Die Titelthema Werte des Sports - Landessportbund Hessen eV
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Nr. 05/06 | 27. März 2021 | 75. Jahrgang Titelthema Die Werte des Sports Bestandserhebung Weniger Mitglieder in Hessens Sportvereinen Talentförderung Sechs Schulsportzentren zertifiziert
EDITORIAL Editorial Liebe Sportfreundinnen und Sportfreunde, vor ziemlich genau einem Jahr, am 11. März 2020, stufte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Co- rona-Welle als Pandemie ein. Heute, etwas mehr als zwölf Monate später, bestimmt das COVID-19-Virus un- ser Leben immer noch in einem bislang so nicht ge- kannten Maß. Unter den Einschränkungen, die mit der Pandemie einhergehen, leidet auch der organisierte Sport in Hessen. 69.000 Mitglieder, das sind 3,2 Prozent, haben zwi- schen Januar 2020 und Januar 2021 unsere rund 7.600 ten- und Rehabilitations-Sportverband mit dem Ziel, Sportvereine verlassen. Das hat die Auswertung unse- das Thema Inklusion voranzubringen, und die Auswei- rer Bestandserhebung ergeben. In welchen Altersgrup- tung der digitalen Lernplattform „Moodle“, die von pen die Austritte besonders prägnant und welche Ver- Landessportbund und Sportjugend Hessen gemeinsam einsstrukturen von Mitgliederrückgängen unterhalten wird, sind weitere Inhalte der aktuellen überdurchschnittlich betroffen sind, haben wir in der Ausgabe. vorliegenden Ausgabe für Sie analysiert. Informationen zur Neustrukturierung des Landespro- Besonders intensiv beschäftigt haben wir uns mit ei- gramms „Talentsuche/Talentförderung“ zur neuen Zu- nem weiteren, einem gleichermaßen wichtigen wie sammenarbeit zwischen dem Olympiastützpunkt Hes- ernsten Thema. „Wie definieren sich die Werte des sen und der accadis Hochschule Bad Homburg und zur Sports, wie werden diesen Werte gelebt und welche ersten Vorstandswahl bei der Athletenvertretung Hes- Rolle spielen Trainer/innen, Übungsleiter/innen und sen ergänzen das Themenportfolio. natürlich Spitzensportler/innen bei der Vermittlung der Werte an Kinder und Jugendliche?“ Diesen Fragen Bei der Lektüre dieser und der vielen weiteren Themen sind wir in unserem Titelthema unter der Überschrift wünsche ich Ihnen nun viel Spaß und: Bitte bleiben Sie „Werte im Sport“ nachgegangen. gesund! Die erweiterte Zusammenarbeit zwischen dem Lan- Ihre dessportbund Hessen und dem Hessischen Behinder- Dr. Susanne Lapp S IH 0 6 / 27.03.2021
EDITORIAL INHALT Inhalt 3 Digital tagen Infrastruktur für Frankfurt, Wetzlar und Edersee 5 4 Vorläufige Mitgliederstatistik Bedenkliche Entwicklung Die Werte des Sports Mehr als Fairness und Respekt 12 Nachwuchs in der Krise Kinder- und Jugendsport in Corona-Zeiten 14 Ehrenamtsförderung Neues Qualifizierungsformat 15 16 Bildungskongress Sportstättenatlas Die Verantwortung des Sports Alle Sportstätten auf einen Blick 18 Onlineplattform Bildungsangebot wird ausgeweitet 22 Kurz notiert 30 Namen und Notizen aus der Sportwelt Digital und kreativ 24 Sport und Corona Corona erfordert flexible Vereine Interview mit Prof. Dr. Banzer 28 Talentförderung Landesprogramm wird neu geordnet 28 30 Neuer Name Haus der Athleten wird umbenannt Athletenvertretung Sportler/innen wählen Vorstand 34 Sport und Geschichte Adressbücher als historische Quellen 35 ARAG Sportversicherung Schadensfall des Monats 42 36 Sportliche Lesetipps Sportjugend Hessen Neue Bücher Freiwilligendienste 2021 Impressum Herausgeber: Landessportbund Hessen e. V. (lsb h); Otto-Fleck- Anzeigen Nord/Mitte: Claudia Brummert, Frankfurter Straße 168, Titelfoto: Fair Play zählt selbstverständlich zu den Grundwerten des Schneise 4, 60528 Frankfurt, Tel.: 069/6789 -0 34121 Kassel, Tel.: 0561/60280-180, Fax: 0561/60280-199, Sports. Dazu gehört auch, dass man sich nach Verletzungen hilft. Unser Verantwortlich für den Inhalt: Dr. Susanne Lapp, Vizepräsidentin für E-Mail: brummert@ddm.de Titelfoto zeigt eine Szene aus der Begegnung 1.FC Kaiserslautern gegen Kommunikation und Marketing, Glauburgstraße 11, 60318 Frankfurt. Anzeigen Süd: Torsten Wethlow, Waldstraße 226, 63071 Offenbach, Eintracht Braunschweig ( 3. Liga). Redaktion: Leitung Ralf Wächter (RW), Isabell Boger (ib), Markus Tel.: 069/85008-368, Fax: -394, E-Mail: sih@op-online.de Foto: Jan Huebner Wimmer (maw), Otto-Fleck-Schneise 4, 60528 Frankfurt. So erreichen Sie uns: Ralf Wächter, rwaechter@lsbh.de, Tel.: 069/6789 Sport in Hessen erscheint vierzehntägig zum Wochenende www.landessportbund-hessen.de -262; Isabell Boger, iboger@lsbh.de, Tel.: 069/ 6789-267; Markus Bezugspreis: Jährlich Euro 51,11 einschl. Postgebühren und MwSt. Wimmer, mwimmer@lsbh.de, Tel. 069/6789-437; Fax: 069/6789-300. Bestellungen für Vereine beim Landessportbund Hessen e. V., Verlag: Pressehaus Bintz-Verlag GmbH & Co. KG, Waldstraße 226, für Privatpersonen bei Dierichs Druck + Media GmbH & Co. KG 63071 Offenbach Druck und Vertrieb: Dierichs Druck + Media GmbH & Co. KG, Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der Verfasser Frankfurter Straße 168, 34121 Kassel. wieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keine Abonnementverwaltung: Frankfurter Straße 168, 34121 Kassel, Gewähr übernommen. Eine Rücksendepflicht besteht nicht. Tel.: 0561/60280-452, Fax: 0561/60280-499, E-Mail: abo-sih@dierichs-druck.de SIH 0 6 / 27.03.2021
SPORTSCHULE 3 Digital tagen in unseren Sportschulen Infrastruktur für Videokonferenzen mit Präsenzanteil steht zur Verfügung / Smartboards können in Frankfurt, Wetzlar und am Edersee zugebucht werden O b Mitgliederversammlung, Vorstandsklausur, Sportkreistag oder Trainer/innen-Austausch: In Präsenzform ist an solche Veranstaltungen seit über einem Jahr kaum mehr zu denken. Vi- deokonferenzen gehören längst zum täglichen Brot. Doch manchmal ist es eben doch nötig, dass sich zu- mindest einige Teilnehmer an einem Ort versammeln und die Videokonferenz gemeinsam „bestreiten“. In der Sportschule Frankfurt, der Sport- und Bildungs- stätte Wetzlar und im Camp Edersee stellen der Lan- dessportbund Hessen und die Sportjugend Hessen die passende Infrastruktur für solche Vorhaben zur Verfügung. „Wir haben fünf sogenannte Smartboards angeschafft, die flexibel in den unterschiedlichen Räumen der Ein- richtungen eingesetzt werden können“, erklärt Tim Schmidt-Weichmann, Leiter der Sportschule Frankfurt. Ausgestattet mit modernster Konferenztechnik ermög- zeugt, dass diese Technik auch über die Corona-Pande- lichen sie es, dass bis zu zwölf Personen von einem mie hinaus von großer Bedeutung sein wird. Denn sie Raum aus an einer Konferenz teilnehmen, der x-belie- ermöglicht es, bei Präsenz-Veranstaltungen weitere big viele Online-Teilnehmende zugeschalten werden Teilnehmende zuzuschalten, die aufgrund einer langen können. Der zugehörigen Kamera gelingt es, alle Teil- Anreise oder Terminüberschneidungen sonst nicht teil- OBEN nehmenden im Raum einzufangen oder an einzelne genommen hätten“, sagt Jonas Simon. Videokonferenzen, Personen heran zu zoomen. Auch der Ton wird so auf- bei denen mehrere gezeichnet, dass alle Personen im Raum von den übri- Fördermittel für die Aufrüstung Personen an einem Ort zusammenkom- gen Teilnehmenden der Videokonferenz gut verstan- men, sind dank der den werden können. Die Mittel für die Aufrüstung der Einrichtungen stam- Smartboards kein men aus dem Förderprogramm der Deutschen Stiftung Problem mehr. Konferenzen auf einem neuen Level für Engagement und Ehrenamt, von dem auch zahlrei- Foto: Markus Wimmer che hessische Vereine, Sportkreise und Fachverbände „Wir begeben uns damit auf ein neues Level, was Vi- im vergangenen Jahr profitiert haben. deokonferenzen angeht“, ist Schmidt-Weichmann überzeugt. Wie auch in der Sport- und Bildungsstätte Für alle, die sich nun fragen, ob selbst kleine Gruppen Wetzlar, in der Leiter Jonas Simon verantwortlich in einem Raum nicht eine zu großes Infektionsrisiko zeichnet, kann die Technik bei der Reservierung eines darstellen, befassen sich Schmidt-Weichmann und Si- Raums derzeit zu einem Probierpreis hinzugebucht mon permanent auch mit Maßnahmen, die das Infekti- werden. Denn der große Vorteil ist: Die Smartboards onsrisiko reduzieren. In Wetzlar wurden beispielsweise sind nicht fest verbaut, sondern können flexibel in den bereits zwei Luftreiniger angeschafft, um die Gefahr ei- verschiedenen Räumen der Sportschulen eingesetzt ner Übertragung via Aerosole möglichst gering zu werden. halten. Isabell Boger Für größere Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen oder Konferenzen sollen der größte Raum in Wetzlar sowie die Mehrzweckhalle in Frankfurt zusätzlich mit einem festen Audiovisuellen-Übertragungssystem aus- gestattet werden, so dass auch hier hybride Veranstal- tungen durchgeführt werden können. Dafür sollen per- spektivisch auch Richt-Mikrofone in die Frankfurter Mehrzweckhalle eingebaut werden. „Wir sind über- S IH 0 6 / 27.03.2021
4 BESTANDSERHEBUNG Corona sorgt für schrumpfende Vereine Vorläufige Mitgliederstatistik des Landessportbundes Hessen weist Mitgliederrückgang um 3,2 Prozent aus D ie Corona-Pandemie und der anhaltende Lock- down für große Teile des Breitensports besche- ren Hessens Sportvereinen einen spürbaren Mit- gliederrückgang. Das hat die Bestandserhebung des Landessportbundes Hessen (lsb h) ergeben. Die nun vorgelegten Zahlen offenbaren, dass fast 58 Pro- zent der Vereine, die Mitglied im Landessportbund sind, zwischen dem 1. Januar 2020 und dem 1. Januar 2021 zahlenmäßig geschrumpft sind. Insgesamt haben die rund 7.600 hessischen Vereine in dieser Zeit fast 69.000 Mitglieder verloren. Das entspricht einem Rückgang um 3,2 Prozent auf nun 2,066 Millionen Mitglieder. „Das jahrelange Mitgliederwachstum des organisierten Sports in Hessen wurde durch die Corona-Pandemie ge- stoppt. Angesichts der anhaltenden Einschränkungen befürchten wir, dass sich diese Entwicklung bis Ende 2021 sogar noch verschärfen wird“, bewertet lsb h-Prä- sident Dr. Rolf Müller die vorläufigen Zahlen, an denen noch kleinere statistische Bereinigungen vorgenom- men werden müssen. Diese Befürchtung werde dem und Trainingsdefizite im Nachwuchssport wieder aufzu- Landessportbund auch aus seinen Mitgliedsorganisati- holen“. Als ehemaliger Hochschulmeister in dieser onen widergespiegelt. „Die derzeitige Perspektivlosig- Sportart nennt Müller explizit auch den Schwimmsport: OBEN keit zehrt“, sagt Müller und verweist darauf, dass die „Seit Jahren mangelt es an Schwimmkursen. Unter den 25 größten hessischen Vereine sich im Sommer 2020 noch deutlich Sportverbänden in optimistischer gezeigt hatten. Bei einer damals durch- Hier wird die verlorene Zeit nur sehr schwer wieder auf- Hessen verzeichnen gerade mal drei einen geführten Vereinsbefragung hatten nur 30 Prozent der zuholen sein.“ Auch in den Mannschaftssportarten Mitgliederzuwachs: Vereine überhaupt Mitgliederrückgänge drohten langfristige Folgen – nämlich dann, wenn auf- Tennis, Kanu und erwartet. grund der Corona-Pandemie auch länger- Bergwandern/ fristig nicht mehr genügend Skiwandern. Sorgen um den Spieler/innen gewon- Foto: Anna Shvets/ Nachwuchs nen werden Pexels M können. Ein genauer Blick auf die Statistik zeigt zwei Entwick- itg lie lungen auf, die der Dachverband als besorgniserre- Die Ergeb- gend bewertet. So entfallen fast 63 Prozent aller Mit- nisse der Bestand- gliederverluste auf Kinder und Jugendliche bis 18 serhebung untermauer- ds Jahren. Der Rückgang der Zahlen innerhalb dieser Al- ten, warum es besonders za hl tersgruppe beläuft sich auf 6,8 Prozent und ist damit wichtig sei, Kinder- und Jugend- fast viermal so hoch wie bei den Erwachsenen. Bei den sport bei einer Öffnung des Vereins- bis Sechsjährigen ist sogar ein Minus von 17 Prozent zu erkennen. „Es besteht die große Gefahr, dass uns eine sports bevorzugt zu behandeln. Diese Forderung hatte der Landessportbund Hessen en ganze Generation verloren geht“, warnen der Lan- in einem von ihm vorgelegten Stufenplan zum dessportbund-Präsident und die Vorsitzende der Sport- Wiedereinstieg aufgestellt (wir haben berichtet). jugend Hessen, Juliane Kuhlmann. Am 4. März wurde nun verkündet, dass Kinder- und Ju- gendsport unter freiem Himmel für Kinder bis 14 Jah- Natürlich hoffe man, bei einer Normalisierung des ren wieder ohne Beschränkung der Gruppengröße Sportbetriebs auch wieder mehr Kinder für den Ver- möglich ist. „Das ist ein ermutigender erster Schritt, einssport zu begeistern und die Verluste so zumindest der aus unserer Sicht auch mit der epidemiologischen teilweise ausgleichen zu können. Kuhlmann verweist Lage gut zu vereinbaren ist“, sagten Müller und aber darauf, dass es schwer werde, „die Bewegungs- Kuhlmann. S IH 0 6 / 27 . 0 3 . 2 0 2 1
BESTANDSERHEBUNG 5 Keine Neueintritte (-10,0), Groß-Gerau (-9,3) Main-Kinzig (-9,0), Rhein- gau-Taunus (-8,4), Darmstadt-Dieburg (-7,9), Offen- Der Mitgliederrückgang in Hessen entspricht im Grund- bach (-7,7), Limburg-Weilburg (-7,3), Main-Taunus satz bundesweiten Entwicklungslinien und ist sowohl (-7,2) und Lahn-Dill (-7,0). auf Austritte sowie – insbesondere im Nachwuchsbe- reich – auf fehlende Neueintritte zum Ausgleich „nor- Kontaktsportarten leiden besonders maler“ Fluktuationen zurückzuführen. Bei den Verbänden lassen sich aufgrund der zum Teil Trotz oder gerade wegen dieser besorgniserregenden kleinen Grundgesamtheit nur tendenzielle Aussagen Entwicklung bedankt sich lsb h-Chef Rolf Müller bei treffen. „Wir sehen, dass die Kontaktsportarten im ver- über zwei Millionen Mitgliedern, die ihren Sportverei- gangenen Jahr besonders stark gelitten haben. Sie nen auch in der Krise treu geblieben sind. „Damit be- eignen sich nun mal am wenigsten, um Abstandsge- weisen sie, dass die lsb h-Vereine ein starkes Stück bote einzuhalten“, fasst Müller zusammen. So sind die Hessen sind und bleiben.“ Verluste im Judo (-11,6 Prozent), Ju-Jutsu (-9,9), Kickboxen (-9,1), Taekwon Do (-7,3), Karate (-6,7) Sorgenkind Großvereine und Ringen (-6,5) besonders hoch. Die zweite besorgniserregende Entwicklung offenbart Mit dem Turn- und dem Schwimmverband verlieren die Bestandserhebung bei den hessischen Großverei- auch zwei der fünf größten hessischen Verbände über- nen. Häufig mit eigenen Sportstätten und festange- durchschnittlich – nämlich um jeweils 6,6 Prozent. „In stellten Mitarbeitenden ausgestattet, leiden sie nicht beiden Sportarten erfolgt der Einstieg in den Vereins- nur finanziell stärker unter der Krise als andere. Sie sport traditionell sehr früh. Die besorgniserregende sind auch überproportional stark von Mitgliederverlus- Entwicklung im Kinder- und Jugendsport scheint hier ten betroffen: Rund 40 Prozent der Rückgänge entfal- deshalb besonders stark durchzuschlagen“, glaubt Die endgültige len auf die 311 Sportvereine im Landessportbund Hes- Müller. Dies wird von den Zahlen gestützt: Turnen und und detaillierte sen mit 1.001 und mehr Mitgliedern. Allein der Schwimmen büßten bei den Kindern und Jugendlichen Bestandserhebung wird der Landessport- Mitgliederrückgang dieser Vereinsgruppe umfasst ins- bis 18 Jahren mehr als zehn Prozent ihrer Mitglieder bund voraussichtlich gesamt rund 27.500 Mitglieder. ein. Ähnlich sieht es im Judo (-16,2 Prozent bei den im April vorlegen. bis 18-Jährigen) und anderen Kontaktsportarten aus. Die 20 größten Vereine Hessens (Eintracht Frankfurt ausgenommen) verzeichneten einen deutlich über- Kritisch ist auch die Entwicklung im Behinderten- und durchschnittlichen Rückgang um 6,2 Prozent. Lässt Rehabilitationssport: Der hessische Verband verliert man außerdem die verschiedenen Sektionen des Deut- fast zehn Prozent seiner Mitglieder – im Nachwuchsbe- schen Alpenvereins außen vor, die in der Tendenz an reich sogar 23 Prozent. „Hier wird deutlich, was prinzi- Mitgliedern gewonnen haben, beträgt der Rückgang so- piell für alle Sportarten gilt: Der Lockdown wird sich UNTEN gar 10,4 Prozent. „Hieraus resultieren erhebliche Ein- negativ auf die Gesundheit der Bevölkerung auswir- Große Rückgänge sind nahmeverluste. Im Zusammenspiel mit den weiterlau- ken. Denn Sport stärkt nicht nur das Immunsystem und im Kinder- und fenden Betriebskosten für vereinseigene Sportinfra- beugt Erkrankungen vor. Sport wirkt sich auch positiv Jugendsport zu verzeichnen. Ob die struktur nehmen wir eine zunehmend kritische Finanz- auf die Psyche aus – insbesondere dann, wenn er in der entstandenen Defizite situation und einen entsprechenden Unterstützungsbe- Gruppe betrieben wird“, weist Müller auf den gesamt- – beispielsweise im darf für diesen Vereinstyp wahr“, sagt Dr. Rolf Müller. gesellschaftlichen Wert des Vereinssports hin. Schwimmsport Isabell Boger – jemals wieder Verluste in allen Sportkreisen aufzuholen sind, bleibt abzuwarten. Dass der Mitgliederrückgang eindeutig auf die Corona- Foto: Porapak Apichodilok / Pexels Pandemie und die resultierenden Sportverbote zurück- zuführen ist, zeigt auch ein Blick auf die einzelnen Sportkreise und Verbände: In allen 23 Sportkreisen des Landessportbundes Hessen haben die Vereine insge- samt an Mitgliedern verloren. Die Verluste reichen laut der vorläufigen Statistik von -0,7 Prozent (Sportkreis Werra-Meißner) bis zu -5,7 Prozent (Groß-Gerau). „In der Tendenz lässt sich feststellen, dass die urbanen Kreise stärker betroffen sind als die ländlich gepräg- ten. Denn dort gibt es mehr Großvereine und die Ver- einsbindung ist tendenziell schwächer ausgeprägt“, so Müller. Zu den „Negativ-Spitzenreitern“ gehören somit auch Wiesbaden (-4,6 Prozent), Darmstadt-Dieburg (-3,9), Offenbach (-3,8) und Frankfurt (-3,8), wo der Zugewinn der Eintracht die Tendenz abschwächt. Im Nachwuchsbereich verlieren – außer Werra-Meißner (-0,8 Prozent) – alle Sportkreise deutlich. Überdurch- schnittlich hoch sind die Verluste in Wiesbaden S IH 0 6 / 27.03.2021
6 TITELTEHMA WERTE DES SPORTS Weit mehr als Fair Play Was sind die Werte des Sports? Menschenrechte, Toleranz, und Respekt gehören dazu F air Play, Respekt, Ehrlichkeit. Dass sind Begriffe die zuerst genannt werden, wenn es um die Werte des Sports geht. Werte, ohne die gemeinsamer Sport oder der Wettbewerb miteinander gar nicht möglich wären. Werte, die alle Sportlerinnen und Sportler ungefragt teilen (sollten). Werte, die in Spiel- ordnungen und Wettbewerbsregeln mit einfließen. Wir wollen in unserem Titelthema einen Blick auf die Werte des Sports werfen und versuchen, das Spannungsfeld, in dem sich der organisierte Sport dabei bewegt, darzustellen. Die Werte des Sports auf die Begriffe Fair Play, Respekt mitteln. Gefordert sind an dieser Stelle in erster Linie und Ehrlichkeit zu reduzieren, wäre zu kurz gedacht. Übungsleiter/innen und Trainer/innen. In Wettkampf Denn wenn diese Werte nicht nur im Wettbewerb gel- und Training sind diese Werte Grundlage der Regeln ten, sondern auch in Training und Alltag, schließen und des Miteinanders. Und bei gesellschaftlichen Kon- OBEN sich weitere Fragestellungen von selbst an. Wo wird flikten ist der Sport aufgefordert, entsprechend seiner Fair Play zählt Fair Play gelebt und wo werden mit Tricks die Grenzen Werte Farbe zu bekennen. Diese Haltung vertreten in- selbstverständlich zu der Fairness ausgelotet? Was verbirgt sich hinter dem zwischen auch immer mehr Spitzensportler/innen. den Grundwerten des Sports, dazu gehört Begriff „Respekt“, wenn sich Bundesliga-Profis neben „Sportler haben auch eine gesellschaftliche Verantwor- auch, dass man sich dem Spielfeld wie die sprichwörtliche „Axt im Wald“ tung und müssen ihre mediale Reichweite nutzen“, nach Verstössen benehmen? Und wie steht es mit der Ehrlichkeit, wenn sagt beispielsweise Athletenvertreter Max Hartung und dagegen entschuldigt. es um das Thema Doping geht? Wie politisch ist der verweist darauf, dass Leistungssportler/innen für viele Foto: lsb NRW/Andrea Sport? Wie politisch darf und muss er sein? Und was Kinder und Jugendliche in ihren jeweiligen Sportarten Bowinkelmann bedeuten in diesem Zusammenhang dann Wettkämpfe Vorbilder seien. oder Trainingslager in Diktaturen oder Ländern, in de- nen Menschen verfolgt werden? Wir werden diese Fra- Profis und Amateure: Zwei Welten gen nicht umfassend beantworten können, aber sie machen deutlich, wie komplex das Spannungsfeld ist, Doch dieser Vorbildcharakter des Leistungssports hat wenn es um die Werte des Sports geht. in der Corona-Pandemie gelitten, denn das verbin- dende Element, die gemeinsame Disziplin, die gleiche Werte als Grundlage des Zusammenlebens Leidenschaft für die Sportart, geht immer mehr verlo- ren. Während die Vereine an der Basis mit Blick auf die Vielleicht hilft ein Blick in die Satzung des Lan- Pandemie-Entwicklung fast keine Hoffnung mehr auf dessportbundes, denn darin sind die Grundlagen des einen zeitnahen Wiedereinstieg in den Sport haben, Sports beschrieben: „Der lsb h ist parteipolitisch neu- tral. Er bekennt sich zu den Grundsätzen der Men- läuft der Profi- und Spitzensport davon scheinbar un- beeindruckt weiter. Und das nicht nur im Fußball. Auch Die Werte schenrechte, zur Freiheit des Gewissens und der Frei- im Handball, Basketball oder im Wintersport merkt des Sports heit in demokratischer Gesellschaft. Der lsb h wendet man an der Spitze wenig von Corona. In den heimi- sich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie schen Skigebieten stehen trotz eines „Traumwinters“ gegen antidemokratische, nationalistische und antise- die Lifte still, Weltcuprennen und Weltmeisterschaften mitische Tendenzen. Er fördert die Gleichstellung der werden dennoch ausgetragen. Und angesichts der be- Geschlechter,die Inklusion durch Teilnahme und Teil- stehenden Impfsituation wirkt es deplatziert, wenn habe von Menschen mit und ohne Behinderung im beispielsweise Impfprivilegien für Spitzensportler/in- Sportverein sowie die Integration von Menschen mit nen gefordert werden. Migrationshintergrund und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. Damit ist ein Rahmen ge- Andreas Klages, Hauptgeschäftsführer des lsb h, sieht steckt, der die Werte Fair Play, Respekt und Ehrlichkeit diese Entwicklungen mit Sorge. Er befürchtet, das sich erweitert und in einen gesellschaftlichen Zusammen- die Kluft zwischen Breiten- und Spitzensport künftig hang einordnet. noch weiter vertiefen könne. „Corona hat auch im Sport die Frage nach dem richtigen Maßstab und der Und dieser Rahmen stellt hohe Ansprüche an den richtigen Haltung wie unter einem Brennglas noch Sport: An der Basis, im Breitensport und vor allem im stärker hervortreten lassen“. Kinder- und Jugendbereich gilt es, diese Werte zu ver- Markus Wimmer S IH 0 6 / 27 . 0 3 . 2 0 2 1
TITELTHEMA WERTE DES SPORTS 7 Wie politisch ist der Sport? Ringen um Corona-Einschränkungen verdeutlicht Notwendigkeit zum politischen Diskurs W ie politisch ist der Sport? Eine Fragestellung, die immer wieder diskutiert wird. Auf der Bil- dungskonferenz von Landessportbund Hes- sen, Bildungsakademie Hessen und der Sportjugend Hessen wurde intensiv über diese Frage gesprochen. Eindeutig positioniert haben sich die lsb h- Vizepräsidentin und Vorsitzende der Sportjugend Hes- sen, Juliane Kuhlmann, und der Vizepräsident Schule, Bildung, Personalentwicklung, Prof. Dr. Heinz Zielin- ski: „Ja, der Sport ist politisch, weil es in der Politik darum geht, Gemeinsamkeiten zu bestimmen, die un- terschiedlichen Interessen auszuloten und daraus so etwas wie eine gemeinsame Linie zu entwickeln. Das gilt im Kleinen wie im Großen“, sagte Zielinski in sei- nem Eingangsbeitrag zur Konferenz. Insbesondere in der aktuellen Zeit werde das besonders deutlich: „Wir kämpfen ja gerade mit der Politik darum, dass der Sport insbesondere in der Breite wieder geöffnet wird“. öffentlich mehrheitlich begrüßt, die Sportgerichtsbar- OBEN keit musste sich damals dennoch damit befassen. Der Wie politisch ist der Sport? Juliane Kuhlmann, Vorsitzende der Sportjugend Hes- Grund: „Politische Demonstrationen“ sind in den Sta- Eintracht Spieler kommen in sen und Vizepräsidentin des lsb h, formulierte es so: tuten der Fußball-Verbände und auch des IOC verbo- Gedenkpullis für die Opfer des Anschlags von Hanau auf den „Wir sind politisch und haben zu sehr vielen gesell- ten. Im Fall von Thuram kam es jedoch zu keiner Verur- Platz zum Warmmachen. schaftlichen Themen Positionen, aber wir sind partei- teilung. Eintracht Frankfurts Aktion im Gedenken an Foto: Jan Huebner/Pool politisch neutral“. Sie stellte die Social Media Kampa- die Opfer des Anschlags von Hanau ist das jüngste Bei- gne „Wir sind nicht neutral“ der Sportjugend Hessen spiel dafür, nicht nur in sportlicher Sicht, sondern vor, mit der sich die Jugendorganisation zu verschie- auch in der Haltung Vorbild zu sein und „Gesicht zu denen gesellschaftlichen Themen ausdrücklich geäu- zeigen“. ßert hatte. Corona zeigt Grenzen auf Parteipolitisch neutral aber hochpolitisch Doch unter Corona-Bedingungen tut sich eine bislang Der Kampagne voraus gingen Forderungen an verschie- unbekannte, von der Politik geschaffene Kluft zwi- dene Organisationen, sich nicht zu politischen Themen schen Spitzen- und Breitensport auf. Was den Einen er- zu positionieren, ansonsten seien Fördergelder zu ent- laubt ist, bleibt den Anderen verboten. Auch an dieser ziehen. Diesen Forderungen hat sich die Sportjugend Stelle wird deutlich, wie stark Sport mit Politik ver- mit ihrer Kampagne entgegengestellt. „Wir sind hoch- knüpft ist. Wer die Einordnung des Breitensports durch politisch mit allem was wir tun. Das dokumentieren wir die Politik während des vergangenen Jahres am Bei- auch in unserer Satzung oder auch unserer Jugendord- spiel der Corona-Regelungen mitverfolgt hat weiß, wie nung, wo wir uns ganz klar auf Werte beziehen, die uns schwer der Stand des organisierten (Breiten-)Sports in wichtig sind,“ betonte Kuhlmann. Der Sport sei dem den entsprechenden Beratungen, insbesondere im Grundgesetz und den Menschenrechten verpflichtet, Bund, ist. deshalb stelle sich der Organisierte Sport auch gegen Diskriminierung oder Rassismus. „Deswegen haben wir Corona hat so die Grenzen zwischen Breiten- und Leis- gesagt: Wir sind nicht neutral, wir wollen nicht neutral tungssport für viele schmerzhaft neu gezogen. Eine sein, wir sind politisch und wir haben etwas zu sagen“. Entwicklung, die lsb h-Vizepräsident Prof. Dr. Heinz Zielinski Sorge bereitet: „Es darf nicht sein, dass der Vorbilder mit Haltung Profisport nur noch wirtschaftliche Interessen verfolgt und der Breitensport für die Werte verantwortlich ist. Dass diese Sichtweise von vielen geteilt wird, haben im Wenn wir diesen Weg einschlagen, dann liegen wir vergangenen Jahr die Aktionen von Profisportlern und falsch“. Teams veranschaulicht, die im Rahmen der #Black- LivesMatter-Bewegung Gesicht gezeigt haben. Zwar wurde beispielsweise der Kniefall von Marcus Thuram Markus Wimmer S IH 0 6 / 27.03.2021
8 Wertvoll Wie blicken Sportler/innen und Trainer/innen auf die Werte im Sport? Wir haben mit fünf von ihnen über ihre Erfahrungen gesprochen E s ist das Viertelfinale der Tischtennis-WM 2017. nen von jungen Fußballern hat er schon begleitet. Man- OBEN Timo Boll führt im letzten Satz mit 8:4, dann chen der Jugendlichen hat er später in der Bundesliga „Sport hat das droht ihm das Spiel zu entgleiten. 8:5, 8:6, 8:7. spielen sehen. Seine Erfahrung sagt ihm: „Einstellung Potenzial, Werte zu Den nächsten Ball berührt Boll mit der Brust – schlägt Talent.“ Natürlich gebe es Ausnahmen, Spieler, vermitteln. Aber allein passiert das und spielt ihn daraufhin absichtlich ins Aus. Es ist das die es an Disziplin, an Mitmenschlichkeit vermissen las- nicht“, sagt Julius zweite Mal in der Partie, dass er das walten lässt, was sen und es trotzdem nach oben schaffen. „Aber wer die Peschel (r.), hier bei man gemeinhin als Fairplay bezeichnet. Schon 2005 ist Werte verinnerlicht hat, hat größere Chancen, in den der WM 2017 im Boot Boll, aufgewachsen im hessischen Odenwald, in China Profisport vorzustoßen.“ mit Patrick Stöcker, zum Idol avanciert, nachdem er im WM-Achtelfinale ei- Sven Keßler und nen Matchball zurückgegeben hat. „Wir betreiben Manchmal, so sagt Hofmann, stoße seine Prinzipien- Jonathan Koch. Sport, weil wir ihn lieben – und eine große Liebe be- treue auf Unverständnis. Manch ein Schüler verdrehe Foto: Christian Held trügt man nicht“, hatte er damals gesagt. die Augen, wenn er darauf bestehe, dass die Schulord- nung eingehalten und während des Un- Es sind Szenen, Aussagen wie diese, die den Sport groß terrichts keine Kopfbedeckung getragen machen. Die dafür sorgen, dass man von „Sportsgeist“ wird. Mancher sei überrascht, dass im spricht, wenn jemand sich fair verhält. Die erklären, wa- Trainingslager alle sitzen bleiben sollen, rum Sport als Vehikel gilt, um Werte zu vermitteln. Dem bis alle zu Ende gegessen zu haben. Man- gegenüber stehen Schlagzeilen wie: „Spieler schlägt cher beschwere sich, dass er nicht spie- Schiedsrichter k. o.“, „Staatsdoping in Russland“, „Co- len dürfe, obwohl er doch so gut sei – nur rona-Verstöße im Profi-Fußball: Wo ist die Demut ge- weil er zum letzen Training schon wieder blieben?“ Wie also steht es um das Verhältnis zwischen zu spät gekommen ist. Sport und Werten? Was ist real, was ist scheinheilig? Wer konsequent ist, erhält Respekt Eine Umfrage auf Instagram zeigt: 97 Prozent der Be- fragten sind der Meinung, dass Sport Werte vermittelt. Hofmann weiß, dass er in einer Sportart Am häufigsten genannte wird „Fairness“ – vor Zusam- aktiv ist, in der nicht jeder Jugendliche menhalt, Teamgeist, Respekt, Disziplin und Toleranz. die Werte, die ihm so wichtig sind, zu Hause gelernt Für Rainer Hofmann, Hessens dienstäl- hat. Umso wichtiger ist es ihm, sie zu vermitteln. Dass testen Lehrer-Trainer, gehören zum er daran festhält, hat mit einer weiteren Erfahrung zu OBEN Sport aber auch Werte wie Höflichkeit, tun: „Nach dem Wundern kommt bei vielen die Akzep- „Wir versuchen, die Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit. „Es mag tanz. Wenn sie merken, dass man konsequent und da- Werte auch als Trainerteam vorzu- an meinem Alter liegen, aber ich halte es bei fair ist, werden die Regeln akzeptiert, häufig sogar leben“, sagt Made- für sehr wichtig, solche Dinge zu vermit- positiv bewertet. Und du als Trainer erhältst Respekt.“ leine Buhlmann (l.). teln“, sagt er. Bei Verstößen sei er Foto: PRV duchaus „gnadenlos“. Im Zweifel bedeu- Madeleine Buhlmann kann das bestätigen. Bei ihren E- tet das: Wer sich mehrfach nicht anstän- Jugend-Handballern der SG 1862 Anspach geht es we- LINKS dig verhält, der fliegt aus dem Projekt, niger um Leistung. Es ist der Spaß, der im Vordergrund Sieht sich als Trainer aus der Förderung. steht. Trotdzem sagt sie: „Jede Gruppe braucht Regeln. und Wertevermittler: Rainer Homann (l.). Gerade im Nachwuchsbereich muss es Eckpunkte ge- Foto: PRV Rainer Hofmann, das merkt man schnell, ben, an denen sich die Kinder orientieren können.“ Mit ist ein Mann mit Prinzipien. Generatio- Sport hat das nicht immer direkt zu tun. Es ist einige S IH 0 6 / 27 . 0 3 . 2 0 2 1
TITELTHEMA WERTE DES SPORTS 9 Zeit her, da rülpste ihr ein Kind direkt ins Gesicht. „Das Doch was, wenn Athlet/in- ist nicht super schlimm, aber das kannst du als Traine- nen andere Vorstellungen rin nicht akzeptieren“, sagt die Mittdreißigerin. Das haben als ihre Trainer/in- Kind verbrachte den Rest des Trainings auf der Bank. nen, als Funktionäre? „Damit war allen klar: Jetzt wurde eine Grenze über- schritten.“ Plötzlich erlebte Buhlmann extrem fokus- Peschel nimmt in Sportorga- sierte Kids. „Alle haben sich an diesem Tag besonders nisationen durchaus ein De- am Riemen gerissen.“ Vorgekommen ist so etwas seit- mokratiedefizit wahr. „Nach her nie wieder. Lektion verstanden! außen wird gerne das Bild vom disziplinierten, zielorientierten Leistungssportler Mit ihrem Trainerteam versucht Buhlmann, Werte vor- gezeichnet. Nur Mitsprache räumt man ihm wenig ein“, zuleben: Pünktlichkeit etwa, Fairness, auch Offenheit. sagt Peschel. Er fordert: „Beteiligung darf kein Feigen- „Wenn wir merken, dass ein Kind an einem Tag total blatt sein. Sie muss auch ernst genommen werden, wenn unkonzentriert ist und es deshalb wenig spielen las- sie ungemütlich ist.“ Es ist einer der Gründe, warum er sen, dann erklären wir ihm das zum Beispiel. Sagen: Du sich bei der Gründung der Athletenvertretung Hessen bist heute nicht so gut drauf, deshalb spielst du weni- engagiert hat und sich vorstellen kann, für ein Vor- ger. Meiner Erfahrung nach kann das sogar ein Neun- standsamt in seinem aktuellen Verein, dem DRC Hanno- jähriger nachvollziehen.“ Handball, findet Buhlmann, ver, zu kandidieren. Für ihn ist das auch ein Wert: nicht sei eine sehr familiäre Sportart, in der auch die Profis nur meckern, auch bereit sein, etwas zu verändern. Ver- aus der Bundesliga nahbar wirken. Abgehobenes Getue antwortung übernehmen. erlebe man selten. Teamplay, Fairness – das sehen die Jugendspieler also auch, wenn bei der Europameister- Verantwortung trägt auch Sven Otterbein. Er ist schaft ein Torhüter den anderen anfeuert. „Wir hoffen Übungsleiter im Chung-Gun-Hammersbach e. V. Werte deshalb, dass die jungen Sportler die Werte, die sie zu achten sei in einer Kampfsportart wie Taekwondo beim Sport erleben, als wertvoll erachten und im bes- „traditionell sehr wichtig“. Schon allein, um das Ver- ten Fall auch auf ihr restliches Leben übertragen.“ letzungsrisiko zu minimieren, seien klare Regeln und die Akzeptanz dieser unerlässlich. „Das lässt sich auch Gegenseitig pushen auf das Leben übertragen. Viele Erwachsene, die zu uns kommen, haben schon mal schlechte Erfahrungen auf OBEN Wie prägend der Sport ist, das wissen Menschen wie der Straße gemacht. Beim Taekwondo lernen sie, an- „Schwimmen muss Nele Sandmann wohl am besten. Gerade mal 16 Jahre dere zu lesen und Respekt zu erweisen, ohne Schwäche jeder für sich. Aber es ist die Schwimmerin alt. Seit vier Jahren besucht sie zu zeigen.“ Der Sport vermittele hier etwas. tut gut, sich gegenseitig zu ein Sportinternat, seit zwei Jahren das in Frankfurt. Es pushen“, sagt ist ein Leben für den Sport, das mit Sicherheit nicht Sich vor und nach dem Kampf verbeugen, das gehört für Nachwuchs-Schwim- immer einfach ist. Am Schwimmen mag sie, dass der Otterbein genauso dazu wie ein Schwätzchen im Sinne merin Nele Sandmann. belohnt wird, der am besten trainiert. „Es ist ein sehr der Gemeinschaft. Auch gegenseitige Hilfe erlebe man Die Gemeinschaft im fairer Sport.“ Und einer, in dem jeder für sich kämpft. im Verein. Otterbein hat jedoch das Gefühl, dass immer Sport ist ihr wichtig. Trotzdem sagt Sandmann: „Auch dort lernt man Team- dann, wenn es um viel Geld geht, die Werte verloren ge- Foto: Jens Kleinert play. Natürlich muss jeder seine Leistung erbringen, hen. Beim Fußball vor allem, aber auch im IOC. „Ich aber du merkst, dass du dich gegenseitig pushen halte das für fatal. Gerade Profifußballer sind ja oft Vor- UNTEN kannst, dass es gut tut, zusammenzuhalten. Das nimmt bilder.“ Fußball-Trainer Hofmann sieht das ähnlich: Werte zu achten sei im man, glaube ich schon, mit für die Zukunft.“ „Die Werte, die wir im Nachwuchssport vermitteln, wer- Kampfsport schon den dort häuig außer Kraft gesetzt.“ Er schreibt das in allein deshalb wichtig, um Verletzungen zu Julius Peschel, Ruder-WM-Teilnemer, Mitglied der Frank- gewisser Weise auch den Trainern zu. „Manchmal vermeiden, sagt furter Germania und zeitweise am Bundesstützpunkt herrscht da eine Konfliktscheuheit. Dabei hast du als Taekwondo-Übungslei- Frankfurt aktiv, hat seine aktive Laufbahn inzwischen Trainer doch einen gewissen Gott-Status: Was du sagst, ter Sven Otterbein. beendet. Heute arbeitet er im Projekt „Sport mit Cou- gilt. Mit einem gemeinsamen Wertekanon und gemein- Foto: PRV rage“ für den Landessportbund Niedersachsen und blickt samen Regeln könnten wir deshalb viel bewegen.“ aus einem anderen Winkel auf den Sport. Sport, sagt Pe- schel, habe das Potenzial, Werte zu vermitteln. Dennoch Für Werte einstehen, das heißt für Ruderer Peschel, dürfe man nichts idealisieren: „Von alleine passiert das auch ungemütlich sein. „Vom dummen Spruch bis zur nämlich nicht. Die negativen Dynamiken, die es in einer sexualisierten Gewalt ist der Weg oft kurz. Dem müssen Gesellschaft gibt, gibt es auch im Sport.“ Beispiel Inte- wir frühzeitig entgegentreten.“ Er wünscht sich mehr gration: „Es reicht nicht, Leuten einen Ball hinzuwerfen „Empowerment“ für Sportler/innen und eine Funktio- und zu denken: Da wird schon Gemeinschaft entstehen.“ närsebene, die diverser ist. Von sich sagt er: „Der Sport Man müsse sich auch die Zeit nehmen und darüber spre- hat mir gezeigt, dass Gemeinschaft etwas ist, für das es chen, wie man mit einander umgehen wolle. sich einzusetzen lohnt.“ Gemeinsam mit anderen Ath- let/innen will er auch dafür kämpfen, den Sport realis- Den Trainer/innen komme dabei eine Schlüsselrolle zu. tisch zu sehen, auf die vielen Vorteile hinzuweisen, Sie müssten sich fragen: Welche Werte will ich vermit- aber eben auch auf die Dinge, die noch verbessert wer- teln und wie? Buhlmann und Hofmann haben das getan. den müssen. Eben ehrlich sein. Auch das ist ein Wert. Auch Nele Sandmann sagt, sie habe gute Erfahrungen mit Trainern gemacht. „Sie geben Schutz und Halt.“ Isabell Boger S IH 0 6 / 27.03.2021
10 TITELTEHMA WERTE DES SPORTS „Wir müssen Haltung täglich leben“ Eintracht-Präsident Peter Fischer im Interview / Sport muss sich zu seinen Werten bekennen M ehrfach und regelmäßig hat sich Eintracht- Präsident Peter Fischer schon politisch geäu- ßert. Dazu zählen ebenso Abgrenzungen ge- genüber rechtsextremer Politik, als auch Signale gegen Rassismus oder auch Homophobie. Sport in Hessen hat Peter Fischer zu seiner Sichtweise auf die Werte des Sports und seine politische Bedeu- tung befragt. Herr Fischer, Sie positionieren sich als Präsident von Eintracht Frankfurt immer wieder auch zu gesell- schaftspolitischen Themen. Wieso kann der Sport ih- rer Meinung nach bei bestimmten Fragen nicht neu- tral sein? Sport hat immer eine politische Komponente. In den 1930er Jahren hat uns u. a. der unpolitische Sport große Probleme bereitet. Die Folgen in der deutschen Geschichte sind bekannt. Immer dann, wenn der Sport Fußballprofi werden und damit Geld verdienen kann. OBEN organisiert war, sich klar zu seinen Werten bekannt hat Letztendlich muss es ein duales System geben: Bildung Peter Fischer in Hanau und dafür eingestanden ist, wofür dieser steht, dann ist ist die Grundvoraussetzung zu allem im Leben – für die anläßlich einer der Sport seiner Bedeutung gerecht geworden. Existenz, die Unabhängigkeit und dafür, Chancen zu Gedenkveranstaltung zum dortigen Anschlag haben. im Februar 2020. Die Werte des Sports wie Fairness, Respekt oder Ehr- Foto: Eintracht Frankfurt lichkeit sollten schon Kindern und erst recht Jugendli- Mit Blick auf die Corona-Pandemie und dem gefühlt chen nahegebracht werden. Wie kann man Ihrer Mei- seit einem Jahr bestehenden Sportverbot für Ama- nung nach diesen Prozess stärken? teure: Befürchten Sie, dass sich Leistungssport und Breitensport immer mehr fremd werden? Oftmals sind die familiären, erzieherischen oder sozia- len Hintergründe der Kinder ausgesprochen heterogen. Nein, das befürchte ich nicht. Der Leistungssport hat Kitas, Kindergärten oder auch Schulen können meiner ebenso unter Regeln und Verboten gelitten. Von daher Titelthema Meinung nach nicht dieses Defizit ausgleichen. Es liegt glaube ich nicht, dass der Breiten- und der Profisport an uns allen, rechtsradikales Gedankengut im Keim zu weiter auseinanderdriften. Der Breitensport wird Die Werte ersticken – das geht mittel- und langfristig nur über Bildung. Wir haben da einen klaren Auftrag. Denn kein wieder seine Berechtigung finden! Insbesondere die Kinder freuen sich schon darauf, endlich wieder ih- des Sports Mensch kommt als Rassist auf die Welt. Wir müssen kri- rem Sport nachgehen zu dürfen. Das merken wir in tisch mit den jungen Leuten in den Dialog treten. Dar- der Kommunikation mit unseren Mitgliedern, an den auf baut sich unsere Zukunft auf. Ich bin zum Beispiel in Briefen und E-Mails, die wir erhalten, oder in den Be- Schulprojekten dabei, halte Vorträge, in denen es um gegnungen auf der Straße. Courage und Verantwortungsbewusstsein geht. In welchen Bereichen des Sports werden Ihrer Meinung Eintracht Frankfurt bildet sehr viele Spielerinnen und nach die Werte des Sports nicht genug berücksichtigt? Spieler fußballerisch aus. Nur ein kleiner Teil von ih- nen wird Fußball zu ihrem Beruf machen können. Das Es geht nicht um bestimmte Bereiche, sondern es muss bedeutet ab einem bestimmten Alter auch sehr viel generell mehr der Mund aufgemacht und Haltung ge- Leistungsdruck und Auslese. Welche Rolle spielen da- zeigt werden. Was spricht dagegen, sich deutlich zu po- bei Fairness, Respekt und Ehrlichkeit? sitionieren?! Es gibt viele große Vereine und Organisa- tionen – nicht nur im Sport – die ebenfalls die klare Wir sollten in den Verbänden und in den Vereinen nicht Haltung zeigen und ihre Reichweite dafür einsetzen nur die T-Shirts tragen, auf denen ‚Fairness‘ oder ‚Fair könnten. Dafür braucht es nicht viel, lediglich eine Play‘ stehen, sondern wir müssen diese Haltung auch klare Abgrenzung und ein klares Statement. täglich leben und vorleben! Dazu gehört ebenso, den Kindern von Anfang an klarzumachen, dass nicht jeder Das Interview führte Markus Wimmer S IH 0 6 / 27 . 0 3 . 2 0 2 1
TITELTHEMA WERTE DES SPORTS 11 Wo Trainer Werte vermitteln Das Projekt „Trainer*in-Pass“ des Fußballkreises Offenbach ruft die Werte des Sports in Erinnerung und weist auf die Vorbildfunktion von Trainern hin F reude, Jubel, Enttäuschung – all das gehört zum Sport. Das Mitfiebern mit der eigenen Mann- schaft, die Begeisterung über den Sieg, der „Schmerz“ im Fall der Niederlage: Emotionen sind originärer Bestandteil sportlicher Leistungsvergleiche. Was aber, wenn die Emotionen in die falsche Richtung „kippen“? Wenn (gesellschaftliche und rechtliche) Werte plötzlich in den Hintergrund treten? Wenn, wie im konkreten Fall im Fußball, Schiedsrichter nicht nur beleidigt, sondern auch attackiert werden? Dann ist es Zeit zum Gegensteuern. Mit dem Projekt „Trainer*in- Pass“ hat der Fußballkreis Offenbach genau das getan. Erfolgreich, wie eine Analyse nach nunmehr knapp zwei Jahren Projektlaufzeit zeigt. Doch der Reihe nach. „Jeder kennt den Spruch ,Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem ande- ren zu' “, sagt Offenbachs Kreisfußballwart Jörg Wag- ken und den Werten, für die der Sport steht“, sind sich ner, gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender des Wagner und Geiß einig. Dem Trainer, der als Multipli- Sportkreises Offenbach. Eine scheinbar einfache Regel, kator auf den Sportplatz geht, diese Werte in Erinne- OBEN aber eine, die auf dem Sportplatz manches Mal außer rung zur rufen, ihn zu motivieren, die Werte nach au- Stolz präsentieren fünf Kraft gesetzt wurde und wird. „Als vor zwei Jahren un- ßen zu tragen, stellt einen weiteren Teil der Initiative Teilnehmer einer sere Schiedsrichter immer öfter beleidigt oder sogar dar. Dazu werden Schulungen veranstaltet. Schulung des Fußballkreises angegriffen worden sind, mussten wir etwas unterneh- Offenbach ihren men“, blickt er gemeinsam mit seinem Stellvertreter im Die Werte des Sports nach außen tragen Trainer*in-Pass. Fußballkreis, Thomas Geiß, zurück. Geiß entwickelte Foto: Patrick Leonhardt daraufhin die Idee des Trainer*in-Passes. Ein gleich „Wir fragen unter anderem, welche Werte die Trainer aus mehreren Gründen cleverer Schachzug. mit dem Sport verbinden und schreiben die Antworten auf. In vielen Fällen sind die Antworten identisch und Für alle als Trainer erkennbar die Grundeinstellung ist es ohnedies“, so Geiß und Wagner. Den Trainern jetzt noch bewusst zu machen, „Jeder Spieler einer Mannschaft hat einen Pass. Damit dass sie als Vorbilder die Werte nach außen tragen wird deutlich, dass er zum Team gehört und damit müssen, ist der nächste Schritt. Ein Schritt, das hat die weist er sich dem Schiedsrichter gegenüber aus. Nicht Erfahrung gezeigt, der aber nicht schwer ist, denn die so der Trainer. Der größte Teil der Zuschauer und meist Trainer wissen, dass ihr Wort und ihr Handeln bei- auch die Schiedsrichter kennen die Trainer nicht. Das spielsweise bei Jugendlichen oft große Bedeutung hat. wollten wir mit dem Trainer*in-Pass ändern“, erläutert Geiß den ersten Schritt. Der Pass, soviel zum Hinter- Die Seminare verfolgen aber noch ein weiteres Ziel. grund, ist ein vom Hessischen Fußball-Verband ausge- „Die Trainer lernen sich untereinander kennen. Und Der vom Fußballkreis stelltes und in Klarsichtfolie eingeschweißtes Doku- wenn man sich kennt, geht man anders miteinander Offenbach entwickelte ment, das der Trainer während des Spiels umgehängt um“, machen Wagner und Geiß deutlich. Dass das erste Trainer*in-Pass (Muster) wird von den trägt. Der Trainer wird damit also in seiner Funktion er- Seminar den Titel „Spielfelder – Lebensfelder“ trug, Trainern während der kennbar, kann vom Schiedsrichter und von den Zu- rundet das Konzept ab. Jetzt, etwa zwei Jahre später, Spiele umgehängt schauenden als solcher identifiziert und angesprochen ziehen Jörg Wagner und Thomas Geiß eine positive Bi- getragen. Die Trainer werden. Das ist ein wichtiges, aber nur eines der beab- lanz. „Die Einzelrichterurteile gegen Trainer sind zu- sind damit für sichtigten Ziele der Initiative. rückgegangen“, belegen sie den „messbaren“ Erfolg Schiedsrichter und der Initiative. Nicht direkt messbar, aber wahrzuneh- Zuschauende in ihrer „Trainer vermitteln Werte. Fairplay, sportlicher Um- men, ist der Umgang miteinander auf dem Sportplatz. Funktion erkenn- und ansprechbar. gang miteinander, Fairness – all das gehört dazu. Der habe sich deutlich zum Besseren hin verändert. Wenn der Trainer in der Spielersitzung abfällig über Und da „Fair play“ auch im Alltag gelten sollte, könnte den nächsten Gegner redet, wenn er vom Rand des sich das Projekt perspektivisch auch auf Situationen in Spielfeldes aus seine Spieler zu übermäßiger Härte der Warteschlange im Supermarkt oder beispielsweise auffordert, dann widerspricht das dem Fairness-Gedan- im Straßenverkehr auswirken. RW S IH 0 6 / 27.03.2021
12 CORONA-PANDEMIE Nachwuchs in der Krise Serie im Darmstädter Echo nimmt Kinder- und Jugendsport in Corona-Zeiten in den Blick / Vereine zwischen Hoffen, Bangen und dem Wissen um die eigene Bedeutung W ie wirkt sich die Corona-Pandemie auf den Nachwuchssport in Südhessen aus? Dieser Frage sind die Journalisten Udo Döring und Oliver Strerath seit Dezember in einer Serie für das „Darmstädter Echo“ nachgegangen. In rund 20 Teilen blicken sie auf verschiedene Sportarten, lassen Vereins- und Verbandsverantwortliche zu Wort kom- men, suchen nach neuen Ideen und befragen Jugendli- che danach, was sie derzeit am meisten vermissen. Wir haben mit ihnen über ihre Eindrücke gesprochen. Herr Döring, Herr Strerath, Ihre Serie zum Nachwuchs- sport in der Krise steht kurz vor dem Abschluss. Welche Aussagen sind Ihnen besonders im Kopf geblieben? Strerath: Für mich war das die Aussage des Präsiden- ten des Rüsselsheimer Judoclubs: „Wenn der Lockdown Das klingt, als hätten die Verantwortlichen, mit de- noch lange andauert, könnte eine ganze Generation nen Sie gesprochen haben, durchaus Grund zur Sorge. verloren gehen.“ Ich denke, das Wort Generation ist zu Wie haben Sie die Stimmung wahrgenommen? groß. Aber ich glaube schon, dass die Situation be- drohlich ist, gerade was den Mittelbau angeht, also die Döring: Die, mit denen wir gesprochen haben, das sind Sportlerinnen und Sportler, die aus Spaß und Freude die Bewegungsmacher, die Aktivposten an Schlüssel- dabei sind und keinen Leistungssport anstreben. Es stellen. Die wollen auch jetzt noch was bewegen und wäre fatal, wenn viele von ihnen verloren gingen. betrachten sich als Krisenmanager, die für Motivation OBEN sorgen müssen. Da sagt keiner so leicht: Ich hab‘ kei- Oliver Strerath und Döring: Mir ist der Begriff „intrinsische Motivation“ nen Bock mehr. Trotzdem haben wir eine gewisse Frus- Udo Döring haben sehr stark im Kopf geblieben, also die Motivation, die tration erlebt, die insbesondere durch den zweiten sich in rund 20 Serienteilen mit dem man aus sich selbst heraus aufbringt. Viele Vereins- Lockdown hervorgerufen wurde. Denn natürlich war die Nachwuchssport in und Verbandvertreter/innen haben darauf Bezug ge- Belastung im vergangenen Jahr hoch – der administra- Südhessen nommen. Demnach zeigt sich nun ganz stark, wie aus- tive Aufwand ist gestiegen, neue Ideen mussten kurz- beschäftigt. geprägt diese Motivation bei einzelnen Sportler/innen fristig umgesetzt und Hygienekonzepte erarbeitet wer- Vereins- und ist. Wer eine hohe intrinsische Motivation hat, treibt den. Da haben die Vereine Gas ohne Ende gegeben. Und Verbandsverantwort- auch im Lockdown Sport. Er bzw. sie nimmt am Online- dann kommt der zweite Lockdown. Ganz pauschal hieß liche kamen dabei Training teil, geht Joggen, um fit zu bleiben oder ab- es dann: Aus! Es geht nichts mehr – egal, wie gut du genauso zu wie Jugendsportler/ solviert die aufgetragenen Übungen. Kinder, bei denen vorgearbeitet hast. Da haben viele ihr Engagement innen, Trainer/innen andere Motive stärker sind, die vorwiegend zum Sport nicht mehr wertgeschätzt gesehen. Für Frust hat außer- und Wissenschaftler/ gehen, um Gleichaltrige zu treffen, die jemanden brau- dem gesorgt, wenn Regeln unklar formuliert waren oder innen. chen, der sie antreibt, drohen eher verloren zu gehen. es örtliche Unterschiede gab – eine Kommune ihre Hal- Foto: Guido Schiek len zum Beispiel geöffnet hat, die andere nicht. Strerath: Viele Übungsleitende haben die Pandemie deshalb auch als eine Art Härtetest beschrieben: Nur Strerath: Viele Funktionär/innen haben zudem Angst, die Motiviertesten bleiben dabei. dass ihnen durch die Pandemie Übungsleiter oder Trai- nerinnen verloren gehen. Dass diese sich an den Müßig- Döring: Laut dem Sportsoziologen Sven Schneider ist gang gewöhnen, keine Lust mehr haben, irgendwann aber noch ein anderer Faktor sehr entscheidend: der so- wieder zweimal pro Woche in der Halle oder auf dem ziale Status. Kinder aus bildungsferneren Schichten Platz zu stehen. Doch auch bei den Kindern und Jugend- sind generell weniger sportlich aktiv. Das könnte sich in lichen habe sich im Verlauf der Zeit etwas verändert: On- der Pandemie und darüber hinaus verschärfen – etwa, line-Angebote wurden schlechter angenommen. weil sie danach erst mal schulische Lerndefizite ausglei- chen müssen und der Sport somit weiter ins Hintertref- Fürchten die Vereine also, dass ihnen Kinder langfris- fen gerät. Die Aussetzung des Vereinssports kann also tig verloren gehen? gesamtgesellschaftlich große Auswirkungen haben und die soziale Ungleichheit weiter verstärken. Das waren Döring: Ich glaube, da halten sich Angst und Hoffnung Aussagen, die mir schon zu denken gegeben haben. die Waage. Natürlich sehen die Vereine, dass die Moti- S IH 0 6 / 27 . 0 3 . 2 0 2 1
CORONA-PANDEMIE 13 vation schwindet, dass immer weniger Kids am Online- und Jugendliche geben, die jetzt aus dem Verein aus- Training teilnehmen. Gleichzeitig kennen sie den Be- treten, auch, weil manche Eltern auf jeden Euro gucken wegungsdrang von Kindern und hoffen, dass sie müssen. Aber ich glaube, fast alle bleiben dabei oder wiederkommen oder nach Corona neu einsteigen. kommen wieder! Strerath: Allerdings fehlt derzeit gerade für Randsport- Sterath: Die meisten können den Moment gar nicht ab- arten die Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu ma- warten, in dem es endlich wieder richtig losgeht! chen: Mit dem Wegfall von Schulprojekten und regiona- len Veranstaltungen haben Verein kaum mehr eine Trotzdem wird Vereinssport immer mal wieder als an- Chance, neue Kinder zu gewinnen – und der Trainings- tiquiert dargestellt. Was haben sie durch die Serie für betrieb, wie er gerade möglich ist, ist ja doch sehr ein- einen Eindruck erhalten? geschränkt. Neben der Frage, ob die Kinder wiederkom- men, spielt für viele Übungsleitende deshalb auch die Döring: Vor allem den, dass Vereine gebraucht werden Frage nach dem „Wie kommen sie wieder?“ eine Rolle. – insbesondere vom Nachwuchs. Der Soziologe hat im Mir wurde mehrfach geschildert, dass schon in wenigen Interview mit mir gesagt, Vereine seien die letzte Be- Monaten Fähigkeiten verloren gehen können, gerade wegungsbastion für Kinder. Ich denke, das zeigt ganz bei den Jüngsten. Die Probleme steigen dabei natürlich gut, dass Vereine noch immer zeitgemäß sind und Kin- mit der Komplexität der Sportart: Während Läufer auch der auch wieder Vereinssport treiben werden, wenn das alleine unterwegs sein können, gestalten sich Trampo- möglich ist. Viele Vereine waren in den vergangenen linspringen oder Kunstradfahren im eigenen Wohnzim- Monaten außerdem sehr kreativ und digital unterwegs. mer schwierig. Auch von den Judoka habe ich gehört, Von gestern sind sie also nicht! dass das richtige Fallen wohl erst wieder erlernt werden muss – nach Monaten ohne Partnertraining. Strerath: Wir haben in jeder Sportart, mit der wir uns beschäftigt haben, auch nach einer „guten Idee“ ge- Aus ihrer Sicht gibt es also große Unterschiede zwi- fragt, die umgesetzt wurde. Das hatte oft mit digitalen schen den Sportarten? Angeboten zu tun. Da wurden Online-Challenges ge- startet, neue Trainingsformate erprobt oder – etwa Döring: Definitiv. Freiluftsportarten scheinen deutlich beim Judo – eine Plattform eingerichtet, über die Ver- besser durch das vergangene Jahr gekommen zu sein eine sich austauschen können. Im Trampolinturnen Alle Texte der als Hallensportarten. Am meisten gekniffen ist der wurden sogar digitale Hessen Open ausgetragen, für Serie können als Nachwuchs wohl in den Hallen-Mannschaftssportarten die Übungen per Video aufgezeichnet und anschlie- Echo-Plus-Artikel unter www. – da war einfach kaum reguläres Training möglich. Es ßend bewertet wurden. echo-online.de gab auch Sportarten, die profitiert haben: Tennis, am nachgelesen Anfang sicher auch Hockey. Beim Radfahren gab es so- Döring: Am Anfang waren alle sehr euphorisch, was di- werden. gar im Verband Unterschiede: Mountainbiken boomt, gitale Angebote angeht. Mit der Zeit, so wurde es uns Hallenradsport hat es schwer. Im Leistungsbereich, wo geschildert, wurde es aber schwieriger, die Kids am trainiert werden durfte, haben wir von einigen auch ge- Laptop zu halten. Online-Sport ist eben kein Ersatz! hört, dass sie die Zwangspause genutzt haben, um end- Ich bin aber überzeugt, dass die digitalen Wege auch in lich mal ohne Wettkampfdruck an Defiziten zu arbeiten. Zukunft stärker von den Vereinen genutzt werden, ins- Das war im Triathlon so, beim Leistungsturnen ... besondere was die Kommunikation betrifft – innerhalb eines Vorstandes und im Bezug auf die Mitglieder. Strerath: ...und auch beim Judo. Da wurde an Kampf- stilen gefeilt. Daneben gab es aber auch lokale Unter- Strerath: Mein Eindruck ist auch, dass viele Vereine schiede, zum Beispiel beim Football: Die Darmstadt online tätig sind, um zu zeigen: Wir tun was für euch, Diamonds konnten nicht trainieren, weil ihr Platz ge- wir sind noch da. Selbst digitale Angebote bieten ja sperrt war. Andere Vereine spielten auf Plätzen des eine gewisse soziale Komponente. Man kann sich zu- Kreises Groß-Gerau, die offen waren: Da haben einige mindest sehen, ein bisschen austauschen. Gerade in den Verein gewechselt, einfach, weil sie spielen wol- den kleinen Vereinen ist das vielen wichtig. len. Nun ist natürich die Angst groß, dass diese Ju- gendlichen nicht wiederkommen. In Ihrer Serie haben Sie auch auf Randsportarten ge- blickt, die man in den Zeitungen sonst eher suchen Apropos: Sie haben in jeder Sportart auch eine/n muss. Entdeckt der Sportjournalismus in der Krise Nachwuchssportler/in befragt – wie nehmen Sie die sein Herz für den Breitensport? Stimmung der Jugendlichen wahr? Döring: Beim Echo versuchen wir eigentlich immer, Döring: Sie sind vor allem traurig, dass sie ihren Sport dem Sport abseits des Fußballs viel Platz einzuräumen. nicht ausüben können. Generell waren die Antworten Ich persönlich schreibe zum Beispiel gar nicht über relativ stereotyp: Allen fehlt das gemeinsame Training, Fußball. Es gibt so viel zu berichten – ob es honoriert das Zusammentreffen mit Gleichgesinnten, die Gemein- wird, ist aber eine andere Frage. Die Serie ist aus mei- schaft. Dabei spielte es keine Rolle, ob jemand Einzel- ner Sicht aber gut angekommen, auch, weil wir in die oder Mannschaftssportler ist. Die soziale Komponente Tiefe gehen konnten. Wir haben durch die Gespräche scheint für alle Vereinssportler zentral zu sein. Interes- auch Impulse bekommen, die Folgeartikel ermöglichen. sant war, dass sich keiner unserer jungen Gesprächs- Wir werden uns also auch in Zukunft Mühe geben! partner vom Sport entfremdet hat. Es mag sicher Kinder Das Interview führte Isabell Boger S IH 0 6 / 27.03.2021
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