfalls international (Ferdi), in: https://ferdi.fr/en/ dramatische Lage in der Tschadseeregion im Vier biographies/serge-michailof [06.05.2020]. ländereck Kamerun, Niger, Nigeria und Tschad 16 Die Sahel-Allianz koordiniert die Entwicklungszu- wird hier nicht behandelt. sammenarbeit der wichtigsten Geber der G5 Sahel- 3 ACLED 2020: Ten Conflicts to Worry About in 2020, staaten. Die Webseite der Sahel Allianz zeigt eine 23.01.2020, in: https://bit.ly/2L2ipu3 [04.05.2020]. Vielzahl unterschiedlicher Projekte in sechs Sektoren 4 Gespräche des Autors in Bamako und Niamey 2019 von Landwirtschaft bis innere Sicherheit. Eine wirk- und 2020. liche Schwerpunktbildung ist nicht erkennbar. 5 Peul ist die französische Bezeichnung für Fulani Alliance Sahel, in: https://www.alliance-sahel.org oder Fulbe. [06.05.2020]. 6 Das Massaker von Ogossagou vom März 2019 mit 17 Togola, Mamadou 2020: Mamadou Sinsy Couilbaly, über 130 Toten ist bis heute unaufgeklärt. président du CNPM: „Les fraudes sur les produits 7 Roger, Benjamin 2018: Mali: Amadou Koufa, le pétroliers font perdre à l’Etat plus de 10 milliards visage peul d’Al-Qaida, jeuneafrique, 20.11.2018, FCFA par an“, Maliweb.net, 11.02.2020, in: in: https://bit.ly/3dgjNp1 [04.05.2020]. https://bit.ly/2KYRcZ8 [04.05.2020]. 8 So hat der bekannte französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy im Dezember 2019 in der Zeitschrift Paris Match die Behauptung aufgestellt, in Nigeria gäbe es eine „vor-genozidäre Situation“ gegen die Christen des Landes, angetrieben von der Volksgruppe Peul, der auch der aktuelle Präsident Nigerias angehört. Vgl. Lévy, Bernard-Henri 2019: „Au Nigeria, on massacre les chrétiens“, le S OS de Bernard-Henri Lévy, Paris Match, 05.12.2019, in: https://bit.ly/3b1v6jb [04.05.2020]; Roussy, Caroline 2020: „BHL au Nigeria: le spectacle contre l’info“ (Interview mit Vincent Foucher), IRIS, 24.01.2020, in: https://bit.ly/35D31hk [04.05.2020]. 9 Pellerin, Mathieu 2019:Les violences armées au Sahara. Du djihadisme aux insurrections?, Études de l’Ifri, Ifri, 11/2019, S. 11, in: https://bit.ly/2SzSi1G [05.05.2020]. 10 Der malische Soziologe Ely Dicko, ein hervorragender Kenner der Konfliktsituation, ist beispielsweise einer von zahlreichen Experten, die zurecht auf diese Komplexität hinweisen. Siehe u. a. Topona, Eric 2020: Iyad Ag Ghaly et Amadou Koufa, portraits de deux chefs djihadistes, Deutsche Welle, 12.02.2020, in: https://p.dw.com/p/3XggV [04.05.2020]. 11 Einen lesenswerten Überblick hierzu bietet u. a. Assanvo, William / Dakono, Baba / Théroux-Bénoni, Lori-Anne / Maïga, Ibrahim 2019: Violent extremism, organised crime and local conflicts in Liptako-Gourma, Institute for Security Studies (ISS), 10.12.2019, in: https://bit.ly/2WsKDTX [04.05.2020]. 12 Lagneau, Laurent 2020: Général Lecointre: Au Sahel, la capacité de régénération des terroristes est‚ forte‘, Zone Militaire, 07.03.2020, in : https://bit.ly/ 2SGtipH [04.05.2020]. 13 Gespräch mit dem Autor in Sikasso 2018. Nr. 21 (Mai 2020) 8
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