Dossier: Toleranz Duldung oder Akzeptanz Traumstadt Klagenfurt: Unterwegs mit Aron Stiehl - NU

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Dossier: Toleranz Duldung oder Akzeptanz Traumstadt Klagenfurt: Unterwegs mit Aron Stiehl - NU
Jüdisches Magazin für Politik und Kultur
NR. 85 · (3/2021) Tischrei 5782 · € 6,50 · www.nunu.at

Dossier: Toleranz
Duldung oder Akzeptanz

Traumstadt Klagenfurt:
Unterwegs mit Aron Stiehl
Dossier: Toleranz Duldung oder Akzeptanz Traumstadt Klagenfurt: Unterwegs mit Aron Stiehl - NU
Editorial

                    VON DANIELLE SPERA                                             VON ANDREA SCHURIAN
                    HERAUSGEBERIN                                                  CHEFREDAKTEURIN

Gebot für das heutige Leben                                   Toleranz und ihre Visionäre

   Unglaublich schnell scheint dieses Jahr vergangen zu           Seit 2018 entstehen im Wiener Ostarrichi-Park die Na-
sein. Vor uns liegen die hohen jüdischen Feiertage, hinter    mensmauern, in die etwa 65.000 Namen von den Nazis er-
uns ein Wechselbad der Gefühle, zwischen Aufatmen über        mordeter österreichischer Jüdinnen und Juden eingraviert
die Erfolge im Kampf gegen die Pandemie und Besorgnis         werden. Am 25. März dieses Jahres wurde die erste Granit-
über deren Wiederaufflammen. Als ich im vergangenen           platte feierlich versetzt. Bekanntlich kämpfte der 1930 in
Jahr die Rosch-Haschana-Abende, bedingt durch meine           Wien geborene, kanadisch-österreichische Bildhauer Kurt
Covid-Infektion und die Sorge um meinen Mann, der sich        Yakov Tutter fast zwanzig Jahre für dieses Monument der
auf einer Covid-Station in Spitalsbehandlung befand, allein   Erinnerung in seiner Heimatstadt und gründete hier im
zu Hause verbringen musste, waren dies von besonderer         Jahr 2000 den Verein „Gedenkstätte Namensmauern“.
Reflexion gekennzeichnete Momente.                                Zwanzig Jahre: reichlich Zeit für ausführliche Diskussio-
   Die mit dem jüdischen Neujahresfest beginnenden Tage       nen, möchte man meinen. Etliche Zeithistoriker meinen,
der Reue, der Umkehr und der Ehrfurcht geben uns die          dass nicht. Auf orf.at bekrittelten sie unter dem Titel „Stein
Chance, uns selbst und unsere Taten zu prüfen, das vergan-    des Anstoßes“ das Projekt unter anderem als „veraltet“ und
gene Jahr zu reflektieren und uns auf Neues vorzubereiten.    „vertane Chance“. Die Wissenschaftlerinnen und Wissen-
   Die Bilanz für uns in der NU-Redaktion fällt äußerst       schaftler tun das allerdings nur hinter vorgehaltener Hand:
positiv aus. Mit unserem vor drei Jahren neu aufgestellten    „Aufgrund ihrer Positionen in renommierten heimischen
Team dürfen wir uns über Ihr enorm bejahendes Feedback.       Institutionen wollten alle der von orf.at befragten Histori-
besonders freuen und sind dankbar dafür. Diesmal widmen       kerinnen und Historiker anonym blieben.“ So peinlich und
wir unser Heft auch aus Anlass der bevorstehenden Ver-        erschreckend feige also geht wissenschaftlicher Diskurs
söhnungszeit dem Thema der Toleranz, einem gerade im          2021 in renommierten Institutionen? Man mag sich nicht
Judentum zentralen Begriff. Im Bewusstsein jahrhunderte-      vorstellen, wie duckmäuserisch diese zeitgeschichtlichen
langer Verfolgung sollen Rücksicht, Respekt und Füreinan-     Maulhelden (m/w/*) in der Nazi-Zeit mitgelaufen wären, als
der-Einstehen die Grundprinzipien unseres Zusammenle-         (Regime-)Kritik im schlimmsten Fall mit dem Tod bestraft
bens sein.                                                    wurde, zumindest aber mit dem Verlust des Arbeitsplatzes,
   Wie wir miteinander umgehen sollen, ist in der Tora        gesellschaftliche Ächtung inklusive. Die Frage ist, warum
mehrmals beschrieben. Was Nichtjuden als „christliche         der ORF diesem anonymen Gemauschel so viel Raum gab?
Nächstenliebe“ bezeichnen, steht tatsächlich im 3. Buch           Auch Leon Zelman (1928–2007) brauchte Geduld, Über-
Mose, Wajikra: „An den Kindern deines Volkes sollst du        zeugungskraft – und die Unterstützung der Politik. Mit sei-
dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst      nem 1980 gegründeten „Jewish Welcome Service Center“
den Nächsten lieben wie dich selbst.“ Dieses Gebot wird an    (JWS) holte er von den Nazis vertriebene Jüdinnen und Ju-
anderer Stelle der Tora auf alle Menschen ausgeweitet, mit    den sowie deren Nachkommen ins heutige Wien. Seit 2013
denen wir zu tun haben. „Der Fremde, der sich bei euch auf-   wird in Erinnerung an den Visionär der Leon-Zelman-Preis
hält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst   für Dialog und Verständigung vergeben. Preisträger 2021
ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde in    ist, neben dem Republikanischen Club, das Projekt „Likrat“
Ägypten gewesen.“                                             (hebr. für „auf jemanden zugehen“). 14- bis 18-jährige „Likra-
   Dieses Gebot gilt es in unser Leben zu übertragen – in     tinos“ besuchen gleichaltrige, nichtjüdische Jugendliche
die Diversität und die verschiedensten Herausforderungen,     und erzählen ihnen von der Vielfalt jüdischen Lebens, weil
vor die uns die Moderne stellt.. Es kann und soll uns als     sie – ganz im Sinne Zelmans – an eine Welt der Toleranz
Ausgangspunkt dienen und vor allem darauf aufmerksam          und des gegenseitigen Respekts glauben.
machen, dass wir in all unserem Tun selbst die Wahl haben,        Es sind Menschen wie Tutter und Zelman, die den durch-
den richtigen Weg zu beschreiten. Die Leitlinien dafür sind   aus nicht unumstrittenen Begriff Toleranz, dem wir dies-
bereits in den Wurzeln unserer Tradition festgeschrieben.     mal das Dossier gewidmet haben, mit Leben füllen.
   In diesem Sinn wünsche ich Ihnen und Ihren Familien            Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der NU-Lektüre,
von Herzen Schana Tova, Gmar Chatima Tova und ein gutes       eine gute Einschreibung in das Buch des Lebens, vor allem
Neues Jahr 5782.                                              aber ein friedvolles, gesundes und süßes neues Jahr!

                                                                                                      2 | 2021    3
Inhalt

         Aktuell                                 Dossier: Toleranz                         Eine heilige Verpflichtung
                                                                                           Toleranz steht im Zentrum des
         Eine komplizierte Freundschaft          Des Kaisers neue Toleranz                 Judentums. Wieviel könnten wir als
         Deutschland war in der Ära von          Die Toleranzpatente von Joseph II.        Jüdinnen und Juden zu einer toleran-
         Angela Merkel der engste Freund         waren durchaus ambivalent. Zwar           ten Gesellschaft beitragen, wenn wir
         Israels. Doch die dunklen Geister der   wurde die Verpflichtung einer diskri-     unsere Werte der offenen Diskussion
         Vergangenheit sind nach wie vor         minierenden Kennzeichnung abge-           auch in den gesellschaftlichen Dis-
         präsent.                                schafft, die Bildung einer jüdischen      kurs einbrächten?
         Von Eric Frey                           Gemeinde aber weiterhin verboten.         Von Rabbiner Lior Bar-Ami
         Seite 6                                 Von Danielle Spera                        Seite 35
                                                 Seite 20
         „Heute ist jetzt und nicht damals“                                                Vorkämpfer für interreligiösen Dialog
         Hannah Lessing, Generalsekretä-         Triumph des Duldens                       Die Rabbiner Arthur und Marc
         rin des Nationalfonds für Opfer des     Ein radikalerer Ansatz von Toleranz       Schneier, Vater und Sohn, setzen sich
         Nationalsozialismus, zur neuen          würde sich prinzipiell auf jene Glau-     seit Jahrzehnten für den Dialog des
         Österreich-Ausstellung in Auschwitz     bensvorstellungen konzentrieren,          Judentums mit anderen Religionen
         und zur Schoah-Namensmauern-            die den Vernunftansprüchen nicht          ein. Ein Porträt der beiden Vorkämp-
         Gedenkstätte.                           unterliegen. Gedanken zur Dialektik       fer für gegenseitigen Respekt.
         Von Danielle Spera                      der Toleranz.                             Von Martin Engelberg
         Seite 8                                 Von Konrad Paul Liessmann                 Seite 36
                                                 Seite 21
         Eine Geschichte der
         Verdrängung und Ablehnung               Wie ich als Muslim                        Unterwegs mit
         Vor zwei Jahren bahnte sich ein         zum Antisemiten erzogen wurde
         Rechtsstreit zwischen dem Roth-         In Westeuropa ist oft von importier-      Aron Stiehl
         schild-Nachfahren Geoffrey Hoguet       tem Antisemitismus die Rede. Zu           Der gebürtige Wiesbadener werkt
         und der Stadt Wien an. Ein Überblick    Recht, wie ich als in Algerien soziali-   bereits seit einem Jahr als Intendant
         und fünf Fragen.                        sierter Muslim weiß.                      am Klagenfurter Stadttheater. Nun
         Von Nini Schand                         Von Abdel-Hakim Ourghi                    stellt er sich dem Kärtner Publikum
         Seite 12                                Seite 26                                  mit eigenem Programm vor und ser-
                                                                                           viert mit Wagners „Walküre“ gleich
                                                 Intoleranz ohne Laktose                   schwere Kost.
         Israel                                  Lange Zeit war ich der Meinung, ich       Von Andrea Schurian (Text) und
                                                 wäre der toleranteste Mensch, den die     Helge Bauer (Fotos)
         Nichts hält länger                      Menschheit je gesehen hat. Wenn alle      Seite 50
         als ein Provisorium                     so wären, gäbe es keine Kriege.
         Kommentar von Martin Engelberg          Von Ronni Sinai
         Seite 15                                Seite 29                                  Kultur

         Umdeutung des Messianismus              „Die Leute leben lieber in einer Lüge“    Sand und Subversion
         Im Jüdische Museum Berlin reitet ein    Das Judentum gilt als nicht besonders     Der aus Wien gebürtige Amos Vogel
         queerer Messias auf dem Esel ein: Die   offen gegenüber Minderheiten in-          erkannte das subversive Potenzial
         Ausstellung „Redemption Now“ der        nerhalb der eigenen Gemeinden. Wie        des Kinos als Mittel der Gesell-
         israelischen Künstlerin Yael Bartana    geht es queeren und homosexuellen         schaftskritik. Zum 100. Geburtstag
         stellt ein Signal dar.                  Menschen in Wien?                         des legendären Kritikers, Autors und
         Von Bert Rebhandl                       Von Mark E. Napadenski                    Kurators, den die Viennale und das
         Seite 16                                Seite 32                                  Filmmuseum mit einer Retrospektive
                                                                                           würdigen.
         Die Hoffnung lebt: Naftali Bennett      Nächstenliebe als                         Von Michael Pekler
         als Friedensstifter?                    Selbstverständlichkeit                    Seite 43
         Kommentar von Eric Frey                 Unseren Mitmenschen durch unser
         Seite 18                                Verhalten keinen Schaden zuzufügen,       Mahner und Mutmacher
                                                 bedeutet keine Gewissensentschei-         Marko Feingold war der älteste Über-
                                                 dung. Das Tora-Gebot der Nächsten-        lebende des Holocaust in Österreich.
                                                 liebe ist kein Ziel, sondern              Die Dokumentation „Ein jüdisches
                                                 Voraussetzung.                            Leben“ setzt ihm nun ein filmisches
                                                 Von Rabbiner Schlomo Hofmeister           Denkmal.
                                                 Seite 34                                  Von Gabriele Flossmann
                                                                                           Seite 46

                    4   3 | 2021
Rendezvous in Wien                       Zeitgeschichte                             Rabbinische Weisheiten
                     Das Jüdische Museum zeigt in einer
                     Ausstellung die außergewöhnlichen        Wahrheit ohne Rücksicht                    Vom goldenen Weg der Mitte
                     Bilder das Fotografen Ouriel             Der griechische Freiheitskampf von         Von Paul Chaim Eisenberg
                     Morgensztern, die auch Einblick in       1821 startete mit einem Ausrottungs-       Seite 57
                     die vielfältige jüdische Gemeinschaft    feldzug gegen die muslimische und
                     der Stadt gewähren.                      jüdische Zivilbevölkerung. Warum
                     Seite 48                                 gedenkt ihrer niemand?
                                                              Von Richard Schuberth
                     Was schwer wiegt                         Seite 53
                     Das Jüdische Filmfestival Wien prä-
                     sentiert im Oktober zum 30-jährigen
                     Jubiläum ein dichtes Programm mit        Das vorletzte Wort
                     historischen und aktuellen Arbeiten.
                     Eine Vorschau.                           Alle wegsperren, die Schmocks!
                     Von Michael Pekler                       Wo Toleranz anfängt und wo sie en-
                     Seite 50                                 det, darüber lässt sich trefflich strei-
                                                              ten. Aber wäre das dann intolerant?
                                                              Keine simplen Fragen, die sich Ronni
                     Religion                                 Sinai und 0CVJCP5RCUKȲ in aller
                                                              Freundschaft an den Kopf werfen.
                     Wenn ein Gelübde den Tod bringt          Seite 56
                     Am Tag vor Jom Kippur werden
                     gläubige Juden von unbedachten
                     Gelübden losgesprochen. Wie es dazu
                     gekommen ist und warum sogar die-
                     ser versöhnliche Ritus antisemitisch
                     missdeutet wurde.
                     Von Fritz Rubin-Bittmann
                     Seite 51
© CREATIVE COMMONS

                                                                                                                    Erscheinungsweise: 4 x jährlich
                                                                                                                    Nächste Ausgabe: November 2021.
                                                                                                                    Auflage: 4.700

                                                                                                                    TITELBILD:
                                                                                                                    © Helge Bauer

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                                                                                                                    Internet: www.nunu.at

                                                                                                                    Bankverbindung
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                                                                                                                    BIC: BKAUATWW

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                     und Judentum lesen Sie ab Seite 20.                                                            Ronni Sinai, ronni.sinai@nunu.at

                                                                                                                              3 | 2021         5
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