Die Stunde Null der Tagesschau
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Die Stunde Null der Tagesschau Premierenfieber Natürlich hätte die Filmrolle mit Dwight D. Eisenhower auch noch ein paar Tage länger warten können. In einem ausgedienten Luftschutzbunker auf dem Hamburger Heiligengeistfeld lag der Präsident wohl verwahrt in einer Blechdose. Dort, wo sich mehrmals im Jahr ein Rummel mit seinen Schau- stellern lärmend bemerkbar macht, meldete sich am Donnerstag, den 25. De- zember 1952, das Fernsehen in Deutschland zum täglichen Erscheinen. Aktu- alitäten gab es an diesem ersten Tag allerdings noch nicht zu sehen. Der erste Sendetag des Fernsehens nach Kriegsende war edleren Absichten vorbehalten: Das neue Medium war vor allem zur geistigen Bereicherung der Menschheit gedacht. Die Startglocke für die Tagesschau wurde erst am zweiten Weihnachts- feiertag geläutet. Und jetzt endlich durfte der künftige Präsident der USA, Dwight D. Eisenhower, auf dem Bildschirm seine Heimkehr von der Reise nach Korea feiern. Gut sieben Jahre nach dem Sieg über Hitler galt Eisen- hower für die Deutschen überraschenderweise als Hoffnungsträger. Das mochte zum Teil an seinem anheimelnden Namen liegen, gewiss aber auch an seinem Besuch in Korea. Dort gab es schon seit langem einen kriegeri- schen Konflikt, den die Koreaner stellvertretend für die mittlerweile verfein- deten Siegermächte UdSSR und USA zu führen hatten. Auch in Deutschland scheuerten sich die beiden Kolosse seit der Blockade von Berlin gewaltig. Die Befürchtung lag nahe, dass sich in Europa Ähnliches wie in Korea ereignen könnte, wenn nicht ein Erretter des Heils, sprich Eisenhower, käme. Der war allerdings schon am 2. Dezember zu einem dreitägigen Besuch in Korea eingetroffen und längst zurück, als man am 26. Dezember in der deutschen Tagesschau den Filmstreifen über seine bejubelte Heimkehr sehen konnte. Wenn man das überhaupt konnte. Allzu groß war die Zahl der Fernseh- geräte in Deutschland nicht. Und die Schätzungen der Zuschauerzahlen von damals gehen weit auseinander. Manche sprechen von einigen Dutzend Ge- räten im Hamburger Raum. Andere glauben, dass es im Bereich des NWDR ein paar Tausend waren. Da die Post erst ab 1953 Fernsehgebühren einsam- melte und somit keine Teilnehmerlisten existierten, sind alle Zahlen reine Spekulation. In Deutschlands Mitte und im Süden blieben die Bildschirme sowieso grau, dort war Fernseh-Entwicklungsland. (Der Osten allerdings 9
wollte unbedingt den Wettlauf gewinnen und hatte vier Tage zuvor, in inkompatibler Technik, seine Aktuelle Kamera als »ständiges Versuchspro- gramm« eingeführt, standbebildert). Bedauerlicherweise war nach der Pro- gnose des Spiegel vom 23. Juli 1952 ein Run auf die Radiogeschäfte auch nicht zu erwarten: Nur ein Prozent der Deutschen waren im Eröffnungsjahr bereit, sich ein Fernsehgerät anzuschaffen. 44 Prozent schworen Stein und Bein, dass ihnen ein solcher Kasten nicht ins Haus käme. Heute sind alla- bendlich rund 35 Millionen Apparate empfangsbereit. Noch nicht einmal der Name für das neue Gerät war klar. Fernsehinten- dant Werner Pleister versuchte, mit »Fernsehapparat« und dem schönen al- ten Wort »Zuschauer« eine Sprechregelung vorzugeben, aber auf der Straße verschmolz beides zu dem Wort »Fernseher«, wobei man rätseln durfte, was der Mensch und was das Gerät war. Von Argwohn gegen das neue Medium erfüllte Menschen fanden das zu wenig abwertend. So kamen die Begriffe »Flimmerkiste«, »Mattscheibe«, »Guckröhre«, »Glasfratz«, »Puschenkino«, »Glotzophon« oder nur »Glotze« in Mode. Da die Benennung »Fernsehen« auch offen lässt, ob es sich um eine Tätigkeit, um das Programm oder um das Medium selbst handelt, hat das nüchterne TV (= Television) nach fünfzig Jahren große Chancen sich durchzusetzen. Einen entschlossenen Programmstart gab es nur für den Nordwestdeut- schen Rundfunk in Hamburg, den Sender für die britisch besetzte Zone. Aber nicht einmal die war voll versorgt. Die (drahtlosen) Richtfunkverbin- dungen, wegen ihrer Wellenbereiche »Dezistrecken« genannt, hatten weder Köln noch Berlin erreicht. Dort musste man sich mit eigenen Eröffnungspro- grammen behelfen. Die Tagesschau, die es nur in einer einzigen Fassung gab, wurde ihnen reihum mit der Post zugeschickt. Eisenhower war schon fast als neuer Präsident im Weißen Haus, als sein Korea-Abschluss auf rheinischen Bildschirmen erschien. Merkwürdigerweise stieß sich niemand an dieser fehlenden Aktualität. Für schnelle Nachrichten war der Hörfunk da. Die Wochenschauen, die einzige halbwegs ernst zu nehmende Konkurrenz, lagen im besten Fall vier Tage hinter einem Ereignis zurück. Sie hatte dienstags Redaktionsschluss. Das reichte gerade, um freitags rechtzeitig zum Programmwechsel in den Ki- nos zu sein. Deshalb war man sich in den Funkhäusern ganz sicher: Der Film war zu schwerfällig und zu umständlich, als dass er den Radio-Nachrichten irgendwie gefährlich werden könnte. Fernseh-Chefredakteur Heinz von Plato, erst 1952 aus München nach Hamburg übersiedelt, wusste wahrscheinlich gar nicht, dass er mit dem Titel »Tagesschau« einen alten Namen aus der Kiste zog. Eine für den 25. Septem- ber 1950 hergestellte Grafik mit diesem Titel leitete damals einen Filmbericht 10
ein, in dem der Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks, Adolf Grimme, vor Journalisten die ersten deutschen Nachkriegs-Fernsehversuche ankündigte. Ein historisches Ereignis wollte er das nicht nennen. Martin S. Svoboda, damals Redakteur der Fernseh-Filmberichte, brauchte lange Zeit, um sich mit dem Titel Tagesschau anzufreunden. Er spürte die gefährliche Nähe zur Wochenschau und ahnte, dass es Jahre dauern würde, die gewohnte (Wochen-)schau durch seine Tagesschau in den Köpfen der Leute zu verdrängen. Ihm passte an dem Titel »Tagesschau« auch nicht, dass sofort der Anspruch auf eine tägliche Berichterstattung erhoben werden konnte. Sein Material, das wusste er, reichte für zwei, höchstens drei Ausga- ben pro Woche: montags, mittwochs und freitags. Mit Wiederholungen wur- den die Zwischentage diskret überbrückt, dann kamen die Einzelberichte, in fliegender Eile neu sortiert, auch noch als Wochenspiegel am jeweils darauf folgenden Sonntag ins Programm. Der Heiligengeist-Bunker entstand in einer durchaus unheiligen Zeit: Er war zum Bom- benschutz der Hamburger erbaut. Da er anderen Betonburgen im Reich als Muster galt, hatte man sich auch Gedanken über sein Aussehen nach dem Endsieg gemacht (siehe Insert). Da der nicht kam, blieb der Tagesschau nichts anderes übrig, als den Sendebetrieb in diesem von Schaustellern umlagerten Koloss zu beginnen. 11
In der kriegszertrümmerten Hansestadt waren Wohnungen und Büros wie überall in Deutschland Mangelware. Das Fernsehen war froh, mitten in der Stadt einen Platz gefunden zu haben, an dem geräuschgeschützt experimen- tiert werden konnte. Wer den Chefredakteur Heinz von Plato damals suchte, fand ihn in einem winzigen Bunker-Zimmer, einer Gefängniszelle nicht un- ähnlich. Erbaut hatte den Betonkoloss ein Stararchitekt der Nazis, Konstanty Gutschow, der auf dem Heiligengeistfeld eigentlich eine Freizeitanlage für die NSDAP-Organisation »Kraft durch Freude« schaffen sollte. Im Krieg wurde 1942 ein Schutzraum aus dem Gebäude, in dem neben 1000 Luft- schutzhelfern und Flakkanonieren auch knapp 20.000 Menschen bei Luftan- griffen Unterschlupf finden konnten. In die meterdicken Mauern brach man nach Kriegsende die bereits vorgeplanten 176 Fenster, um Licht für Wohnun- gen und Büros einzulassen. Für die Tagesschau fand sich dort tagsüber kein Platz. Nur zur abendlichen Sendung bekam sie Gastrecht. Nach dem Auszug des Fernsehens verwandelte der Modefotograf F. C. Gundlach das verwaiste Studio in ein hightech-Atelier, das mit der Zeit weitere Firmen dieser Bran- che um sich versammelte. Auch für den Filmvorspann der Tagesschau fand sich nicht gleich eine bildlich umzusetzende Lösung. Von Plato und Svoboda entschieden sich schließlich – um den Gedanken »Fernsehen« zu unterstützen – für eine elek- tronische Kamera, die der schon in Berlin bewährte Studio-Kameramann Hans Grack vorführen durfte, ein Aufnahmegerät, das der Tagesschau in den ersten Jahren nie zu nahe kam. Als Begleitmusik diente das rhythmisch pointierte »Leinen los« von Hans Carste, Hansestadt und Aufbruch signa- lisierend. Niemand ahnte, welche Pfründe diese Titelmusik werden würde. Die wenigen Takte ermöglichten dem Komponisten später, als die Zuschauer nach Millionen zählten und die Tagesschau mehrfach täglich ausgestrahlt wurde, allein aus diesen Einnahmen ein Leben im Wohlstand. Der Stunde Null hatte die kleine Mannschaft um Martin S. Svoboda nicht ohne Bangen entgegengesehen. Inbrünstig hatte man dafür gebetet, dass kein größeres Ereignis die Welt erschüttere, denn eine Änderung der bereits vor den Festtagen fertig gestellten Tagesschau hätte unlösbare Probleme gebracht. Gott hatte ein Einsehen. Möglicherweise war auch der Erzengel Gabriel im Spiel, den Papst Pius XII. vorausblickend schon 1951 zum Schutz- heiligen des Fernsehens ernannt hatte. Vielleicht sogar in Abwehr der Hei- ligen Klara, mit der er sein Patronat später teilen musste. Deren Fähigkeit, an zwei Stellen gleichzeitig anwesend zu sein (von Fachleuten Bi-Lokalität genannt), war so fernsehtypisch, dass man sie in dieser Sache einfach nicht übersehen konnte. 12
Vier Jahre lang durfte der Studiokameramann Hans Grack vor der Tagesschau seine elektronische Kamera schwenken. Für viele war er der erste »Mr. Tagesschau«. 13
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