Persönlichkeitseigenschaften bei Patienten mit Diabetes mellitus unter Anwendung des Freiburger Persönlichkeitsinventares (FPI-R)

 
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Aus der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik
                          der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
                          (Direktorin: Frau Prof. Dr. med. E. Fikentscher)

      Persönlichkeitseigenschaften bei Patienten mit Diabetes
                 mellitus unter Anwendung des Freiburger
                        Persönlichkeitsinventares (FPI-R)

                                            Dissertation
                             zur Erlangung des akademischen Grades
                                   Doktor der Medizin (Dr. med.)

                                              vorgelegt
                                     der Medizinischen Fakultät
                          der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

                                  von Dorothee Elisabeth Rösner
                                 geboren am 07.10.1971 in Torgau

Gutachter:

1. Frau Prof. Dr. med. Fikentscher (Halle/Saale)
2. Herr Prof. Dr. med. Schneyer (Halle/Saale)
3. Herr Prof. Dr. med. Plöttner (Leipzig)

Promotionsverteidigung: 18.07.2005

urn:nbn:de:gbv:3-000008858
[http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=nbn%3Ade%3Agbv%3A3-000008858]
Kurzreferat

Ausgehend von einem Gesamtzusammenhang somatopsychischer-psychosomatischer Wech-
selwirkungen im Krankheitsverlauf des Diabetes mellitus (Bewältigung, spezifischen Be-
handlungsanforderungen mit angemessener Krankheitsverarbeitung sowie Compliance-Prob-
lemen und Selbstmanagement einer chronischen Erkrankung) wird der Einfluss von Persön-
lichkeitsfaktoren untersucht.
Die vorliegende Arbeit stützt sich auf Daten einer multizentrischen Prävalenzstudie zu Ess-
störungen bei Diabetes mellitus, in deren Rahmen 359 ambulant behandelte Diabetiker
zwischen 18 und 65 Jahren (94 Typ-I- und 265 Typ-II-Diabetiker) untersucht wurden. Als Mess-
instrument kam das Freiburger Persönlichkeitsinventar (revidierte Form - FPI-R) als Persönlich-
keits-Struktur-Test zum Einsatz. Bei der Auswertung wurden auch alters- und geschlechtsspe-
zifische Stanine-Werte herangezogen und Clusteranalysen (5-Cluster) gerechnet.
In der Gesamtstichprobe der Studie lagen alle FPI-R-Skalenmittelwerte im unauffälligen Norm-
bereich. Verschiebungen ergaben sich in Richtung Gesundheitssorgen/gesundheitsbewusstes
Verhalten (Skala 9). Unterschiede zwischen den Diabetes-Typen zeigten sich nur insofern, dass
der Typ-I durchschnittlich mehr körperliche Beschwerden (Skala 8) und der Typ-II ein
aggressiveres Verhalten (Skala 6) aufwies. In der geschlechtsspezifischen Auswertung zeigten
die weiblichen Probanden eine deutliche Furcht vor Erkrankungen und damit verbunden ein
stark gesundheitsbewusstes Verhalten (Skala 9). Dagegen gaben die männlichen Probanden
reduzierte körperliche Beschwerden (Skala 8) an und sie schätzten sich leistungsorientierter
(Skala 3) ein. Im Mittelwertvergleich waren geschlechts- und altersabhängige Unterschiede be-
merkenswert. Die über 45-jährigen Diabetikerinnen hatten den höchsten Anteil angespannter,
überforderter Patientinnen. Zudem zeigten besonders die älteren Diabetikerinnen eine
schlechte (HbA1c-Werte 9 - 12 %) und sehr schlechte (> 12 %) Stoffwechseleinstellung.
Mittels Clusteranalyse ergab sich folgender Hinweis: Der einerseits gesundheitsbesorgte,
andererseits ehrgeizig-leistungsaktiv-extrovertierte Persönlichkeitstyp charakterisierte eine
Gruppe mit erhöhtem HbA1c-Wert. Er unterschied sich von den anderen Typen nicht hinsicht-
lich Geschlecht, Alter und Diabetestyp, zeigte jedoch eine längere Dauer der Erkrankung und
einen erhöhten BMI.
Die durch diese Studie gewonnenen Aussagen könnten zusammen mit weiteren psycholo-
gischen Merkmalen (z.B. Formen der Krankheitsverarbeitung, Narzissmus und Depressivität)
zur Optimierung der Behandlung des Diabetes mellitus genutzt werden.

Rösner, Dorothee: Persönlichkeitseigenschaften bei Patienten mit Diabetes mellitus
unter Anwendung des Freiburger Persönlichkeitsinventares (FPI-R). Halle, Universität,
Med. Fak., Diss., 80 Seiten, 2004
Inhaltsverzeichnis

                                                                                   Seite

1.      Einleitung und Problemstellung                                               1

2.      Theoretische Grundlagen                                                      3
2.1     Psychosoziale Belastungen durch die chronische Krankheit
        Diabetes mellitus                                                            3
2.2     Krankheitsbewältigung beim Diabetes mellitus                                 4
2.3     Zusammenhang von Krankheitsverarbeitung, Stress, Auftreten psychischer
        Störungen, Qualität der Stoffwechselkontrolle und diabetischen Folge-
        erkrankungen                                                                 6
2.4     Mythus der Diabetespersönlichkeit und Persönlichkeitscharakterisierung      10
2.5     Komorbidität und Prävalenz psychischer Störungen bei Diabetes
        mellitus                                                                    11
2.5.1   Depressivität und Angst                                                     11
2.5.2   Aggressivität                                                               13
2.5.3   Essstörungen, Selbstbild und Körperbild                                     14
2.6     Chronische Erkrankungen und die Anwendung des FPI-R                         15
2.6.1   Anwendung des Freiburger Persönlichkeitsinventars (FPI) beim Diabetes
        mellitus                                                                    16
2.6.2   Anwendung des FPI bei Angina pectoris, KHK und Hypertonie                   17
2.6.3   Anwendung des FPI bei Colitis ulcerosa und Morbus Crohn                     18
2.6.4   Anwendung des FPI bei der Epilepsie                                         19
2.6.5   Anwendung des FPI bei Rheumatoider Arthritis, Sarkoidose und Coxarthrose    19
2.6.6   Anwendung des FPI bei der Niereninsuffizienz                                20

3.      Fragestellungen und Hypothesen                                              21

4.      Methodik                                                                    23
4.1     Rekrutierung der Stichprobe                                                 23
4.2     Durchführung und Untersuchung                                               24
4.3     Angaben zum Diabetes mellitus und zur Person                                24
4.4     Das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R)                              24
Seite

4.4.1   Testart, Testgliederung und Grundkonzept des FPI-R                         24
4.4.2   Beschreibung der Skalen                                                    25
4.4.3   Durchführung und Auswertung des FPI-R                                      25
4.5     Clusteranalyse des FPI-R bei den untersuchten Diabetikern                  26
4.6     Statistische Auswertung                                                    27

5.      Ergebnisse                                                                 27
5.1     Beschreibung der Stichprobe                                                27
5.2     Darstellung der FPI-R-Testergebnisse für die Gesamtstichprobe              30
5.2.1   Darstellung der FPI-R-Testergebnisse für die Typ-I-Diabetiker              32
5.2.2   Darstellung der FPI-R-Testergebnisse für die Typ-II-Diabetiker             33
5.2.3   Darstellung der FPI-R-Werte für die männlichen und weiblichen Probanden
        der Stichprobe                                                             35
5.2.4   Darstellung der FPI-R-Werte in acht alters- und geschlechtsspezifischen
        Untergruppen                                                               38
5.3     Güte der Stoffwechseleinstellung (HbA1c-Werte)                             40
5.4     Auswertung durch Ermittlung einer 5-Clustervariante für die Diabetes-
        Typen-I und -II                                                            44
5.4.1   Beschreibung der Cluster mittels FPI-R-Skalen                              45
5.4.2   Verteilung der Diabetestypen in den einzelnen Clustern                     48
5.4.3   Geschlechtsverteilung                                                      49
5.4.4   Altersverteilung                                                           50
5.4.5   Diabetesdauer                                                              51
5.4.6   HbA1c-Werte                                                                52

6.      Diskussion der Ergebnisse                                                  53

7.      Zusammenfassung und Schlussfolgerungen                                     64

8.      Literaturverzeichnis                                                       67

9.      Anhang                                                                     75

10.     Thesen                                                                     79
Erläuterung wichtiger Begriffe

Pankreopriver Diabetes mellitus:
       Auftreten eines Diabetes mellitus nach Pankreatektomie, bei chronischer Pankreatitis,
       Hämochromatose, zystischer Fibrose oder Pankreaskarzinom; in etwa 2 % nach einer
       akuten Pankreatitis

Sekundärer (medikamentös bedingter) Diabetes mellitus:
       Einfluss auf den Glucosestoffwechsel durch Medikamente und Chemikalien; z.B. Glu-
       cocorticoide, Nitrosaminderivate, Pentamidin

HbA1c-Wert
       HbA1c ist ein glykosyliertes Hämoglobin. Es entsteht durch Anlagerung von Glukose an
       das Hämoglobinmolekül. Durch die Bestimmung erhält der Arzt die Information, ob ein
       Diabetiker in den zurückliegenden 6 - 8 Wochen richtig eingestellt war.
       Bewertung für Diabetiker:       unter 6 %       sehr gut eingestellt
                                       6-8%            gut eingestellt
                                       8-9%            befriedigend eingestellt
                                       9 - 12 %        schlecht eingestellt
                                       über 12 %       sehr schlecht eingestellt

Body-mass-index:
       Verhältnis Körpergewicht (kg) zur Körperhöhe (m) = kg/m²
Abkürzungsverzeichnis

     Abb.       =       Abbildung
     BZ         =       Blutzucker
     et al.     =       und andere
     FPISK      =       FPI-Skala
     HbA1c      =       glykosyliertes Hämoglobin
     IDDM       =       insulin-dependent diabetes mellitus
     Lj.        =       Lebensjahr
     MMPI       =       Minesota Multiphasic Personality Inventory
     NIDDM      =       non-insulin-dependent diabetes mellitus
     SPSS       =       Statistical Package for the Social Sciences
     Tab.       =       Tabelle
     vs.        =       versus
     WHO        =       World Health Organisation
1

1. Einleitung und Problemstellung

Der Diabetes mellitus, erstmals von Aretaeus von Kappadokien im Jahre 200 vor Christus be-
schrieben, stellt heute eine der häufigsten chronischen Erkrankungen der Welt dar. Von der
WHO wird für die USA eine Häufigkeit von 5-10 %, für Europa von 2-5 % sowie für die Bundes-
republik von 2-3 % der Allgemeinbevölkerung angenommen, weltweit ist mit wenigstens 30
Millionen Diabetikern zu rechnen (Mehnert et al. 1994).
Unter dem Begriff „Diabetes mellitus“ wird ein Syndrom zusammengefasst, das durch eine
chronische Hyperglykämie und Störungen im Zusammenhang mit dem Kohlehydrat- und Fett-
stoffwechsel charakterisiert ist. Nach den Richtlinien der WHO und der National Diabetes Data
Group unterscheidet man eine Reihe von Diabetes mellitus-Typen und verwandten Stoffwech-
selstörungen. Die beiden häufigsten Krankheitsformen sind der Typ-I- (insulinpflichtiger) und
Typ-II- (nicht insulinpflichtiger) Diabetes mellitus (Mehnert et al. 1994).
Die Erforschung der Diabeteserkrankung erfolgte überwiegend von der Inneren Medizin und
Endokrinologie. Bei einer umfassenden Erörterung der mit der Krankheit verbundenen Proble-
me sollten jedoch auch psychologische Gesichtspunkte nicht unberücksichtigt bleiben, denn
eine Erkrankung ist eine Lebenskrise und fordert den Menschen in seiner Gesamtheit heraus.
Die von der Ätiologie her somatisch bedingte Krankheit kann z. B. durch die Berücksichtigung
psychologischer Erkenntnisse in ihrem Verlauf günstig beeinflusst werden, da beim Krankheits-
bild des Diabetes mellitus vegetative und metabolische Prozesse in enger Beziehung zu zent-
ralnervösen, kognitiven und behavioralen Faktoren stehen. Um ein vertieftes Verständnis zu
gewinnen, warum und wie Menschen auf eine chronische Erkrankung wie den Diabetes melli-
tus reagieren, ist es notwendig, die individuelle Persönlichkeit und Lebensbedingungen zu ken-
nen (Strian und Waadt 1989, Waadt et al. 1992). Die Reaktionen variieren in Abhängigkeit von
Persönlichkeits-, Krankheits- und medizinischen Behandlungsfaktoren. Krankheitsbewältigung
ist abhängig von der gesamten Person, ihren (prämorbiden) Bedingungen, wie Alter, Ge-
schlecht, Lebenserfahrung, sozialem Status, der persönlichen Geschichte, ihren intrapsychi-
schen Konflikten und deren Verarbeitung (Beutel 1985, Mehnert et al. 1994). Die Wechselwir-
kungen zwischen psychosozialer Belastung, Compliance, Krankheitsbewältigung und Verarbei-
tung, Persönlichkeit, Auftreten psychischer Probleme, sozialer Unterstützung sowie Stoffwech-
selkontrolle sind dabei vielfältig. So können z. B. Verbindungen zwischen negativen Ich-
Bewertungen und anderen Persönlichkeitsvariablen, wie erhöhter Neurotizismus, Ängstlichkeit,
Nervosität, Irritierbarkeit, Gehemmtheit und Depressivität, vor der Diagnosestellung des Diabe-
tes mellitus existieren und die Basis für Non-Compliance und schlechte Stoffwechselkontrolle
bilden (Petermann et al. 1987; Roth & Borkenstein 1989). Auf der anderen Seite kann z. B. ein
Nichtbefolgen von Therapieanforderungen (Nichteinhalten von Diät, Weglassen von oralen
Antidiabetika und Insulininjektionen) durch Ablehnung und Leugnung in der Bewältigungsphase
2

des Diabetes zu einer Verschlechterung der Stoffwechseleinstellung mit der Folge von gehäuf-
tem und komplikationsreicherem Auftreten von Folgeerkrankungen führen. Das wiederum kann
eine Verschlechterung des Wohlbefindens und der Lebenszufriedenheit mit sich bringen und
Anlass für das Auftreten von Depressionen, Ängsten, Irritierbarkeit und Gehemmtheit sein und
somit zu psychischen Störungen und Veränderungen der Persönlichkeit führen und einen Cir-
culus vitiosus in Gang setzen.
Die Beschäftigung mit psychologischen Faktoren und Persönlichkeitseigenschaften von Patien-
ten mit Diabetes mellitus ist Gegenstand zahlreicher Arbeiten (z. B. Aikens et al. 1994; Gill
1991; Greydanus & Hofmann 1979; Jacobson et al. 1990; Kohlmann & Kulzer 1994; Kruse et
al. 2003; Robinson et al. 1991; Petermann et al. 1987; Surridge et al. 1984; Wilkinson et al.
1987). Die Literatur zu diesen Themen ist vielfältig und schwer überschaubar. Es gibt Studien,
die mittels ausgewählter Persönlichkeitsinventare (z.B. Crowell 1953; Denolin et al. 1982) und
diabetesspezifischer Fragebögen (z.B. Bradley 1994; Bradley et al. 1990; Dunn et al. 1986)
eine Beschreibung von Persönlichkeitseigenschaften und psychologischen Faktoren beim Dia-
betes mellitus vornehmen. Hervorzuheben ist die Arbeit von Strian und Waadt (1989), die mit
ihrem Modell der metabolischen Diabeteseinstellung die Komplexität der beim Diabetes mellitus
zu berücksichtigenden Probleme verdeutlicht.

        Wissen,                          Compliance                           metabolische
        Kognitive und                                                         Kontrolle
        Motorische
        Fertigkeiten
                             Verhaltensaspekte, Transfer, Psychosoziale
                             Bedingungen, Persönlichkeit, Belastung, Stress
        Schulung

                                        Verhaltenstherapie

Abb. 1: Modell der metabolischen Diabeteseinstellung (Strian und Waadt 1989)

Anhand dieses Modells lassen sich die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Persönlichkeit,
psychosozialer Belastung, Krankheitsverarbeitung, Compliance, Stress, Lebenssituation, Stoff-
wechsel, Auftreten von Folgeerkrankungen sowie sozialer Unterstützung veranschaulichen.

Die vorliegende Arbeit soll durch die Betrachtung von Persönlichkeitsvariablen einen Beitrag in
diesem Gesamtrahmen leisten. Gegenstand ist die Auswertung von Ergebnissen einer prospek-
tiven Studie an 366 Patienten mit Typ-I- und Typ-II-Diabetes mellitus in Halle und Umgebung.
Als Messinstrument kam zur Charakterisierung von Persönlichkeitseigenschaften die revidierte
Form des Freiburger Persönlichkeitsinventars (FPI-R) zur Anwendung. Mit Hilfe dieses Persön-
3

lichkeits-Struktur-Testes können eventuell vorhandene Auffälligkeiten hinsichtlich der Ausprä-
gung wichtiger Persönlichkeitsdimensionen an der untersuchten Stichprobe ermittelt werden.
Gerade die Kenntnis von Beschwerden im emotionalen Bereich (Auftreten von Ängsten und
Depressionen), einer verminderten Lebenszufriedenheit/Lebensqualität oder einer verstärkten
Belastung/Beanspruchung durch die chronische Krankheit Diabetes mellitus ist für die behan-
delnden Ärzte wichtig. Die Beachtung derartiger Auffälligkeiten kann bei der Betreuung von
Diabetikern durch die gezielte ärztliche Einflussnahme zu einem größeren psychischen Wohl-
befinden und zu einer besseren Compliance der Patienten mit verbesserter Stoffwechsellage
führen. Hierdurch verringert sich wiederum das Risiko des Auftretens diabetischer Komplikatio-
nen, und die Lebensqualität steigt. Letztendlich bedeutet ein komplikationsloser Verlauf der
Zuckerkrankheit mit insgesamt zufriedeneren Patienten eine Senkung der materiellen Belas-
tungen für den betroffenen Patienten, wie für das gesamte Gesundheitssystem.

2. Theoretische Grundlagen

2.1 Psychosoziale Belastungen durch die chronische Krankheit Diabetes mellitus
Durch eine chronische Erkrankung, wie Diabetes mellitus kommt es für den Betroffenen zu
vielfältigen psychosozialen Belastungen. Petermann et al. (1987) haben dazu eine Übersicht
zusammengestellt (Anlage 1 im Anhang). Einzelne Aspekte sollen näher ausgeführt werden.
Während die Symptomatik des Diabetes mellitus medizinisch teilweise gut kontrollierbar ist, ist
die Grundkrankheit dauerhaft kaum zu heilen. Die Prognose und Lebenserwartung der Patien-
ten mit Diabetes mellitus werden durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt. So spielen z. B.
das Lebensalter bei Diabetes-Manifestation, der Diabetestyp, die Krankheitsdauer, der Schwe-
regrad der Stoffwechseldekompensation, die Art und Güte der Stoffwechseleinstellung, das
Auftreten diabetischer Langzeitkomplikationen und das Vorhandensein weiterer Begleiterkran-
kungen eine entscheidende Rolle (Mehnert et al. 1994). Die spezifischen Belastungen hängen
weniger vom jeweils vorliegenden klinischen Bild und den betroffenen Organen ab, sondern
richten sich besonders auch nach dem Verlauf der Krankheit.
Der Diabetes ist durch typische Krankheitserfahrungen geprägt: Es handelt sich dabei um Ein-
schränkungen durch Diät, Verabreichung von Injektionen, Durchführen von Harn- und Blutzu-
ckertests usw. Es besteht die Notwendigkeit eines angemessenen Gesundheits- und Patien-
tenverhaltens. Die häufigste akute Komplikation bei diabetischen Jugendlichen ist die Unterzu-
ckerung (Hypoglykämie). Bei schweren Formen kann es mitunter zu Sprachstörungen, Aggres-
sivität, Verwirrtheitszuständen, zu Krämpfen oder tiefer Bewusstlosigkeit kommen. Lang an-
dauernde Anfälle können zu irreversiblen Hirnschädigungen führen. Hieraus können die Angst
vor einem öffentlichen Kontrollverlust resultieren und Gefühle von Hilflosigkeit und Abhängigkeit
auftreten (Waadt et al. 1992). Dem gegenüber kann ein anhaltend erhöhter Blutzuckerspiegel
4

unbemerkt vorliegen oder mit nur leichten Störungen einhergehen. Bei zu hohem Blutzucker-
spiegel droht akut eine Stoffwechselentgleisung mit diabetischer Ketoacidose sowie langfristig
die Entstehung diabetischer Spätschäden. Es existiert eine Belastung durch die Gewissheit,
lebenslänglich krank zu sein bzw. die Ungewissheit über den Verlauf der Erkrankung, eine ver-
ringerte Planbarkeit der Zukunft sowie eine existentielle Bedrohung durch die Möglichkeit, frü-
her als Gleichaltrige zu sterben.
Bedell et al. (1977) sehen aufgrund ihrer Ergebnisse die Annahme bestätigt, dass eine chroni-
sche Krankheit, wie der Diabetes mellitus, mit einem erhöhten Risiko einhergeht, dass die Be-
troffenen psychisch auffällig werden. Nach Petermann et al. (1987) erfordern chronische Krank-
heiten eine bio-psycho-soziale Sichtweise, weil Belastungen, die sich zunächst hauptsächlich
auf der körperlichen Ebene abspielen, „genug Zeit haben“, sich auch im psychischen und sozia-
len Leben des Erkrankten niederzuschlagen. Steinhausen et al. (1987) fanden, dass für das
Ausmaß psychischer Störungen die Schwere der chronischen Erkrankung im Einzelfall eine
entscheidende Rolle spielt.

2.2 Krankheitsbewältigung beim Diabetes mellitus
Abhängig davon, wie der einzelne Patient mit den psychosozialen Belastungen durch die chro-
nische Krankheit Diabetes mellitus umgeht und diese zu bewältigen versucht, können der Ver-
lauf der Erkrankung günstig beeinflusst oder auch somato-psychische Störungen resultieren.
Zur Bewältigung von Belastungen oder Stresssituationen liegen Theorien unterschiedlicher
Herkunft vor. Die Modelle zur Krankheitsverarbeitung basieren z. B. auf verhaltensbiologischen
(Lazarus 1966), kybernetischen, soziologischen (Mechanic 1974) oder überwiegend psycho-
analytischen Grundlagen (Heim 1983, Schüßler 1993).
Das Modell von Broda (1990) zeigt die Zusammenhänge zwischen Belastung und Bewältigung.

 Belastung      Moderator-            Lebensereignisse    Wahrnehmung              Bewältigungs-
                variablen             (life events)       °der Situation           verhalten
                                                          °der eigenen             (Coping)
                - Geschlecht          soziales Netzwerk    Ressourcen              - Handlung
                - Alter               (social support)    °d. Kontrollierbarkeit   - Kognition
                - Persönlichkeits-                        - Ambiguität             - Emotion
                 variablen                                - Antizipationszeit      - Physiologie
                - Bewältigungsstile                       - in der Belastungs-
                                                           situation

Abb. 2: Zusammenhang von Belastung und Bewältigung (Broda 1990)
5

Diesem Modell ist zu entnehmen, dass die Persönlichkeit als Ganzes in den Verarbeitungspro-
zess eingebunden ist, und dass an diese sowohl situative als auch länger überdauernde Anfor-
derungen gestellt werden. Für die klinische Anwendung scheint es wichtig zu sein, die Verarbei-
tung der Erkrankung in ihrem Verlauf darzustellen und die Reaktion auf spezifische und indivi-
duelle Belastungen aufzuzeigen.
Bei der chronischen Erkrankung Diabetes mellitus zeigt sich deutlich das stetige Wechselspiel
von Bewertungsprozessen und Bewältigungsversuchen. Die Art und Weise, wie der Patient und
die Familie die Belastung durch den Diabetes mellitus verarbeitet, hängt ab von Persönlich-
keitsstruktur, psychischer Stabilität, vorausgehender Erfahrung mit einschneidenden Erlebnis-
sen, subjektiven Krankheitstheorien des Betroffenen, Bewertung der Belastung, soziodemogra-
fischen Variablen (z. B. Alter, Geschlecht), Lebenssituation/Lebensereignissen, sozialer Unter-
stützung (Partner, Familie), medizinischer Betreuung (Qualität der Arzt/Patient-Beziehung als
wichtige Grundlage der Compliance). Dies entspricht den von der Analyse allgemeiner Trauer-
arbeit bekannten Verarbeitungsphasen. Demnach durchläuft ein Diabetiker typischerweise Pha-
sen des Schocks, der Ablehnung/Verleugnung, der Auflehnung/Revolte, des Feilschens, der
Aggression, der Schuld, der Depression bis hin zum Sich-Abfinden und Akzeptieren des Diabe-
tes. Eine festgelegte Phasenfolge für den individuellen Verlauf besteht nicht. Assal und Gfeller
(1985) verglichen den Prozess des Akzeptierens des Diabetes mit dem Modell der Trauerarbeit
von Kübler-Ross und konnten bei Untersuchungen typische Phasen von Ablehnung, Verleug-
nung, Revolte, Feilschen, Depression, Sich-Abfinden feststellen. Neuere Untersuchungen von
Hirsch (1992) stellten jedoch diese Phasenfolge des Trauerkonzeptes in Frage. In ihrer Studie
an 52 Diabetikern konnten sie im ersten Jahr nach der Diagnose zwar erhöhte Werte für die
Gesamtkonstellation von „Gefühlen und Trauerkognitionen“ feststellen, aber eine Zuordnung zu
bestimmten Trauerphasen nicht vornehmen, da es unspezifische negative emotionale Reaktio-
nen gab.
Die Diagnose Diabetes mellitus geht mit einer radikalen Umstellung der bisher gewohnten Le-
bensweise einher und stellt je nach Persönlichkeit für den Patienten ein mehr oder minder
schweres psychisches Trauma dar. Es herrschen Gefühle von Unsicherheit, Schock, Ärger,
Trauer, Schuld, Rebellion (Gearhart 1995) vor. Für den Typ-I-Diabetiker ist die Notwendigkeit
gegeben, neben regelmäßigen Blutzuckerkontrollen die Insulindosis und die Ernährung aufein-
ander abzustimmen. Dies schränkt fast immer die bisherige Lebensführung ein (Kulzer 1992)
und stellt den Betroffenen zunächst vor schwierige Bewältigungsaufgaben. Es ist davon auszu-
gehen, dass die Krankheitsbewältigung bei Typ-I-Diabetikern mit zunehmender Krankheitsdau-
er durch die verbesserte Adaptation leichter fällt. Daher ist ein positiver Zusammenhang zwi-
schen den Maßen des Wohlbefindens und der Krankheitsdauer sowie eine negative Korrelation
zu Depression und Angst bei Typ-I-Diabetikern zu erwarten (Hermanns & Kulzer 1992). Für die
meisten jungen Typ-I-Diabetiker, bei denen die Diagnose in der ersten oder zweiten Lebensde-
6

kade gestellt wird, gerät das Selbstbild ins Wanken. Sie befinden sich in einer Entwicklungs-
phase, in der die Persönlichkeit nach Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung und Anerkennung
strebt. Das Diabetesregime steht dazu im krassen Gegensatz.
Die Typ-II-Diabetiker sehen sich mit der Anforderung konfrontiert, ihre jahrzehntelangen Ess-
und Trinkgewohnheiten umfassend zu verändern. Darüber hinaus ist es notwendig, diese Modi-
fikation des Ernährungsverhaltens dauerhaft beizubehalten (Kulzer 1992). Beim Typ-II-Diabetes
stellt sich das Problem der Krankheitsverarbeitung meist unter umgekehrten Vorzeichen. Viele
Typ-II-Diabetiker begreifen ihre Erkrankung als sogenannten milden Alterszucker, für dessen
Behandlung man keine großen Anstrengungen zu unternehmen braucht (Hermanns & Kulzer
1992; Kulzer 1992). Deshalb wird bei Typ-II-Diabetikern im Vergleich zu Typ-I-Diabetikern mit
einem höheren Ausmaß an Wohlbefinden respektive einer geringeren Ausprägung von De-
pressivität und Angst gerechnet. Die Ergebnisse zur Konstruktvalidität zeigen deutliche Unter-
schiede zwischen Typ-I- und Typ-II-Diabetikern hinsichtlich ihres psychischen Wohlbefindens.
Dies könnte durch krankheitsspezifische Faktoren, wie beispielsweise unterschiedliches Krank-
heitserleben und Behandlungsstrategien, oder durch demographische Unterschiede wie z. B.
das Lebensalter, begründet sein. Bei Typ-II-Diabetikern wurden bedeutsame Zusammenhänge
zwischen Lebensalter und Depressivität sowie Wohlbefinden (Bradley et al. 1990) ermittelt,
durch welche die Differenzen zwischen Typ-I- und Typ-II-Diabetikern mitbegründet sein könn-
ten. In einer Studie von Petermann et al. (1987) an 21 jugendlichen Diabetikern im Alter von 16
bis 22 Jahren zeigte sich ein bedeutender Zusammenhang zwischen der Krankheitsbewälti-
gung und den sozialen Kompetenzen eines Patienten. So konnten kontaktfreudige, selbstsiche-
re Patienten ihre Erkrankung besser bewältigen als solche, die im Sozialkontakt weniger geübt
waren. Je nachdem, ob ein Typ-I-Diabetiker sich selbst soziale Kompetenzen zuschreibt oder
nicht, resultiert ein gelungener bzw. verfehlter Umgang mit der Krankheit. Die Studie von
Lundman & Norberg (1993) untersucht die Wechselwirkungen von Coping-Strategien und gly-
kämischer Kontrolle von 20 IDDM (25 bis 59 Jahre) und zeigt, wie individuell, komplex und vari-
abel sie sein können.
Aspekte zur Krankheitsverarbeitung bei Patienten mit Diabetes mellitus und die Betrachtung
dieser Thematik an Hand der Hallenser Untersuchungsstichprobe können der Dissertationsar-
beit von Koch (2002) entnommen werden.

2.3 Zusammenhang von Krankheitsverarbeitung, Stress, Auftreten psychischer
   Störungen, Qualität der Stoffwechselkontrolle und diabetischen Folgeerkrankungen
In zahlreichen Studien wurde darauf hingewiesen, dass psychosoziale Faktoren für eine befrie-
digende Stoffwechsellage eine wichtige Rolle spielen, und viele Autoren stimmten darin über-
ein, dass die Krankheitsverarbeitung eine Moderatorfunktion zwischen belastendem Ereignis
und Stoffwechseleinstellung bzw. -qualität einnimmt. Die Persönlichkeit kann durch das Bevor-
7

zugen von gesundheitsorientiertem Verhalten vor psychischen Krankheiten schützen oder
durch Non-Compliance zu psychischen Krankheiten und Änderungen im Bereich des Körper-
und Selbstbildes prädisponieren. Eine wichtige Rolle spielt z. B. der Umgang mit stressreichen
Lebenssituationen. Jacobson & Hauser (1983) haben einen bedeutenden Einfluss auf die Aus-
bildung physischer und psychischer Krankheiten durch stressreiche Alltagsbelastungen gefun-
den. Für die Beurteilung der psychosozialen Anpassung ist die Erfassung von Art und Umfang
von „Alltagsbelastungen“ bedeutend. Unter Alltagsbelastungen versteht man Situationen im
Leben eines Patienten, die dieser als belastend bewertet. Die Gesamtbelastung einer Person
ergibt sich als Summe der Einzelbelastungen aus relevanten Alltagssituationen. Die Gesamtbe-
lastung ist ein psychologisches Konstrukt zur Beschreibung einer Person (Waadt et al. 1992).
Ein Zusammenhang von Beeinträchtigungserleben und Alltagsbelastungen beim Diabetes mel-
litus an der Hallenser Stichprobe wurde in der Dissertationsarbeit von Stahl (2000) untersucht.
Stress und bestimmte psychosoziale Faktoren können die Krankheit direkt über hormonelle und
neuroendokrine Prozesse oder über das Immun-System (Baker et al. 1969; Becker & Janz
1985) sowie indirekt über schädigende Effekte im Gesundheitsverhalten und Coping beeinflus-
sen und somit eine destabilisierende Glucoseregulation ausüben. Die Literatur wirft die Frage
auf, von welchen Einflussfaktoren es abhängen könnte, ob belastende Ereignisse die Stoff-
wechseleinstellung von Diabetikern ernsthaft beeinträchtigen. Es wurden verschiedene Persön-
lichkeits- und Umweltvariablen diskutiert, denen eine entsprechende Moderatorfunktion zu-
kommen könnte. Zu nennen sind Studien zum Typ A-Verhalten bei Diabetikern (Cox et al.
1984, Stabler et al. 1987), zu Gewohnheiten der Stressbewältigung (Delamater et al. 1987) und
sozialer Unterstützung (Cox et al. 1984).
In diesem Zusammenhang konnten bereits Hinkle und Wolf (1952) nachweisen, dass Stressin-
terviews zu Schwankungen des Blutzuckerspiegels führten. Sterky (1963) beschrieb in einer
Studie an 145 Typ-I-Diabetikern und 126 gesunden Vergleichsprobanden das häufigere Auftre-
ten von mentalen Störungen bei „schlecht eingestellten Diabetikern“ im Vergleich zu guter Stoff-
wechselkontrolle. In einer Längsschnittstudie fand Koski (1969), dass schlecht eingestellte Dia-
betiker eher einen negativen Verlauf der Erkrankung zu verzeichnen hatten und mehr Sprach-,
Schlaf-, Verhaltensstörungen aufwiesen und aggressiver waren. Hinsichtlich Angst und
Depressionen unterschieden sich die beiden Gruppen nicht. Bei schlecht eingestellten
diabetischen Kindern und Jugendlichen traten eindeutig mehr psychische Probleme auf, als bei
gut eingestellten (Koski & Kumento 1975; Eiser 1985; Steinhausen & Börner 1978).
Der Zusammenhang zwischen einer mangelhaften Kontrolle des Diabetes und gehäuft auftre-
tenden psychischen Problemen ist wechselseitig. So hatten Diabetiker, die schon seit dem Aus-
bruch der Erkrankung Verhaltensstörungen aufwiesen, größere Probleme, ihren Diabetes kon-
sequent zu kontrollieren. Andererseits konnte eine schlechte Stoffwechseleinstellung zu psy-
chosozialen Problemen beitragen und diese verstärken. Simonds (1976/77) verglich gut und
8

schlecht eingestellte Typ-I-Diabetiker untereinander und mit einer gesunden Vergleichsgruppe.
Bei den schlecht eingestellten Diabetikern traten generell mehr Verhaltensstörungen, massivere
Konflikte mit den Eltern, Geschwistern und Gleichaltrigen, geringeres Selbstvertrauen, mehr
Schul- und Lernprobleme sowie massivere Abhängigkeits-, Unabhängigkeitskonflikte auf als bei
gut eingestellten Diabetikern. Erstaunlicherweise waren gut eingestellte Diabetiker in dieser
Studie sogar weniger konfliktbeladen als gesunde Vergleichspersonen. Laut Simonds (1976/77)
könnte man argumentieren, dass die gut eingestellten Diabetiker in ihrem Sozialverhalten an-
gepasster waren, deshalb ärztliche Therapievorschriften gut befolgten und Konflikten mit ande-
ren Personen eher aus dem Weg gingen. Gut eingestellte Diabetiker waren kontaktfreudiger,
lebhafter und weniger abhängig. Simonds vertrat die Ansicht, dass Diabetiker mit guter Stoff-
wechselkontrolle effektivere Mechanismen zur Bewältigung der Krankheitserfordernisse hatten
und deshalb weniger Konflikte resultierten.
Gath et al. (1980) fanden bei 76 Typ-I-Diabetikern in jeweils 19 Prozent psychische und Verhal-
tensstörungen und belegten wiederum einen Zusammenhang zwischen einer schlechten Stoff-
wechselkontrolle und dem gehäuften Auftreten von psychischen Problemen. Anderson et al.
(1981) fanden, dass Diabetiker mit guter Stoffwechselkontrolle weniger Ängste, eine positive
Selbsteinstellung und bessere Problemlösungsmöglichkeiten mit der Familie aufwiesen.
Mazze et al. (1984) untersuchten 84 IDDM zur glykämischen Kontrolle, Persönlichkeit, Angst,
Depression und Lebensqualität. Die Persönlichkeit zeigte keine, während Angst, Depression
und Lebensqualität eine Beziehung zur glykämischen Kontrolle aufwiesen. Niedrige Angst und
Depression waren mit besserer Diabetes-Kontrolle (HbA1c < 8,9) verbunden. Wilkinson et al.
(1987) untersuchten 211 IDDM im Alter von 16 bis 65 Jahren und fanden, dass Patienten mit
guter Stoffwechselkontrolle ein geringeres Potential für psychiatrische Erkrankungen aufwiesen.
Lustman et al. (1986) fanden bei schlecht eingestellten Diabetikern (HbA1>10%) eine signifi-
kant höhere Prävalenzrate psychosomatischer Störungen als bei gut eingestellten Diabetikern.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass steigender Stress zu Vermeidungscoping, aber
auch Vermeidung zu hohem Stress führen kann. Ein hohes Stresslevel kann wiederum eine
schlechte metabolische Kontrolle nach sich ziehen. Die schlechte metabolische Situation selbst
kann auch ein Stressfaktor sein. In einer Untersuchung von Delamater (1987) an 27 ado-
leszenten Typ-I-Diabetikern mit der Way of Coping Checklist stellte sich ein signifikanter Zu-
sammenhang zwischen Stoffwechseleinstellung und Copingmethoden heraus. Die Patienten
wurden nach ihrer Stoffwechselqualität in drei Gruppen eingeteilt. Patienten mit schlechter me-
tabolischer Kontrolle zeigten signifikant mehr Wunschdenken und Hilfesuchen.
Kruse et al. (2003) fanden in ihrer repräsentativen Stichprobe an 7124 Probanden keine erhöh-
te Prävalenz für psychische Störungen gegenüber Probanden ohne Diabetes. Diabetiker hatten
eine erhöhte Rate an Depressionen und Angststörungen (insbesondere Dysthymia und Pho-
bien). Es zeigte sich, dass Diabetiker mit psychischen Störungen eine bessere Stoffwechsel-
9

einstellung (HbA1c) aufwiesen, als Diabetiker ohne psychische Störungen. Die vermehrte Inan-
spruchnahme medizinischer Dienste durch Patienten mit psychischen Störungen ist ein Erklä-
rungsansatz für die günstigere Stoffwechsellage dieser Patientengruppe.

Die Compliance der Diabetiker ist stark abhängig von der Coping-Fähigkeit und der sozialen
Unterstützung. Geringe soziale Unterstützung steht im Zusammenhang mit schlechter metabo-
lischer Kontrolle und Depression, insbesondere wenn zusätzlicher Stress auftritt. Kvam & Lyons
(1991) beschrieben, dass sich Patienten (häufiger Männer), die problemlösende Coping-Stile
aufwiesen und eine gute soziale (familiäre) Unterstützung erfuhren, an stressreiche Lebenser-
eignisse besser anpassten und ein größeres Wohlbefinden äußerten. Verleugnende und ver-
meidende Coping-Strategien waren häufiger mit einer schlechten Krankheitsanpassung kombi-
niert. Des weiteren fanden die Autoren Zusammenhänge zwischen dem Auftreten von Depres-
sionen bei Patienten mit verleugnenden und vermeidenden Coping-Strategien sowie negative
Assoziationen zwischen problemorientierten Coping-Stilen und Depressionen.

Gelingt es Diabetikern langfristig nicht, die Therapiemaßnahmen in ihrem Alltag umzusetzen, so
verschlechtert sich ihre Stoffwechselsituation, und gleichzeitig steigt das Risiko, diabetische
Folgeerkrankungen wie Augenschäden, Nierenversagen, Herzinfarkt, Durchblutungsstörungen
der Beine oder einen Schlaganfall zu bekommen (Janka et al. 1992; Willms & Standl 1993).
Winocour et al. (1990) fanden in einer Studie an 130 IDDM eine deutlich erhöhte Rate an De-
pressionen, wobei Frauen vs. Männer höhere Werte aufwiesen. Höhere Depressivität und
Angst zeigte sich besonders bei Patienten mit Neuropathie, Impotenz, makrovaskulären Gefäß-
schäden und Retinopathie. Das Auftreten dieser diabetischen Komplikationen ging mit einer
Beeinträchtigung der Lebensqualität einher. Die Studie von Lloyd et al. (1992) beschäftigte sich
mit Lebensqualität, depressiven Symptomen und Persönlichkeitscharakterisierung von Diabeti-
kern mit makrovaskulären Folgeschäden und Nephropathie. Sie zeigt eine signifikant schlechte-
re Lebensqualität und bei Patienten mit makrovaskulären Schäden ein größeres Depressions-
potential verglichen mit Patienten ohne Folgeerkrankungen. Die Lebensqualität sank und die
Depression stieg mit zunehmender Anzahl an Folgeerkrankungen.
In ihrer Studie an 130 NIDDM und IDDM im Alter von 35 - 59 Jahren fanden Robinson et al.
(1991) keine signifikanten Unterschiede in der Extraversionsskala und keine signifikanten Be-
ziehungen zwischen Persönlichkeitscharakteristiken und der Diabetesdauer, dem Vorhanden-
sein von Diabeteskomplikationen und der diabetischen Stoffwechselkontrolle (BZ, HbA1). Bei
Popkin et al. (1988) war keine Abhängigkeit psychosomatischer Störungen von der Präsenz
diabetischer Komplikationen erkennbar.
10

2.4 Mythus der Diabetespersönlichkeit und Persönlichkeitscharakterisierung
Die Persönlichkeit eines Menschen stellt eine wichtige Moderatorvariable im Bedingungsgefüge
einer chronischen Erkrankung, wie dem Diabetes mellitus, dar und soll näher betrachtet wer-
den.
Erste Ansätze zur Beschreibung der Persönlichkeit der Diabetiker stammten von Thomas Willis
(1679), Maudsley (1899) und Horace (1921), weitere Arbeiten folgten in den 30er und 40er
Jahren, z.B. durch Menninger (1935), Matz (1936) und Daniels (1939). Zahlreiche Studien hat-
ten die Aufgabe, die sogenannte „diabetische Persönlichkeit“ herauszuarbeiten. So nahmen
beispielsweise Dunbar et al. schon 1936 an, dass Diabetiker besondere Merkmale, wie Angst,
Depression oder paranoide Zustände gehäuft aufwiesen. Loughlin & Mosenthal führten 1944
eine Studie an 114 Diabetikern im Alter von 6 bis 18 Jahren durch und fanden Anzeichen für
eine erhöhte Aggressivität, Unreife und Zurückgezogenheit. Diese persönlichkeitspsychologi-
sche Sicht konnte allerdings nicht durch empirische Befunde gestützt werden (vgl. Dunn & Turt-
le 1981). In der Meta-Analyse von Dunn & Turtle (1981) wurden zahlreiche Studien aus den
Jahren 1940 bis 1980 unter der Überschrift „Mythus der Diabetespersönlichkeit“ zusammenge-
tragen (Anlage 2 im Anhang). Von den 28 bearbeiteten Studien zeigten 12 signifikante psycho-
logische Unterschiede zwischen Diabetikern und nichtdiabetischen Vergleichsgruppen, wäh-
rend 16 Studien ohne Unterschied blieben. Auffälligkeiten fanden sich z. B. bei den Jugendli-
chen in den Studien von McGavin (1940) mangelhafte soziale Anpassung, bei Slome (1959)
abnorme Mutter-Kind-Beziehung, bei Swift (1967) umfassende Psychopathologie, bei Fällström
(1974) Identitätsprobleme und bei Hauser (1979) niedrige Ich-Entwicklung sowie bei den Er-
wachsenen in Studien von Slawson (1963), Murawski (1970) und Sanders (1975) Depressio-
nen, bei Mills (1973) mangelhafte soziale Anpassung. Unterschiede zwischen Diabetikern und
Gesunden traten vornehmlich dann auf, wenn man globale Merkmale, wie soziale Schicht,
Dauer der Krankheit und Alter der Patienten bzw. Gesunden in Beziehung setzte. In Studien,
die Einstellungen zum eigenen Körper, Selbstbild, Frustrationstoleranz oder Abhängigkeitsver-
halten näher spezifizierten, fanden sich selten Unterschiede zwischen Diabetikern und Gesun-
den. In diesem Kontext betonte Johnsen (1980), dass sich bei der Durchsicht von 16 metho-
disch akzeptablen empirischen Studien nur sehr wenige psychologische Merkmale und Prob-
leme herauskristallisierten, die sich eindeutig als Kennzeichen für Diabetes eigneten. Als wich-
tiges Merkmal zeigte sich die Unterscheidung zwischen Diabetikern mit guter oder schlechter
Stoffwechselkontrolle. Bei schlecht eingestellten Diabetikern traten eindeutig mehr psychische
Probleme auf als bei solchen, die gut eingestellt waren (Koski 1969; Grey et al. 1980; Simonds
1977). Untersuchungen von Strian & Waadt (1987) zeigten, dass sich Diabetiker in ihrer Per-
sönlichkeitsstruktur nicht bedeutsam von gesunden Vergleichsgruppen unterschieden. Prämor-
bide Persönlichkeitsstrukturen, wie Introversion und Neurotizismus könnten jedoch emotionale
Reaktionstendenzen begünstigen (Strian & Haslbeck 1986; Strian et al. 1987). Eine interessan-
11

te Studie zur Ich-Entwicklung bei Diabetikern lieferten Jacobson et al. (1982). Sie untersuchten
74 diabetische Jugendliche im Alter von 12 bis 15 Jahren und 57 gesunde Kontrollpersonen
und stellten die Hypothese auf, dass diabetische Jugendliche in frühere Stufen der Ich-
Entwicklung einzuordnen sind als die Kontrollgruppe und dadurch z. B. als ängstlich, impulsiv
und abhängig charakterisiert werden können. Die Ich-Entwicklung wurde mit einem 36-Item
Fragebogen gemessen. Es zeigte sich, dass die Diabetiker niedrigere Ich-Werte aufwiesen.
Die Existenz einer spezifischen „diabetischen Persönlichkeit“ konnte bisher nicht nachgewiesen
werden, jedoch zeigten einige Studien, dass im Bereich einzelner Persönlichkeitsdimensionen
pathologische Befunde auftreten können.

2.5 Komorbidität und Prävalenz psychischer Störungen bei Diabetes mellitus
In den bisher veröffentlichten Arbeiten zu psychischen Problemen und Persönlichkeitsstörun-
gen bei Diabetes mellitus waren die Angaben über die Natur und das Ausmaß von psychischen
Störungen bei Diabetes mellitus widersprüchlich.
Wilkinson et al. (1987) beobachteten bei insulinpflichtigen Diabetikern (N = 194, Alter 16 bis 65
Jahre) eine Prävalenzrate für psychische Störungen von 18 %. Im Gegensatz dazu fand Cro-
well (1953) bei Patienten mit Diabetes mellitus und Rheumatischem Fieber und einer gesunden
Kontrollgruppe mittels Persönlichkeitsinventaren wie MMPI, Rorschach-Test und Taylor Anxiety
Scale keine signifikanten Unterschiede. Ebenso ermittelte Simonds (1977) mit Hilfe eines semi-
strukturierten Interviews bei jugendlichen Diabetikern (N = 80, mittleres Alter 13 Jahre) im Ver-
gleich zu gleichaltrigen Nichtdiabetikern keine Häufung von psychischen Störungen. Es zeigte
sich jedoch, dass jugendliche Diabetiker mit guter Stoffwechseleinstellung und die Jugendlichen
der Kontrollgruppe deutlich weniger psychische Konflikte aufwiesen, als die jugendlichen Diabe-
tiker mit einer schlechten Stoffwechseleinstellung.
In ihrer Studie fanden Petrak et al. (2002), dass die untersuchten Typ-I-Diabetiker (N=313) eine
etwa 2-fach erhöhte Rate an Major Depression aufwiesen. Hinsichtlich aller anderen psychi-
schen Störungen unterschieden sie sich nicht signifikant von der Allgemeinbevölkerung.

Im Folgenden soll an ausgewählten Beispielen die Prävalenz für bestimmte psychische Störun-
gen und die Möglichkeit für das Auftreten von Auffälligkeiten im Bereich von Persönlichkeitsdi-
mensionen näher betrachtet werden. Besonders im emotionalen Bereich findet man die Präva-
lenz für Angststörungen und Depressionen beim Diabetes mellitus.

2.5.1 Depressivität und Angst
Erstmals erwähnten Menninger (1935) und Daniels (1939) das Auftreten von Depressionen bei
Patienten mit Diabetes mellitus.
12

Surridge et al. (1984) beschrieben in ihrer Studie an 50 IDDM im Alter von 16 - 60 Jahren das
Vorkommen von gesteigerter Ermüdbarkeit, Energieverlust, Depressionen sowie vermindertes
sexuelles Interesse und vermindertes Verlangen nach Freizeitaktivität. Goodnick (1993), Han-
dron & Leggett-Frazier (1994), Kovacs et al. (1985), Lustman et al. (1983), Naliboff & Rosenthal
(1989) fanden eine erhöhte Prävalenz an Depressionen. Gavard et al. (1993) beschrieben die
Prävalenz für Depressionen mit 8 – 27 %. Lustman et al. (1986) führten eine Studie an 114
Typ-I- und Typ-II-Diabetikern zur Prävalenz von psychiatrischen Erkrankungen durch. Von den
untersuchten Patienten fanden die Autoren in 71,1 % (= 81 Patienten) das Vorkommen einer
psychiatrischen Erkrankung, darunter in 33 % depressive Episoden. Es zeigte sich kein signifi-
kanter Unterschied zwischen Typ-I- und -II-Diabetikern. Ein gehäuftes Auftreten von Depressio-
nen (10,1 %) fand man auch in einer Studie von Wrigley & Mayou (1991). Songar et al. (1991)
untersuchten 45 Diabetiker mit schlechter Stoffwechseleinstellung mittels Taylor Anxiety Scale
und Beck Depression Scale und fanden bei 19 Patienten (42,2 %) eine Depression und bei 34
Patienten (75,5 %) erhöhte Angstwerte sowie von 15 gut eingestellten Diabetikern 7 Patienten
mit dem Nachweis einer Depression. Insgesamt waren die Ergebnisse nicht signifikant und
zeigten bezogen auf die Gesamtbevölkerung keine erhöhten Werte.
Palinkas et al. (1991) untersuchten an 1586 NIDDM das Vorkommen von depressiven Sym-
ptomen. Männer und Frauen mit früh diagnostiziertem Diabetes mellitus zeigten mittels Beck
Depression Inventory eine höhere Depressivität als gesunde Vergleichspersonen und Patienten
mit neu diagnostiziertem Diabetes mellitus. Insgesamt fand sich in dieser Studie eine höhere
Prävalenz für Depressionen bei Typ-II-Diabetikern vs. gesunden Vergleichsgruppen sowie hö-
here Depressivitätspotentiale bei diabetischen Frauen vs. Männern.
In zahlreichen Studien wurde sowohl ein direkter als auch ein indirekter Effekt der Depression
auf die metabolische Kontrolle des Diabetes mellitus beschrieben. Einen direkten Einfluss hat-
ten Wechsel der Kortisol-, Adrenalin-, Noradrenalin-, Wachstumshormon- und/oder Glucagon-
Spiegel verbunden mit der Depression auf den Kohlenhydrathaushalt und damit auf den Blutzu-
ckerspiegel (Barglow et al. 1984; Fisher et al. 1982; Kaplan & Atkins 1985; Lustman et al.,
1981). Weitere Studien, z. B. Carroll (1969) und Wright et al. (1978) beschrieben eine niedrige-
re Glucosenutzbarmachungsrate und erhöhte Insulinunempfindlichkeit bei Patienten mit endo-
gener Depression. Der indirekte Einfluss zeigte sich, indem depressive Patienten ein schlechte-
res Behandlungsregime aufwiesen, die vorgegebenen Therapiestrategien nicht befolgten und
somit höhere Blutzuckerspiegel resultierten (Glasgow et al. 1986, Wilson et al. 1986).

Slawson et al. (1963), Liamou et al. (1994), Littlefield et al. (1990) und Kubany et al. (1956)
fanden bei Diabetikern keine Häufung von Depressionen.
13

Daniels et al. (1939) beschrieben Angststörungen als prominenten Faktor bei Diabetikern und
Turkat (1982) berichtet über höhere HbA1-Spiegel bei Diabetikern mit erhöhten Angstwerten.
Wells et al. (1989) untersuchten in einer Studie an 2554 Patienten mit Diabetes mellitus, Arthri-
tis, Herzerkrankungen, Bluthochdruck und chronischen Lungenerkrankungen die Prävalenz von
Angststörungen und fanden, dass o.g. Patienten mit einer chronischen Erkrankung eine signifi-
kant höhere Prävalenz für eine Angststörung besaßen als Vergleichspersonen ohne chronische
Erkrankung. Diabetiker wiesen eine stark erhöhte Prävalenz für lebenslange affektive und
Angststörungen auf. Lustman et al. (1986) fanden bei 114 Diabetikern (Typ-I- und Typ-II) mit
Hilfe des Diagnostic Interview Shedule (DIS) eine Lebenszeitprävalenz für generalisierte Angst-
störungen von 40,9 % und für phobische Störungen von 26,3 %. Agora- und einfache Phobien
waren bei Typ-II-Diabetikern häufiger (p
14

sionen. Jochmus beschrieb 1971 in einer Studie das gehäufte Auftreten von Aggressionen.
Börner (1976) belegte, dass aggressive Kinder eine schlechtere Stoffwechselkontrolle aufwie-
sen und zugleich vermehrt ängstlich und depressiv reagierten. Ahnsjö et al. (1981) führten eine
kontrollierte Studie an 64 jugendlichen Diabetikern und 30 Vergleichspersonen mit Untersu-
chung des mentalen Status, der sozialen Situation, der intellektuellen Kapazität und des Rohr-
schachtestes durch. Diabetiker zeigten im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant höhere Wer-
te im Bereich der Aggression. Brobrow et al. (1985) fanden bei Patienten, die ihre Therapiere-
gime nicht befolgten, eine erhöhte Aggressivität. Bei Diabetikern zeigte sich in einigen Studien
bis zu ca. 35 - 75 % ein Nichtbefolgen der Diät, in 80 % ein Nichtbefolgen des korrekten Um-
ganges mit Insulin und in ca. 93 % ein fehlendes Zusammenspiel zwischen Insulingabe, Nah-
rungskontrolle, Diät und Urinzuckermessung.

2.5.3 Essstörungen, Selbstbild und Körperbild
Besonders zu Beginn der Diabetes-Erkrankung ist es wichtig, das Essen kontrollieren zu ler-
nen. Die mit den Diätvorschriften geforderte Kohlenhydrataufnahme kann zu metabolischen
und psychischen Veränderungen führen, die kurzfristig Essanfälle und langfristig Störungen des
Hunger- und Sättigungsgefühls, aber auch Depressionen hervorrufen können. Die ständige
Reduktion glucosehaltiger Nahrungsmittel erfordert ein gezügeltes Essverhalten. Dieses kann
durch Beeinflussung zentraler Neurotransmittersysteme, insbesondere serotonerger Mecha-
nismen, sekundäre Stimmungsschwankungen auslösen (Mehnert et al. 1994). Deshalb kann
der Diabetes mellitus als ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung betrachtet wer-
den, der auch die Wahrscheinlichkeit einer Folgeerkrankung erhöht (Szmukler et al. 1985).
Blouin et al. (1989) fanden in einer kontrollierten Studie an 19 Typ-I-Diabetikerinnen, 19 Bulimi-
kerinnen und 19 gesunden Vergleichspersonen im Alter von 18 bis 30 Jahren mittels SCL-90,
EDI und EAT ein deutlich erhöhtes Potential an Perfektionismus bei den Diabetikerinnen und
Bulimikerinnen. Bei prädisponierten Patienten kann eine Essstörung i.S. einer Anorexia oder
Bulimia nervosa (DSM III-R) auftreten. Der erste veröffentlichte Fall einer Patientin mit der
Kombination von Anorexie und Diabetes mellitus stammte von Bruch (1973). Berichte über
Diabetes und Anorexie veröffentlichten Fairburn & Steel (1980), Powers et al. (1983) sowie
über Diabetes mellitus und Anorexie mit Bulimie Szmukler & Russell (1983), Hillard et al.
(1983). Bei Typ-II-Diabetikern fanden Wing et al. (1989) im Rahmen eines Gewichtsreduktions-
programms bei 21,9 % der Frauen und 9 % der Männer Symptome, die Kriterien für Binge Ea-
ting Disorder (DSM IV-Entwurf) erfüllten.
Eine Essstörung steht mit dem Körper- und Selbstbild in Zusammenhang. Gefühle der körperli-
chen Unattraktivität sind oft mit niedrigem Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen verbunden.
Untersuchungen zum Körperbild ergaben, dass diabetische Kinder und Jugendliche ihre Kör-
perdimensionen recht genau wahrnahmen, ihr Körperinneres aber in Abhängigkeit von der
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Krankheit deformiert und die Attraktivität ihres Körpers herabgesetzt erlebten. Auf psychologi-
scher Ebene waren ein verändertes Körperbild, exzessive Beschäftigung mit dem Essen, dem
Gewicht und Diät, depressive Verstimmungen, ein negatives Selbstkonzept und Konflikte mit
Autonomie und Unabhängigkeit relevante Aspekte. Auf der sozialen Ebene schienen schwierige
Familienverhältnisse, Schul- und Berufsprobleme aufzutreten und zur Aufrechterhaltung des
Teufelskreises beizutragen (Hillard & Hillard 1984).
Untersuchungen von Roth & Borkenstein (1990) an 212 Kindern (69 Gesunde, 59 Adipöse und
84 Diabetiker) ergaben, dass Diabetiker insgesamt eine sehr realistische Sicht von ihren Kör-
perdimensionen hatten, je nach Essverhalten aber sehr unterschiedliche emotionale Bewertun-
gen des Körpers existierten. Bäck et al. (1984) untersuchten 78 Typ-I-Diabetiker und fanden,
dass sich gut und schlecht eingestellte Diabetiker nicht hinsichtlich Persönlichkeitsfaktoren
unterschieden, sondern im Selbstbild, wobei dieses Ergebnis geschlechtsabhängig war - gut
eingestellte Jungen, aber schlecht eingestellte Mädchen wiesen ein hohes Selbstbild auf. Tie-
fengruber (1984) berichtete, dass schlecht eingestellte Diabetiker ein negatives Selbstbild auf-
wiesen und massivere Konflikte mit Eltern und Gleichaltrigen austrugen. Andererseits konnte
ein negatives Selbstbild auch aus der Erfahrung erwachsen, den Diabetes nicht im Griff zu ha-
ben und so die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren. Barglow et al. (1983) stellten fest,
dass Typ-I-Diabetiker mit hohem Selbstbild meist einen höheren Wissensstand über die Krank-
heit hatten und ausgezeichnete Stoffwechselkontrollen aufwiesen.

2.6 Chronische Erkrankungen und die Anwendung des FPI-R
Steinhausen (1984) und Petermann et al. (1987) beschäftigten sich in ihren Studien mit der
Annahme ähnlich gelagerter Belastungen bei verschiedenen chronischen Krankheiten. Den-
noch fanden sich bei jeder chronischen Krankheit Beeinträchtigungen, die mehr oder weniger
spezifisch waren. Petermann et al. (1987) stellten in einer Studie die chronischen Erkrankungen
Krebs, Diabetes mellitus und angeborener Herzfehler gegenüber (Anlage 3 im Anhang) und
erwarteten in weiteren Untersuchungen bei der Epilepsie vergleichbare psychosoziale Aus-
wirkungen, wie beim Diabetes mellitus, obwohl zwischen beiden vom Krankheitsbild her gese-
hen kaum eine Verbindung besteht. Der Epileptiker ist ebenso, wie der Diabetiker plötzlich ge-
zwungen, sein Körperbild zu korrigieren. Beide Krankheiten können noch nicht kausal behan-
delt werden und bilden sich nicht spontan zurück. Die Erkrankung kann jedoch, eine gute medi-
zinische Behandlung vorausgesetzt, über lange Zeiträume für die Umwelt verborgen bleiben.
Sowohl der Epileptiker, wie der Diabetiker haben es in der Hand, durch eine konsequente The-
rapiemitarbeit (Antiepileptika, Insulininjektion, Kontrollmessungen) kritischen Zuspitzungen (epi-
leptischer Anfall, hypoglykämischer Schock) vorzubeugen. Für Petermann et al. (1987) war der
Diabetes mellitus aufgrund seines typischen Verlaufes auch der Hämophilie oder der Nierenin-
suffizienz ähnlich. Muthny (1988) fand bei krankheitsspezifischen Untersuchungen gravierende
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Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten in der Krankheitsverarbeitung. Gemeinsame Aus-
gangspunkte könnten sein: Nichtheilbarkeit und Fortschreiten der Erkrankung, eingeschränkte
körperliche Verfassung und verkürzte Lebenserwartung, Behandlungsanforderung, Kranken-
hausaufenthalte, häufige Arztbesuche, Verlust von Eigenständigkeit, Bedrohungsängste (sozia-
le Isolation, körperlicher Verfall, Tod), vielfältige emotionale Probleme. Um die Spezifität von
Persönlichkeit und Krankheitsverarbeitung genauer zu erforschen, sind Vergleichsstudien not-
wendig.
Das Freiburger-Persönlichkeitsinventar wurde im Zusammenhang mit solchen Überlegungen
inzwischen in mehreren Untersuchungen verwendet. Im Bereich der chronischen Erkrankungen
kam das FPI u. a. bei folgenden Erkrankungen zum Einsatz: Alkohol-Krankheit (Pfrang und
Schenk 1983), Angina pectoris und KHK (Heine & Weiss 1988), Hypertonie (Fahrenberg et al.
1995), Ulcus ventriculi (Franz et al. 1996), Myasthenia gravis (Knieling et al. 1995), atopische
Dermatitis (Mohr & Beck 1993), Rheumatoide Arthritis, Sarkoidose und Coxarthrose (Köhler et
al. 1993; Schüßler 1993), Colitis ulcerosa und Morbus Crohn (Probst et al. 1990; Küchenhoff
1995), Asthma bronchiale (Feiereis et al. 1985; Bönke et al. 1987), Epilepsie (Herzer & Raben-
ding 1990, 1992), Niereninsuffizienz (Petzold & Rudolphi 1996; Driessen & Balck 1991, 1993).
Einige ausgewählte Untersuchungen sollen näher dargestellt werden:

2.6.1 Anwendung des Freiburger Persönlichkeitsinventars (FPI) beim Diabetes mellitus
Pauli et al. (1989) untersuchten 46 Typ-I-Diabetiker im Alter zwischen 15 und 44 Jahren mit
Diabetes-Neuropathie auf körperliche Befindlichkeit und Emotionalität. Im Stress- und Coping-
Verhalten und in Bezug auf einige Persönlichkeitsdimensionen fanden sich Hinweise auf eine
verminderte emotionale Reaktivität. Patienten mit fortgeschrittener autonomer Neuropathie
hatten zumeist ausgeprägte diabetische Folgekrankheiten (etwa diabetische Retinopathie, Mak-
ro- und Mikroangiopathie), nahmen aber die damit verbundenen körperlichen Beeinträchtigun-
gen und emotionalen Belastungen nicht stärker wahr als Diabetiker ohne Neuropathie.
Halm & Pfingsten (1990) untersuchten insulinabhängige Diabetiker (N = 36, Durchschnittsalter
39,2 Jahre) hinsichtlich Alltagsstress (gemessen mit einem Fragebogen, der sich an Kanner´s
„Hassle Scale“-Fragebogen (1981) orientiert), Stressverarbeitung und Stoffwechseleinstellung
u. a. mittels FPI-K und fanden Beziehungen zwischen der FPI-Skala Gelassenheit, Stress und
HbA1c-Werten. Bei wenig Stress reagierten gelassene Diabetiker mit einer vergleichsweise
guten Stoffwechseleinstellung, während irritierbare, wenig gelassene Personen ungünstige
HbA1c-Werte aufwiesen. Der positive Effekt kehrt sich allerdings bei höherer Stressbelastung
rasch um. Schon bei durchschnittlichem Alltagsstress gerieten betont gelassene Personen in
einen kritischen Bereich und erreichten bei hoher Stressbelastung bedenklich hohe HbA1c-
Werte. Demgegenüber wurde die Anpassung bei den eher irritierbaren Personen mit zuneh-
mendem Stress nicht schlechter, sondern eher besser. Personen mit einem durchschnittlichen
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