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Zürcher Hochschule der Künste
Zürcher Fachhochschule

Statements
Staffellauf Schmerz
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Showroom Z+ N° 5: Der Schmerz des Anderen
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7./8. April 2016
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Mit Statements von: Nina Bandi, Hayat Erdoğan, Dieter Mersch, Patrick Müller, Jörg Scheller,
Hartmut Wickert

Moderation: Corina Caduff

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Zürich, 2016
Statements
Staffellauf Schmerz

Der Showroom Z+ N°5 diskutierte anhand ausgewählter Projekte der ZHdK, wie die Künste
den «Schmerz des Anderen» visuell, akustisch, literarisch und performativ in Szene setzen.
Was darf man über den Schmerz eines Anderen künstlerisch aussagen, wie kann man ihn
inszenieren, mit welcher künstlerischen und politischen Absicht bringt man ihn zur Darstel-
lung?

Am «Staffellauf Schmerz» am 8. April 2016 nahmen Angehörige unterschiedlicher Diszipli-
nen der ZHdK zu den Grenzen der künstlerischen Darstellbarkeit von Schmerz Stellung. Die
Publikation versammelt die Auftritte als Statements der Beteiligten.
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Staffellauf Schmerz

Politik

Bilder von Geflüchteten begleiten uns seit Monaten. Was sehen wir auf diesen Bildern? In
erster Linie sind es Menschen in Not, Menschen, die erschöpft aus nicht seetüchtigen Boo-
ten steigen, Menschen, die hinter Stacheldraht und Gitterzäunen im Dreck und in der Kälte
ausharren, und Eltern, die ihre Kinder vor Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschos-
sen in Schutz zu nehmen versuchen. Es erreichen uns zum Beispiel Bilder aus Idomeni, das
an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien liegt und wo seit der Schliessung
der sogenannten Balkan-Route im März dieses Jahres Tausende Flüchtlinge festsitzen.

Was zeigen uns diese Bilder? Was lösen sie in uns aus? Sie appellieren nicht zuletzt an un-
ser Mitgefühl mit diesen ‹Anderen›, deren Schmerz und Leid wir vermutlich kaum nachvoll-
ziehen können. Was daran ist problematisch und wieso scheinen die Bilder vor allem länger-
fristig nicht im empathischen Sinne zu funktionieren? Sie zeigen diese Menschen in erster
Linie als Opfer, als ausgelieferte Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind und denen
jegliche eigene Handlungsfähigkeit abgesprochen wird. Dadurch werden sie aber umso
mehr zu dem ‹Anderen› gemacht, zu etwas nämlich, von dem wir uns – als erstes, konstitu-
tives Moment – abgrenzen, abgrenzen wollen und abgrenzen müssen. Aus diesen Bildern
tritt nicht hervor, dass es die politisch-militärischen Grenzziehungen, also die europäischen
Grenzregime sind, die diese Menschen an den Grenzen und dann in einem weiteren Schritt
auch in den Medien zu diesem ‹Anderen› machen. Sie sind gezwungen, in die kaum see-
tauglichen Boote zu steigen, in Camps auszuharren, obwohl sie sich mit einem Bruchteil
des Geldes Flug-, Zug- und Schifftickets besorgen könnten nach Mittel- und Nordeuropa.
Als Konsequenz folgt eine unmittelbare Abwehrreaktion: wir können nicht ‹allen› helfen, wir
können nicht ‹alle› aufnehmen, wir stossen an unsere Grenzen, auch an die Grenzen unse-
res Mitleids mit diesen ‹Anderen›.

Bilder im Film, im Theater, in der Kunst hingegen können zeigen, dass die Konstitution der
‹Anderen› Teil der Narration ist. Durch die Verflechtung unterschiedlicher Perspektiven und
Sprechpositionen wird zudem deutlich, dass die Handlungsfähigkeit von diesen abhängt. Es
geht nicht um die blosse mediale Repräsentation des Leids, sondern um eine ästhetische
Öffnung und Verkomplizierung der Verhältnisse zwischen dem sogenannten ‹Wir› und dem
sogenannten ‹Anderen›, wodurch klar wird, dass die Trennung so nicht haltbar ist. Es geht
darum, die Wege und Bewegungen von Menschen auf der Flucht nachzuzeichnen, ohne die
blosse Abbildung des sogenannt ‹Anderen› hinzunehmen. Ein Beispiel dazu ist der Film
Passing Drama von Angela Melitopoulos aus dem Jahr 2000, in dem sie unterschiedliche
Geschichten von Flucht und Migration von und nach Griechenland über mehrere Jahrzehnte
und Generationen hinweg in einer Collage aus narrativem und visuellem Material nachzeich-
net.

Nina Bandi
Philosophin, politische Theoretikerin, Doktorandin im Rahmen des SNF-Projektes What can
Art do? an der Hochschule Luzern, Forscherin am Departement Design der ZHdK (DDE).
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Staffellauf Schmerz

Szene/Szenografie, Bühne/Film

Wenn ich an Darstellungen von Schlachten, Kriegsgeschehen, Folter und Misshandlungen,
Elend und Not denke, sehe ich zunächst Bilder. Nebst Medienbildern und Fotografien sind
dies vor allem filmische Bilder, die sich eingebrannt haben in mein Gedächtnis; Bilder, die
stellvertretende Funktionen einnehmen für eine grausame Wirklichkeit, die hier repräsentiert,
in Szene gesetzt wird. […] Schmerz ist schwer bis gar nicht kommunizierbar, er zerstört die
Sprache und versetzt uns in einen vorbegrifflichen Zustand der Laute und Schreie. Diese
Klänge wiederum können Schmerzbilder im Kopf entstehen lassen. […] Warum aber denke
ich zuerst an Medien- und Film-Bilder, Fotografien und nicht an z.B. die Zerstückelung des
Pentheus durch seine Mutter Agaue in Euripides’ Bakchen, an die Bisse der Penthesilea in
Kleists gleichnamigen Drama, an die Enthauptung des Holofernes in Hebbels Judith oder an
explizite Vergewaltigungs- und Kannibalismus-Szenen in Sarah Kane’s Zerbombt?
Schmerz, Verstümmelung, Tod, Mord, Leiden, Grausamkeiten jeglicher Art prägen doch seit
jeher Tragödien.

Der künstlerischen Darstellbarkeit und Darstellung von Schmerz im Theater sind Grenzen
gesetzt, die der Film scheinbar mühelos überschreiten kann. Seit der griechischen Antike
hat das Theater gewisse, sich im Laufe der Zeit durch neue Techniken und Technologien
erweiterte, künstlerische Filtermechanismen entwickelt, also theatrale Mittel, die Schmerz-
darstellungen möglich machen. Die Teichoskopie, also die Mauerschau, und der Botenbe-
richt beispielsweise, als Mittel der Dramentechnik, finden wir zuhauf in antiken und klassi-
schen Dramen. Diese Mittel erlauben es über Ereignisse zu sprechen, die man auf der Büh-
ne kaum darstellen kann. Schlachten, Hinrichtungen, Auslöschungen ganzer Stadtteile
durch Explosionen, Folter usw. lassen sich nun einmal im Theater technisch schlecht reali-
sieren. Diese Mittel der Dramentechnik hatte man aber auch entwickelt, weil die Inszenie-
rung […] von Gewalt verboten war; auch weil man der Ansicht war, dass schmerzhafte
Grausamkeiten, grausamer Schmerz nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar darstellbar sei.
[…]

Schmerz lenkt den Blick auf den Körper. Während der Film Schmerz zugleich als Gewalt
und als das Leiden daran darstellen kann – z.B. kann ein Close-up mir das schmerzverzerrte
Gesicht eines gerade gefolterten Menschen zeigen und in einem Gegenschuss wird bei-
spielsweise der durch Peitschenhiebe blutig aufgeplatzte Rücken mit herunterhängenden
Hautfetzen gezeigt –, ist das Theater auf Stilisierungen angewiesen: auf der Ebene der
Sprache, in Form bestimmter Schmerzmetaphorik, in Form tragischer Schreie, die nach
Anzahl, Timing, Länge, Metrik etc. geordnet sind, in Form stilisierter Interjektionen usw. Was
der Film kann, nämlich Schmerz-Zufügungen und Schmerz-Äusserungen naturalistisch dar-
stellen, ist im Theater zwar bedingt möglich, aber besser zu unterlassen. Beim Versuch na-
turalistisch darzustellen, muss man immer davon ausgehen, dass die Zuschauer die Kom-
plizenschaft verweigern, weil es eben nicht ‹echt› aussieht, der Schauspieler nicht glaub-
würdig erscheint. Dennoch sind diese Grenzen auch die Potentiale des Theaters in Bezug
auf die Darstellungsmöglichkeiten vom Schmerz des Anderen. Durch die Stilisierung kann
es gelingen, mit der Darstellung von Schmerz über Schmerz-Äusserungen im Alltäglichen
hinauszugehen. Dem Theater stehen zwar nicht die illusionsschaffenden Mittel des Films zur
Verfügung, aber doch enorme ästhetische Möglichkeiten: Sprache, Präsenz, Körper. Live.

Hayat Erdoğan
Dramaturgin und Dozentin im MA Theater an der Zürcher Hochschule der Künste (DDK),
Kuratorin u.a. im Cabaret Voltaire, Doktorandin an der Kunstuniversität Linz.
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Staffellauf Schmerz

Philosophie

Für das philosophische Denken, das ja vor allem ein Ensemble von Reflexionsverfahren dar-
stellt, ist ‹Schmerz› u.a. eines der Paradigmen, an denen sich die Frage von Darstellbarkeit
und Undarstellbarkeit entzündet. Denn der Schmerz ist immer eine auf den jeweiligen Kör-
per bezogene Singularität, immer etwas, was sich dem Begriff, der Zuschreibung, der Ver-
allgemeinerung entzieht. Doch wenn es um das Problem von Darstellung geht, dann erhebt
sich sofort die Frage – eine der typischen philosophischen Frageweisen – was eigentlich der
Ausdruck ‹Darstellung› genau meint. Denn der Begriff selbst schillert einerseits zwischen der
‹Re-Präsentation› im eigentlichen Sinne, d.h. der Stellvertretung oder Ersetzung von etwas
durch etwas anderes, wobei das Präfix ‹Re-› die Wiederholung, das Gedächtnis anzeigt,
zweitens der ‹Gegenwärtigmachung› im Sinne eines konkreten Vor-Augen-Stellens, und
zwar so, dass es anschaubar oder wahrnehmbar wird, sowie drittens Verkörperung, also der
Art und Weise, dem Dargestellten buchstäblich einen Körper, einen Leib zu verleihen, worin
es sich manifestiert und leiblich nachvollziehbar wird. Untersucht man Schmerz auf seine
Darstellbarkeit, fächert sich also die Untersuchung auf in: erstens seine Repräsentation
durch etwas anderes, d.h. ein Zeichen; zweitens seine Wahrnehmbarmachung und damit
seine Nachvollziehbarkeit (eine Frage, die die Sinnlichkeit und Affektion und damit auch das
Mitgefühl adressiert), sowie drittens seine buchstäbliche Einleibung und Ausleibung, d.h.
seine körperliche Vorführung und Ausstellung und damit das, was als leiblicher Ausdruck
verstanden werden kann. Das sind drei unterschiedliche Praktiken oder Strategien des
‹Darstellens› im weitesten Sinne, doch muss man – aus philosophischer Perspektive –
gestehen, dass sie alle drei scheitern. Aus ihm – dem Schmerz – ein Zeichen zu machen,
hat vielleicht am eindringlichsten das christliche Kreuz vorgeführt, das ihn gleichzeitig
neutralisiert: Der Schmerz als Symbol trägt schon seine Abstraktion, seinen Verlust mit sich.
Aus ihm einen sinnlichen Affekt machen, der unser Mitleid evoziert, appelliert an die Fähig-
keit unserer Empathie, die, denkt man an das Leid, das wir auf schonungslose Weise ande-
ren oder auch nur der Kreatur zufügen, nicht verallgemeinert werden kann: Das Vermögen
zum Mitleid ist durch das Klischee überformt. Schliesslich setzt der Ausdruck des Schmer-
zes durch seine Verkörperung voraus, dass wir selbst einen Leib haben und den Schmerz
des anderen durch Resonanz körperlich erfahren und mitempfinden können – doch bedeu-
tet dies auch, das Verhältnis umdrehen zu können und dem anderen umso mehr und präzi-
ser tausendfältige Marter zufügen zu können. Kurz, die Frage der Darstellbarkeit des
Schmerzes korrespondiert immer mit der erfinderischen Vervielfältigung des Leidens, so-
dass das Beharren auf seine Undarstellbarkeit vielleicht sogar die angemessenere Geste
bildet. Gleichwohl habe ich immer empfunden, dass es genügt und sogar viel adäquater
wäre, Überlebende von Kriegen und Massakern auf die Bühne zu stellen und sie von der
unvorstellbaren Gewalt, die sie erlebt oder gesehen haben, berichten zu lassen, denn was
Menschen an Folter für andere Menschen bereithalten, übersteigt jede Fasslichkeit und
Analyse. Und eben dies bedeutet dann nicht mehr Darstellung, sondern Bezeugung und
Zeugenschaft.

Dieter Mersch
Philosoph und Mathematiker, Leiter des Instituts für Theorie (ith) an der Zürcher Hochschule
der Künste und Professor für Ästhetik und Theorie (DKV).
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Staffellauf Schmerz

Musik

Wie Musik den ‹Schmerz des Anderen› zum Ausdruck bringen kann? Nun, wozu Musik
sicherlich in der Lage ist: anderen Schmerz zuzufügen, dies schon alleine durch das Aufdre-
hen des Lautstärkereglers. Jedenfalls hat kaum eine andere Kunstform einen solchen unmit-
telbaren physischen Zugriff auf den Körper einer Hörenden. Und sie vermag seinen Hörer
unvermittelt in ein emotionales Durcheinander zu bringen – wenn auch nur auf Zeit und viel-
leicht in lustvoller Weise.

Bei der Frage allerdings, was oder wer konkret denn ‹die Anderen› in der Musik sein könnte,
deren Schmerz zum Thema wird, mag man schnell in Verlegenheit geraten. In der traditio-
nellen Musik insbesondere des 19. Jahrhunderts scheint es so zu sein, dass Musik
‹Schmerz› eher als ein Allgemeines, fast Abstraktes darstellt: Liebesschmerz, Abschieds-
schmerz, Todesschmerz. Und das tut sie mit sehr abstrakten, jedenfalls unglaublich artifizi-
ellen Mitteln. Auffällig erscheint dabei, dass die höchsten Expressionen von Schmerz oft mit
musikgeschichtlichen Wendepunkten einhergehen – zwei Beispiele: Ein Madrigal wie Clau-
dio Monteverdis Cruda Amarilli, das letztlich von enttäuschter Liebe und Todessehnsucht
handelt, also von höchstem seelischen Schmerz, führte zu einem handfesten musikästheti-
schen Streit (und nebenher auch zur Erfindung einer komplett neuen Gattung: der Oper). Ein
Leitmotiv aus Richard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde, das für Trauer und Liebes-
schmerz steht, ist zu einem der berühmtesten und meist-analysierten Akkorde der Musikge-
schichte überhaupt geworden, ein Symbol für die Auflösung der Tonalität, die sich im 20.
Jahrhundert dann realisiert hat. In beiden Fällen ist aber nicht die Frage relevant geworden,
welcher Schmerz denn da ausgedrückt wird – sondern wie dieser zum Ausdruck gebracht
ist: Der Streit bezieht sich selbstreferenziell darauf, wie jeweils die Dissonanz verwendet
wird: nämlich massiv gegen die damals herrschenden Regeln.

Die starke Tendenz der abstrakten Kunst und Musik zur Selbstreferenzialität zog sich im 20.
Jahrhundert weiter und führte – durchaus in engem Zusammenhang mit der Auflösung der
Tonalität – zu einem sehr grundsätzlichen Wandel in doppelter Hinsicht. Zum einen hat sich
die direkte Koppelung zwischen klanglichem Phänomen und dessen traditionell zugeschrie-
bener Bedeutung nach und nach aufgelöst: In Alban Bergs Oper Wozzeck beispielsweise ist
es ein C-Dur-Akkord – also die Konsonanz schlechthin –, der im Umfeld einer atonalen
Musiksprache Ausdruck höchster seelischer Verletzung repräsentiert. Und dass ein Kratzen
des Bogens auf einer Cellosaite als hässlich oder schmerzhaft empfunden werden soll, dem
wird eben – zum Beispiel in Helmut Lachenmanns Solo-Cellostück Pression – geradewegs
widersprochen: Als Schönheit gilt vielmehr, so ein berühmtes Diktum des erwähnten Kom-
ponisten, die Verweigerung von Gewohnheit. Mit Gewohnheit sind aber genau die Glei-
chungen Dissonanz = Schmerz, Konsonanz = Glück, Geräusch = hässlich, Ton = schön
gemeint. Ästhetischer Wert entstehe gerade da, wo diese Kopplungen aufgelöst, aktiv ver-
weigert werden.

Zum anderen stellt viele Musik des 20. und 21. Jahrhunderts radikal in Abrede, dass sie
emotionale Sachverhalte darlegen will: Die Überwältigungsästhetik eines Richard Wagner
wird nach den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts nicht mehr als legitime Haltung angese-
hen. Musik zieht sich verstärkt auf ihre Selbstreferenzialität zurück, Weltbezug wird mit
anderen Mitteln hergestellt. Musik will nicht mehr als eine Ausdruckskunst in dem Sinne
verstanden werden, dass sie Emotionen ausdrücken wollte. Beide Entwicklungen führen
dazu, dass der Kunstform Musik der Schmerz abhandengekommen ist – wie manchen
Leuten ein Stock oder Hut.

Patrick Müller
Musik- und Literaturwissenschaftler, Leiter MA Transdisziplinarität (DKV) an der Zürcher
Hochschule der Künste, Projektleiter Connecting Spaces Hong Kong–Zürich.
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Staffellauf Schmerz

Schmerzgrenzen des Körpers

Der Philosoph Leszek Kołakowski hat in den Siebzigerjahren die interessante These formu-
liert, dass wir in einer Kultur der Analgetiker leben, also in einer Kultur der Schmerzvermei-
dungsstrategie. Eine solche Kultur kann sich, laut Kołakowski, nicht mehr eine christliche
Kultur nennen, weil sich die christliche Moral und Ethik fundamental aus der Leidens- und
Schmerzerfahrung speist. Weiterhin ist eine solche Kultur für Kołakowski unerträglich, weil
sie thymotische Grundbedürfnisse des Menschen ignoriere. Nämlich das Bedürfnis nach
Stolz, das Bedürfnis danach, etwas Grosses, etwas Gewaltiges unter Schmerzen und unter
Hinnahme von Verlusten zu schaffen. Hier kommt für mich das Bodybuilding ins Spiel. Ich
sehe im Bodybuilding eine Reaktion auf die Kultur der Analgetiker und zwar in dem Sinne,
dass der Bodybuilder sich bewusst Schmerzen zufügt, sich bewusst selbst zerstört. Der
Bodybuilder arbeitet nach dem Hypertrophie-Prinzip. Er zerstört kontrolliert und strategisch
Muskelfasern, damit sie sich über das Ausgangsniveau hinaus aufbauen. Das ist tatsächlich
ein kryptoreligiöses, auf alle Fälle kryptochristliches Moment. Es wird gelitten, es werden
Schmerzen in Kauf genommen oder bewusst herbeigeführt, um den Ausgangszustand zu
transzendieren, um über sich hinauszuwachsen.

Andererseits kippt das Bodybuilding dann, und das macht es für mich so interessant, doch
wieder ins Analgetische. Nämlich über den Umweg der Ästhetik. Der Bodybuilder schafft
eben dieses gewaltige, dieses stolzbewegte Ich-Kunstwerk und ist nunmehr bemüht, dieses
zu konservieren und zu schützen. Er operiert in einem quasi-musealen Raum, wo er sozusa-
gen Künstler, Restaurator und Kurator seiner selbst ist. […] Er ist eher eine posthistorische
Figur mit einem starken Hang zum Ästhetizismus.

Was die Darstellung von Schmerzen im Bodybuilding anbelangt, so sind diese Schmerzens-
männer, wie im Flex-Magazin beispielsweise, sehr beliebt. Auch da erkenne ich ein krypto-
religiöses Moment: Die Bildformeln folgen stark dem Prinzip der imitatio passionis. Die Bil-
der repräsentieren nicht nur, sondern die/der Betrachter_in soll sich in diese Bilder hinein-
versenken, damit sie/er so wird, wie es die dort Dargestellten bereits sind. Es gibt einen
trans-ikonischen Impuls aus dem Bild heraus. […] Die Grenzen dieser Darstellung liegen
natürlich im Extrem. Je extremer die Darstellung des Schmerzes, des Leidens, das vonnö-
ten ist, um diese Körper zu erzeugen, desto stärker tritt ein Effekt hervor, den man ‹comic
masculinity› nennt. Das Sich-Einfühlen bzw. Sich-Versenken ist hier weniger gut möglich,
weil ein inhärent ironischer Effekt durch die Übersteigerung eintritt.

Jörg Scheller
Kunstwissenschaftler, Journalist und Musiker, Dozent für Kunstgeschichte und Co-Leiter
der Vertiefung Fotografie (DKM) an der ZHdK.
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Staffellauf Schmerz

Theater/Performance

Wie entsteht überhaupt die Idee, den Anderen und seine Leiden zu verkörpern oder darzu-
stellen und wie nimmt diese Idee Formen an? Seit den Debatten der Aufklärung um die
Natur des Menschen ist das Gefühl und insbesondere das Mitleidsgefühl eine zentrale Be-
zugsgrösse. Rousseau leitet aus dem Mitleid alle sozialen Tugenden ab. Mitleid besteht
gemäss Rousseau darin, sich an die Stelle dessen zu versetzen, der leidet. Wir leiden nicht
in uns, sondern in ihm, wenn wir Mitleid empfinden. Das Vermögen, uns mit anderen zu
identifizieren, entspränge unserer Einbildungskraft. Das Mitleidsgefühl ist also nicht so ur-
sprünglich, wie Rousseau es sich wünscht, sondern bedarf der Vermittlungsarbeit und der
Einbildungskraft. Allerdings geht die Argumentation Rousseaus weiter: Mitleid empfinde ich
mit dem Anderen nur in Abhängigkeit von dem, wovon ich meine, dass es auch mir gesche-
hen kann. Es verwandelt sich so in Egoismus. […] Andersherum: den Anderen leiden zu se-
hen, befreit uns von den Schmerzen, die er leidet, so Rousseau. […]

Das Verständnis von psychologischem oder Einfühlungstheater gipfelt methodisch/ideo-
logisch im Method Acting, einer Technik, mit der Schauspieler_innen so tief in ihre Figur
eintauchen, dass sie sie nicht mehr spielen, sondern wortwörtlich verkörpern, sie werden,
unter Aufgabe der eigenen Person. Gewährsleute und Begründer dieser Auffassung waren
die amerikanischen Schauspieler Lee Strasberg und Stella Adler. Beide haben sich auf die
methodischen Ansätze des Anfangs des vorigen Jahrhunderts tätigen russischen Schau-
spielers und Regisseurs Konstantin Stanislavski bezogen, der die psychologische Weise
des Schauspielens begründet hat. […] Dazu wurden unterschiedliche Übungen und Techni-
ken entwickelt, die alle um die Kategorie des emotionalen Gedächtnisses gelagert sind. Die-
ses auszubilden, zu mobilisieren und abrufbar zu machen, ist Basisvermögen des sich ein-
fühlenden Spiels.

Die zweite Generation des Method Actings hat diese Aufgaben und Ziele durch die Intensi-
vierung der Vorbereitungen bis ins Extreme perfektioniert. Robert de Niro, Al Pacino und
Dustin Hofmann sind Protagonisten dieser Art zu spielen (übrigens alle hauptsächlich im
Film agierend). Zu den Praktiken dieser Schauspielergeneration gehören Schlafentzug oder
auch starke körperliche Transformationen. […] Dass Schauspieler an den Formen einer sol-
cherart motivierten Selbstaufgabe zerbrechen können, belegen die Beispiele von Philip
Seymour Hofmann und Heath Ledger. Die Körper, die sich dem Anderen hinzugeben in der
Lage sind, tun dies in extremis bis zur Selbstgefährdung. Diese Art der Schauspielkunst
kann zu einer Art Schamanismus werden. Womit wir bei Antonin Artaud angelangt wären,
der sich nicht der Rolle, sondern dem Theater selbst hingibt, in diesem aufgeht, sich auflöst
und zu eben dem Schamanen wird, der die Mission verfolgt, mit seinem Beispiel das Leben
zu heilen.

Hartmut Wickert
Direktor Darstellende Künste und Film (DDK) an der ZHdK, Regisseur, Co-Initiator der
departements-übergreifenden Projektinitiative Laokoon 2016.
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Staffellauf Schmerz

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Toni-Areal, Pfingstweidstrasse 96
CH-8005 Zürich

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Departement Kulturanalysen und Vermittlung
Leitung: Corina Caduff
www.zhdk.ch/zplus

Redaktion: Stephanie Ehrsam, Mirjam Steiner
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