Die Lage im Sahel Konsequenzen für das internationale Engagement - Thomas Schiller

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Die Lage im Sahel Konsequenzen für das internationale Engagement - Thomas Schiller
Quelle: © Eric Gaillard, Reuters.
Die Lage im Sahel
Konsequenzen für das internationale Engagement

                 Thomas Schiller

                                    Auslandsinformationen online
Die Sahelregion steht nunmehr seit mehreren Jahren im Fokus
der europäischen und deutschen Außen-, Sicherheits- und Ent-
wicklungspolitik. Trotz eines erheblichen Engagements
der internationalen Staatengemeinschaft seit der erfolgreichen
französischen Militäroperation Serval gegen terroristische
Gruppen in Mali im Januar 2013, hat sich die Sicherheitslage
jedes Jahr weiter verschlechtert. Nicht allein dschihadistische
Vereinigungen wie G ­ SIM und E­ IGS1 tragen zu dieser instabilen
Lage bei, sondern auch lokal geprägte, in Teilen ethnische
Konflikte, bewaffnete Milizen und organisierte Kriminalität.
Was sind die Hintergründe dieser sich verschärfenden Lage
und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die
europäische und deutsche Unterstützung der Sahelstaaten2?

Die Lage                                              Nicht allein die Zivilbevölkerung ist betroffen,
                                                      sondern vor allem auch die Sicherheitskräfte
 Die Zahlen sind eindeutig: In fünf Jahren, von       der Staaten sind direkte Ziele der terroristischen
 2014 bis 2019, verzeichnen die Daten von             Gruppen. Ihr Ziel ist die Schaffung staatsfreier
­ACLED, einer auf die Analyse von Konflikten          Räume und die Errichtung eigener, parastaatli-
 spezialisierten N
                 ­ GO, einen drastischen Anstieg      cher Strukturen. In vielen Regionen gibt es entwe-
 politischer Gewalt im Sahel. Allein zwischen         der überhaupt keine oder nur noch eine geringe,
 2018 und 2019 hat sich die Opferanzahl in der        auf einige zurückgezogene Posten beschränkte
 Region auf über 5.360 verdoppelt.3 Und dies          Präsenz der Sicherheitskräfte. Die Opferzahlen
 sind nur die bekannten und – soweit dies in der      in den Reihen von Armee, Gendarmerie und
 Region überhaupt möglich ist – bestätigten Opfer.    Polizei sind hoch. Ein Beispiel aus Mali: Allein
 Aus Gesprächen mit Flüchtlingen aus dem Zent-        die Attacke auf das Militärcamp im nordöstli-
 rum Malis oder mit lokalen Politikern der Region     chen Indelimane Anfang November 2019 kos-
Tillabéri in Niger ergibt sich die begründete Ver-    tete mindestens 49 Soldaten das Leben. Nach
 mutung, dass die direkten und indirekten Opfer-      Einschätzung von Sicherheitsexperten sind die
 zahlen der Gewalt im Sahel noch höher sein           Verlustraten der malischen Armee, im Verhältnis
 dürften.4 Hauptbetroffene der instabilen Lage        zu den sich im Feld befindlichen Streitkräften,
 sind Zivilisten. Direkt als Opfer von Angriffen      extrem hoch. Die Attacken auf Militärcamps
 auf Dörfer oder indem sie zur Flucht gezwungen       und Polizeistationen in Burkina Faso, Mali und
 werden oder weil ihnen die Lebensgrundlagen          Niger in 2019 (unter anderem In-Atès, Chinego-
 entzogen werden. Bauern können ihre Felder           dar, Indelimane) haben nicht allein gezeigt, dass
 nicht mehr bestellen, Viehzüchter verlieren ihre     terroristische Gruppen in der Lage sind komplexe
 Herden durch Raub oder zumindest Teile davon         und aufwendige Angriffe durchzuführen, sondern
 als „Abgaben“ an bewaffnete Gruppen. Indirekt        leider auch die Unfähigkeit der Streitkräfte der
 führt die Unsicherheit dazu, dass Märkte nicht       Region selbst befestigte Stellungen ausreichend
 mehr öffnen bzw. viele Menschen diese nicht          zu sichern und zu verteidigen. Insbesondere
 mehr erreichen können. Durch die Schließung          die Streitkräfte Malis und Burkina Fasos sind in
 zahlreicher Schulen in den betroffenen Regionen      einem beklagenswerten Zustand, und dies trotz
 erodiert selbst die ohnehin geringe Basis für Bil-   massiver Unterstützung vor allem der malischen
 dung und Ausbildung.                                 Sicherheitskräfte seit mehreren Jahren.

Nr. 21 (Mai 2020)                                                                                     2
Weite Gebiete der Staaten Burkina Faso, Mali          Gewalt. Lokale, traditionelle Autoritäten wie
und Niger sind längst nicht mehr unter Kont-          Dorfchefs und religiöse Führer werden entweder
rolle des Staates. Dies betrifft unter anderem        nicht länger akzeptiert oder sind Ziel der terroris-
den Norden und das Zentrum Malis, den Nor-            tischen Gruppen. Mit dieser Entwicklung bricht
den und Osten Burkina Fasos oder den Nord-            ein weiterer Stabilitätsfaktor in vielen Gebieten
westen Nigers. In diesen Regionen haben sich          weg.
terroristische Gruppen festgesetzt, aber auch
Selbstverteidigungsmilizen haben sich gebildet,       Ein hochkomplexes und überaus gefährliches
oftmals auf ethnischer Basis. Diese Milizen, wie      Problem entsteht durch die Beteiligung von Mit-
z. B. die sogenannten Koglweogo in Burkina Faso,      gliedern der Volksgruppe der Peul in einer Viel-
sind oftmals lokal stark verankert und ersetzen       zahl terroristischer Gruppen. Diese Volksgruppe
den Staat. Die Selbstverteidigungsgruppen             lebt in Westafrika von Guinea und Senegal im
richten sich entweder gegen die Bedrohung             Westen bis hin nach Nigeria und dem Tschad.
durch Terroristen oder existieren – wie die Kogl-     Viele Peul sind traditionell Viehzüchter und
weogo – schon seit längerem zur Herstellung           treiben teilweise bis heute ihre Rinderherden
von Ordnung und Recht gegenüber Kriminellen           über tausende Kilometer durch Westafrika. Der
in Regionen, in denen der Staat nicht präsent ist     aktuell prominenteste Peul dürfte wohl Amadou
oder als unfähig gilt. Beispielhaft für diese Ent-    Koufa, Gründer der Katiba Macina im Zentrum
wicklung steht auch die Miliz der Volksgruppe         Malis, sein.7 Amadou Koufa ist mittlerweile
der Dogon „Dan Na Ambassagou“ im Zentrum              einer der prominentesten Führer der al-Qaida
Malis. Dieser Miliz werden Übergriffe gegen die       nahen Gruppierung G   ­ SIM. Für viele Menschen
Volksgruppe der Peul5 vorgeworfen, sie selbst         in der Region sind damit die Peul Verbündete
sieht sich jedoch als Schutzmacht der Dogonbe-        der Terroristen. Ein gefährliches Amalgam, wird
völkerung gegen die terroristischen Gruppen und       damit doch eine gesamte Volksgruppe unter den
andere Banditen. Ein Beschluss der malischen          Generalverdacht der Sympathie mit terroristi-
Regierung zur Auflösung der Dogonmiliz nach           schen Gruppen gestellt, was mit Blick auf ihre
dem Massaker im zentralmalischen Dorf Ogos-           Siedlungsgebiete in ganz Westafrika ethnische
sagou verpuffte wirkungslos, hat die Regierung        Konflikte weiter befeuern könnte. Leider wird
doch keine Möglichkeiten – und nach Auffassung        diese Verallgemeinerung mit Blick auf die Peul
einiger Beobachter – auch nicht den Willen, die       auch in Europa wiederholt.8
Auflösung durchzusetzen.6
                                                      Die Bedeutung der lokalen Konflikte kann für
Seit mehreren Jahren haben sich vor diesem            den Umfang der Instabilität in der Region nicht
Hintergrund lokale und ethnische Konflikte wei-       überschätzt werden. Viele terroristische Gruppen
ter verschärft und verkomplizieren die Situation      nutzen diese Konflikte geschickt aus. Durch die
weiter. Viele dieser lokalen Konflikte bestehen       Abwesenheit des Staates oder den schlechten
seit langem, unterschwellig oder offen. Allerdings    Ruf, den dieser genießt, stellen sie sich – oder
konnten in früheren Jahren Konflikte oftmals          andere Milizen – als verlässliche Ordnungshüter
durch lokale Autoritäten eingehegt werden. Die        dar. Die Abwesenheit des Staates in vielen Regi-
aktuelle Verschärfung ergibt sich durch die Instru-   onen ist jedoch kein neues Phänomen. Seit ihrer
mentalisierung dieser Konflikte durch bewaffnete      Unabhängigkeit ist es den meisten Sahelstaaten
Gruppen – nicht allein Terroristen – und teilweise    nie gelungen, die volle Kontrolle über ihr Territo-
auch seitens des Staates sowie durch die zuneh-       rium auch wirklich auszuüben und ihre staatliche
mende Verbreitung von Waffen, die Auswirkun-          Präsenz überall zu verstetigen. Mit Blick auf die
gen des demografischen Wachstums und der              riesigen Räume, die defizitäre Infrastruktur und
damit verbundenen Perspektivlosigkeit junger          die geringen Ressourcen dieser Staaten ist dies
Menschen sowie dem Aufbrechen traditioneller          auch nicht verwunderlich. Spätestens seit dem
Führungsstrukturen. Gerade Letzteres spielt eine      Beinahezusammenbruch Malis 2012/2013 und
nicht unerhebliche Rolle bei der zunehmenden          dem Sturz des langjährigen Staatschefs Blaise

3                                                                           Auslandsinformationen online
Compaoré in Burkina Faso 2014 hat sich dieser         Parallel dazu wurde die Entwicklungszusammen-
Kontrollverlust weiter verstärkt.                     arbeit für den Sahel ausgeweitet. Deutschland
                                                      beteiligte sich – zum ersten Mal in Westafrika – in
Die Ursachen der aktuellen Krise des Sahel rei-       erheblichem Umfang, sowohl bei der E   ­ UTM als
chen also weit zurück und haben viel mit der Fra-     auch der ­MINUSMA.
gilität der Staaten der Region zu tun. Die prekäre
Sicherheitslage ist keineswegs eine bloße Kon-        Der Fokus der internationalen Gemeinschaft
sequenz der Aktivitäten terroristischer Gruppen.      war ganz klar und nahezu ausschließlich auf
Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass einerseits die   Mali gerichtet, einzig die französische Anti­
meisten ursprünglichen Anführer der dschihadis-       terroroperation Barkhane hatte immer schon
tischen Gruppen ursprünglich aus dem Norden,          einen sahelweiten Ansatz. Auch die deutsche
aus dem damaligen Bürgerkriegsland Algerien,          Öffentlichkeit nahm und nimmt bis heute den
nach Nordmali ausgewichen sind und anderer-           Konflikt in der Sahelzone als Einsatz in Mali wahr.
seits der Zusammenbruch Libyens nach dem              Mag dies mit Blick auf die auf Mali beschränkte
Sturz des langjährigen Diktators Gaddafi 2011         Beteiligung der Bundeswehr in den beiden Missi-
eine wesentliche Rolle beim Aufbau und der            onen ­EUTM und M   ­ INUSMA begründet erschei-
Bewaffnung der zahlreichen bewaffneten Grup-          nen, so entspricht es nicht der Realität in einer
pen im Norden Malis 2012 gespielt hat. Diese          Region, in der Grenzen wenig bedeuten.
Kombination aus externen und internen Faktoren
hat das Pulverfass Sahel explodieren lassen.          Dieser enge Blick auf Mali erstaunt umso mehr,
                                                      als bereits 2014 die Staaten Burkina Faso, Mali,
Die Internationale Gemeinschaft ist spätestens        Mauretanien, Niger und Tschad das Staatenbünd-
seit 2013 in erheblichem Umfang in der Region         nis G5 Sahel ins Leben riefen. Das erklärte Ziel
engagiert. Nachdem 2012 terroristische Gruppen        war die Stärkung von Entwicklung und Sicherheit
die Separatistenmilizen einiger Touareg-Grup-         in der Region. 2015, im Zuge der Migrationskrise
pen beiseitegeschoben hatten und im Norden            und den Bildern von illegalen Migranten an den
Malis, in Timbuktu und Gao, ihre Herrschaft           Stränden des Mittelmeers in Libyen, rückte Niger
etablieren konnten, kam es in Malis Hauptstadt        als Drehkreuz der sogenannten zentralen Mittel-
Bamako zu einem Putsch der Armee. Es folgte           meerroute in den Blickpunkt, auch in Deutsch-
eine chaotische Situation in einem ohnehin            land. Aber noch bis vor Kurzem wurde – vor
schwachen Staat. Die Entscheidung des französi-       allem in der Wahrnehmung in Deutschland – das
schen Staatspräsidenten François Hollande, den        Engagement in Mali und Niger als quasi komplett
drohenden Vormarsch terroristischer Gruppen           voneinander getrennt betrachtet: hier Stabilisie-
aus dem Norden Malis Richtung Süden mit dem           rung und Antiterrorkampf, dort Entwicklung und
Einsatz eigener Truppen zu verhindern, führte im      Management der illegalen Migrationsströme. Vie-
Januar 2013 zur erfolgreichen Operation Serval.       len Kennern der Region war jedoch mit Blick auf
In der Folge versuchte die internationale Staa-       die Fragilität der Staaten, die Unterentwicklung
tengemeinschaft den als innermalischen Nord-          und die riesigen Räume seit Langem klar, dass
Süd-Konflikt begriffenen Ursprung der Krise           die Instabilität den gesamten Sahelraum betrifft.
diplomatisch durch das im Jahr 2015 unterzeich-       Heute stehen vor allem die drei Staaten des zen-
nete Abkommen von Algier zu lösen. Zugleich           tralen Sahel – Burkina Faso, Mali und Niger – ins-
wurden der Kampf gegen die terroristischen            gesamt vor einer desaströsen Situation.
Gruppen durch Frankreich nahtlos mit der Ope-
ration Barkhane fortgeführt, eine VN-Mission          Welche Schlussfolgerungen
zur Umsetzung des Friedensabkommens und zur           sind daraus zu ziehen?
Stabilisierung Malis (­MINUSMA) geschaffen und
mit ­EUTM Mali, ­EUCAP Sahel Mali und ­EUCAP          Der Fokus der internationalen Gemeinschaft auf
Sahel Niger Trainings- und Beratungsmissionen         den Terror bzw. die terroristischen Gruppen trifft
zur Stärkung der Sicherheitskräfte aufgesetzt.        also nur einen Teil des Problems der Instabilität

Nr. 21 (Mai 2020)                                                                                      4
in der Region, gewissermaßen mehr eines von           Diese Komplexität der Lage wird, so scheint
vielen Symptomen als die Ursache. Der französi-       es, auch heute noch nicht wirklich erkannt. Die
sche Experte Mathieu Pellerin bringt die aktuelle     größte Bedrohung der Sicherheit geht zwar aktu-
Lage mit Blick auf die sogenannten dschihadis-        ell sicherlich von den terroristischen Gruppierun-
tischen Gruppen auf den Punkt: Der Dschiha-           gen aus, aber die größte Bedrohung der Stabilität
dismus im Sahel sei vor allem glocal und müsse        in der Region bleiben die fragilen staatlichen
verstanden werden „[…] nicht prioritär als eine       Strukturen verbunden mit Armut und Perspektiv­
gleichförmige Bewegung religiöser Natur, son-         losigkeit einer extrem jungen und weiter wach-
dern als Agglomeration lokaler aufständischer         senden Bevölkerung.
Brennpunkte, die sich aus teilweise sehr alten
gesellschaftlichen, politischen oder ökonomi-         Vor diesem Hintergrund konzentriert sich
schen Spaltungen speisen.“9                           das internationale militärische und politische
                                                      Engagement entweder auf die Bekämpfung des
Die Konflikte in der Sahelregion lassen sich daher    Symptoms Terrorismus oder versucht die Leere,
nicht auf einen simplen Antiterrorkampf reduzie-      die die Staaten in vielen Bereichen lassen, zu
ren. Bei der Lösung des Problems kann daher, um       füllen. Aber weder kann die Operation Bark-
nur ein Element der klassischen Strategie gegen       hane langfristig die nationalstaatlichen Sicher-
religiös motivierten Terror zu nennen, eine Dera-     heitskräfte ersetzen, noch können beispielsweise
dikalisierung von Terroristen oder Sympathisan-       internationale Akteure wie die ­MINUSMA auf
ten nur ein sehr kleiner Bestandteil sein. Denn       Dauer die Funktionen übernehmen, die vor allem
nahezu alle Experten sind sich einig: Der religiöse   die Staaten der Region selbst ausfüllen müssen.
Faktor spielt im Sahel nicht die zentrale Rolle im    Die Hoffnung, die man mit Beginn des internati-
Zulauf der terroristischen Gruppen. Islamischer       onalen Engagements 2013 hatte, dass die Staaten
Fanatismus mag bei einigen Rekruten eine Rolle        der Region – unterstützt und geschützt durch die
spielen, insbesondere bei den Führungskadern,         internationale Gemeinschaft – schrittweise ihre
aber nur eine untergeordnete Rolle bei der Masse      zentralen Aufgaben selbst übernehmen können,
der Angehörigen von G   ­ SIM oder E­ IGS.10 Häufig   erwies sich als Illusion. Die Analyse des französi-
wird nicht nur bei der Rekrutierung von Terro-        schen Generalstabschefs François Lecointre mit
risten die Vielschichtigkeit der Motivationslagen     Blick auf Mali fasst dies gut zusammen: „Unser
übersehen. Gleiches gilt auch für die lokalen Kon-    Optimismus wurde enttäuscht und Barkhane
flikte, die oftmals allzu sehr vereinfacht werden.    wurde nicht begleitet durch eine Rückkehr des
So trifft beispielsweise der vielfach beschriebene    Staatsapparats und der Erneuerung der Streit-
Konflikt zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern        kräfte, vor allem der malischen. Zudem fand
in diesem schematischen Kain-und-Abel-Bild            die konkrete Umsetzung des Friedens- und
gar nicht zu. Im Nordwesten Nigers, um nur ein        Aussöhnungsabkommens nicht statt, das Chaos
Beispiel zu nennen, stehen sich – auch dies eine      in Gebieten wie in Azawad oder Liptako bleibt
Vereinfachung! – mit Tuareg und Peul zwei tradi-      bestehen, wo die Präsenz des Staates, wenn sie
tionelle Viehzüchtergruppen gegenüber. Unter-         aufrechterhalten wurde, nicht akzeptiert, ja sogar
schätzt wird zudem häufig das Konflikt­potenzial,     bekämpft wurde.“12
dass durch die Usurpation (aus Sicht der Betrof-
fenen) von Land durch reiche Malier oder Nigrer       Die Analyse der Experten ist nahezu einheit-
auf dem Weg des modernen, staatlichen Grund-          lich: Das zentrale Problem sind die staatlichen
rechts erfolgt. In Burkina Faso wiederum sind die     Strukturen der Region, d.h. ihre komplette Abwe-
Beamten der Wasser- und Wälderbehörde Corps           senheit bzw. ihre Schwäche sowie ihre Wahrneh-
des Eaux et Forêts, in vielen Regionen geradezu       mung als korrupt und ineffizient. Dies hat Folgen,
verhasst, da sie traditionelle Jäger bestrafen und    die weit über die problematische Sicherheitslage
als hochkorrupte Vertreter eines für die Landbe-      hinausreichen und den staatlichen und auch
völkerung unverständlichen staatlichen Umwelt-        gesellschaftlichen Zusammenhalt dieser Staa-
schutzsystems gelten.11                               ten insgesamt infrage stellen. Denn selbst in

5                                                                           Auslandsinformationen online
relativ sicheren und noch stabilen Regionen, wie    Bevölkerung zum internationalen Engagement.
zum Beispiel im Westen Malis, ist die Autorität     Vor allem Frankreich aber auch die ­MINUSMA
des Staates gering. So berichtete ein malischer     stehen in der gesamten Sahelregion in der Kri-
Präfekt, dass er während seiner Arbeit in der       tik. Gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht
Region Kayes kaum Respekt seitens der Bevölke-      Frankreich hat sich mittlerweile eine regelrechte
rung genossen habe. Ein Grund hierfür sei unter     Ablehnung bis hin in die Kreise der Eliten entwi-
anderem die Tatsache, dass die geringen staat-      ckelt. Es kursieren Verschwörungstheorien, die
lichen Ressourcen, die er mobilisieren konnte,      Frankreich unterstellen, im eigenen Interesse die
im Vergleich mit den Rücküberweisungen von          terroristischen Gruppen in der Region am Leben
Auslandsmaliern an ihre Dörfer in dieser tradi-     zu erhalten. Wie sonst könnte es denn sein, dass
tionellen Auswanderungsregion derart gering         diese von der französischen Armee nicht schon
seien, dass niemand auf die Idee käme, etwas        längst zerschlagen seien?14
vom malischen Staat zu erwarten.13
                                                    Aber was ist die Alternative zum bisherigen
„More of the same“ oder Neustart des                Vorgehen? Das bisherige, erhebliche entwick-
 internationalen Engagements?                       lungs- und sicherheitspolitische Engagement der
                                                    internationalen Gemeinschaft ist im Grundsatz
Bisher setzt die internationale Staatengemein-      keineswegs fehlgeleitet. Was aber fehlt, ist eine
 schaft im Wesentlichen auf drei Lösungsan-         klare Ausrichtung auf die wesentlichen Faktoren,
 sätze: militärische Terrorismusbekämpfung,         die für eine Stabilisierung der Region zentral
Ausbildung der lokalen Sicherheitskräfte und        sind. Diese sind vor allem die Kernfunktionen
 klassische Entwicklungszusammenarbeit. Kurz        der Staaten der Region. Eine Neuausrichtung des
 zusammengefasst könnte man die Logik des           internationalen Engagements bedeutet daher in
 bisherigen Engagements so beschreiben: Die         erster Linie eine deutlichere Prioritätensetzung,
 internationalen Truppen wie Barkhane oder          das Einfordern von mehr Engagement auf der
­MINUSMA sollen den Staaten der Region den          Partnerseite und eine Effizienzsteigerung in den
 Zeitraum verschaffen, den sie für die Stärkung     militärischen Unterstützungsmaßnahmen.
 ihrer eigenen Kräfte brauchen. Hierfür erhalten
 sie Ausbildungshilfe und Materialunterstützung     1. Zahlreiche Experten sind der Auffassung,
 unter anderem durch die ­EUTM. Parallel dazu          dass die Anstrengungen der internationalen
 soll die zivile Entwicklungszusammenarbeit den        Gemeinschaft zuvörderst auf die Kernfunk-
 gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und           tionen des Staates konzentriert werden
 ökonomische Perspektiven schaffen.                    sollten:15 Hierzu gehört nicht allein eine
                                                       verbesserte Unterstützung der Streit- und
Dieser Dreiklang – Stabilisierung durch inter-         Sicherheitskräfte der Region, sondern aller
nationale Truppen, Ausbildungs- und Material-          Kernfunktionen, d. h. Justizwesen, Bildungs-
hilfe, Entwicklungszusammenarbeit – hat bisher,        sektor, Territorialverwaltung, Gesundheits­-
analog zum vergleichbaren Ansatz in Afghanis-          wesen und die zentralstaatlichen Instituti-
tan, keine nachhaltigen Effekte gezeitigt. Ganz        onen. Hinzu kommt, dass die Staaten des
im Gegenteil: Insbesondere die Eliten in Mali          Sahel, auch mit dem besten Willen und bei
haben bisher nur sehr geringe Anstrengungen            bester Nutzung ihrer Ressourcen, nicht
unternommen, um den nach dieser Logik vor-             gleichzeitig ihre Ausgaben für ihren Sicher-
gesehenen Aufbau eigener Fähigkeiten bei den           heitsapparat ausweiten und zeitgleich die
Sicherheitskräften entschieden voranzutreiben.         dringend benötigten Aufwendungen für
Stattdessen verlässt man sich darauf, dass bei-        Bildung oder Verwaltung leisten können. Es
spielsweise die M ­ INUSMA wie selbstverständ-         handelt sich um einige der ärmsten Staaten
lich nationale Wahlen absichert oder malische          der Welt. Auch hier muss die internationale
Politiker sicher von A nach B transportiert. Wäh-      Unterstützung ansetzen. Zu den defizitä-
renddessen erodiert die Zustimmung in der              ren Kernfunktionen des Staates treten die

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erwähnte unzureichende Infrastruktur und             belastbare Beziehungen aufgebaut, Landes-
    die riesigen geografischen Räume. Eine wirk-         kenntnis erworben und Projekte verstetigt
    liche Kontrolle des Staatsterritoriums kann          werden. Ein positives Beispiel bietet demge-
    nur erfolgen, wenn die Infrastruktur (vor            genüber die deutsche Ertüchtigungsinitiative.
    allem Straßen) dies ermöglicht. Auch hier            Sowohl Bedarfe wie auch die Projekte selbst
    kann die Staatengemeinschaft unterstützen.           werden zusammen mit den lokalen Partnern
    Sollten die von der internationalen Staaten-         in den Streitkräften ermittelt und konkretisiert.
    gemeinschaft angekündigten erheblichen               Es entsteht eine vertrauensvolle Zusammenar-
    Mittel jedoch nicht wirklich konzentriert ein-       beit, die jeweiligen Akteure kennen sich.
    gesetzt werden, sondern sich in einer Vielzahl
    von gleichberechtigten Prioritäten verzetteln,    Mit Blick auf die dramatische Lage im Sahel
    wird damit kaum ein durchschlagender Erfolg       bleibt das internationale Engagement in der
    erzielt werden.16                                 Region aktuell unverzichtbar. Jedoch wird sich
                                                      die internationale Staatengemeinschaft auf
2. Einhergehen sollte eine gezieltere Unterstüt-      Dauer nicht an die Stelle der Staaten der Region
   zung der Staaten mit der klaren Formulierung       setzen können. Diese müssen, je früher desto
   von Zielen nach der Devise des Förderns            besser, ihre Kernfunktionen zumindest in großen
   und Forderns. Es sollte beispielsweise nicht       Teilen selbst übernehmen können: Das Ziel kann
   länger toleriert werden, dass die malischen        daher nur die Stärkung der Staaten der Region in
   Streitkräfte bis heute – trotz wiederholter For-   ihren wirklichen Kernfunktionen sein, verbun-
   derungen der internationalen Gemeinschaft –        den mit Hilfen für den Infrastrukturausbau. Dies
   nicht über ein Personalmanagementsystem            sollte nicht allein durch Unterstützung in Schwer-
   verfügen, das diesen Namen verdient. Unter         punktbereichen wie Sicherheit und Verwaltung,
   den aktuellen Umständen kann niemand in            sondern auch mit Blick auf die bekannten Gover-
   Bamako verlässlich sagen, wie hoch die Zahl        nance-Probleme, durch Konditionierung erfolgen.
   der malischen Soldaten eigentlich ist, wer
   in welchen Einheiten dient oder wo. Wie
   unter diesen Voraussetzungen Ausbildungs-          Thomas Schiller ist Leiter des Regionalprogramms
   programme für die malischen Streitkräfte           Sahel der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in
                                                      Bamako, Mali.
   effektive Resultate erzielen sollen, ist rätsel-
   haft. Auch auf der Einnahmeseite sollten die
   Staaten in die Pflicht genommen werden. Der
   Vorsitzende des malischen Unternehmerver-
   bands wies jüngst in drastischen Worten auf
   die äußerst geringen Zolleinnahmen des Lan-
   des hin, als ein Beispiel für die von Korruption
   und Vetternwirtschaft geprägte Importwirt-
   schaft und die Potenziale für den malischen
   Staat, seine eigenen Einkünfte zu erhöhen.17

3. Darüber hinaus besteht auch Verbesserungs-
   potenzial in den aktuellen Ansätzen militäri-
   scher Unterstützung. So würde beispielsweise
   mehr Kontinuität in der Präsenz der Füh-
   rungsebene und der Trainer der E    ­ UTM zu
   einer Verbesserung der Ausbildung sicherlich
   beitragen. Die aktuelle Rotation, selbst der
   Leitung der ­EUTM nach nur sechs Mona-
   ten, ermöglicht es allein zeitlich nicht, dass

7                                                                           Auslandsinformationen online
1     	­
      GSIM    (Groupe de Soutien à l’islam et aux musul-            14 Die massive Kritik an Frankreich vertritt beispiels-
      mans), ein al-Qaida-naher Verbund mehrerer Terror-                weise auch der in Deutschland bekannte Musiker
      gruppen; ­EIGS steht für Etat Islamique dans le                   Salif Keita. Monier-Reyes, Lucie / Duhamel, Sébas-
      Grand Sahara, eine sich zum sogenannten Islami-                   tien 2019: Au Mali, Salif Keita accuse la France de
      schen Staat bekennende Terrorgruppierung.                         financer les djihadistes, TV5­MONDE, 16.11.2019,
2     In diesem Beitrag bezieht sich die geografische                   in: https://bit.ly/2W5NiUH [04.05.2020].
      Bezeichnung Sahel auf die Staaten des G5 Sahel-               15 Serge Michailof ist einer der Advokaten einer
      Verbundes: Burkina Faso, Mali, Mauretanien,                       stärken Fokussierung auf die Kernfunktionen des
      Niger und Tschad. Der Fokus liegt dabei auf der                   Staates. Veröffentlichungen siehe u. a.: Fondation
      Entwicklung in den drei Staaten des zentralen                     pour les études et recherches sur le développement
        Sahel (Burkina Faso, Mali und Niger). Die ebenfalls             international (Ferdi), in: https://ferdi.fr/en/
      dramatische Lage in der Tschadseeregion im Vier­                  biographies/serge-michailof [06.05.2020].
      ländereck Kamerun, Niger, Nigeria und Tschad                  16 Die Sahel-Allianz koordiniert die Entwicklungszu-
      wird hier nicht behandelt.                                        sammenarbeit der wichtigsten Geber der G5 Sahel-
3     	­ACLED 2020: Ten Conflicts to Worry About in 2020,               staaten. Die Webseite der Sahel Allianz zeigt eine
      23.01.2020, in: https://bit.ly/2L2ipu3 [04.05.2020].             Vielzahl unterschiedlicher Projekte in sechs Sektoren
4     Gespräche des Autors in Bamako und Niamey 2019                    von Landwirtschaft bis innere Sicherheit. Eine wirk-
      und 2020.                                                         liche Schwerpunktbildung ist nicht erkennbar.
5     Peul ist die französische Bezeichnung für Fulani                 Alliance Sahel, in: https://www.alliance-sahel.org
      oder Fulbe.                                                      [06.05.2020].
6     Das Massaker von Ogossagou vom März 2019 mit                  17 Togola, Mamadou 2020: Mamadou Sinsy Couilbaly,
      über 130 Toten ist bis heute unaufgeklärt.                        président du ­CNPM: „Les fraudes sur les produits
7     Roger, Benjamin 2018: Mali: Amadou Koufa, le                      pétroliers font perdre à l’Etat plus de 10 milliards
      visage peul d’Al-Qaida, jeuneafrique, 20.11.2018,                ­FCFA par an“, Maliweb.net, 11.02.2020, in:
      in: https://bit.ly/3dgjNp1 [04.05.2020].                          https://bit.ly/2KYRcZ8 [04.05.2020].
8     So hat der bekannte französische Intellektuelle
      Bernard-Henri Lévy im Dezember 2019 in der
      Zeitschrift Paris Match die Behauptung aufgestellt,
      in Nigeria gäbe es eine „vor-genozidäre Situation“
      gegen die Christen des Landes, angetrieben von der
      Volksgruppe Peul, der auch der aktuelle Präsident
      Nigerias angehört. Vgl. Lévy, Bernard-Henri 2019:
     „Au Nigeria, on massacre les chrétiens“, le S       ­ OS de
      Bernard-Henri Lévy, Paris Match, 05.12.2019, in:
      https://bit.ly/3b1v6jb [04.05.2020]; Roussy, Caroline
      2020: „­BHL au Nigeria: le spectacle contre l’info“
      (Interview mit Vincent Foucher), IRIS, 24.01.2020,
      in: https://bit.ly/35D31hk [04.05.2020].
9     Pellerin, Mathieu 2019:Les violences armées au
        Sahara. Du djihadisme aux insurrections?, Études
      de l’Ifri, Ifri, 11/2019, S. 11, in: https://bit.ly/2SzSi1G
      [05.05.2020].
10    Der malische Soziologe Ely Dicko, ein hervorragender
      Kenner der Konfliktsituation, ist beispielsweise einer
      von zahlreichen Experten, die zurecht auf diese
      Komplexität hinweisen. Siehe u. a. Topona, Eric 2020:
      Iyad Ag Ghaly et Amadou Koufa, portraits de deux
      chefs djihadistes, Deutsche Welle, 12.02.2020, in:
      https://p.dw.com/p/3XggV [04.05.2020].
11    Einen lesenswerten Überblick hierzu bietet u. a.
      Assanvo, William / Dakono, Baba / Théroux-Bénoni,
      Lori-Anne / Maïga, Ibrahim 2019: Violent extremism,
      organised crime and local conflicts in Liptako-Gourma,
      Institute for Security Studies (ISS), 10.12.2019, in:
      https://bit.ly/2WsKDTX [04.05.2020].
12    Lagneau, Laurent 2020: Général Lecointre: Au Sahel,
      la capacité de régénération des terroristes est‚ forte‘,
      Zone Militaire, 07.03.2020, in : https://bit.ly/
      2SGtipH [04.05.2020].
13    Gespräch mit dem Autor in Sikasso 2018.

Nr. 21 (Mai 2020)                                                                                                         8
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