Die Schrift an der Wand der Moskauer Metro: Zukunft ohne Eigenschaften

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Die Schrift an der Wand der Moskauer
Metro: Zukunft ohne Eigenschaften
Gábor T. Rittersporn

Im achtzehnten Jahrhundert diente in erster Linie Europa als Vorbild für das
in die Zukunft blickende Russland. Dies veränderte sich in den letzten Jahr-
zehnten des Ancien Régime. Aber für Dostojewskij bedeutete noch der Wes-
ten Europa, Lenins Idee der Planwirtschaft war deutscher Prägung und die
Insassen des Konzentrationslagers der Solowezki-Inseln, die der Oberschicht
entstammten, sprachen französisch. Am Ende der zwanziger Jahre nahm die
Faszination von Amerika rasant zu und Stalin verpflichtete die Bolschewiki,
revolutionären Schwung mit amerikanischem Unternehmergeist zu verei-
nigen. Was die Entwürfe des nie erbauten Palasts der Sowjets anging, so
schlug der Diktator 1932 vor, er sollte etwas höher als der Eiffelturm sein.
Offensichtlich wusste er nicht, dass das Empire State Building gerade im
Bau befindlich war. Die Schriftsteller Ilf und Petrow dagegen hatten vier
Jahre später die Grand Central Station besucht, als sie von einem Moskauer
Bahnhof träumten, der mit 50 Gleisen die Hypermodernität der künftigen
Sowjetunion symbolisieren sollte – der New Yorker Bahnhof konnte nur 44
aufweisen.
    Der Bahnhof der Autoren sollte unterirdisch sein. Nicht zufällig. War
doch die große Sensation der Zeit die Eröffnung der Moskauer Metro im
Jahr 1935 gewesen. Ihre Pracht sollte die Überlegenheit der sowjetischen Zi-
vilisation beweisen. Architekten, Künstler und die Presse wiederholten un-
ermüdlich, dass die Untergrundbahnen von Paris und London gesichtslos
und utilitaristisch erbaut wurden sowie zudem die unmenschliche Profit-
gier des Westens verkörperten. Kritik blieb auch der New Yorker Subway
nicht erspart. Nicht erwähnt wurde die Berliner U-Bahn. Vielleicht weil ihre
Haltestellen nach individuellen Entwürfen ausgestattet wurden. Durchaus
vorstellbar ist, dass die Gestaltung einiger Stationen der deutschen Unter-
grundbahn Vorbildcharakter für die erste sowjetische U-Bahn hatte.
    Die Moskauer Metro sollte als Illustration der Errungenschaften der So-
wjetmacht beeindrucken, als ihr Symbol und als Verkörperung ihres Zu-
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kunftsbildes. Die zunehmend konservativ werdende Architektur schrieb sich
eher in einen amerikanischen als europäischen Trend ein. So folgen auch in
den USA das Nationalarchiv, die Nationalgalerie, das Oberste Gericht und
das Jefferson-Denkmal in Washington nicht weniger archaisierenden Vorbil-
dern als die gleichzeitig errichteten öffentlichen Bauten in der Sowjetunion,
einschließlich der Metro.
    Die amerikanischen Gebäude sollten Macht und tiefe Verwurzelung in
der antiken Tradition vergegenwärtigen. Die Moskauer Metro hingegen wur-
de geschaffen, um nichts weniger als ein vollkommen neues Universum und
Werterepertoire zu verkörpern, einen kaum vorstellbaren Ort des menschli-
chen Glücks, einen nur im Land der Sowjets vorstellbaren U-Topos, der im
Alltag der Sowjetbürger und unter den Augen der erstaunten Welt immer
deutlicher aufschien. Es war nicht einfach, das Versprechen dieses Univer-
sums an den Wänden der Haltestellen eines unterirdischen Transportmittels
zu realisieren, auch wenn Marmor, Edelsteine und Gold den Künstlern in
großen Mengen zur Verfügung gestellt wurden. Die Sowjets konnten nur
bedingt das Monopol auf fleißige Arbeiter, eifrige Bauern, emsige Studen-
ten, strebsame Ingenieure, stramme Sportler und kühne Flieger beanspru-
chen, die die Stationen schmückten. Diese Figuren stellten für die Zeitge-
nossen bestenfalls Symbole wunderbarer Neuigkeiten dar, die ihren Alltag
allerdings wenig berührten. Wenige riskierten, zu behaupten, dass die reiche
Ernte froher Landwirte, die ein beliebtes Thema war, die Lebensmittelläden
füllte und die anhaltende Landflucht konnte kaum als Ausdruck dörflichen
Glücks gelten. Die Protagonisten der ersten beiden Jahrzehnte tauchten in
den fünfziger Jahren immer seltener auf. Zwischen Mitte der fünfziger Jahre
und dem Ende der Sowjetunion wurden nur zwei Arbeiter abgebildet und
kein einziger Bauer. So blieb auch in der Anfang der siebziger Jahre gebauten
Haltestelle »Kolchos« die Stelle leer, die für die visualisierte Preisung der
kollektivierten Landwirtschaft vorgesehen war.
    Seit den dreißiger Jahren diente der Himmel als eine der Allegorien für
die Weite des sowjetischen Projekts. Auch die Decke der Haupthalle der
Grand Central Station schmückt ein Himmel mit 2.500 Sternen. Der so-
wjetische Himmel an den Decken der Metrostationen war zumeist blau, er
war dekoriert mit roten Fahnen, mutigen Fallschirmspringern und mit ro-
ten Sternen gekennzeichneten Luftschiffen und Flugzeugen, die gelegentlich
den Kreml überflogen. Auch eine Nebenhalle des Bahnhofs an der 42. Straße
zeigt Aeroplane auf dem Plafond. Sie überflogen die rasenden Züge genauso
wie die Luftschiffe auf einem Deckenmosaik die Moskauer Metro. Dessen
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Künstler, Alexander Dejneka, hatte Amerika besucht. Ob er die Grand Cen-
tral Station betrat, wissen wir nicht, aber er war gewiss davon überzeugt,
dass sein Zug, den er mit dem roten Stern versah, die sowjetische Zukunft
erstürmte.
    Der Zweite Weltkrieg war noch nicht beendet, als der Heroismus der
siegreichen Soldaten in der Gestaltung der Metro Form annahm. Die Hinga-
be der Arbeitshelden, die ihre Waffen schmiedeten, war nicht vergessen. Der
Krieg war die unmittelbare Erfahrung für die Zeitgenossen. Sie konnten mit
vollem Recht behaupten, dass die neuen Stationen ein Denkmal ihres Pat-
riotismus, ihrer Opferbereitschaft und ihrer verlorenen Söhne sein sollten.
Mit dem Lauf der Zeit wurde der Weltkrieg immer mehr zur Vergangenheit.
Einstige Großtaten sollten als Zukunftsentwurf des Regimes erscheinen und
die Gegenwart der Sowjetunion rechtfertigen.
    Der Bauherr der Metro, Lasar Kaganowitsch, verpflichtete Architekten
und Künstler, den Sieg zu verewigen. Sie sollten auch dem obersten Kriegs-
herren Stalin huldigen, den Kaganowitsch zum Erlöser der Heimat erklärte.
Vor dem Krieg war das Bildnis des Diktators selten in den unterirdischen
Stationen zu finden gewesen. Das änderte sich mit den vierziger Jahren. Der
angebliche Erlöser symbolisierte nun uneingeschränkt das bolschewistische
Projekt. Stalin war Projektionsfläche für die Wünsche der Bevölkerung und
viele bewunderten ihn. Er verkörperte väterliche Fürsorge, weise Vorher-
sehung und ein vages Versprechen eines besseren Lebens, ein Versprechen
ohne konkreten Inhalt, aber von universaler Bedeutung.
    Welche Figur konnte die Gestalt des Führers ersetzen, als er für Verbre-
chen verantwortlich gemacht wurde und man seine allgegenwärtigen Bild-
nisse entfernte? Die Frage stellte sich nicht für die Metrostationen, die zwi-
schen der Mitte der fünfziger Jahre und dem Ende des folgenden Jahrzehntes
eröffnet worden waren. Ihre Architektur reduzierte sich schnell auf vierecki-
ge, funktionale Hallen mit Säulen, aber ohne künstlerische Ausgestaltung.
Einige Passagiere protestierten heftig in den Gästebüchern, in die die ersten
Besucher der neuen Haltestellen ihre Eindrücke notieren konnten. Andere
behaupteten, dass die Stationen Zeitgeist und Humanismus ausstrahlten.
Für sie verkündete die Botschaft der frugalen Formen und nackten Wän-
de die radikale Abrechnung mit der Vergangenheit und einen Neustart, die
Perspektive auf ein Sowjetsystem, welches der Verheißungen der Revolu­tion
gerecht werden würde. Das Versprechen erschien glaubwürdig. Statt die Er-
richtung protziger Zuckerbäckerpaläste fortzusetzen, begann das Regime,
ein groß angelegtes Wohnungsbauprogramm zu verwirklichen.
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    Die neuen Wohnhäuser waren ebenso kahl wie die neuen Metrostationen
und dazu noch durch zahlreiche Baufehler beeinträchtigt. Die Teilnehmer
des Moskauer Kongresses des Internationalen Architektenverbandes Ende
der fünfziger Jahre fanden sie jedoch modern und funktional. Für die neu-
en Bewohner waren sie die Erlösung aus der Hölle überfüllter Kommunal-
wohnungen und Baracken. Millionen warteten auf diese Errettung. Und sie
mussten immer länger warten. Sie mussten auch in langen Schlangen vor
den Lebensmittelläden warten, die kaum mehr gefüllt waren mit den Früch-
ten der kollektivierten Landwirtschaft als früher. Und sie warteten vergebens
auf das Verschwinden der autoritären Traditionen des Regimes und das Er-
löschen der Willkür seiner Funktionäre, deren Weite vom Kolchosvorsitzen-
den bis zu Vertretern des Partei- und Regierungsapparats reichte.
    Ist es reiner Zufall, dass die nackte Metro langsam bekleidet wurde, als
die Hoffnung auf einen radikalen Neustart allmählich verschwand? Kann es
Zufall sein, dass der Himmel wieder ein Hauptmotiv der Dekoration wurde?
Die ersten Erfolge des Regimes in der Raumfahrt schienen vielversprechend
und begeisterten viele Bürger. Sie erhofften sich viel von einer wissenschaft-
lichen und technischen Revolution, die ihre Lebensumstände grundsätzlich
verbessern würde. Aber die Schlangen vor dem Wohnungsamt und vor den
Lebensmittelläden verkürzten sich nicht und der Druck, den das Regime
ausübte, nahm zwar neue Formen an, aber er verschwand nicht.
    Die Eroberung des Weltalls wurde ein gängiges Motiv der bildenden
Künste, auch in der Ausstattung der Räume unter Moskaus Straßen. Allego-
rien der sowjetischen Besitznahme des Weltrau­mes, die Eroberer des Kosmos
und ihre hochmodernen Geräte tauchten gerade in jenem Moment auf, als
Stalins Bildnisse entfernt wurden. Ist es reiner Zufall, dass in der Metro die
Kosmossaga auch die Porträts des Diktators ersetzen sollte? Ist es zufällig,
dass es hier und da keine andere Lösung gab, als die Stelle seiner Bildnisse
einfach leer zu lassen?
    Es war nicht leicht, ein Symbol universaler Bedeutung zu finden, wel-
ches mit dem Sowjetsystem und seiner Zukunft gleichgesetzt werden konn-
te. Nun wurden der große Entwurf des Regimes und seine Verheißungen
weit jenseits des blauen Himmels projiziert, wo Flugzeuge mit ihren roten
Sternen wenigstens sichtbar waren. Die Hoffnungen der Bürger gehörten
dem großen Jenseits, woran man im Gegensatz zum Versprechen des kargen
Alltags glauben konnte.
    Bis in die letzten Jahre der UdSSR erschien das sowjetische Abenteuer
im All immer wieder an den Wänden der Metro. Dennoch erschütterten
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amerikanische Bravourstücke der Raumfahrt die Selbstsicherheit der sow-
jetischen Pioniere. Kurz nach dem ersten Mondspaziergang amerikanischer
Astronauten, die das Banner mit den 50 weißen Sternen auf den Erdtraban-
ten pflanzten, schrieb ein Besucher ins Gästebuch einer neuen Haltestelle:
»Dies ist wichtiger für uns als der amerikanische Mond.« Die Station wurde
mit Bronzereliefs ausgestaltet, die in die altrussische Geschichte führten, wo
Krieger ritten, ein Ikonenmaler am Bildnis der Madonna arbeitete, ein Meis-
ter Glocken goss wie in Andrej Tarkowskijs Kultfilm über Andrej Rubljow
und die späte Tatarenzeit. Figuren der russischen Historie, Russlands große
Dichter und Wissenschaftler sowie Motive der russischen Folklore tauchten
immer häufiger in der Metro auf. Die wenigen verfügbaren Bauarbeiter er-
richteten nicht Fabriken oder Wohnhäuser, sondern mittelalterliche Städte
und Kirchen. Gebaut wurde nicht mehr die Zukunft, sondern die Vergan-
genheit.
    Obwohl die Gestaltung der Stationen nicht an ihren einstigen Glanz
anzuknüpfen vermochte, wurden die metallischen Reliefplatten, die Bild-
werke aus Keramik, die florentinischen Mosaike und die Skulpturen immer
anspruchsvoller. Hin und wieder versuchten die Künstler, etwas über die
Sowjetunion zu sagen, besonders wenn sie Haltestellen an Schauplätzen der
Revolution gestalten mussten, in Bezirken, deren Name irgendwie mit dem
immer weniger siegreichen Proletariat in Beziehung stand, oder an Orten
nahe dem Gebäude des ZKs. Aber die Gegenwart und die Zukunftsaussich-
ten des Sowjetsystems ließen sich nicht mehr abbilden. Manche Stationen
wurden mit stereotypen fünfzackigen Sternen, Hammer-und-Sichel-Emble-
men oder Fackeln geschmückt. Seit langem waren sie zu Trivialitäten gewor-
den, die man an jeder Straßenecke sah und die in keiner Weise für die Idee
eines begeisternden Projekts standen. Sie wirkten wie nichtssagende Worte
einer toten Sprache.
    Dagegen fielen die Stationen mit Szenen aus dem Klosterleben und be-
tont von Kreuzen gekrönten Kirchen auf. In der Vergangenheit mussten die
Künstler, wenn der Kreml abgebildet wurde, um jeden Preis vermeiden, die
Kreuze auf den Kirchtürmen zu zeigen. Am Ende der Sowjetzeit wurde die
Dekoration einer ganzen Haltestelle Kultgebäuden verschiedener Religionen
gewidmet. Es ist nicht ganz klar nachvollziehbar, welche Bedeutung in die-
sem Zusammenhang der japanischen Burg von Matsumoto zukommt. Aber
das Taj Mahal aus Agra und San Giorgio Maggiore von Venedig besetzen
den Platz, der ihnen gebührt. Die Suche des Heils unter dem sowjetischen
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Firmament und im Weltraum kam an ihr Ende. Die Gnade wurde unter
anderen Himmeln gesucht, gelegentlich auch über fremden Ländern.
    Damit nahmen Bauherren, Architekten und Künstler eine Tendenz vor-
weg, die in der Ausstattung der postsowjetischen Metro klar zum Ausdruck
kommt. Die unerreichbare Ferne ist zum Grundmotiv der Gestaltung ge-
worden. Ganz gleich, ob die Schöpfer der Metro sich dessen bewusst sind,
sie stellen das neue Russland in die Perspektive des Außerirdischen, indem
sie versuchen, seine Tugenden, Zukunftsperspektiven und die Welt, von der
es träumt, zu schildern.
    Die unter dem Alten Regime begonnenen Projekte wurden oft nach
der Wende vollendet. So beispielsweise die Station, deren Dekoration ur-
sprünglich den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt feiern sollte.
Die postsowjetische Administration entschied, die Gestaltung sollte Russ-
lands Eintritt ins dritte Jahrtausend verkörpern. Weder das dritte Millenni-
um noch Russland erschienen zu dem Rendezvous. Am Tag der Eröffnung
konnten die Fahrgäste lediglich ein buntes Glasfenster bewundern, in dem
eine weiße Taube schwirrt, welche die Autoren bescheiden den »Vogel des
Glückes« nennen. Dieser strebt nach oben, wo man das ersehnte Russland
nicht unbedingt vorfindet. Die ikonographische Ratlosigkeit scheint nach-
haltig, wenn es zur Darstellung des Ortes kommt, an dem postsowjetische
Bürger ihr Glück finden sollten.
    Aber Künstler können sich nicht erlauben, auf eine Ausstattung der Me-
tro zu verzichten, die Werte, Hoffnungen und Versprechungen des Neuen
Regimes veranschaulichen. Die Botschaft im Moskauer Untergrund ist heu-
te kaum weniger wichtig als in ihren glanzvollen Tagen. Die Stationen wer-
den feierlich in der Anwesenheit der höchsten Amtsträger der Hauptstadt
und des Staates eröffnet. Gelegentlich müssen die postsowjetischen Bürger
nur bis zu einer neuen Haltestelle fahren, um die Ferne zu erblicken, wo der
Silberstreifen des Russian Dream schimmert.
    Gerade die Dekoration der Station »Slawischer Boulevard« ahmt die Pa-
riser Métro des Fin de Siècle nach. Handelt es sich um einen postmodernen
Witz? Wahrscheinlich. Aber die Nostalgie nach Paris und eben nach der aus-
gehenden Belle Époque kommt der Sehnsucht nach einem abgelebten Europa
gleich, das den heutigen Slawen mehr verspricht als die Gegenwart des Alten
Kontinents. Der Künstler sieht kein geeignetes Symbol für das zeitgenössi-
sche Europa, er findet keine Errungenschaften, die ihn anregen könnten,
eine angemessene Bildsprache zu entwerfen.
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    Die Haltestelle »Rom« in Moskau war als Pendant einer Station »Mos-
kau«, mit dem Spasski-Turm des Kremls geschmückt, in Rom gedacht. In
Rom wurde das Projekt nicht verwirklicht. Die Moskauer Gestaltung der
Station bringt die Passagiere in die ferne Vergangenheit und eigentlich noch
viel weiter zurück. Man kann am Kopfende der Stationshalle die Kinder
Romulus und Remus sowohl in einer antiken Ruinenlandschaft als auch vor
einem Springbrunnen bewundern, der gelegentlich funktioniert. Das Ganze
ist einfallsreich angelegt. Ein Relief der Madonna mit dem Jesuskind befin-
det sich ebenfalls in der Station. Allem Anschein nach ist die Ewige Stadt
unvorstellbar ohne die allmächtigste Autorität, deren irdischer Stellvertreter
seinen Sitz eben dort hat. Um der religiösen Botschaft Gewicht zu verleihen,
ist die unterirdische Gnadenmutter von dem letzten Satz des Ave Maria ein-
gefasst, stilgemäß auf Lateinisch. Die Bitte der Sünder um Fürsprache bei
dem Allerhöchsten kommt wortwörtlich de profundis.
    Klingt dies nicht ein wenig skurril an der Wand einer profanen Trans-
portanlage? Zumindest nicht für die Bauherren und deren künstlerische
Mitarbeiter – besonders wenn es gilt, ausdrucksvolle Symbole des neuen
Russlands 40 Meter unter Moskaus Straßen zur Schau zu stellen. Nie aus-
gespart wird das Thema »heiliges Russland«, vermutlich in der Hoffnung,
dass es so nie in die Banalität der sowjetischen Symbole wie die Fackeln und
die fünfzackigen Sternen abrutscht. So tauchen immer wieder Kirchen auf.
Sie können in bukolischen Landschaften die einzigen Spuren menschlicher
Anwesenheit sein und die Allgegenwart des Glaubens und seines Gegenstan-
des in Russland darstellen, sie können aus dem Dunkel der Jahrhunderte
hervortanzende Spaßmacher, Hanswürste und ihr frohes Publikum umrah-
men oder eine ganze Stationshalle ausfüllen. Die Tempel sind ausschließlich
orthodox russisch und bisweilen erscheinen sie in einer Häufigkeit, die sogar
in einem Land tiefster Spiritualität ungewöhnlich ist. Eine Haltestelle, deren
Dekoration nur aus alten Kirchen besteht, protzt mit einem Kreml, der nie
von so vielen Gotteshäusern umrahmt war, wie an der Wand der zentralen
Plattform.
    Auf der Spitze des Spasski-Turmes strahlt jedoch der rote Stern. Er kann
kaum ein postmoderner Scherz sein in solcher frommen Gesellschaft. Eher
ist er unvermeidlich. Ist der Kreml noch vorstellbar ohne den Stern ehe-
maliger sowjetischer Hoffnungen? Könnten ihn postsowjetische Passagiere
erkennen mit der Schar von Kirchen, die der Künstler hereingepresst hat?
Die tote Sprache kann einen bestimmten Ort bezeichnen, mehr nicht. Man
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kann sich fragen, ob die Kirchen, die den Kreml fast unverkennbar machen,
die Erwartungen postsowjetischer Bürger symbolisieren können.
    Die Schrift an der Wand drückt nicht nur die Unsicherheit gegenwärti-
ger Werte und Zukunftsbilder aus. Sie zeigt auch, dass die Projekte des neu-
en Russlands die Chancen haben, ebenso im Glauben an das große Jenseits
verwirklicht zu werden als das Menschenglück, welches das Ancien Régime
versprochen hatte.
    Zu Beginn des neuen Jahrtausends war es vorgesehen, eine Haltestelle
auf den Namen »Moskwa siti« zu taufen. Die Bezeichnung »City« beschwor
ohne Zweifel die ersehnte Ferne im Geiste modernster Markwirtschaft, die
nur bedingt mit Europa identifiziert wurde. Die Station befindet sich an
einem riesigen Handelszentrum, dessen Bau wegen der Finanzkrise, die dem
Millennium den Auftakt gab, stillsteht. Die kühnen Wolkenkratzer sehen
wie unvollendete Türme von Kathedralen aus, in der man die Gottheit des
Russian Dream ehren sollte. Im Mittelalter wurde keine Kathedrale vollen-
det. Wie dem auch sein möge, »siti« stand schon auf den Stadtplänen, als die
Station als »International« eröffnet wurde.
    Nicht unbedingt, weil der Blick sich plötzlich auf das neue Europa rich-
tete. Es ist kein Zufall, dass ein Künstler dort wenig sieht, was die Slawen
begeistern könnte. Für die Mehrzahl der Russen ist das Abendland eine Ecke
der Welt, deren Währung es erlaubt, die durch Inflation bedrohten Erspar-
nisse zu retten – vorausgesetzt man besitzt solche und die Währung bleibt
stabil. Kultur, Traditionen, Werte? Sogar die deutsche Kanzlerin meint, dass
Europas Schicksal am Euro hängt. An dem Wert von Bankscheinen, die
von klischeehaften architektonischen Motiven und trivialen Brücken geziert
sind, deren tiefe Bedeutung sich nicht einmal einer angestrengten Vorstel-
lungskraft eröffnet. Warum sollte sich ein russischer Künstler anstrengen, ein
Symbol des neuen Europas zu finden?
    Schon Ende der vierziger Jahre beklagten die Schöpfer der Metro hinter
verschlossenen Türen, dass die Fahrgäste ihren Werken keine Aufmerksam-
keit schenkten. Die Metro ist seit langem ein vulgäres Transportmittel im
städtischen Untergrund. Die Passagiere eilen, um ihren Zug zu erwischen,
und werfen nur flüchtig einen Blick auf die Gestaltung der Stationen, egal
ob sie prachtvoll oder hässlich aussieht. Die Gästebücher sind dünn. Wer
hätte auch Zeit und Mut, die Schrift an der Wand zu entziffern?
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