Dissoziation: Die Teilung eines gesamten ökologischen Systems, die sich in Form dissoziativer Symptome manifestiert - Dr. Ellert Nijenhuis ...
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Dissoziation: Die Teilung eines gesamten ökologischen Systems, die sich in Form dissoziativer Symptome manifestiert Dr. Ellert Nijenhuis eAkademie Video 4, April 2022 © Nijenhuis 2022 1
Dissoziation • Die Teilung eines gesamten Systems (Struktur) in Teilsysteme. • In der Theorie der strukturellen Dissoziation wird das gesamte System als die Persönlichkeit eines Individuums bezeichnet, und • die dissoziativen Teilsysteme werden als "Teile" bezeichnet. • Persönlichkeit: psychologisch, biologisch, sozial • Persönlichkeit: charakteristische Merkmale © Nijenhuis 2022 2
Dissoziativer "Zustand"? • Ein Organismus ist im Allgemeinen nur eine (kurze) Zeit lang in einem Zustand. • Der Begriff "dissoziativer Zustand" geht an der Dynamik vorbei. • (Ein "dissoziativer Zustand" umfasst typischerweise verschiedene "Zustände”.) • Es ist auch auf ein Ergebnis (d. h. sich in einem Zustand befinden) beschränkt. © Nijenhuis 2022 3
Dissoziative "Identität" • Der Begriff der Identität wird üblicherweise für ein stabiles "Selbstgefühl“ einer Person verwendet, d. h. für ein phänomenales Selbst. • Allerdings sind die gemeinten Teilsysteme auch • biologisch (physiologisch, neurophysiologisch) • sozial © Nijenhuis 2022 4
Dissoziativer "Agens" • Der Begriff “Dissoziativer Agens” weist auf folgendes hin: • ein Teilsystem • Handlung • Dynamik © Nijenhuis 2022 5
Die Gesamtheit • "Persönlichkeit" wird gemeinhin verstanden als ein Merkmal einer Person (eines Individuums/Organismus). • Wenn das so ist, dann scheint die Idee zu sein, dass es eine (ontologische und erkenntnistheoretische) Kluft zwischen dem einzelnen Organismus und seiner Umwelt/Welt gibt. • Sind denn ein Organismus und seine Umwelt am besten als zwei verschiedene, wenn auch miteinander interagierende Systeme zu betrachten? © Nijenhuis 2022 6
Leben: • Operativ autonom • eingebettet in • eine enagierte Welt der • Bedeutung / Signifikanz: • Umwelt © Nijenhuis 2022 7
Operative Autonomie • Systeme sind autonom, wenn sie sich selbst erzeugen und selbst erhalten: • 1. sie sind für ihre Erzeugung aufeinander angewiesen, • 2. sie bilden eine Einheit, in welchem Bereich sie auch immer existieren mögen, und • 3. bestimmen einen Bereich möglicher Interaktionen mit der Umwelt. • Spinoza; Thompson; Varela; Weber © Nijenhuis 2022 8
Organismen sind als autonome Systeme im wesentlichen eine fortlaufende Handlung, eine Identität zu konstituieren (Varela, 1997): Selbst - halbdurchlässige Grenze - Welt © Nijenhuis 2022 9
Die Begriffe "Selbst" und "Identität" sind hier im allgemeinen Sinne gemeint. Nicht: die persönliche Identität einer Person. Aber: das beteiligte System funktioniert als Einheit trotz veränderter interner und externer Bedingungen. Identität bezeichnet also keine statische Einheit, sondern eine dynamische Struktur, die ein ökologisches System (Organismus-Umwelt) ist. © Nijenhuis 2022 10
Eine knifflige Dialektik • [O]rganismus bedeutet eine knifflige Dialektik: Ein lebendes System macht sich selbst zu einer von seiner Umgebung getrennten Einheit durch einen Prozess, der etwas hervorbringt, eine eigene Welt für den Organismus durch eben diesen Prozess. • Varela, 1991, S. 79 © Nijenhuis 2022 11
Prozess = Handlung • [O]rganismus bedeutet eine knifflige Dialektik: Ein lebendes System macht sich selbst zu einer von seiner Umgebung getrennten Einheit durch Handlungen, die etwas hervorbringen, eine eigene Welt für den Organismus durch eben diese Handlungen. © Nijenhuis 2022 12
Verursachung (John Heil) • Verursachung: Wechselseitige Kräfte: z.B. ist salzhaltiges Wasser das Ergebnis von Wasser und Salz, die sich gegenseitig beeinflussen. (The universe as we find it, 2012) [Das Universum, wie wir es vorfinden] • Lebende Organismen und ihre Umwelt beziehen Kräfte mit ein, die sich gegenseitig beeinflussen (wechselseitige Kräfte). • Nicht: Interaktion zweier getrennter Einheiten, sondern Ko-Aktion oder Ko-Enaktion einer Einheit, eines Systems. © Nijenhuis 2022 13
Traumatisierung und Trauma-Therapie • Ko-Enaktion wechselseitiger Kräfte • (Traumatisiertes) Subjekt - (traumatisierende) Subjekte • (Traumatisiertes) Subjekt – Therapeut*in © Nijenhuis 2022 14
Offen für die Welt Nichts bestimmt mich von außen, nicht weil nichts auf mich einwirkt, sondern im Gegenteil, weil ich von Anfang an außerhalb meiner Selbst und offen für die Welt bin. © Nijenhuis 2022 15
"Eingebettet" in eine "materielle" Welt © Nijenhuis 2022 16
"Eingebettet" in eine soziale Welt © Nijenhuis 2022 17
Materie und Geist • Die Biosphäre ist lebendig in dem Sinne, dass sie nicht nur den Regeln der deterministischen oder stochastischen Wechselwirkungen von Teilchen, Molekülen, Atomen, Feldern und Wellen folgt. • In der Biosphäre geht es auch sehr stark um die produktive Handlung, um Ausdruck und Bedeutung (Signifikanz). Andreas Weber, 2013 © Nijenhuis 2022 18
Umwelt • Die Organismen sind ein wesentlicher Bestandteil dieser persönlichen Bedeutungswelt oder Umwelt. • Von Uexküll, 1934 • Ihre Umwelt kann gutartig sein und ihre affektiven Interessen unterstützen, sie kann aber auch hart sein und diese Wünsche behindern. • In der Regel gibt es eine Mischung aus Nützlichem, Unnützem und Schädlichem. © Nijenhuis 2022 19
“Affordanz" • Die “Affordanzien” der Umwelt sind was es dem Tier bietet, was es leistet oder zur Verfügung stellt, sei es zum Guten oder zum Schlechten. • Das Verb bieten findet sich im Wörterbuch, aber das Substantiv Affordanz findet sich nicht. • Ich habe es mir ausgedacht. • Ich meine damit etwas, das sich auf beides bezieht, auf die Umwelt und auf das Tier auf eine Weise, wie es kein bestehender Begriff tut. • Es impliziert die Komplementarität von das Tier und die Umwelt. • James Gibson, 1979. © Nijenhuis 2022 20
Ohne Beziehungsresonanz keine normale Entwicklung, kein Gefühl und keine Vorstellung von Sicherheit © Nijenhuis 2022 21
Persönlichkeit und die Umwelt • Obwohl die Persönlichkeit als lebendes System betrachtet werden kann, ist ein bewusster Organismus notwendigerweise Teil eines umfassenderen Systems, das Järvilehto (1998a,b; 1999; 2000a,b,c; 2001a,b) das Organismus-Umwelt-System nennt. • Die Persönlichkeit ist ein wesentlicher Bestandteil dieses umfassenderen Systems, da weder die Persönlichkeit noch die Umwelt getrennt voneinander existieren oder existieren können. © Nijenhuis 2022 22
Organismus und Umwelt • Ein Organismus ist notwendigerweise Teil eines umfassenderen Systems: das System Organismus-Umwelt. • Timo Järvilehto (1998a,b; 1999; 2000a,b,c; 2001a,b) • Die Analyseeinheit in der Psychologie ist das Organismus-Umwelt- System. • Der Organismus (Subjekt) und seine Umwelt (Objekt) können nur in einer relativen Weise existieren und betrachtet werden: kein Subjekt, kein Objekt; kein Objekt, kein Subjekt. © Nijenhuis 2022 23
• Der Geist ist nicht im Kopf Alva Noe Georg Northoff © Nijenhuis 2022 24
Bewusstsein/Erfahrung • B/E ist absolut • Dies zu bezweifeln, setzt B/E voraus. • B/E ist kein Phänomen. Es ist die Phänomenalität selbst. • B/E ist auch relativ • Ein Gefühl, ein Wissender, ein Wahrnehmender usw. braucht einen Fühlenden, einen Wissenden, einen Wahrnehmenden. • Ein Fühlender impliziert ein Gefühl. • Daher beinhaltet B/E die Enaktion eines Enagierenden. © Nijenhuis 2022 25
Subjekt und Objekt sind: • Ko-vorkommend (kookkurrenz) • Wenn es ein Subjekt gibt, gibt es auch ein Objekt • Wenn es ein Objekt gibt, gibt es auch ein Subjekt • Ko-abhängig (kodependenz) • Subjekte existieren nur, weil es Objekte gibt • Objekte existieren nur in einem praktischen Sinn, weil es erfahrende und wissende Subjekte gibt. • Ko-konstitutiv (kokonstitution) • Nur Subjekte können Objekte erfahren und kennen • Subjekte können nicht im luftleeren Raum existieren; sie sind Teil einer Welt, aber wie diese Welt beschaffen ist, wird von Subjekten und Objekten mitbestimmt. © Nijenhuis 2022 26
Subjekte und andere Subjekte: • Ko-vorkommend • Wenn es ein Subjekt gibt, gibt es auch ein anderes Subjekt. • Wenn es ein anderes Subjekt gibt, gibt es ein Subjekt. • Ko-abhängig • Subjekte existieren nur, weil es Objekte gibt. • Objekte existieren nur in einem praktischen Sinn, weil es erfahrende und wissende Subjekte gibt. • Ko-konstitutiv • Nur Subjekte können Objekte erfahren und kennen. • Subjekte können nicht im luftleeren Raum existieren; sie sind Teil einer Welt, aber wie diese Welt beschaffen ist, wird von Subjekten und Objekten mitbestimmt. © Nijenhuis 2022 27
Dissoziation • Die Teilung des gesamten Ökosystems E (ecological system) in Teilsysteme, die ihr eigenes phänomenales Selbst / ihre eigene phänomenale Welt (psw) verwirklichen. • Diese Teilsysteme sind dynamisch und werden von ihren Verlangen geleitet. • Es handelt sich also um dissoziative Agens © Nijenhuis 2022 28
Formel • E (ökologisches System) • !(enagiert) und v (dissoziiert) • dA1 (dissoziativer Agens 1) • dA2 (dissoziativer Agens 2) • die jeweils ihr eigenes phänomenales Selbst/ihre eigene phänomenale Welt enagieren (hervorbringen). • E (dA1!psw1) v (dA2!psw2) • Jedes dA ist eingebettet und beinhaltet eine Subjekt-Objekt-Relativität © Nijenhuis 2022 29
Dissoziative Symptome: Beispiele Psychoform Somatoform Kognitiv-Emotional - Sensorimotorisch ! Negative Symptome ! Negative Symptome ◦ Amnesie ◦ Schmerzlosigkeit ◦ Depersonalisation ◦ Körperliche Betäubung ◦ Emotionale Betäubung ◦ Motorische Hemmungen ! Positive Symptome ! Positive Symptome ◦ Stimmenhören ◦ Lokalisierte Schmerzen ◦ „Gemachte” Emotionen ◦ „Gemachte” ◦ Wieder-Erleben des Traumas, Körperempfindungen affektive und kognitive ◦ Wieder-Erleben des Traumas, Komponenten körperliche Komponenten ◦ Erscheinen dissoziativer Anteile ◦ Erscheinen dissoziativer Anteile © Nijenhuis 2022 30
Dissociative Experiences Scale (DES; Bernstein & Putnam, 1986) • Erste Dissoziationsskala • Schließt Fragen nach Struktureller Dissoziation mit ein, genauso wie Fragen nach Wechseln im Bereich und im Grad des Bewusstseins • Risiko einer Überdiagnostizierung von dissoziativen Störungen © Nijenhuis 2022 31
DES • Cut-off: Werte > 25 / 30 • Dieser Cut-Off Wert liefert eine beträchtliche Anzahl an falsch Positiven. • Deutsche Modifikation (FDS – zusätzliche Items für Konversionssymptomatik) © Nijenhuis 2022 32
Psychoforme Dissoziation Beispiele von DIS-Q Items ! Es gibt Momente, in denen ich mich nicht erinnern kann, wo ich am Tag (oder an den Tagen) davor war. (Amnesie) ! Manchmal sagt man mir, dass ich mich so verhalte, als ob Freunde oder Familienmitglieder Fremde für mich wären. (Identitätsfragmentierung) ! Es geschieht, dass ich in den Spiegel schaue, ohne mich zu erkennen. (Depersonalisation) ! Es kann passieren, dass ich das Gefühl habe, dass andere Menschen, andere Dinge und die Welt um mich herum nicht real sind. (Derealisation) © Nijenhuis 2022 33
Psychoforme (kognitiv-emotionale) Dissoziation: DIS-Q Werte Mentale Zwang St. Schizo. Ess St. PTBS BPSt. Part.DIS DIS © Nijenhuis 2022 Vanderlinden et al., 1993 34 Gesundh.
DIS-Q Amnesie amnesia © Nijenhuis 2022 35
! Sensitivität: Das Vermögen, Fälle zu finden. ◦ Risiko: falsch Positive ! Spezifizität: Das Vermögen, nur Fälle zu finden. ◦ Risiko: falsch Negative © Nijenhuis 2022 36
FDS: Rodewald, Gast, & Emrich, 2006 • “… innerhalb der genannten Wertebereiche konnte zwar eine sehr hohe Spezifität der Skalen erreicht werden (spez = 0,91±0,99), aber dass die Sensitivität jedoch erheblich niedriger liegt. • Bei einem FDS−Wert von 25 Punkten liegt die Sensitivität der Skala z.B. nur noch bei 0,77, das heißt, dass 23% der hoch dissoziativen Patient*innen der untersuchten Stichprobe ‘durch das Raster falle’ und keiner weiterführenden Dissoziationsdiagnostik zugeführt würden.” © Nijenhuis 2022 37
Somatoforme (sensorisch- motorische) Dissoziation; Einige SDQ-20 Items • Manchmal... • ist mein Körper oder ein Teil meines Körpers Schmerzen gegenüber unempfindlich. (Analgesie) • fühlt es sich so an als ob mein Körper oder ein Teil meines Körpers verschwunden wäre. (visuelle/kinästhetische Anästhesie) • kann ich nicht (oder nur mit großer Anstrengung) sprechen, oder überhaupt nur flüstern. (Motorische Hemmung) • ist das Urinieren schmerzhaft. © Nijenhuis 2022 38
Sensorische und Motorische dissoziative Symptome SDQ-20 70 60 50 SDQ-20 40 Cutoff Dissocia}ve 30 Disorders >28 20 © Nijenhuis 2022 39 Healthy controls PTSD Major DID
Severity somatoform dissociative symptoms Increases with the complexity of dissociation Bipolar mood disorder Adults Netherlands Students Netherlands Cut-off Adults Uganda Adults Turkey Anorexia Schizophrenia Bipolar mood disorder Major depression Pseudo-seizures Mixed somatoform disorders Mixed somatoform disorders Bulimia Primary Complex eating disorder Dissociation: 29-40 PTSD PTSD Possession disorders Conversion disorder Secondary DDNOS Dissociation: 40-50 DDNOS Tertiary DDNOS Dissociation: 50 and beyond DID DID DID 20 30 40 50 60 © Nijenhuis 2017 40
SDQ-20 • Ungefähr 2 von 3 Patient*innen mit einem SDQ-20 Wert >28 haben, statistisch betrachtet, eine dissoziative Störung. • Wenig falsch Negative © Nijenhuis 2022 41
Warnung • Selbstberichte sind keine diagnostischen Instrumente. © Nijenhuis 2022 42
Diskussion Fragebogen ! Habe ich diese Fragenbogen systematisch benutzt? ◦ FDS, SDQ-20, TEC, andere ◦ Wenn nicht, weshalb? ! Welche Erfahrungen habe ich gemacht? ◦ Wie haben die Patient*innen reagiert? ◦ Was ging gut? ◦ Wo liegen Stolpersteine? ! Wie habe ich die Ergebnisse interpretiert? ! Was habe ich dem Patienten/der Patientin gesagt / erklärt? ◦ Konnte der Patient/die Patientin die Erklärung verstehen / akzeptieren? © Nijenhuis 2022 43
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