Langfristige wirtschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie
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FORSCHUNGSERGEBNISSE Joachim Ragnitz Langfristige wirtschaftliche Auswirkungen der Corona-Pandemie Die aktuelle Corona-Pandemie hat die Wirtschaft welt- IN KÜRZE weit in eine tiefe Rezession gestürzt. So dürfte das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 in Deutschland um rund 5½% niedriger ausfallen als im Vorjahr. Aktuell Die Diskussion um die ökonomischen Folgen der Coronakrise vorliegende Konjunkturprognosen gehen zwar von ei- konzentriert sich bislang vor allem auf die eher kurzfristigen ner allmählichen Erholung aus, so dass das Vorkrisen- konjunkturellen Effekte. Tatsächlich besteht das Risiko, niveau des Bruttoinlandsprodukts gegen Ende des Jah- dass die wirtschaftliche Entwicklung auch längerfristig negativ res 2021 wieder erreicht werden wird (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose 2020). Dies basiert aber auf hierdurch beeinflusst wird. Insbesondere könnte sich die Krise der Annahme, dass ein zweiter flächendeckender Lock- ungünstig auf das weitere Wachstum des Produktionspotenzials down des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Le- und den sektoralen Strukturwandel auswirken. Der vorliegende bens vermieden werden kann, was sich inzwischen Beitrag nimmt deshalb mögliche Auswirkungen auf die als unzutreffend herausgestellt hat. Selbst dann muss mittelfristige Wirtschaftsentwicklung in Deutschland man aber davon ausgehen, dass die Krisenfolgen auch in den Blick. langfristig noch spürbar sein werden. Es ist erstaun- lich, dass die langfristigen Krisenfolgen in Politik, Öf- fentlichkeit und auch in der Wissenschaft bislang kaum thematisiert werden. ausgelasteten Kapazitäten Beschäftigte entlasten Angesichts des fehlenden Präzedenzfalls ist es und auch, weil einige Unternehmen die Krise nicht zwar schwierig abzuschätzen, wie sich die Coronakrise überleben werden. Nach der Gemeinschaftsdiagnose auf die Entwicklung des Produktionspotenzials oder vom Herbst 2020 dürften wegen der Corona-Pande- den sektoralen Strukturwandel auswirken wird. Im mie rund 800 000 Arbeitsplätze weggefallen sein. Die Folgenden werden einige Überlegungen hierzu ange- Arbeitslosenquote, die im Jahr 2019 bei 5,0% lag, stellt – wobei es naturgemäß nicht möglich ist, bereits hat sich im Zuge dessen auf 5,9% erhöht und wird quantitative Abschätzungen vorzunehmen. Man be- wohl auch im Jahr 2022 noch um etwa einen halben wegt sich insoweit wenigstens zum Teil im Bereich der Prozentpunkt höher liegen als vor der Krise. Zwar Spekulation – doch auch wenn die Volkswirtschafts- zählen auch Personen in Arbeitslosigkeit weiterhin lehre keine exakte Wissenschaft ist, lassen sich einige zum Arbeitskräftepotenzial; dennoch ist nicht auszu- grundlegenden Tendenzen ableiten, die für die künftige schließen, dass ein Teil davon aufgrund veränderter Entwicklung mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeutsam Qualifikationsanforderungen seitens der Arbeitgeber sein werden. oder aufgrund einer Veränderung der Wirtschafts- strukturen nicht wieder in Beschäftigung zurückfin- AUSWIRKUNGEN DER CORONAKRISE AUF DIE ENT- den wird, so dass sich das effektiv nutzbare Arbeits- WICKLUNG DES PRODUKTIONSPOTENZIALS kräftepotenzial quantitativ, zumindest aber qualitativ verringert. Das Produktionspotenzial ist eine statistische Kenn- Befürchtet wird überdies, dass sich der Ausfall größe, die angibt, wie sich die angebotsseitigen Pro- von Schulunterricht während des Lockdown, gege- duktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft entwi- benenfalls auch der weitgehende Verzicht auf Prä- ckeln. Es hängt insoweit außer von der verwendeten senzveranstaltungen an den Hochschulen, negativ auf Produktionstechnologie vor allem von der Ausstattung den Bildungserfolg der Betroffenen auswirkt (Wöß- mit Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital und technolo- mann 2020). Auch dies könnte zu einer qualitativen gisches Wissen) ab. Zu vermuten ist, dass die aktuelle Verschlechterung des künftigen Arbeitskräfteange- Corona-Pandemie den Bestand und den Einsatz aller bots führen. drei Produktionsfaktoren zumindest temporär negativ beeinflussen wird. Produktionsfaktor Sachkapital Produktionsfaktor Arbeit Mit Blick auf die Kapitalausstattung der Wirtschaft macht insbesondere die zu erwartende Investiti- Etliche Arbeitskräfte werden in der Pandemie ihren onszurückhaltung der Unternehmen Sorgen. Vorlie- Arbeitsplatz verlieren, weil Unternehmen bei schwach genden Konjunkturprognosen zufolge werden die ifo Schnelldienst 11 / 2020 73. Jahrgang 11. November 2020 25
FORSCHUNGSERGEBNISSE realen Ausrüstungsinvestitionen, die sich schon im Wirtschaft vorangetrieben haben dürfte. Dies kann Jahr 2019 äußerst schwach entwickelt haben, noch sich positiv auf die Produktivität des Faktoreinsatzes bis zum Jahr 2022 auf niedrigem Niveau verhar- auswirken, so wenn überflüssige Dienstreisen durch ren. Auf der einen Seite vermindern die pandemie- virtuelle Meetings ersetzt werden oder neue techni- 'bedingten Umsatz- und Gewinnausfälle die Mög- sche Ausstattungen zum Einsatz kommen. Unklar ist lichkeiten der Unternehmen, Investitionen in den allerdings, inwieweit auch eine verstärkte Nutzung Sachkapitalstock zu finanzieren – auch weil die Be- von Homeoffice-Lösungen produktivitätssteigernd reitschaft der Banken zur Kreditgewährung mit von wirkt – während Arbeitnehmer in Befragungen mehr- der Eigenkapitalausstattung der Kreditnehmer ab- heitlich angeben, dass sie hier eine höhere Produk- hängig ist. Und auf der anderen Seite sinkt auch der tivität erreichen (DAK 2020), fürchten Unternehmen Investitionsbedarf bei weiterhin unterausgelasteten häufig Produktivitätseinbußen (Randstad 2020). Für Kapazitäten. Schließlich dämpft auch die Unsicher- letzteres spricht zudem, dass die (Arbeits-)Produkti- heit über die Erholung die Investitionsbereitschaft vität in vielen Berufen auch vom sozialen Austausch der Unternehmen. Wenn aber weniger investiert mit Kollegen und Kunden/Lieferanten abhängig ist, wird, dämpft dies nicht nur die Modernisierung des der im Homeoffice in besonderem Maße leidet. Produktionsapparats und damit die Produktivitäts- Wie bereits angedeutet, lassen sich die verschie- entwicklung, sondern kann auch dazu führen, dass denen Einflussfaktoren auf die Höhe und die Entwick- neue Arbeitsplätze nicht im erforderlichen Umfang lung des Produktionspotenzials zum derzeitigen Zeit- entstehen. punkt nicht quantifizieren. Gängige Methoden zur Messung des Produktionspotenzials, die gemeinhin Technologisches Wissen auf einer Fortschreibung vergangener Werte des BIP bzw. seiner angebotsseitigen Determinanten beruhen, Das Wachstum des Produktionspotenzials wird können diesen Effekt methodisch bedingt daher auch schließlich in erheblichem Umfang durch den tech- nicht berücksichtigen (Projektgruppe Gemeinschafts- nischen Fortschritt vorangetrieben. Zwar lässt sich diagnose 2020, S. 68). Dessen ungeachtet bleibt je- dieser nicht direkt messen, wichtige Determinante doch zu konstatieren, dass schon aktuell (Schätzung des technischen Fortschritts sind jedoch Forschungs- für den Zeitraum 2019–2025) das Potenzialwachs- und Entwicklungsinvestitionen der Unternehmen. tum lediglich rund 0,9% pro Jahr beträgt, rund ei- Auch hier ist von einer Dämpfung durch die Pande- nen halben Prozentpunkt weniger als im Zeitraum mie auszugehen, denn viele Unternehmen sehen sich 1996–2019 (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage 2020, S. 66). Grund für das langsamere Wachstum zu Kosteneinsparungen gezwungen – was möglicher- der Produktionsmöglichkeiten ist dabei vor allem der weise auch die Forschungsbudgets einschließt. So er- weithin ausgereizte Spielraum für eine Steigerung der warten in einer Expertenbefragung des Projektträgers Erwerbsbeteiligung sowie ein geringeres Wachstum Jülich mehr als die Hälfte der Befragten (52%) nega- des Kapitalstocks. Zu befürchten ist, dass das Po- tive Auswirkungen der Coronakrise auf die FuE-Akti- tenzialwachstum nach der Corona-Pandemie noch vitäten deutscher Unternehmen, vor allem aufgrund geringer ausfällt als bislang schon erwartet. von Finanzierungsengpässen und veränderter Priori- täten (Projektträger Jülich 2020). Auch eine BDI-Um- AUSWIRKUNGEN DER CORONAKRISE AUF DEN frage (2020) kommt zu dem Ergebnis, dass knapp 40% SEKTORALEN STRUKTURWANDEL der befragten Unternehmen ihre FuE-Aktivitäten we- gen der Coronakrise verringern wollen. Die Folgen der Coronakrise treffen die einzelnen Längerfristig könnte es überdies auch bei der Branchen in unterschiedlicher Weise. Nicht über- öffentlich finanzierten Forschung zu Einschränkungen raschend ist es, dass vor allem Wirtschaftszweige, kommen, wenn Bund und Länder aufgrund der fiska- die stark vom Lockdown und den auch danach nur lischen Belastungen durch die Coronakrise Einsparun- zögerlich aufgehobenen Restriktionen betroffen wa- gen auch bei Hochschulen, Forschungseinrichtungen ren, die stärksten Geschäftseinbußen hinzunehmen und Forschungsförderprogrammen vornehmen soll- hatten – vor allem Beherbergungsgewerbe, Gastro- ten. Dem steht allerdings entgegen, dass auch die nomie, Veranstaltungswesen sowie einige andere zur Abfederung der Krise beschlossenen Konjunk- (primär soziale) Dienstleistungszweige; darüber hin turprogramme zum Teil auf die Unterstützung von aus auch Teile des Verkehrsgewerbes. Teilweise gibt Forschung und Entwicklung gerichtet sind.1 es hier bis heute faktische Geschäftsverbote, teil- Beschleunigend auf die Entwicklung des Pro- weise ist die Auslastung der Kapazitäten behördli- duktionspotenzials könnte sich allerdings auswirken, cherseits stark eingeschränkt. Auch Teile des Han- dass die Coronakrise die Digitalisierung der deutschen dels leiden bis heute unter den pandemiebeding- ten Restriktionen; auch wenn alle Geschäfte wieder 1 Das im Juni 2020 beschlossene »Zukunftspaket« des Bundes sieht öffnen dürfen, scheinen hier verschärfte Hygiene- unter anderem vor, die steuerliche Innovationsförderung auszubau- en und die Forschung in ausgewählten Zukunftstechnologien zu be- schutzvorschriften und eine geringe Kaufbereitschaft schleunigen. der Konsumenten die Geschäfte zu hemmen. Hinzu 26 ifo Schnelldienst 11 / 2020 73. Jahrgang 11. November 2020
FORSCHUNGSERGEBNISSE kommen fortbestehende Verhaltensänderungen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgemacht; der Verbraucher, von denen vor allem der Online- viel spricht aber dafür, dass gerade Unternehmen Handel zulasten des stationären Einzelhandels pro- mit einer dünnen Kapitaldecke, einem veralteten Ge- fitiert. schäftsmodell und allgemein jene, die in Märkten mit einer hohen Wettbewerbsintensität tätig sind, die Verarbeitendes Gewerbe weiterhin stark Krise nicht überleben werden. Hinzu kommt, dass betroffen Hilfen des Staates oftmals nur in Form von Krediten gewährt werden – manch ein Unternehmensinhaber Eher unerwartet ist auf den ersten Blick hingegen, mag das Risiko scheuen, für längere Zeit mit Zins- und dass auch viele Unternehmen des Verarbeitenden Tilgungszahlungen belastet zu sein, vor allem dann, Gewerbes angeben, weiterhin stark negativ durch wenn er oder sie bereits kurz vor der Rente steht und die Pandemie betroffen zu sein. Zwar befand sich eine Nachfolge noch ungeklärt ist. Da dieses Problem die Industrie auch schon vor dem Corona-Ausbruch insbesondere in strukturschwächeren Regionen viru in einer rezessiven Phase, so dass nicht alle Beein- lent ist, könnte die Krise auch zu einer Verschärfung trächtigungen hier tatsächlich auf die Coronakrise regionaler Disparitäten beitragen. zurückzuführen sein dürften. Dennoch leiden viele Industrieunternehmen offenkundig bis heute darun- Unternehmensschließungen unvermeidlich ter, dass im Zuge der Grenzschließungen und der Be- einträchtigungen im Luftverkehr Lieferketten gestört Es gehör t zum Wesen einer marktwir tschaft- waren, was sowohl auf der Beschaffungs- wie auf der lichen Ordnung, dass Unternehmen, die z.B. auf- Absatzseite zu Schwierigkeiten führte. Hinzu kommen grund veränderter Rahmenbedingungen Wettbe- hier auch nachfrageseitige Probleme, da aufgrund werbsnachteile erleiden, aus dem Markt ausschei- der insgesamt gedämpften Nachfrage im Inland wie den müssen. Auf diese Weise wird der Produktivi- im Ausland der Absatz bis heute eher schwach ist. tätsfortschritt vorangetrieben, denn im Regelfall Hiervon ist neben dem Kraftwagenbau samt seiner werden sie durch Unternehmen verdrängt, die auf- Zulieferer vor allem der Maschinenbau betroffen, da grund von Kosten- oder Innovationsvorteilen bes- die Investitionsgüternachfrage im Zuge der Pandemie ser an die veränderten Bedingungen angepasst sind stark eingebrochen ist und sich trotz der aktuellen Er- (Schumpeter 1911). Dies gilt grundsätzlich auch für holung auch in den kommenden Jahren nur schwach die aktuelle Coronakrise und die Folgen der erlasse- entwickeln dürfte. nen Restriktionen. Es wäre deshalb falsch, Unterneh- Einige Branchen spüren allerdings gar keine (di- mensschließungen per se vermeiden zu wollen – und rekten) Folgewirkungen der Coronakrise, einige we- manche der von der Bundesregierung beschlosse- nige (wie die Pharmazeutische Industrie) profitierten nen Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise (vor allem sogar von der Verschiebung von Nachfrageströmen. die unkonditionierte Verlängerung der erleichterten Im Großen und Ganzen stellt die Pandemie jedoch Kurzarbeitergeldregelungen bis zum Ende des Jah- einen exogenen Schock dar, der nahezu überall mit res 2021) bergen die Gefahr in sich, dass diese markt- starken Geschäftseinbußen verbunden war. Die Krise bereinigende Wirkung des Wettbewerbs außer Kraft hat dabei vor allem auch offengelegt, wie stark ver- gesetzt wird. flochten die einzelnen Wirtschaftszweige sind und dass restriktive Maßnahmen in einem Sektor über Liquiditätshilfen gerechtfertigt diese Verflechtungen auch solche Branchen in Mit- leidenschaft ziehen können, die durch die Pandemie Um das beschriebene Verdrängungsrisiko abzugelten, und die zu ihrer Bekämpfung erlassenen Restriktio- enthält der »Unternehmerlohn« stets auch eine Risi- nen überhaupt nicht direkt betroffen waren. koprämie, die so hoch ist, dass damit die »normalen« Über alle Branchen hinweg wird die Wirtschafts- Marktrisiken abgegolten sind. Die Coronakrise und der lage von den Unternehmen weiterhin deutlich un- weitgehende Lockdown lassen sich allerdings kaum in günstiger eingeschätzt als unmittelbar vor der Krise; den Bereich normaler, von den Unternehmen antizi- im Oktober 2020 lag die Lagekomponente des ifo Ge- pierbarer Risiken einordnen, weshalb Liquiditätshilfen, schäftsklimaindex weiterhin um rund 10 Prozent- wie sie von der Bundesregierung und den Landesregie- punkte unter dem Niveau vom Beginn des Jahres. rungen für zahlreiche Unternehmen gewährt wurden, Nach den Corona-Sonderfragen im Rahmen der ifo auch ihre Berechtigung hatten und haben. Konjunkturumfrage September 2020 rechnen die Un- Hinzu kommt, dass auch solche Unternehmen ternehmen insgesamt erst für Mitte 2021 mit einer unverschuldet in Not geraten sind, die eine »system- Normalisierung ihrer Geschäfte. Es ist absehbar, dass relevante« Bedeutung haben, z.B. aufgrund einer ge- nicht alle Betriebe eine solche lange Durststrecke samtwirtschaftlich bedeutsamen Innovationsleistung überstehen werden. Ob es tatsächlich zu einer Plei- oder einer wichtigen Position als Zulieferer in einer tewelle kommt (die auch die Gläubiger der betroffe- Wertschöpfungskette. Hier erscheint es somit schon nen Unternehmen in Mitleidenschaft ziehen würde) wegen der mit einer etwaigen Schließung verbun- oder lediglich zu »stillen« Unternehmensschließungen denen externen Effekte gerechtfertigt, auch mit an ifo Schnelldienst 11 / 2020 73. Jahrgang 11. November 2020 27
FORSCHUNGSERGEBNISSE und für sich marktwidrigen Hilfen (wie einer Betei- haften Schwächung der deutschen Industrie kommt. ligung des Staates) einzuspringen. Wichtig ist dann Will man das vermeiden – und hierfür sprechen nicht allerdings, die für eine Gewährung von Eigenkapi- nur die vergleichsweise hohen Einkommenserzielungs- talhilfen relevanten Kriterien vorab festzulegen und möglichkeiten in diesem Sektor, sondern auch ihre die Entscheidungsfindung hierüber weitest möglich Bedeutung für die technologische Leistungsfähigkeit zu entpolitisieren. Größe allein darf dabei sicherlich des Standorts Deutschland – scheinen Liquiditäts- und kein Kriterium sein. Anpassungshilfen hier deutlich eher gerechtfertigt als in den anderen genannten Sektoren. Handel, Gastgewerbe und Beherbergungsgewerbe am stärksten gefährdet STAATLICHE MASSNAHMEN SOLLTEN DEN STRUKTURWANDEL NICHT VERHINDERN Zu erwarten ist, dass es vor allem in jenen Branchen zu Unternehmensschließungen kommen dürfte, die Das Problem besteht hier vor allem darin, coronabe- besonders stark durch die Pandemie betroffen sind dingte Strukturanpassungen von jenen zu trennen, und darüber hinaus häufig durch kleinere, eher ei- die Teil eines längerfristig angelegten, markt- oder genkapitalschwache Unternehmen geprägt sind. politikgetriebenen Umbruchs sind. So befinden sich Handel, Gastgewerbe und Beherbergungsgewerbe weite Teile der (deutschen) Industrie derzeit ohne- gehören damit zu den am stärksten gefährdeten hin in einem gravierenden Umstellungsprozess: Im Bereichen. Kraftwagenbau ist mit den von der Politik getroffenen Aber: Gerade hier sind auch die Markteintritts- Beschlüssen zur weitreichenden »Dekarbonisierung« hürden vergleichsweise niedrig, und es ist damit der Wirtschaft ein Ende des Verbrennungsmotors zu rechnen, dass die jeweiligen Märkte dauerhaft eingeleitet, ohne dass bereits klar erkennbar ist, ob bestehen bleiben. Sobald die gesundheitlichen Ge- sich künftig batterie- oder wasserstoffgetriebene An- fährdungen (beispielsweise aufgrund der Entwick- triebsarten durchsetzen werden. In jedem Fall wird lung eines wirksamen Medikaments oder gar eines dies dazu führen, dass die großen Automobilhersteller Impfstoffes) überschaubar sind und sich die Nach- ihre Produktion anpassen müssen und vor allem, dass frage erholt, ist deswegen damit zu rechnen, dass das bisherige Geschäftsmodell vieler Zuliefererfirmen Unternehmen in diesen Bereichen auch wieder neu- obsolet werden wird. Hier ist also mit einer starken gegründet werden.2 Mit einer dauerhaften Schrump- Schrumpfung und einem erheblichen Verlust an Ar- fung dieser Sektoren ist daher nicht zu rechnen, auch beitsplätzen zu rechnen. wenn es teilweise unerwünschte Entwicklungen (wie In nahezu allen Branchen wird darüber hinaus einer verstärkten Konzentration) geben könnte. So der Druck zunehmen, digitale Techniken in der Pro- bitter eine Schließung für den einzelnen Unterneh- duktion stärker zu nutzen. Dies wird auf der einen mer auch ist: Wegen der langfristig geringeren Be- Seite Produktivitätssteigerungen ermöglichen und troffenheit dieser Wirtschaftsbereiche gibt es wenig den zunehmenden Arbeitskräftemangel lindern; auf Grund dafür, hier auch mit entsprechenden Hilfen der anderen Seite geht die Digitalisierung aber auch des Staates in Not geratene Unternehmen auf breiter mit gesteigerten Qualifikationsanforderungen an die Front zu retten. Arbeitnehmer einher. Die Verbreitung digitaler Tech- niken kann deswegen auch zu steigender Arbeitslosig- Gefahr einer dauerhaften Schwächung der keit führen, wenn Beschäftigte diesen Anforderungen deutschen Industrie nicht gewachsen sind. Und schließlich werden auch die bereits eingelei- Anders sieht es hingegen im Verarbeitenden Gewerbe teten Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels aus. Unternehmen, die hier aus dem Markt ausschei- die Unternehmen branchenübergreifend fordern: So den, werden unter Umständen nicht oder zumindest ist nach dem Klimaschutzprogramm 2030 der Bundes- nicht schnell wieder ersetzt, weil die Markteintritts- regierung allein im Bereich der Industrie eine Emissi- hürden (in Form hoher Investitionen oder hoher tech- onsminderung von rund einem Viertel (gegenüber dem nologischer Anforderungen) hier häufig deutlich höher Basisjahr 2016) erforderlich, was unter anderem mit liegen. Hinzu kommt, dass die Industrie als stark in- einer stärkeren Bepreisung des CO2-Ausstoßes erreicht ternationalisierter Sektor auch unter besonders star- werden soll. Es ist absehbar, dass dies nur mit erheb- kem überregionalem Wettbewerbsdruck steht: Wenn lichen Investitionen in klimafreundliche Technologien Unternehmen in Deutschland schließen müssen, kann erreicht werden kann. Ansonsten droht die Verlage- ihr Marktanteil unter Umständen auch durch ausländi- rung von Produktion in Länder mit geringeren Klima- sche Konkurrenten übernommen werden. Die Corona schutzstandards, was mit einer weiteren Schrump- krise birgt somit die Gefahr, dass es zu einer dauer- fung der heimischen Industrie einhergehen kann. Auch wenn die Transformation der Wirtschaft sowohl Wert- 2 Eine Ausnahme könnte der stationäre Einzelhandel sein, da hier schöpfungs- als auch Beschäftigungschancen mit sich aufgrund der angesprochenen Verhaltensänderungen (verstärkte Käufe im Online-Handel) möglicherweise eine längerfristig angelegte bringt, sind die Risiken auch für das Wohlstandsniveau Schrumpfung eintreten könnte. in Deutschland nicht zu vernachlässigen. 28 ifo Schnelldienst 11 / 2020 73. Jahrgang 11. November 2020
FORSCHUNGSERGEBNISSE In allen diesen Fällen besteht jedoch kein Anlass griffe in den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr zu staatlichen Maßnahmen, die auf eine Erhaltung von mit dem Ausland verzichtet; Außenhandelsbeschrän- Unternehmen oder Branchen am Standort Deutsch- kungen wurden höchstens aus übergeordneten poli- land abzielen, da die zu erwartenden Umstruktu- tischen Erwägungen (z.B. Sanktionen gegen einzelne rierungsprozesse letzten Endes Folge politischer Staaten oder Verletzung sicherheitsrelevanter Inter- Entscheidungen (Umsetzung von Klimaschutzmaß- essen) zugelassen. Es wäre ökonomisch bedenklich, nahmen) bzw. allgemein geltender technologischer wenn dieser Konsens von Seiten der Politik aufge- Megatrends (Digitalisierung) sind. Probleme können kündigt würde. Vielmehr sollte es den Unternehmen sich aber dadurch ergeben, dass sich in den kommen- überlassen bleiben, wie sie ihre internationalen Han- den Jahren mehrere »Krisen« überlagern können, was delspartner künftig auswählen. Manches spricht da- in Einzelfällen zu einer Überforderung der Unterneh- für, dass rational handelnde Unternehmen schon aus men führen könnte. Soweit dies der Fall ist, kann der einem Eigeninteresse heraus ihre Lieferketten stärker Staat versuchen, die notwendigen Anpassungen in den diversifizieren, um sich weniger abhängig von wenigen Unternehmen durch Förderung betrieblicher Investi- Zulieferern bzw. Abnehmern zu machen. Auch das tionen zu erleichtern und die Forschungsaktivitäten würde zwar mit einer Erhöhung der Produktionskosten der Unternehmen zu unterstützen. Mit der Corona einhergehen, jedoch wären diese dann als eine Art krise hat dies alles jedoch nichts zu tun (weshalb es »Versicherungsprämie« gegen einseitige Abhängig- auch problematisch ist, dass mit den im Zuge der keiten anzusehen und damit hinzunehmen. Soweit es Coronakrise aufgenommenen Staatsschulden auch dazu kommt, könnte dies der globalen Verflechtung Projekte unterstützt werden, die zwar wegen ihres sogar noch positive (anstelle von negativen) Impulse »transformativen« Charakters möglicherweise wichtig geben. sind, aber deswegen auch besser aus dem regulären Steueraufkommen finanziert werden sollten3). AUSWIRKUNGEN DER CORONAKRISE AUF DIE FINANZPOLITIK VON BUND UND LÄNDERN AUSWIRKUNGEN DER CORONAKRISE AUF DIE INTERNATIONALE ARBEITSTEILUNG In der Pandemie haben die Staaten weltweit mit er- heblichen finanziellen Mitteln versucht, die wirtschaft- Deutschland hat in der Vergangenheit stark von der lichen Auswirkungen der Krise abzufedern. Dabei ging Globalisierung profitiert: Auf der einen Seite als Liefe- es nicht nur um Rettungsbeihilfen an Unternehmen rant von Gütern aller Art, auf der anderen Seite aber und aktive konjunkturpolitische Stimulierungsmaß- auch dadurch, dass Produktion an kostengünstigere nahmen, sondern im Regelfall auch um den Ersatz Standorte ausgelagert bzw. Vorprodukte von dort be- ausfallender Steuereinnahmen. Allein in Deutschland zogen wurden, was insgesamt zu einer kosteneffizi- dürfte das Defizit der öffentlichen Haushalte insge- enteren Produktionsweise geführt hat. samt im Jahr 2020 rund 185 Mrd. Euro betragen, und Die Coronakrise hat aber deutlich gemacht, dass auch in den kommenden Jahren wird der Staat vor- die alleinige Orientierung auf Kostenvorteile beim Be- aussichtlich weitere Kredite aufnehmen. Der Bestand zug von Vorprodukten mit dem Risiko einhergeht, sich an öffentlichen Schulden in Relation zum BIP wird von einigen wenigen Zulieferern abhängig zu machen. damit auf knapp 80% im Jahr 2021 steigen. Vielfach wird deswegen vermutet, dass die Pandemie Die Inanspruchnahme der »Notfallklausel« des zu einer Überprüfung von globalen Lieferketten An- Art. 109 Abs. 3 GG für den Fall der Corona-Pandemie lass geben könnte, was im Ergebnis zur Rückholung war gerechtfertigt, um die ausfallenden Steuerein- von Produktion (»reshoring«) und damit zu einer Ver- nahmen kompensieren und die dringend notwendi- ringerung der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung gen staatlichen Hilfeleistungen finanzieren zu können. führen könnte. Produktion würde durch den Verzicht Weniger positiv fällt das Urteil über die ergriffenen auf Spezialisierungsvorteile teurer, und insbesondere konjunkturellen Stimulierungsmaßnahmen im zweiten Länder mit geringeren Arbeitskosten würden damit in Halbjahr 2020 aus; der damit verbundene expansive ihren Wachstumschancen beschränkt. Dies wiederum Nachfrageeffekt war nach Schätzung der an der Ge- hätte auch Rückwirkungen auf die deutschen Exporte. meinschaftsdiagnose beteiligten Institute eher be- Letzten Endes wäre ein Verzicht auf die Vorteile der scheiden und im Ergebnis wenig zielgenau (Projekt- internationalen Arbeitsteilung mit Wohlfahrtsverlusten gruppe Gemeinschaftsdiagnose 2020, S. 84). Sinnvoll auf allen Seiten verbunden. erscheint es deshalb, den hierauf entfallenden Teil der Politischer Konsens in Deutschland und der EU Neuverschuldung als konjunkturbedingt anzusehen war es bislang, dass der Staat auf verzerrende Ein- und entsprechend den Vorgaben des Art. 115 Abs. 2 3 Die meisten der im »Zukunftspaket« der Bundesregierung vorge- GG (bzw. vergleichbarer Vorschriften in den Verfassun- sehenen transformativen Maßnahmen (wie z.B. die Unterstützung gen der Länder) im nächsten Konjunkturaufschwung der Forschung an neuen Antriebstechniken oder der Bau von Quan- tencomputern) war ohnehin im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und zurückzuführen. Für den Teil der Neuverschuldung, SPD vorgesehen. Die Finanzierung aus Corona-Mitteln unterläuft für den die Ausnahmeregelungen für außergewöhnli- damit die dem Haushaltsgesetzgeber vorbehaltene Festlegung von Prioritäten des Staates, die bei einer Finanzierung aus dem regulä- che Notsituationen des Art. 109 Abs. 3 GG anwendbar ren Haushalt hätte vorgenommen werden müssen. ist, sollten hingegen längere Tilgungsfristgen vorge- ifo Schnelldienst 11 / 2020 73. Jahrgang 11. November 2020 29
FORSCHUNGSERGEBNISSE sehen werden. Eine zu schnelle Tilgung dieser aus- wicklung auch längerfristig negativ hierdurch beein- nahmebedingten Schulden, wie sie die Landesver- flusst wird. Auf der einen Seite ist ein schwächeres fassungen einiger Bundesländer vorsehen, könnte zu Wachstum des Produktionspotentials zu erwarten, negativen Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung insbesondere aufgrund der kriseninduzierten Inves- führen, wenn dann »wachstumsrelevante Ausgaben« titionsschwäche in der Wirtschaft. Auf der anderen (wie Investitionen oder Ausgaben für Forschung und Seite dürften sich auch die Sektorstrukturen verän- Entwicklung gekürzt werden müssten). dern: Während sich manche aktuell stark betroffene Ob Deutschland mittelfristig zur verfassungs- Branche (wie z.B. Tourismus oder Gastronomie) relativ rechtlich vorgegebenen Schuldenbremse zurückkeh- schnell wieder erholen dürfte, sobald die nachfra- ren sollte oder eine Reform dieses Konzepts erfor- geseitigen Restriktionen wegfallen, könnten in der derlich ist, wird derzeit kontrovers diskutiert. Auch Industrie Produktionskapazitäten auch dauerhaft wenn das strikte Schuldenverbot für die Länder bzw. wegfallen. Weite Teile des Verarbeitenden Gewerbes den Schuldengrenzwert für den Bund (0,35% des BIP) stehen ohnehin vor einem tiefgreifenden Struktur- fallen sollte, bedarf es jedoch Regeln für eine mög- wandel, vor allem wegen der politisch gewollten De- liche Kreditaufnahme, wie auch immer diese dann karbonisierung der Produktion, der jetzt durch die ausgestaltet sein werden. Wenig überzeugend ist je- Coronakrise zusätzlich erschwert wird. Die Politik denfalls die Sichtweise, dass angesichts aktuell nied- muss dafür Sorge tragen, dass diese Belastungen riger Zinsen eine Kreditaufnahme für den Staat quasi nicht zu Lasten des Wohlstandsniveaus in Deutsch- ein Gewinngeschäft sei, denn irgendwann werden die land gehen. Zinssätze vermutlich wieder ansteigen (mit dem Ef- fekt, dass zeitverzögert auch auf die Bestandsschul- LITERATUR den höhere Zinsen zu zahlen sein werden). Auch die Bundesverband der Deutschen Industrie – BDI (2020), Forschung in der Vorstellung, dass sich der hohe Schuldenstand relativ Krise, Kernergebnisse der BDI-Umfrage zu den Auswirkungen der COVID-19 Krise auf die forschende Industrie in Deutschland, verfügbar unter: zum BIP in Zukunft allein schon aufgrund wirtschaft- https://www.vbw-bayern.de/Redaktion/Frei-zugaengliche-Medien/ lichen Wachstums automatisch zurückbilden werde, Abteilungen-GS/Wirtschaftspolitik/2020/Downloads/BDI-FuE_Umfrage_ Kernergebnisse-Juni-2020.pdf. könnte trügen, denn dies gilt selbst bei einem ausge- DAK (2020), »Digitalisierung und Homeoffice entlasten Arbeitnehmer in glichenen Primärsaldo nur solange, wie der Zinssatz der Corona-Krise«, 22. Juli, verfügbar unter: https://www.dak.de/dak/ unterhalb der Wachstumsrate des (nominalen) Brut- bundesthemen/sonderanalyse-2295276.html#/. toinlandsprodukts liegt. Bei rückläufigem Potenzial- Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2020), Erholung verliert an Fahrt – Wirtschaft und Politik weiter im Zeichen der Pandemie, Gemeinschafts- wachstum (siehe oben) und ansteigenden Zinsen kann diagnose Herbst 2020, Kiel. sich die derzeit komfortable Situation auch schnell Projektträger Jülich – PtJ (2020), Expertenbefragung zu den Auswirkun- wieder umkehren. gen der Corona-Krise auf Forschung und Innovation in strukturschwachen Regionen, Ergebnisse der ersten Befragungsrunde, Jülich. Randstad (2020), »Randstad-ifo-Personalleiterbefragung 2. Quar- FAZIT: WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG AUCH tal 2020«, verfügbar unter: https://www.randstad.de/unternehmen/ LÄNGERFRISTIG NEGATIV BEEINFLUSST wissenswertes/randstad-ifo-personalleiterbefragung. Schumpeter, J. (1911), Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin. Die Diskussion um die ökonomischen Folgen der Co- Wößmann, L. (2020), »Folgekosten ausbleibenden Lernens: Was wir über die Corona-bedingten Schulschließungen aus der Forschung lernen kön- ronakrise konzentriert sich bislang vor allem auf die nen«, ifo Schnelldienst 73(6), 38–44. eher kurzfristigen konjunkturellen Effekte. Tatsäch- lich besteht das Risiko, dass die wirtschaftliche Ent- 30 ifo Schnelldienst 11 / 2020 73. Jahrgang 11. November 2020
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