Die Symptome des Jahrhunderts - RÜCKBLICK AUS DER ZUKUNFT

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                              RÜCKBLICK AUS DER ZUKUNFT

        Die Symptome des Jahrhunderts
                                           Von Gisa Stern
Diese Rede vor dem Deutschen Bundestag ist eine erfundene Rede, und auch die Rednerin Dr.
Gisa Stern gibt es nicht. Quelle beider ist das Zentrum für Politische Schönheit, eine Nichtregie-
rungsorganisation, genauer: eine (so die ungeglättete Selbstbeschreibung) „Denk-, Gefühle- und
Handlungschmiede für die Suche nach moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher
Großgesinntheit“. Im Sommer 2012 hat sie durch ihre Kampagne gegen das Rüstungsunternehmen
Kraus-Maffei-Wegmann Aufsehen erregt. Hier nun die Ergebnisse einer Historikerkommission
aus dem Jahr 2051, die sich mit den deutschen Zuständen gut 40 Jahre zuvor zu befassen hatte.

   Vizepräsident: Es folgt: Abschlussbericht der        Bevor ich beginne, möchte ich mich zualler-
vom Deutschen Bundestag eingesetzten His-            erst bedanken, meine sehr verehrten Parlamen-
torikerkommission für das Jahr 2010 („zwan-          tarierinnen und Parlamentarier. Sie haben die-
zig-zehn“). Es spricht zu Ihnen die Direktorin       ses dreijährige Forschungsprojekt möglich
des Max-Planck-Instituts für Bildgeschichte          gemacht, mit derart ungewöhnlich hohem Mit-
und Co-Herausgeberin des Abschlussberichts,          tel- und Personalaufwand ausgestattet. 43 His-
Prof. Dr. Gisa Stern. Frau Stern ist Direktorin      torikerinnen und Historiker arbeiteten an den
des Max-Planck-Institutes für Bildforschung          Teilsektionen Gefühlsgeschichte, Bildge-
und leitet dort seit 2048 den Forschungsbereich      schichte und Begriffsgeschichte, die je 200 Sei-
„Bildgeschichte genozidaler Kriegsführung“.          ten im Bericht ausmachen.
Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter „Die
brennende Bibliothek. Das Jahr 1992 in den              Die Kommission wurde angeleitet von mir
westlichen Medien“ (2034), „Der Rückzug von          als Vertreterin der Bildgeschichte, von Prof.
der Wirklichkeit. Protektorate der Vereinten         Dr. Filip Piskacev für die Begriffsgeschichte
Nationen von 1992 bis heute“ (2035), „Die            und von Prof. Dr. Holger Wenzel für die Ge-
politische Rache: Stalin, Mohammed Atta und          fühlsgeschichte.
Adschemba. Karrieren eines Gefühls im Fa-               Druckfrische Exemplare werden für Sie
denkreuz imperialer ‚Realpolitik’“ (2039). Frau      nachher an den Ausgängen bereitliegen. Die
Prof. Dr. Stern, wir bitten Sie jetzt, den Bericht   Sektion der Bildgeschichte ist überschrieben
einleitend vorzustellen.                             mit: Keine Bilder, keine Probleme. Genozidale
   Stern: Danke, Euer Ehren. Meine sehr ver-         Konfliktbearbeitung um 2010 am Beispiel des
ehrten Parlamentarierinnen und Parlamenta-           Fernsehsenders „Arbeitsgemeinschaft Rund-
rier, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe       funkanstalten Deutschlands“.
Frau Bundespräsidentin, lieber Herr Bundes-             Der Bericht der Sektion Begriffsgeschichte
tagspräsident, meine sehr verehrten Damen            ab S. 205 lautet: Die katastrophobische Läh-
und Herren. Der Fokus des Berichts lag auf           mung des Triumphalismus. Die Unfähigkeit
den Ereignissen im Jahre 2010, mit besonde-          zur Wahrnehmung von Hunger, Armut und
rem Augenmerk auf Berichte über die natio-           Elend im frühen 21. Jahrhundert.
nalistische To-Xang-Bewegung. Im Auftrag                Und die Sektion Gefühlsgeschichte von Prof.
von Ihnen, meine Damen und Herren, sollten           Wenzel heißt: „Achilles Zorn aus den Tiefen
wir herausfinden, wie die so genannten               des Bahnhofgeländes“.
„STÜTZEN DER GESELLSCHAFT“ arbei-
teten. Und ob es STURMWARNUNGEN für                     Die Epoche, meine Damen und Herren, in
das gab, was kommen würde.                           die das Jahr 2010 fällt, wird gemeinhin von

DIE GAZETTE 35, Herbst 2012                                                                             67
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     1989 bis 2032 veranschlagt. Sie reicht vom          Dieser Teil wird bildgeschichtlich im Exkurs
     Jahr der ersten erfolgreichen demokratischen        „Ein diskursives Debakel“ ab Seite 137 exem-
     Revolution auf deutschem Boden 1989 bis zum         plarisch abgehandelt. Sehen wir uns das ganz
     Abzug der 1,2 Millionen chinesischen Blau-          konkret an: Die Intellektuellen antizipieren we-
     helmsoldaten aus Ost- und Zentralafrika im          der die Rolle Chinas bei den Vereinten Natio-
     Jahre 2032, der Auftakt für die Großen Kata-        nen noch die aufkommende To-Xang-Bewe-
     strophen.                                           gung und den nationalistischen Regimeputsch
        Nach dem Philosophen Georg Rettner wird          in Peking. Chinesischer militärischer Protektio-
     diese Epoche auch bezeichnet als aphilotimi-        nismus unter der blauen Flagge der Vereinten
     sches Zeitalter. Rettner entlehnte den Begriff      Nationen in Afrika: damals undenkbar.
     der aphilotimia aus dem Griechischen, DIE              Das gesellschaftliche Erblinden war eine
     EHRVERGESSENHEIT. Aristoteles hatte da-             Folge des Bildnarrativwechsels von 1989. Was
     mit einst Menschen bezeichnet, die nicht nach       die mediale Bildzirkulation von 2010 hergibt,
     Ehre strebten. Nicht, weil sie unfähig wären,       ist weniger eine Stütze der Gesellschaft als ihre
     sie zu erlangen, sondern weil sie diese leugnen     Höhle: eine Momentaufnahme des „falschen
     oder vergessen.                                     Bewusstseins“ Europas. Wie in der platonischen
                                                         Höhle werden Bilder an die gesellschaftlichen
        Zur Sektion „Bildgeschichte“ im Bericht:         Innenwände projiziert und von den Höhlen-
     Wir haben die Bildbestände aus zeitgenössi-         bewohnern tatsächlich geglaubt. Diese Bilder
     schen Büchern, Zeitungen, Magazinen, die            sind: ein Tiefbahnhof, ein Wettermoderator,
     Bilddatenbanken der Nachrichtensendungen,           ein Buch zur „Integration“ und Digitalfotogra-
     forensische Blogs- und Youtube-Aufnahmen            fien von Straßenzügen. Um Europa herum
     ausgewertet, 247 Zeitzeugen befragt, darunter       herrschten: Elend, Not und Schrecken. Aber
     fünfzig Persönlichkeiten, von der ersten deut-      die Zeitgenossen flüchteten in die Höhle der
     schen Generalsekretärin bei der NATO, Mar-          Ahnungslosigkeit. Das Bildvolumen aus den
     tha Herzog, bis zu Karl-Theodor zu Gutten-          ostafrikanischen Krisenstaaten Kongo, Somalia
     berg, dem ehemaligen Bundespräsidenten.             oder Sudan drang in die Nachrichten der „Ar-
        Die Bilder von 2010 wirken wie eine gigan-       beitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten
     teske Lähmung. Ereignisse aus dem                   Deutschlands“ zu 0,04 Prozent durch. Dem-
     Bildschatten der Geschichte sind omnipräsent.       gegenüber steht das Bildvolumen vom Bau des
     Nach der Skasitzer-These des Medientheoreti-        Bahnhofs in Stuttgart: 8,2 Prozent. 8,2 Prozent
     kers Johannes Skasitz wird ein Ereignis, je         gegenüber 0,04 aus der genozidalen Todeszone
     ferner es von geschichtsbestimmenden The-           der damaligen Welt. Dieses Niveau wurde un-
     men liegt, umso häufiger gezeigt. Diese These       seres Erachtens nur ein einziges Mal unterboten:
     trifft in vollem Umfang auf das Jahr 2010 zu.       1943 - 1945 durch die Bildberichterstattung
     Die Bilder vom modernen Sklavenhandel, vom          der Konzentrationslager des deutschen Natio-
     Kauf und Verkauf von Millionen Menschen             nalsozialismus.
     weltweit, kommen gerade mal auf 0,04 Pro-
     zent in der kulturellen Bildzirkulation. Bilder        Es bleiben die Schlussfolgerungen, die Sie
     von den gigantischen Flüchtlingsströmen zwi-        ab Seite 204 finden: Der Triumph über das
     schen Afrika und Europa haben es etwas              Ende der Kriegsgeschichte Europas führte zu
     besser, sie kommen auf 0,08 Prozent. Bildlos        Bildzirkulationsstörungen. Ein Kollektiv-Er-
     bleiben die Schwarzmärkte für Organ- und            blinden gegenüber dem Elend. Die Bilder der
     Waffenhandel: Hier sind es 0,01 respektive 0,1      falschen Heiterkeit verdrängten die Bilder des
     Prozent in der Bildzirkulation.                     Elends in den damals 138 als bellizistisch –
                                                         kriegerisch – zu klassifizierenden Staaten. „Lis-
        Für die Bildhistorikerin stellt sich das Pano-   sabon ist in der Erde versunken und in Paris
     rama auf eine Gesellschaft ein, die versagte. Da-   wird getanzt“, war Voltaire einst erschreckt.
     rin versagte, die politischen Probleme ihrer Zeit   „Keine Bilder aus Lissabon, damit in Paris ge-
     zu identifizieren, zu diskutieren, anzugehen.       tanzt werden kann!“, lautet 2010 die Devise

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                                           der „Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstal-             432. 27 Prozent aller Artikel, die China in den
                                           ten Deutschlands“.                                       meinungsbildenden Zeitungen behandelten,
                                              Bereits 2007 nannte Jean Ziegler seine Zivi-          meine Damen und Herren, griffen auf die Se-
                                           lisation ein „Imperium der Schande“. Ich zitiere         mantik von „Selbstbewusstsein“, „Stolz“ und
                                           aus dem gleichnamigen Buch: „Das Imperium                „Sendungsbewusstsein“ zurück. 17 Prozent
                                           der Schande eröffnet nur eine Perspektive: die           führten dieses Begriffsfeld direkt im Titel oder
                                           Unehre, die jedem Menschen aufgebürdet wird              Untertitel. Bemerkenswerterweise dachte kein
                                           aufgrund des Leids seiner Mitmenschen.“ Aus              einziger Redakteur diese Entwicklung an ihr
                                           freien Stücken gewählte Schande.                         logisches Ende. Kein Redakteur zog Parallelen
                                              Geschichte vergisst nicht. Geschichte vergibt         zwischen dem deutschen Nationalismus im 20.
                                           auch nicht. Es wäre die Aufgabe des Journalis-           und dem aufkommenden chinesischen Natio-
                                           mus gewesen, aus der Themenvielfalt zu selek-            nalismus im 21. Jahrhundert. Stattdessen fand
                                           tieren. Welche Bilder man der Gesellschaft vor-          sich eine überbordende Fülle an Spekulationen
                                           legt, die Auswahl der Bildthemen, ist ein                über ein DEMOKRATISCHES (!) China. Un-
                                           Projekt der nationalen Erziehung. In den Bild-           glaubliche 47 Prozent aller Artikel fantasierten
                                           klimata wachsen Menschen auf, deren Wahr-                eine Demokratisierung Chinas herbei. Die Vor-
                                           nehmung und Urteilskraft durch die Selektion             stellung war, dass eine demokratische Bewe-
                                           bestimmt wird. Das Nachrichtenklima erzeugt,             gung die KP, die Kommunistische Partei Chi-
                                           wie wir heute wissen, Antworten in Form von              nas, wegputschen würde. Dieser Gedanke
                                           Menschen. Die Menschen damals wurden un-                 erschien so zwingend, dass er jeden Gedanken
                                           fähig, das Leiden um sie herum überhaupt                 über die Rolle der Nationalisten diskursiv er-
                                           wahrzunehmen. Um bei unserem Bild zu blei-               stickte. Nur die Historiker haben die Gelegen-
                                           ben: Die Einwohner von Paris verloren das Ge-            heit, die Geschichte auf die Themen auszule-
                                           fühl für die Unehre, die ihnen Lissabons Zer-            gen, die geschichtsmächtig werden. Dennoch
                                           störung aufbürdete.                                      dürfte jede Zeit von sich selbst glauben, genau
                                              Zur Sektion Begriffsgeschichte im Bericht.            zu wissen, was wichtig, was geschichtsentschei-
                                           Eine Zusammenfassung finden Sie ab Seite                 dend ist. Man glaubt, den richtigen Faden der

                                                                         Da könnte ja jeder kommen: FRONTEX-Risikoanalyse
Frontext Risk Aalysis Unit, 25. 02. 2011

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     Geschichte in Händen zu halten. Zu wissen,          „Deutsche Spitzentechnologie“ war Grundlage
     was problematisch ist, was zu diskutieren, zu       für die industrielle Massenvernichtung mit der
     traktieren, zu behandeln ist. Plötzlich läuft der   Atombombe ihrer Zeit: der Maschinengewehre
     Faden von der Spule. Der letzte Meter schlüpft      G3 und G33. Mit mehr als 3 Millionen Toten
     durch die Hand. Ab da verlässt die Zeitgenos-       weltweit. Jährlich.
     sen der Sinn für die Wirklichkeit. Der rote Fa-
     den der geschichtsentscheidenden Themen. Ab            Man mag es glauben oder nicht: Es fand sich
     da bricht die Halluzination aus. Dies geschah       zum Thema der deutschen Tötungsindustrie
     im Jahre 1989 mit dem Eintritt ins aphiloti-        nicht einmal der Versuch einer Debatte. Die
     mische Zeitalter. Nichts konnte das so gut be-      Deutschen schwiegen ihre Rolle als größter
     legen wie die Untersuchung der zeitgenössi-         Waffenanbieter Europas schlicht tot. Nehmen
     schen Geschichtsbücher.                             wir den Begriff der „Sklaverei“. Der Begriff
        Nehmen wir den Begriff der „Mauertoten“,         wurde 2010, wie die Seiten 289 - 312 nachwei-
     der damals überraschenderweise bereits exis-        sen, durchgehend mit der VERGANGEN-
     tierte. Er wurde angewendet auf die Toten des       HEIT assoziiert. Die Geschichtsbücher künde-
     Kalten Krieges am Eisernen Vorhang. Die Ge-         ten imposant vom Gemälde des afrikanisch-
     schichtsbücher von 2010 kündeten eindrücklich       amerikanischen Sklavenhandels. Meine Da-
     von der Ermordung an den Grenzen. Unsere            men und Herren, in den Begriff „Sklaverei“,
     Untersuchungen ergaben aber, dass den Men-          wie die Menschen ihn verstanden, gingen 400
     schen nicht auffiel, wie sie durch den Europäi-     Jahre und der Import von 12 Millionen Sklaven
     schen Abwehrkrieg weit mehr „Mauertote“ ver-        in die Neue Welt ein. Unsere Untersuchungen
     ursachten. An den maritimen Südgrenzen der          ergaben, dass das erste Halbjahr 2010 diese
     damaligen EU starben jährlich 36000 Men-            Zahl ALLEINE schon schaffte. In Südostasien
     schen. In jedem einzelnen Jahr zwischen 2003        wurden zwischen der Jahrtausendwende und
     und 2017 starben an den EU-Grenzen mehr             2010 über 30 Millionen Frauen und Kinder
     Menschen als im gesamten Kalten Krieg am            verkauft.
     Eisernen Vorhang. Die EU ging, wie die                 Interessant dürfte auch die semantische Aus-
     FRONTEX-Akten aus Warschau bewiesen ha-             wertung der Tagespresse ab S. 397 sein. Wir
     ben, mit militärischer Kriegsführung gegen Mil-     fanden dabei eindrücklich die Sandson-These
     lionen afrikanischer Zivilisten an den Küsten       von der distributiven Empathie bestätigt. Nach
     Libyens, Somalias, Marokkos, Tunesiens und          dem moralischen Ökonom Knut Sandson
     der Türkei vor. Am Ende standen 2017 eine           hängt das Mitgefühl einer Gesellschaft für eine
     halbe Million Mauertote, ertrunken auf geken-       Katastrophe von der Wirtschaftskraft des je-
     terten Schiffen, verdurstet in der libyschen        weiligen Landes ab. Die Fähigkeit einer Ge-
     Wüste, abgeschoben in die zerfallenen Staaten.      sellschaft, emotional in Mitleidenschaft gezogen
                                                         zu werden, steigt mit der ökonomischen Über-
        Die Restunion zweifelt bis heute den Wahr-       legenheit des betreffenden Landes. Das heißt,
     heitsgehalt der FRONTEX-Akten an. Diese             über amerikanische Flugzeugtote wurde sie-
     Akten führten Deutschland einst zum Austritt        benmal so häufig berichtet wie über südameri-
     aus der Europäischen Union. Aber der euro-          kanische Flugzeugtote. Afrikanische Flugzeug-
     päische Abwehrkrieg war nun einmal das mo-          abstürze kamen in den deutschen Medien
     ralische Grab der EU. Nehmen wir den Begriff        schlicht nicht vor, obschon sie sich zwölfmal
     „industrielle Massenvernichtung“. Die Ge-           so häufig ereigneten wie amerikanische.
     schichtsbücher von 2010 künden in Bildern              Es hätte den Menschen nichts eingebracht,
     und Worten vom größten Verbrechen des 20.           das Leid und Elend von Millionen Flüchtlingen
     Jahrhunderts, dem Holocaust. Unsere Unter-          zu lindern. Außer vielleicht: Ehre. Es hätte den
     suchungen ergaben, dass 200000 Ingenieure           Menschen nichts eingebracht, die kommerzielle
     Waffen, Panzer und Kampfhubschrauber wei-           Rüstungsproduktion unter Verbot zu stellen.
     terentwickelten. Deutschland war im Jahre           Außer vielleicht: Ehre. Es hätte den Menschen
     2010 drittgrößter Waffenhändler der Welt.           nichts eingebracht, gegen den Verkauf von Mil-

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Themen

lionen Menschen einzuschreiten. Außer viel-                   des Happenings. Die Suche nach Amüsement
leicht: Ehre.                                                 wurde gerne zu einer „Protestbewegung“ stili-
    Das Fazit der Sektion Begriffsgeschichte:                 siert. Aber den Spaß als Wut auszugeben ...
„Nicht nur das Bildklima, auch das Wortklima                  Von echter Wut waren die Deutschen 2010 so
war wenig dazu prädestiniert, die Zeitgenossen                weit entfernt wie ihr Außenminister von einem
zu zwingen, sich der Inhumanität der eigenen                  Achilles. Wie ein Cem Özdemir, der Innen-
Politik entgegenzustellen. Das Kanzleramt                     minister, von den Tobsuchtsanfällen eines
wurde nicht gestürmt. Nachrichtensender wur-                  Klaus Kinski. Wie die Fraktionsvorsitzenden,
den nicht besetzt. Die Bürger schlossen sich                  Parteifunktionäre und Ministerpräsidenten
nicht zusammen, um Steuerzahlungen an die                     vom Zorn Gottes.
Regierung zu verweigern. Auch Industriestreiks                   Die Selbstinszenierung als „wütend“ war eine
für die Menschen in Somalia oder Sabotageakte                 Ideologie, um von der eigenen Untätigkeit und
für die Frauen im Kongo sind nicht auffindbar.                Antriebslosigkeit abzulenken. 300 Jahre Auf-
Die Revolution des aggressiven Humanismus                     klärung für ein Parlament, das über nichts
ist noch weit davon entfernt, zu Papier gebracht              GRÖSSERES debattieren konnte als Kranken-
zu werden.“                                                   kassenbeiträge, Steuern auf Brennelemente und
                                                              Gesetze gegen ein Projekt namens „Google
   Ich möchte nun zur letzten Sektion, der Ge-                Street View“. Der medizinische Fortschritt war
fühlsgeschichte, ab S. 445 übergehen. Gefühle                 offenbar nicht absehbar. Mit der Veredelung
machen Geschichte. Gefühle sind die Motoren                   atomarer Brennelemente in weiterverwertbares
der Geschichte. Dazu zählt die Wut. Wut,                      Uran rechnete man politisch ebenso wenig wie
meine Damen und Herren, ist seit der Antike                   mit dem Schicksal von Google.
die Signatur der Großherzigen und Großmü-
tigen. Im Jahre 2010 fällt eine exzessive Infla-                 Es gab eine Ausnahme. Ein Bundespräsident
tion des Gefühlsbegriffes Wut auf. Medien wie                 namens Köhler hatte beinahe alles darangesetzt,
Bevölkerung sonnten sich in der Selbstbeschrei-               sich mit Afrika zu assoziieren. Er trat im Som-
bung als wütend. „Wutbürger“ wurde von der                    mer 2010 zurück. Er trat zurück, weil er auf
Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort                    das Elend von Millionen Menschen aufmerk-
des Jahres 2010 gewählt.                                      sam machen wollte und weil ihm die Ehre
   DIE IDEOLOGIE einer Zeit entspricht
nicht notwendig den Taten, die der Historiker                  Albreda, Gambia: Hier wurden einst Sklaven gehandelt.
in ihr findet. Bereits Rettner legte dem Ge-
fühlshistoriker eine gehörige Portion Skepsis
in den Schoß, wenn es um die Selbstzuschrei-
bungen einer Epoche geht. Die Menschen be-
zeichneten sich als wütend. Aber waren sie es?
   Nach unseren Erkenntnissen gehörte das
Gefühl der Wut nicht zur nationalen Psycho-
graphie. „Wut“ gehörte zur Ideologie von 2010.
Nie wurde so viel über Wut geredet. Aber was
war ihr Radius? Wir schätzen heute, dass gegen
den Stuttgarter Bahnhof etwa 3,7 Millionen
Menschen in 27 Aufmärschen auf den Straßen
waren. Und etwa 670000 in vier Aufmärschen
gegen den Transport nuklearer Brennstoffe,
von denen die Menschen damals noch annah-
men, sie seien nicht wiederverwertbar. Was die
Menschen auf die Straße trieb, war, wie in An-
hang 27 aus den Interviews mit Zeitzeugen
                                                   Ikiwaner

hervorgeht, die Suche nach Spaß, die Tension

DIE GAZETTE 35, Herbst 2012                                                                                            71
Themen

     dafür versagt wurde. Ein Bundespräsident, der      sich das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP)
     an einem ehrvergessenen Zeitalter mit seinen       von 500 Milliarden Euro auf 2600 Milliarden
     Taten für Afrika scheiterte. Ich zitiere aus dem   VERFÜNFFACHT. Und dies bei konstant ge-
     Schlussteil meines geschätzten Kollegen Prof.      bliebener Bevölkerungszahl. Pro Kopf nahm
     Piskacev auf Seite 629: „So wenig Wut wie im       sich diese Entwicklung noch drastischer aus:
     aphilotimischen Zeitalter war selten. Für den      von 5000 Euro 1970 pro Kopf schoss die Leis-
     Gefühlshistoriker ist der Zorn ein moralisches     tung auf über 45000 im Jahre 2020. Man mag
     Gefühl und sein Fehlen ein Anzeichen für den       das BIP für keine zuverlässige ökonomische
     moralischen Nihilismus einer Zeit. Die ent-        Kennziffer halten. Ein Indikator für die histo-
     scheidenden Themen waren keine.“                   risch beispiellose Wirtschaftskraft ist es allemal.

        Die Pole, meine Damen und Herren, zwi-             Was wussten die Menschen mit diesem
     schen denen sich jede Geschichtsschreibung         Wohlstand anzufangen? Der Friedensnobel-
     notwendig bewegen muss, sind „Ruhm“ und            preisträger und Menschenrechtler Kumi Nai-
     „Schande“. Jede Epoche hat eine Innen- und         doo sagte in seiner berühmten Rede von 2037
     eine Außenseite. Auf der Innenseite finden Sie     in Nord-Kivu, seine Zeit wäre prädestiniert
     als Historiker das, wofür die Epoche berühmt       dazu gewesen, Menschen von herausragender
     werden will. Auf der Außenseite finden Sie,        moralischer Qualität hervorzubringen. Die Ab-
     wofür sie berühmt wurde. Betrachtet man die        wesenheit von Krieg, die weggebrochenen Ge-
     Innenseite 2010, strebten die Menschen zwar        fahren für Menschenrechtler, der beispiellose
     auf allen Feldern der Gesellschaft nach Ruhm:      Reichtum hätten eigentlich zu Höchstleistun-
     Sport, Kultur, Börse. Nur nicht in der Politik.    gen von seltener politischer Schönheit führen
     Es gab nichts, wofür die Politiker stehen, womit   müssen.
     sie sich einen Namen machen wollten. 2010
     fehlte jeder Wille zur Geschichte und Selbst-         Meine Damen und Herren, erhielten wir
     definition. Wir fanden bestätigt, was Rettner      die Gelegenheit, zu den Zeitgenossen um 2010
     in seinem berühmten Buch Die Symptome des          zu sprechen, Ihnen ein Saatkorn für den Stolz
     Jahrhunderts geschrieben hatte: „Ein Zeitalter,    klarzumachen, so wäre es das WFP – das World
     das nicht an sich glaubt. Mit gebrochenem Ge-      Food Programme. Schon damals das größte
     nick. Ohne Ziel. Und ohne politische Vision.“      humanitäre Hilfswerk der Welt, ein Bollwerk
                                                        westlicher Humanität, wenn auch nur bei zehn
       Diese Zeit, meine Damen und Herren, sie          Prozent der Kapazitäten von heute. An jedem
     wäre in der Lage gewesen, beinahe jedes            beliebigen Tag hatte das WFP damals 200
     menschliche Leid auf der Erde im Handum-           Flugzeuge in der Luft, 100 Schiffe zu Wasser
     drehen zu lindern. Das ist ihre Außenseite. Sie    und 5000 Lastwagen auf der Straße. Operativ
     hätte Millionen Hungernde vor dem Sterben,         versorgte es über 100 Millionen Menschen täg-
     Flüchtlinge vor dem Ertrinken und Kriegstote       lich in 80 Ländern.
     vor Victor Adschemba retten können. Sie hätte         Italien prägte im Jahre 2004 Gedenkmünzen
     nur die Politikerinnen und Politiker beauftra-     für das World Food Programme. Und welche
     gen müssen.                                        Motive zierten Deutschlands Gedenkmünzen
        Die Rettungs- und Wohltätigkeitsversuche        2010: die Stadt Augsburg und der „deutsche
     unserer Zeit, IHR WERK, meine Damen und            Wald“.
     Herren, widerlegen die damaligen Debatten,
     ob sich Demokratie mit dem Streben nach              Erst 21 Jahre später wurde der erste WFP-
     Ehre verträgt. Die Ehrvergessenheit jener Jahre    Minister in Deutschland vereidigt. Die eigene
     verweist nicht auf einen Defekt des politischen    Zeit zu zwingen, etwas Gutes zu tun, wäre
     Systems, der Demokratie.                           NICHT undemokratisch gewesen. Nicht un-
                                                        anständig. Und schon gar nicht verwerflich.
        Das Jahr 2010 liegt inmitten eines beispiel-    Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, meine
     losen Aufschwunges: von 1970 bis 2010 hatte        Damen und Herren.

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