Die Pandemie treibt Spaltung an - Macron antwortet mit neuen Prioritäten - DGAP Policy Brief
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Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik Nr. 25 Oktober 2020 POLICY BRIEF Die Pandemie treibt Spaltung an Macron antwortet mit neuen Prioritäten Covid-19 hat Präsident Emmanuel Macron dazu gezwungen, sein politisches Programm neu auszurichten und dabei auf tieferliegende Spaltungen zu reagieren, die durch die Gesundheitskrise verstärkt wurden. Frankreich droht, in den nächsten Jahren wieder vermehrt Julie Hamann Mitarbeiterin, mit sich selbst beschäftigt zu sein. Das kann auch die Zusammen- Programm Frankreich/ arbeit mit Deutschland belasten, insbesondere wenn Macrons deutsch-französische europapolitische Ambitionen mit den wachsenden Zweifeln seiner Beziehungen Landsleute an den Erfolgen der Globalisierung in Konflikt geraten. – Neben dem 100 Milliarden Euro schweren wirtschaftlichen Wiederaufbauplan verspricht Macron nun einen neuen Fokus auf Sozialpolitik, Bürgernähe und Ökologie. – Damit muss er über die Corona-Folgen hinaus auch auf tiefer- liegende Krisen antworten: Sie betreffen wachsende Kritik am Zentralstaat, soziale Ungleichheiten und eine Krise der demo- kratischen Mitbestimmung. Gleichzeitig steigt das Misstrauen gegenüber den Eliten. – Diese Krisen wirken über Frankreich hinaus. Deshalb sollte Deutschland gemeinsam mit Frankreich an Strategien arbeiten, gegen diese Spaltungen und Rückzugstendenzen anzukämpfen.
2 Nr. 25 | Oktober 2020 Die Pandemie treibt Spaltung an – Macron antwortet mit neuen Prioritäten POLICY BRIEF Frankreichs Politik reagierte mit drastischen Maß- rück und erklärte, die Partei sei nicht in der Lage, die nahmen auf die durch Covid-19 ausgelöste Krise. neue Phase der Präsidentschaft zu bewältigen.5 Der Macron nutzte sie im Juli 2020 für die Ankündigung Politiker hatte im Vorfeld von Macrons Wahl die Ju- eines „neuen Wegs“1, der die Bevölkerung auf neue gendorganisation gegründet, die den Kandidaten un- Prioritäten für den Präsidentschaftswahlkampf 2022 terstützte. Sein Rücktritt vom Parteiamt zeigt die einstimmen soll. Doch eine zweite Welle der Pande- Schwierigkeiten, auch nach knapp vier Jahren die mie überschattete wenige Monate später Macrons Dynamik der Bewegung in Parteistrukturen zu über- politisches Manöver. Im Oktober erreichte die Zahl führen. Bei den Senatswahlen am 27. September der täglichen Neuinfektionen mit mehr als 25.000 2020 konnte LREM seine Situation immerhin stabil den höchsten Wert seit März 2020. Die wirtschaft- halten, ohne große Zugewinne, aber auch ohne Ver- lichen Prognosen haben sich mit den Investitions- luste. LREM ist jedoch weit von der erhofften Veran- maßnahmen leicht verbessert, doch die Zentralbank kerung in Frankreichs politischen Institutionen jen- Banque de France rechnet noch immer mit einem seits der Nationalversammlung entfernt. Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 8,7 Prozent im Jahr 2020 und damit mit einer Rezessi- Auch Macrons bedeutender europapolitischer Er- on; rund 800.000 Arbeitsplätze gehen verloren.2 Zu folg schlägt sich nicht in wachsende Beliebtheit zu- diesen wirtschaftlichen und sanitären Krisen kommt hause nieder: Das nach dem deutsch-französischen eine schon länger anhaltende Vertrauenskrise hin- Vorstoß im Europäischen Rat beschlossene Konjunk- zu, die Frankreichs politische Führung trifft. Anfang tur- und Investitionsprogramm entspricht in großen Oktober 2020 geben 64 Prozent der Befragten an, Teilen der haushaltspolitischen Flexibilität und So- kein Vertrauen in die Fähigkeit der Exekutive zu ha- lidarität, die er in den letzten Jahren immer wieder ben, die Pandemie einzudämmen.3 Gelingt es Macron von Deutschland eingefordert hat. Ob er davon je- nicht, diese mehrfachen Krisen zu bewältigen, könn- doch innenpolitisch profitieren kann, hängt wesent- te die Unterstützung von Anti-System-Parteien wie lich von der direkten Wirkung des Wiederauf bau- Marine Le Pens rechtsextremen Rassemblement na- fonds in Frankreich und dem weiteren Verlauf der tional (RN) bis 2022 weiter wachsen. Krise in Frankreich selbst ab. Denn noch immer sind Europa- oder Außenpolitik nicht die Arena, in der Nach einem kurzzeitigen Anstieg von Macrons Be- Franzosen über Erfolg oder Misserfolg ihrer Präsi- liebtheit nach der Vorstellung seines neuen Pro- denten urteilen. Zwar hat sich Macron im Wahlkampf gramms zu Beginn des Sommer, fällt sie nun wieder 2017 gerade durch seine klare Europafreundlichkeit auf eine Unterstützung zwischen 35 und 40 Prozent von Marine Le Pen abgehoben, wahlentscheidend zurück und der Anteil der Französinnen und Franzo- waren jedoch innenpolitische Themen. sen, die pessimistisch in die Zukunft blicken, steigt: 78 Prozent geben an, Frankreich befinde sich im Nie- Beachtenswert ist in dieser Hinsicht auch, dass die dergang – ein Rekordwert seit Macrons Wahl 2017.4 Bevölkerung wieder mehr an einem offenen Frank- Zweifel, ob Macron mit seiner Partei La Républi- reich zweifelt. Die Zustimmung zur Aussage, Frank- que en Marche (LREM) diesen Niedergang aufhal- reich müsse sich mehr vor der Welt schützen, er- ten kann, gibt es seit der Wahlschlappe bei den Kom- reicht mit 65 Prozent den höchsten Wert seit Beginn munalwahlen im Juni 2020. Die LREM erhielt bei der der jährlichen Erhebung im Rahmen dieser Studie Abstimmung nur einen Bruchteil der erhofften loka- 2013.6 Auch die Anzahl jener, die in der Globalisie- len Mandate. Hinzu kommt eine Verschärfung inner- rung eine Bedrohung für Frankreich sehen, ist seit parteilicher Konflikte: Ende September 2020 trat der 2017 deutlich auf 60 Prozent gestiegen7 – unter ei- stellvertretende Parteivorsitzende Pierre Person zu- nem Präsidenten Macron, für den es ein erklärtes 1 Elysée.fr, Statement von Emmanuel Macron, 5.7.2020, in: (abgerufen am 15.9.2020). 2 Banque de France, Projections macroéconomiques, September 2020, in: (abgerufen am 22.9.2020). 3 BMFTV, Le niveau de confiance dans l’exécutif pour lutter contre le Covid-19 au plus bas, 04.10.2020, in: (abgerufen am 12.10.2020). 4 Ipsos, Fractures francaises: face aux crises qui frappent le pays, un besoin de protection plus fort que jamais, 15.09.2020, in: 5 Le Monde, Pour Pierre Person, ex-numéro deux de LRM, le parti n’est pas „en mesure d’affronter la nouvelle étape du quinquennat“, 22.9.2020, in: 6 Siehe Ipsos 2020, S. 34. 7 Siehe ebd.
Nr. 25 | Oktober 2020 3 POLICY BRIEF Die Pandemie treibt Spaltung an – Macron antwortet mit neuen Prioritäten DIE SORGEN DER FRANZOSEN Ziel ist, Frankreich an die Globalisierung anzupas- sen. Fast identisch sind die Zahlen und deren Ent- Welche drei der hier angegebenen wicklung im selben Zeitraum bei der Frage, ob mehr Themen bereiten Ihnen persönlich die 49% Protektionismus französische Unternehmen vor in- größten Sorgen? ternationaler Konkurrenz schützen sollte.8 Die Frage, ob Macron bis 2022 Vertrauen in der Be- völkerung zurückzugewinnen kann, ist entscheidend. Auch 2022 könnte Macron in der Stichwahl wieder der Rechtsextremen Marine Le Pen gegenüber stehen. Je tiefer die gesellschaftlichen Spaltungen, desto stär- C OV I D - 1 9 39% ker profitieren Extremisten auf beiden Seiten. Dies betrifft langfristig auch den Nachbarn Deutschland – stehen sich dann doch ganz konträre Vorstellungen von Europa und der internationalen Zusammenarbeit gegenüber. Ein gemeinsames Vorgehen gegen natio- KAUFKRAFT nalen Rückzug und die Vertiefung gesellschaftlicher 37% Konflikte ist aus diesem Grund wesentlich. FRANKREICHS MEHRFACHE KRISE Z U K U N F T D E S S OZ I A L S Y S T E M S Die Pandemie ist nicht nur eine neue Krise, sie of- 36% fenbart außerdem bisherige Schwachstellen und ver- tieft die Vertrauenskrise. Das zeigt zum Beispiel das harsche Urteil über das Krisenmanagement von Prä- sident und Regierung durch die Bevölkerung: Rund U M W E LT S C H U T Z 61 Prozent der Befragten zeigen sich bei einer Um- 36% frage im Juli 2020 darüber enttäuscht (im Vergleich zu 32 Prozent der Befragten in Deutschland oder 46 Prozent in Italien)9. Deutschland und Frankreich hat- ten gerade zu Beginn der Krise mit ähnlichen Pro- K R I M I N A L I TÄT blemen zu kämpfen, wie zum Beispiel einem gravie- renden Mangel an Schutzausrüstung. Beide Länder 23% waren trotz der Sensibilisierung durch Expertinnen und Experten auf die Gefahr von Pandemien in den Vorjahren nicht auf eine solche Krise vorbereitet. Die WAC H S E N D E S OZ I A L E U N G L E I C H H E I T 21% 8 Siehe ebd., S. 82. 9 Destin Commun, Les oubliés dans la pandemie: La France en quête, September 2020, S. 19, in: (abgerufen am 22.9.2020). 18% A R B E I T S LO S I G K E I T 18% Eigene Darstellung, Daten aus: Ipsos/Sopra Steria: TERRORISMUS Fractures françaises: face aux crises qui frappent le pays, un besoin de protection plus fort que jamais, 12% 15.09.2020, S. 9, in:
4 Nr. 25 | Oktober 2020 Die Pandemie treibt Spaltung an – Macron antwortet mit neuen Prioritäten POLICY BRIEF WACHSENDES MISSTRAUEN GEGENÜBER DER GLOBALISIERUNG % 80 SEP 2020 60% D I E G LO B A L I S I E R U N G I S T E I N E 70 BEDROHUNG FÜR FRANKREICH. 61% 60 52% D I E G LO B A L I S I E R U N G I S T E I N E SEP 2020 50 CHANCE FÜR FRANKREICH. 48% 40% 40 39% 30 JAN 2013 JAN 2014 APR 2015 APR 2016 DEZ 2016 JUL 2017 JUL 2018 AUG 2019 Eigene Darstellung, Daten aus: Ipsos, Fractures françaises: face aux crises qui frappent le pays, un besoin de protection plus fort que jamais, 15.09.2020, S. 34, in: hohe Diskrepanz in der Beurteilung der politischen Lokal vs. zentral: Krise des Zentralstaats Reaktion lässt sich also nur in Teilen durch tatsäch- Die Kompetenzzuweisung zwischen Gebietskörper- liche Unterschiede im Krisenmanagement erklären. schaften und Zentralstaat ist im Zuge der Pande- Das strenge Urteil der befragten Franzosen kann mie wieder zum Debattenthema geworden. So be- auch als Fortsetzung einer schon lange anhaltenden klagt der liberale Think Tank Institut Montaigne in Unzufriedenheit mit der Arbeit der Regierung und einer Analyse des staatlichen Krisenmanagements des Präsidenten im Besonderen gesehen werden – während der Pandemie strukturelle Dysfunktionali- sichtbar auch in der bereits genannten niedrigen Be- täten.10 Mangelnde Transparenz, ein hoher Grad an liebtheit Macrons. Zentralisierung und gleichzeitig geringe Spielräu- me für lokale Akteure und Initiativen prägten gera- Mit seiner „Neuerfindung“ reagiert Macron nun de den Beginn der Krise. Die Ausrufung des sanitä- nicht nur auf die Krise durch Covid-19, sondern ren Notstands trug zusätzlich zur Zentralisierung bei auch auf tieferliegende Spaltungen der französi- – so hob zum Beispiel der Conseil d’État, Frankreichs schen Gesellschaft: Sie betreffen den Konflikt über oberstes Verwaltungsgericht, lokale Entscheidungen Zuständigkeiten zwischen Zentralstaat und lokalen über eine Maskenpflicht im April wieder auf. Wenig Akteuren, die wachsende Kluft zwischen Privilegier- später war sie landesweit Kernelement in der Be- ten und Chancenlosen und schließlich das Verhält- kämpfung der Pandemie. nis von traditionellen Instrumenten demokratischer Mitbestimmung und Forderungen nach mehr direk- Der Konflikt über Zentralismus geht weit über Fra- ter Demokratie. Diese Spaltungen tragen dazu bei, gen der administrativen Zuständigkeit hinaus. Die dass Frankreich innenpolitisch angespannt ist – gro- Proteste der Gelbwesten illustrierten einen substan- ße politische Auseinandersetzungen der letzten Jah- tiellen Konflikt zwischen urbanen Zentren und der re wie die der Gelbwesten und die Proteste gegen Peripherie. Der jahrelange Rückbau staatlicher Inf- die Rentenreform zeugen von ihrem Potential, poli- rastruktur, medizinischer Versorgung oder der Ver- tische Blockaden zu verursachen. Umso zentraler ist kehrsanbindung entfernt ländliche Regionen nicht es für Macron, diese Krisen in seiner zukünftigen Po- nur räumlich von der Hauptstadt: Auch politisch füh- litik gezielt zu adressieren. len sich viele Franzosen nicht von „Paris“ repräsen- 10 Nicolas Bauquet, L’action publique face à la crise du Covid-19, in: Institut Montaigne, Juni 2020, (abgerufen am 23.8.2020).
Nr. 25 | Oktober 2020 5 POLICY BRIEF Die Pandemie treibt Spaltung an – Macron antwortet mit neuen Prioritäten tiert. Lokale Entscheidungsträger hingegen, wie zum Nicolas Sarkozy bestand kein Unterschied.14 Wie ex- Beispiel Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, ge- plosiv dieser Konflikt ist, zeigten einmal mehr die nießen unter politischen Akteuren mit Abstand das Proteste der Gelbwesten, für die das Gefühl, gegen- meiste Vertrauen.11 über einer kleinen Elite abgehängt zu sein, identi- tätsstiftend war. Auch die Bewegung gegen die Ren- Macron antwortet auf diesen Konflikt mit Dezen- tenreform, die das Land Ende 2019 lahmlegte, ebenso tralisierungsmaßnahmen: Eine „Conférence des ter- wie die Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus ritoires“ soll die Beziehung zwischen Gebietskör- nach dem Mord an George Floyd 2020 in Minneapo- perschaften und Regierung neu ordnen.12 Auch der lis (USA) speisen sich aus der Kritik fehlender sozia- neue Premierminister Jean Castex, der zuletzt Bür- ler Gerechtigkeit und Chancengleichheit. germeister von Prades in den Pyrenäen war, soll eine neue Verbindung zwischen Paris und den Kommu- nen verkörpern, auch wenn er jahrelang in der nati- onalen Verwaltung tätig war. Ein erster Schritt, der die jahrelange Blockade zwischen Staat und Regio- nen lösen soll, ist ein von Castex nur wenige Wochen Weitere Krise: nach seinem Amtsantritt auf den Weg gebrachtes Abkommen mit den Regionen, das finanzielle Unter- Zerfall der Gesellschaft stützung für die Bewältigung der Corona-Krise bein- haltet.13 Zudem soll Amélie de Montchalins, Ministe- in soziale Klassen. rin für Transformation und den öffentlichen Dienst, die Verwaltung dezentraler und effizienter gestalten. Die Maßnahmen könnten dann erfolgreich sein, Die Corona-Krise macht den Staat nun wieder zum wenn sie über Konsultationen hinausgehen und kon- zentralen Akteur, um die soziale und wirtschaftliche krete Ergebnisse bringen, die sich zudem rasch in Sicherheit seiner Bevölkerung zu garantieren – der den aktuellen Prioritäten wie zum Beispiel Gesund- Moment also für eine „soziale Wende“, die Macron heit, ökologische Transformation oder wirtschaftli- mit der Versicherung „was immer es kostet“ in seiner che Investitionen umsetzen lassen. Die nun für alle Fernsehansprache am 12. März einleitete. Konkret Ministerinnen und Minister obligatorisch geworde- bedeutet das: Die zu Beginn des Mandats beschlos- nen wöchentlichen Termine außerhalb von Paris rei- sene Aufhebung der Wohnsteuer gilt vorerst nicht chen nicht aus, wenn dieser zweite Schritt nicht ge- mehr für vermögende Haushalte, den Gesundheits- gangen wird. sektor stärkt der Staat nach intensiven Beratungen mit Akteuren im Gesundheitsbereich mit Investitio- Privilegiert vs. chancenlos: Krise des Sozialstaats nen von 8,2 Milliarden Euro, die Sozialversicherung Obwohl Macron mit seiner Wahl die klassische soll in einer großen und kostenintensiven Reform Rechts-Links-Spaltung der französischen Poli- durch eine neue Säule ergänzt werden, die der Pfle- tik überwunden hat, ist eine andere Spaltung umso ge gewidmet ist. Die beiden bisher für Macron zen- stärker zurückgekehrt: der Zerfall der Gesellschaft tralen Reformbaustellen, die Rentenreform15 und die in soziale Klassen. Betrachtet man die Unterstüt- Reform der Arbeitslosenversicherung, werden vor- zung des Staatspräsidenten unter sozioökonomi- erst aufgeschoben. Letztere, die unter anderem vor- schen Gesichtspunkten, so ist sie bei den oberen sieht, den Zugang zu Arbeitslosengeld stärkeren Be- Einkommensklassen 27 Prozentpunkte höher als bei dingungen zu unterlegen, wird die Regierung in den Arbeiterinnen und Arbeitern. Bei seinem Vorgänger kommenden Monaten besonders schwer vermitteln François Hollande war es nur ein Prozentpunkt; bei können: Schätzungen des Versicherers Coface zu- 11 Cevipof, Baromètre de la confiance politique, Un rebond de confiance en tromp l’oeil? März 2020, S.32, in: (abgerufen am 23.8.2020). 12 Stéphane Vernay, „La rentrée sera très dure, il faut nous y préparer“, annonce Emmanuel Macron, in: Ouest France, 2.7.2020, in: (abgerufen am 23.8.2020). 13 Patrick Roger, Face à la crise, Matignon et ses régions signent un partenariat, in: Le Monde, 14.8.2020, (abgerufen am 23.8.2020). 14 Fondation Jean Jaurès, La pénibilité au travail, 2019, in: (abgerufen am 23.8.2020). 15 Siehe Demesmay/Hamann (2019): Rentenreform in Frankreich: Proteste bedrohen Macrons Image als Reformer, in: (abgerufen am 23.8.2020).
6 Nr. 25 | Oktober 2020 Die Pandemie treibt Spaltung an – Macron antwortet mit neuen Prioritäten POLICY BRIEF folge könnten Unternehmenskonkurse in Frankreich formfähigkeit. Aus den kommenden Verhandlungen zwischen Ende 2019 und Ende 2021 um 21 Prozent mit den Sozialpartnern müssen beide Seiten als Sie- zunehmen.16 Die Arbeitslosigkeit könnte bis Anfang ger hervorgehen können. Gelingt das nicht, könnte des kommenden Jahres auf 13,5 Prozent steigen.17 Be- der Konflikt wieder auf die Straße verlagert werden. sonders betroffen sind junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: Rund 700.000 junge Menschen versu- Rückzug vs. Beteiligung: Krise der Mitbestimmung chen in diesem Herbst unter diesen erschwerten Be- Eine große Unzufriedenheit mit Frankreichs politi- dingungen, in den Arbeitsmarkt einzutreten. schem System – von der schwachen Rolle des Par- laments über die fehlende Möglichkeit von Bürger- Auch der soziale Dialog soll unter Premierminister initiativen hin zum starken Zentralismus – drückte Castex eine neue positive Dynamik erlangen. Das sich regelmäßig in Umfragen oder im steigenden An- Verhältnis zwischen Exekutive und Gewerkschaf- teil von Wahlenthaltungen aus. Bei den diesjährigen ten war zuletzt selbst bei der reformorientierten und Kommunalwahlen beteiligten sich nur knapp 38 Pro- Macron anfangs wohlgesinnten CFDT (Confédération zent der Wahlberechtigten, so wenige Wähler wie française démocratique du travail) angespannt und noch nie. Mag die Pandemie sicherlich ein Grund von Misstrauen geprägt. Die Gewerkschaften be- für die niedrige Wahlbeteiligung sein, so entspricht dies doch dem Negativtrend der vergangenen Jahre. Gleichzeitig werden Forderungen nach mehr politi- schem Gestaltungsspielraum außerhalb von Wahlen immer lauter. Abschluss der Renten- Die Gelbwesten gaben den Anstoß für eine Diskussi- reform wäre starkes on über die Einführung eines Referendums per Bür- gerinitiative (RIC, référendum d’initiative citoyenne) Signal für Reform- – eine Forderung, die rund drei Viertel der Franzo- sen teilt.18 Macron antwortete auf diese Forderung fähigkeit Frankreichs. zunächst mit der „Grand débat“, bestehend aus zahl- reichen Gesprächen und Diskussionsrunden zwi- schen Wählerinnen und Wählern sowie Gewähl- ten, und dem Bürgerklimarat (Convention citoyenne pour le climat). Letzterer ist dabei besonders inno- klagten bei Konsultationen im Vorfeld der Rentenre- vativ: Seit Oktober 2019 trat eine aus 150 per Losver- form fehlenden Verhandlungsspielraum. Mit der vor fahren ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern be- kurzem beschlossenen Prämie für Unternehmen, die stehende Versammlung an sieben Wochenenden junge Menschen unter 26 Jahren anstellen, gewinnt zusammen und entwickelte im Austausch mit Ex- die Regierung wieder an Ansehen unter den Gewerk- perten Maßnahmen, die zur Erreichung der franzö- schaften. Doch besonders die pausierende Rentenre- sischen Klimaziele (Rückgang der CO2-Emmissionen form birgt auch in Zukunft Konfliktstoff: Die Regie- bis 2030 um 40 Prozent zum Referenzjahr 1990) bei- rung braucht die Reform, um das Haushaltsdefizit zu tragen sollen. Die 149 Vorschläge19 wurden Ende Juni reduzieren, und will das Dossier ab Herbst 2020 wie- dem Präsidenten vorgelegt. Einige davon sollen über der öffnen. Die Konfliktpunkte Renteneintrittsalter Abstimmungen in der Nationalversammlung zu Ge- und Ausnahmeregelungen bleiben bestehen. Wenn setzen werden, über andere sollen die Französinnen Macron die Reform fortsetzt, riskiert er die Glaub- und Franzosen in einem Referendum abstimmen. Ein würdigkeit seiner angekündigten sozialen Wen- solches Referendum könnte ein starkes Signal sein: de. Gleichzeitig wäre für ihn ein Abschluss der Re- Nicht nur würde es zeigen, dass es dem Präsidenten form ein wichtiger Erfolg für sein politisches Lager um mehr als Lippenbekenntnisse ging, als er den Kli- und außerhalb Frankreichs ein starkes Signal für Re- mabürgerrat anstieß. Es würde außerdem die Legiti- 16 Béatrice Madeline, La crise due au coronavirus provoquera une forte hausse du nombre de faillites d’entreprises à partir du second semestre, in: Le Monde, 16.6.2020, (abgerufen am 23.8.2020). 17 Banque de France, Projections macroéconomiques, Juni 2020, in: (abgerufen am 23.8.2020). 18 IFOP, Les Français et le référendum d’initiative citoyenne, 6.2.2019, in: (abgerufen am 23.8.2020). 19 Die vorgeschlagenen Maßnahmen werden auf der Homepage des Klimabürgerrats vorgestellt: (abgerufen am 23.8.2020).
Nr. 25 | Oktober 2020 7 POLICY BRIEF Die Pandemie treibt Spaltung an – Macron antwortet mit neuen Prioritäten mität tiefgreifender Maßnahmen zur Einhaltung der Diese Schwachstelle kann nur ein tiefgreifender sys- französischen Klimaziele stärken. Macron hat Öko- temischer Wandel beheben – etwa eine Änderung logie und die Energiewende zu einem Pfeiler sei- des Wahlrechts zugunsten des Mehrheitswahlrechts ner Neuausrichtung gemacht und reagiert damit oder eine derzeit nicht absehbare Rückkehr zu ei- auch auf den unerwarteten Vormarsch der Grünen, nem Parteiensystem mit zwei großen und stabilen die bei den Kommunalwahlen die Rathäuser mehre- gemäßigten Parteien auf der linken wie auf der kon- rer Großstädte gewonnen haben. Eine konsequente servativen Seite. Umso wichtiger ist es für Macron Umsetzung zumindest einiger Maßnahmen des Kli- aktuell, andere, flexiblere Möglichkeiten der Bürger- mabürgerrats ist für seine Glaubwürdigkeit in die- beteiligung aktiv zu unterstützen. sem Feld unerlässlich. Neben einer „grünen Welle“ haben die Kommunal- MACRON BRAUCHT ALLIANZEN wahlen einen anderen Trend bestätigt: Der Wunsch vieler Wählerinnen und Wähler nach Erneuerung des Macrons Richtungswechsel soll an sein 2017 geleiste- politischen Personals ist auch nach Macrons Quer- tes Transformationsversprechen anknüpfen. Bereits einstieg 2017 spürbar – nur ist Macron mit seiner damals wies er zum Beispiel auf die Notwendigkeit Partei LREM nun selbst zur Zielscheibe der Eliten- größerer demokratischer Einbindung der Bürgerin- kritik geworden. In einer Umfrage vor den Kommu- nen und Bürger hin und erzielte seinen Erfolg gera- nalwahlen 2020 gaben 66 Prozent das Anliegen nach de weil er für einen Elitenwechsel stand. Doch hat- mehr Kandidierenden ohne politisches Etikett an.20 te er der Bedeutung dieser Konflikte nicht genügend Gerade unter den vielerorts erfolgreichen Grünen Raum gegeben. Mit der Pandemie kommt nun ein gab es viele Personen aus der Zivilgesellschaft ohne externer Faktor hinzu, der aufgrund seines Ausma- politische Erfahrung. Netzwerke außerhalb der klas- ßes einen Politikwechsel fast erzwingt und Macron sischen Parteien verhalfen politischen Bündnissen die Möglichkeit neuer Prioritäten bietet. Doch die wie dem links-grünen „Marseiller Frühling“ (Prin- Euphorie des Auf bruchs nach seinen Ankündigun- temps marseillais) mit seiner neuen Marseiller Bür- gen vor wenigen Monaten hielt nur kurz an. In den germeisterin Michèle Rubirola zum überraschenden kommenden Monaten kommt es vor allem auf drei Sieg. Eine Quereinsteigerin oder ein Quereinsteiger Dinge an, um die genannten Spaltungen zu mindern: könnte auch bei der Präsidentschaftswahl 2022 eine Für die Unterstützung wirtschaftlicher und sozia- Rolle spielen. ler Maßnahmen braucht die Regierung erstens die stärkste Gewerkschaft CFDT (Confédération françai- Bleibt noch ein strukturelles Problem der franzö- se démocratique du travail) des Landes als Partner. sischen Demokratie: Das Wahlsystem kann die be- stehende politische Diversität, von der die Ergeb- Zweitens müssen lokale, dezentrale Akteure für eine nisse der Kommunalwahlen zeugen, nicht abbilden. konkrete Umsetzung des „Wiederauf baus“ sorgen, Sie führt bei den Präsidentschaftswahlen unweiger- zum Beispiel indem sie die ökologische Transforma- lich spätestens im zweiten Wahlgang zu einer Po- tion vor Ort anstoßen. Die Kommunalwahlen haben larisierung, die sich mit der wachsenden Fragmen- nicht dazu geführt, zentrale Bürgermeisterposten tierung des Parteiensystems zu einer Konfrontation durch Personal der Präsidentenpartei zu besetzen. „demokratisch“ vs. „(rechts)populistisch“ verengt. Umso wichtiger ist es, Mitstreiter aus dem konser- Das zeigt ein Blick auf 2022: Trotz der Wahlnieder- vativen bis zum gemäßigt linken und gar grünen La- lage der LREM bei den Kommunalwahlen zeigen ak- ger zu identifizieren. tuelle Umfragen, dass sowohl ein Kandidat aus dem linken bzw. grünen Lager als auch aus dem konser- Drittens braucht Macron mit dem für 2021 angekün- vativen Lager nicht über den dritten Platz hinaus digten Referendum über eine der vom Klimarat be- kommen würde – ein erneutes Duell zwischen Ma- schlossenen Maßnahmen einen deutlichen Erfolg. cron und Marine Le Pen wäre wahrscheinlich.21 Dies Das würde ihm mehr Legitimität für seine Klima- ermüdet und frustriert die Wählerinnen und Wäh- politik verschaffen sowie die Glaubwürdigkeit, den ler und macht den Faktor der Wahlenthaltung zu ei- Wunsch vieler Menschen nach mehr Mitbestimmung nem möglicherweise wahlentscheidenden Element. ernst zu nehmen. 20 Cap collectif/Opinion Way, Municipales 2020: Les Français ont leurs maux à dire, in: (abgerufen am 23.8.2020). 21 Harris Interactive, Quel candidat pour la droite à 2 ans de l’élection présidentielle?, In: (abgerufen am 23.8.2020).
8 Nr. 25 | Oktober 2020 Die Pandemie treibt Spaltung an – Macron antwortet mit neuen Prioritäten POLICY BRIEF Was Macrons Rolle in der Europapolitik angeht, so muss sich Deutschland darauf einstellen, dass er die- se nach dem innenpolitischen Kontext definiert und dabei an seinen immer wieder betonten europapo- litischen Grundsätzen orientiert: „Unabhängigkeit, Macht, Identität“22 – für Frankreich und damit für Europa. Macron muss Frankreichs Bevölkerung da- von überzeugen, dass sich der Wunsch nach einem souveränen Frankreich logisch nur mit einem souve- ränen Europa übersetzen lässt. Dabei sollte Deutsch- land bewusst sein, dass die beschriebenen gesell- schaftlichen Spaltungen den Nachbarn auch über 2022 hinaus prägen werden. Ähnliche Entwicklungen finden darüber hinaus auch in Deutschland statt. Zum Beispiel hat die Corona- Krise zuletzt eine Minderheit sichtbar gemacht, die von Misstrauen und Ablehnung gegenüber den Insti- tutionen der Demokratie geprägt ist. Gerade rechts- extreme Netzwerke können eine solche Stimmung leicht instrumentalisieren. Für die deutsch-französi- sche Kooperation ist es also wichtig, diesen demo- kratiebedrohenden Entwicklungen mehr Aufmerk- samkeit zuzuwenden und gemeinsam Lösungen und Strategien auf europäischer Ebene voranzubringen, um die Demokratien dagegen resilienter zu machen. Zwei große Themenfelder eigenen sich dazu beson- ders: Eine Vertiefung der europäischen Sozialpolitik mit dem Ziel, Ungleichheiten zu reduzieren, und das gemeinsame Eintreten für eine ökologische Trans- formation zur Bekämpfung der Klimakrise. Die enge Abstimmung bei der Umsetzung des europäischen Wiederauf baufonds hat beispielhaft gezeigt, wie dank des deutsch-französischen Kompromisses eine europapolitische Transformation angestoßen wer- den kann. Der Wiederauf baufonds beinhaltet bereits Komponenten, die diese soziale Dimension und In- vestitionen in eine klimafreundliche Wirtschaft kom- binieren. Diese Schritte sollten in Zukunft auch wei- terhin von ambitionierten deutsch-französischen Vorstößen begleitet werden. 22 Clément Beaune, Europa jenseits von Covid, Hertie School Jacques Delors Centre, in : ; Originalversion auf Französisch erschienen in Politique étrangère 85/3, 2020, (abgerufen am 22.9.2020).
Rauchstraße 17/18 10787 Berlin Tel. +49 (0)30 25 42 31-0 info@dgap.org www.dgap.org @dgapev Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP) forscht und berät zu aktuellen Themen der deutschen und euro- päischen Außenpolitik. Dieser Text spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren wider, nicht die der DGAP. Herausgeber Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. ISSN 2198-5936 Redaktion Susann Kreutzmann Layout/Infografiken Luise Rombach Design Konzept: WeDo Fotos Autorinnen und Autoren © DGAP Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
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