Ein Abitur für alle! Whitepaper zum aktuellen Stand der Debatte um ein bundesweites Zentralabitur - Studienkreis
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Ein Abitur für alle! Whitepaper zum aktuellen Stand der Debatte um ein bundesweites Zentralabitur
I N H A LT Ein Abitur für alle! 3 Zentralabitur in der Diskussion 4 Bildungsföderalismus in Deutschland 5 Die Hamburg-Baden-Württemberg-Untersuchung 6 Erkenntnisse des IQB-Bildungstrends 2018 7 Gescheitertes Projekt: Nationaler Bildungsrat 9 Stimmen aus dem Studienkreis 10 Quellen und Literaturverzeichnis 12 IMPRESSUM Herausgeber Stand Studienkreis GmbH 1. Auflage, März 2020 Universitätsstraße 104 44799 Bochum Bilder www.studienkreis.de Foto Titelseite: Cathy Yeulet©123RF.com Foto S. 3, 9, 10, 11: Studienkreis GmbH Gestaltung, Konzept, Text Foto S. 7: unsplash/Akshay Chauhan Mann beißt Hund – Grafik S. 8: Studienkreis GmbH Agentur für Kommunikation GmbH, Hamburg www.mann-beisst-hund.de www.studienkreis.de
E D I TO R I A L Ein Abitur für alle! Ein Abitur für alle! Diese politische Forderung kommt Und kann das Abitur in diesem Fall noch eine „Allge- immer dann auf, wenn die jährlichen Abiturnoten für meine Hochschulreife“ sein, die dazu befähigt, jeden Diskussionsstoff sorgen. In schöner Regelmäßigkeit Studiengang anzutreten oder braucht es dann nicht bricht Streit über die Vergleichbarkeit der Ansprüche zusätzliche Prüfungen? Ist der Preis eines einheitli- an die Abiturientinnen und Abiturienten und ihre tat- chen Abiturs zu hoch, wenn dadurch länderspezifische sächliche Leistungsfähigkeit aus. Ebenso regelmäßig Eigenheiten entfallen? Oder kommen in derartigen scheitern Versuche, Abitur und Lehrstoff der Oberstufe Debatten gesellschaftliche Aspekte wie zum Beispiel bundesweit zu vereinheitlichen. Bildungsgerechtigkeit und Vergleichbarkeit zu kurz? Das bundesweite Zentralabitur ist umstritten, weil es Das vorliegende Whitepaper trägt zusammen, welche den Bildungsföderalismus in Frage stellt. Politikerin- Argumente es aktuell für und gegen ein bundesein- nen und Politiker müssen sich entscheiden, welche heitliches Abitur gibt. Es zeigt die unterschiedlichen Wählerklientel sie mit ihrer Haltung pro oder kontra Positionen auf, benennt Vertreterinnen und Vertreter vergraulen wollen. Für uns ist das Thema Zentralabitur der einzelnen Strömungen, bietet Rechercheansätze, hingegen klar: Wir unterstützen Kinder und Jugend- weiterführende Literatur und erzählt Geschichten. Von liche in der gesamten Bundesrepublik dabei, das Eltern und ihren Kindern, die durch Umzug in Lern- jeweilige Lernpensum zu bewältigen und ihre Noten zu stress geraten. Von engagierten Müttern, die über Jahre verbessern. Wir kennen die Lehrpläne und Anforderun- hinweg in Elterngremien für mehr Bildungsgerechtig- gen und können den Vergleich ziehen. Deshalb stehen keit kämpfen. Von Nachhilfelehrern, die erleben, wie wir ganz klar auf Seiten der Kinder, Jugendlichen und die sich ändernden Ansprüche immer häufiger die ihrer Eltern, die immer wieder genötigt sind, die Nach- Leistungsschwächeren zurücklassen. teile des Bildungsföderalismus auszugleichen. Die sich zunehmend mit ihren Abschlüssen internationalen Wir gönnen der Diskussion um ein bundesweites Vergleichen stellen müssen. Die wissen, dass man Zentralabitur keine Pause. Wir nehmen die Perspektive für eine Ausbildung zur Bankkauffrau heute das Abitur der Betroffenen ein, also der Schülerinnen und Schüler. braucht. Und die immer wieder feststellen, dass Und aus dieser heraus lautet die logische Konsequenz Abiturnoten aus verschiedenen Bundesländern nur für eine gerechte Verteilung von Bildungschancen wenig über das vorhandene Wissen aussagen, in ganz Deutschland: ein einheitliches Abitur für alle obwohl die Note von großer Bedeutung für bestimmte Bundesländer. Zulassungen ist. Die Frage, was ein Abitur leisten kann und soll, bleibt höchst relevant. Sollen wirklich mehr als 50 Prozent eines Jahrgangs das Abitur erreichen oder vielleicht sogar noch mehr – wie in anderen Industrienationen? Max Kade, Pädagogischer Leiter des Studienkreises www.studienkreis.de
S TAT U S Q U O D E B AT T E Zentralabitur in der Diskussion In vielen europäischen Ländern ist ein Zentralabitur in Umfragen regelmäßig für ein bundesweit einheit unaufgeregter Standard, ebenso wie zum Beispiel liches Abitur aus. landesweit einheitliche Ferien. In Deutschland hin- gegen liegen bildungspolitische Entscheidungen zu Unter Bildungsforschern und in Verbänden sind die einem großen Teil in den Händen der Länder, auch Meinungen geteilt. Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende die Ausgestaltung der Abiturprüfungen fällt in ihre des Deutschen Philologenverbandes, einer Vertretung Kompetenz. Um trotzdem bundesweit vergleichbare der Gymnasiallehrkräfte, plädiert zunächst für eine für Standards zu gewährleisten und das Niveau der alle Länder verbindliche Angleichung der Abiturbedin- Reifeprüfung zu vereinheitlichen, hat die Kultusminis- gungen, etwa die Berechnung der Noten, die Korrek- terkonferenz in den vergangenen Jahren viele Schritte turverfahren und die Nutzung einheitlicher Hilfsmittel. unternommen. Dennoch beklagen Hochschulen und Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Bildungsgewerk- Bildungspolitik immer wieder, dass Abiturientinnen schaft GEW gibt zu bedenken, dass es nicht reiche, und Abiturienten aus verschiedenen Bundesländern Prüfungen zu vereinheitlichen, um echte Vergleichbar- nicht im gleichen Maß „studierfähig“ seien. Ein keit herzustellen – zu unterschiedlich seien die sozia- Zentralabitur könnte diese Zweifel ausräumen, lässt len und pädagogischen Bedingungen an den Schulen, sich aber nur mit politischem Willen und einer großen auch innerhalb eines Bundeslandes. gemeinsamen Anstrengung erreichen. Die föderale Gestaltungsfreiheit der Länder ist nach Bundesweites Zentralabitur: Meinung vieler Bildungsexperten Fluch und Segen das Für und Wider zugleich: Segen, weil sie in Bildungsbiografien mehr Platz für Vielfalt und unterschiedliche Lernge- Als Vorteile zentralisierter Abiturprüfungen werden schwindigkeit lasse. Fluch, weil der Gestaltungs unter anderem angesehen: spielraum zwischen den Bundesländern zu unter- −− mehr Fairness beim Hochschulzugang bei der schiedlichen Niveaus im Schulunterricht und dadurch Bewerbung um zulassungsbeschränkte Fächer zu teils eklatanten Leistungsunterschieden der durch gleichwertige Abiturniveaus, Schülerinnen und Schüler führe – zu, verkürzt ausge- −− mehr Klarheit und Berechenbarkeit für drückt, „guten“ und „schlechten“ Bundesländern. Schülerinnen und Schüler sowie für die Dies speziell mit Blick auf das Abitur und die Studier- Lehrkräfte in der Oberstufe, fähigkeit der Abiturienten. −− permanente Qualitätskontrolle und Qualitäts sicherung für die Abiturprüfungen, wenn alle Aufgaben einem zentralen Aufgabenpool Kann ein länderübergreifendes entstammen. Zentralabitur helfen? Als Hemmnisse/Nachteile gelten folgende Deshalb werden von verschiedenen Seiten wieder- Punkte: holt Forderungen nach für alle Länder verbindlichen −− Eine Angleichung für zentrale Abiturprüfungen zentralen Abiturprüfungen laut – mindestens in den müsste bereits mit Beginn der Oberstufe, wenn Kernfächern Deutsch, Fremdsprachen und Mathe- nicht früher, im Unterricht einsetzen, um mit matik sowie idealerweise auch in weiteren Fächern vergleichbaren Leistungsniveaus auch gleiche wie Naturwissenschaften. Dies fordern etwa Bundes Voraussetzungen für die Prüfungen zu ermögli- bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) oder der chen. Das birgt das Risiko einer Einengung der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Auch eine Gestaltungsfreiheit für Lehrkräfte innerhalb der überwältigende Mehrheit der Bevölkerung spricht sich vorgeschriebenen Lehrpläne. www.studienkreis.de
S TAT U S Q U O D E B AT T E −− Je mehr Fächer zentral geprüft werden, desto Zahl der für die Endnote einzubringenden Kurse. genauer müssen zentrale Prüfungstermine ab- Auch die derzeit uneinheitlichen Berechnungs- gestimmt werden, da alle Schulen in allen Bun- verfahren der Abiturnote müssten angeglichen desländern die Prüfungsklausuren am selben werden. Tag schreiben müssen – eine Aufgabe, die auch −− Es besteht das Risiko eines „teaching/learning to aufgrund der teils weit auseinander liegenden the test“ – eine scheuklappenartige, starke Aus- Sommerferientermine nicht einfach zu lösen ist. richtung auf den Prüfstoff seitens der Lehrkräfte −− Zu erwarten sind mehrjährige, schwierige Eini- und der Schülerinnen und Schüler. gungsprozesse, wenn das Ziel ein tatsächlich −− Es existieren schwer zu überwindende Befind- vergleichbares Gesamtabitur sein soll. Die Länder lichkeiten einzelner Bundesländer, die an „ihrem“ müssen verbindliche Standards festlegen, etwa Abiturprozedere und bestimmten Prüfungsinhalten für die Anzahl der Prüfungen, die Bearbeitungszeit festhalten wollen, weil sie es/diese für das beste für Klausuren und mündliche Prüfungen sowie die halten. BILDUNGSFÖDERALISMUS IN DEUTSCHLAND Vier- oder sechsjährige Grundschule? Abitur Das Problem lässt sich auch gut an dem nach zwölf oder dreizehn Jahren? Vier oder fünf Streitthema „G8/G9“-Abitur ablesen. Ab den Abiturprüfungsfächer? Kurssystem oder Kern- späten Nullerjahren wurde sukzessive in allen fachabitur in der Oberstufe? Mathematik als Bundesländern bis auf Rheinland-Pfalz die auf Pflichtprüfungsfach im schriftlichen Abitur acht Jahre verkürzte Gymnasialzeit (G8) ein- oder auch nicht? – Die Bundesländer können geführt – um Schülerinnen und Schüler früher dies wie auch die genaue Bezeichnung von an die Hochschulen und auf den Arbeitsmarkt Schultypen (Gesamtschulen, Gemeinschafts- zu bringen und so einen angeblichen interna- bzw. Stadtteilschulen, Erweiterte Sekundar- tionalen Wettbewerbsnachteil auszugleichen. schulen etc.) variieren. Die inhaltliche Klammer Massive Proteste von Eltern- und Lehrervertre- bilden die von den Kultusministern vereinbarten tungen sowie Kritik von Bildungsexperten führ- Bildungsstandards für die verschiedenen ten dazu, dass die Reform seit einigen Jahren Schulstufen. in etlichen Bundesländern wieder rückgängig gemacht wird. Das achtjährige Gymnasium – an Der Bildungsföderalismus lässt also strukturelle Gesamtschulen bestand und besteht weiterhin Unterschiede im Schulsystem zu, die nicht nur das G9-Abitur – führe zur Überforderung, Stress Auswirkungen auf die Vergleichbarkeit von Abi- und „Bulimie-Lernen“ bei den Kindern, lauteten turnoten haben, sondern auch die Mobilität von einige der Kritikpunkte. Familien mit schulpflichtigen Kindern, die von einem Bundesland in ein anderes ziehen wollen, Bayern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen einschränken. Denn im Extremfall ist das Leis- und Nordrhein-Westfalen sind mittlerweile zu tungsniveau-Gefälle so groß, dass die Kinder G9 zurückgekehrt, andere Bundesländer wie das Schuljahr wiederholen müssen. Hessen lassen den Schulen jeweils Wahlfreiheit. Die Folge: ein deutscher Flickenteppich. www.studienkreis.de
S TAT U S Q U O D E B AT T E Ist die Bildungshoheit der Länder gefährdet? DIE HAMBURG-BADEN-WÜRTTEM- BERG-UNTERSUCHUNG Der Begriff „Bundeszentralabitur“ ist für einige Lan- desregierungen ein Reizwort – ein Synonym für einen weitreichenden Bildungszentralismus und eine Aus- Das DIPF stützte sich 2009 auf zwei Studien, höhlung des Föderalismus. Zu den häufigsten Kritik- um zu analysieren, wie sich die Leistungs- punkten zählt die Befürchtung, dass eine Abituranglei- unterschiede auf die Vergleichbarkeit von chung zu einer Absenkung des Notenniveaus führte Abiturnoten in Hamburg und Baden-Württem- – diese Meinung vertritt zum Beispiel der Deutsche berg auswirken: die TOSCA-Studie („Trans- Philologenverband. Aus Erhebungen der Kultusminis- formation des Sekundarschulsystems und terkonferenz (KMK) lässt sich dieser Schluss jedoch akademische Karrieren“) des Max-Planck- nicht ziehen. Demnach stieg der Durchschnitt aller Instituts für Bildungsforschung und die Ham- deutschen Abiturnoten innerhalb von zehn Jahren le- burger Untersuchung zu „Lernausgangslagen diglich um eine Zehntelnote: von 2,52 (2007) auf 2,41 und Lernentwicklung“ (LAU). Die Studie (2017). Empirische Untersuchungen, die die leichte „Leistungs- und Bewertungsunterschiede Verbesserung erklären, liegen bisher nicht vor. Seitens zwischen Hamburger und Baden-Württem- der Bildungsexperten wird eine Gemengelage aus berger Abiturienten und die Rolle zentraler verschiedenen Faktoren vermutet. So könnte ein Aus- Abiturprüfungen (2010)“ zeigte, dass die löser sein, dass die meisten Bundesländer seit Mitte Hamburger bei gleicher Fachnote, also der der Nullerjahre peu á peu auf zentrale Abiturprüfungen Benotung in den vier Oberstufenhalbjahren umgestellt haben. Möglicherweise ging die Anglei- ohne Abiturprüfung, ein deutlich niedrigeres chung mit einer leichten Absenkung des Schwierig- Leistungsniveau hatten als die Baden-Würt- keitsgrades der Prüfungsaufgaben einher. Sichere temberger. Erkenntnisse gibt es dazu jedoch nicht. Was bedeutet das für die Studierfähigkeit der jungen Leute? Bildungsforscher Marco Leistungsunterschiede: Neumann und sein Team spielten einen Modellfall durch, in dem sich nur Hamburger Wie groß sind sie wirklich? und Baden-Württemberger um einen zulas- Dass Leistungsunterschiede zwischen den Ländern sungsbeschränkten Studienplatz bewerben: existieren, belegen Vergleichsstudien wie der Gäbe es für ein sehr begehrtes ingenieurwis- „Bildungstrend“ des Instituts zur Qualitätsentwicklung senschaftliches Studium einen vorgeschalte- im Bildungswesen (IQB). Sie beziehen sich jedoch ten Mathematiktest, der über die Zulassung auf die Sekundarstufe 1. entscheidet, gingen die Studienplätze trotz gleich guter Schulnoten in Mathematik zu Über Leistungsvergleiche in der Oberstufe gibt es etwa 85 Prozent an die Bewerber aus dem laut dem Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Süden, weil deren Prüfungsergebnisse deut- Bildungsinformation DIPF so gut wie keine empiri- lich besser ausfielen. schen Erhebungen. Aufschlussreiche Vergleichsdaten In Englisch gab es keine Leistungsunter (etwa zehn Jahre alt) liegen bislang lediglich über schiede – hier waren die Hamburger gleichauf Abiturientinnen und Abiturienten in Hamburg und in oder sogar besser als die Baden-Württem- Baden-Württemberg für die Fächer Mathematik und berger. Englisch vor. Quelle: Leistungs- und Bewertungsunterschiede zwischen Hamburger und Baden-Württemberger Abiturienten und die Rolle zentraler Abiturprüfungen www.studienkreis.de
S TAT U S Q U O D E B AT T E Leichter als die tatsächlichen Leistungsunterschiede sind die Berechnungsvorschriften zu vergleichen, mit denen in den Ländern die Abiturnote ermittelt wird. Aber auch hier gibt es große Unterschiede, die die Vergleichbarkeit erschweren. Günter Germann, ein in- zwischen pensionierter Gymnasiallehrer aus Halle, hat 2013 einen Überblick erstellt, der unter anderem zeigt: Die gleichen Fachnoten in Oberstufe und Abiturprü- fung führen je nach Land zu völlig unterschiedlichen Abiturnoten. Was beispielsweise in Bremen zu einem Abitur der Note 1,5 führt, reicht in Sachsen-Anhalt nicht einmal für die Zulassung zur Reifeprüfung. Quelle: Abitur-Berechnungen/Unterschiede zwischen den Bundesländern hinsichtlich der Abiturnoten. ERKENNTNISSE DES Status quo: ein bisschen IQB-BILDUNGSTRENDS 2018 zentral Die Abiturprüfung besteht aus einem schriftlichen und Der „Bildungstrend“ ist Teil der Ge- einem mündlichen Teil. Das Verfahren unterscheidet samtstrategie Bildungsmonitoring sich in Deutschland von Land zu Land. So halten viele der Kultusministerkonferenz. Sie Bundesländer am Kurssystem mit Leistungs- und widmet sich im ein- bis zweijähri- Grundkursen fest, während andere Länder zwingend gen Wechsel verschiedenen Schul- die Kernfächer Deutsch, Mathematik und eine Fremd- fächern und soll überwachen, ob sprache als Schwerpunktfächer und damit als Prü- die Bildungsstandards in allen Län- fungsfächer vorsehen (Kernfachabitur). dern erreicht werden. 2018 über- prüfte das IQB die Kompetenzen Die Prüfungsnoten fließen in die Durchschnittsnote von Neuntklässlern in Mathematik des Reifezeugnisses ein. Sie machen am Ende jedoch und den Naturwissenschaften. Eines nur etwa ein Drittel der Durchschnittsnote aus – mehr der Ergebnisse: Die Schülerinnen Gewicht haben mit zwei Dritteln die Fachnoten der und Schüler in Sachsen, Bayern Grund- und Leistungskurse aus den zurückliegenden und Thüringen schnitten besonders vier Halbjahren. Wer also die Idee von zentralen gut ab. Die Leistungen in den Abiturprüfungen ablehnt, sollte sich vergegenwärtigen, Stadtstaaten Bremen, Hamburg dass davon nur ein kleiner Teil der Gesamt-Abitur und Berlin sowie in Hessen und leistung betroffen ist. Schleswig-Holstein waren deutlich geringer. Je nach Fach und Kom- Mittlerweile haben alle Bundesländer bis auf Rhein- petenzbereich entsprachen die land-Pfalz ein landesinternes Zentralabitur. Das heißt: Unterschiede zwischen den besten Alle Schulen bedienen sich für die Klausurthemen und geringsten Leistungen 1,5 bis aus dem zentralen Aufgabenpool des Kultusministe- 2,5 Schuljahren. riums und schreiben ihre Prüfungen am selben Tag. Quelle: IQB-Bildungstrends Vorschläge für die Aufgaben kommen landesweit von ausgewählten Lehrerinnen und Lehrern. Aus diesen Vorschlägen wählt eine Kommission nach einem mehr- stufigen Überprüfungsverfahren die Aufgaben aus. www.studienkreis.de
S TAT U S Q U O D E B AT T E Auf dem Weg zum Zentral- −− Derzeit streben die Länder eine vergleichbare Ei- abitur: der Aufgabenpool der nigung für die naturwissenschaftlichen Prüfungs- fächer an. Mit der Koordination des Pools wurde Kultusministerkonferenz als wissenschaftliche Einrichtung der Länder das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswe- −− Als Schritt hin zu mehr Angleichung zwischen den sen (IQB) beauftragt. Für jedes Fach gibt es eine Ländern beschloss die Kultusministerkonferenz Arbeitsgruppe, in der die Aufgaben entwickelt 2012 Abitur-Bildungsstandards für die Fächer werden. Jedes Bundesland entsendet Fachvertre- Deutsch und Mathematik sowie die fortgeführten ter in diese Arbeitsgruppen. Fremdsprachen Englisch und Französisch. Sie lösten die Einheitlichen Prüfungsanforderungen in −− Bayern, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Meck- der Abiturprüfung der Länder (EPA) ab. Auf Basis lenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen dieser Standards wurde ein ländergemeinsamer und Schleswig-Holstein haben bereits seit 2014 Abituraufgabenpool entwickelt, aus dem sich alle gemeinsame Aufgaben in Deutsch, Mathematik Länder seit 2017 „bedienen“ können – es aber und Englisch entwickelt und gemeinsam einge- nicht müssen. Sie dürfen die Aufgaben auch ver- setzt. ändern oder die Bewertung anpassen. Wie entstehen die ländergemeinsamen Aufgabenpools für die Abiturprüfungen? Bundesweite Zusammenarbeit bei der Entwicklung der Aufgabenpools für die Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch. Stand März 2020. Vorschläge der Länder für Abituraufgaben Arbeitsgruppe aus 16 Vertreter*innen der Länder Auswahl der Auf- (Expert*innen Aufgaben- gaben durch die inklusive mind. pool * jeweiligen Landes- 1 Vertreter*in kommissionen der beruflichen Fachlicher Input Gymnasien) von Wissen- schaftler*innen * Aktuell werden im Falle mehrerer Prüfungs termine für ein Fach die Aufgaben auf die Termine verteilt. Ab dem Prüfungsjahr 2022 soll es weitest- gehend einheitliche Prüfungstermine geben. Quelle: Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen www.studienkreis.de
S TAT U S Q U O D E B AT T E Reifeprüfung für den Aufgabenpool: GESCHEITERTES PROJEKT: NATIONALER BILDUNGSRAT Note genügend Kritik gab es, als die zentralen Prüfungsaufgaben Wie empfindlich einige Bundesländer auf in Mathematik während der Abiturprüfungen 2019 vermeintliche Angriffe auf ihre Bildungs unter anderem in Hamburg als zu schwer eingestuft hoheit reagieren, zeigt das Beispiel des wurden. Als Folge wurden dort die Noten nach- Nationalen Bildungsrates. Das von der Bun- träglich nach oben gesetzt. Außerdem sollen künftig desregierung geplante Beratungsgremium alle Aufgaben vor den Prüfungen von Lehrkräften sollte laut Koalitionsvertrag von Union und probeweise durchgearbeitet werden, um solche SPD mehr Transparenz, Qualität und Ver- Pannen zu vermeiden. gleichbarkeit ins Bildungswesen bringen und einen neuen kooperativen Bildungsföderalis- Das Saarland und Bremen verfuhren ähnlich. Ande- mus von Bund und Ländern anstoßen. re Länder änderten die Bewertung nicht. Der Vorfall offenbart den grundsätzlichen Konflikt bei der Einfüh- Was in der Wissenschaft mit dem Wissen rung eines Zentralabiturs: Einerseits gewährleisten schaftsrat gut funktioniert, scheint im einheitliche Prüfungen eine hohe Vergleichbarkeit, Bereich der Schulbildung aber zu scheitern: andererseits müssten Schülerinnen und Schüler Baden-Württemberg und Bayern erklärten bundesweit auch die gleichen Lernvoraussetzungen im Herbst 2019 ihren Rückzug aus dem – etwa vergleichbare soziale Rahmenbedingungen – Projekt. Begründung: Sie befürchten eine vorfinden, damit alle die gleichen Chancen haben, Einmischung des Bundes in Schulangelegen- ein einheitliches Lernniveau zu erreichen. heiten durch die Hintertür des Bildungsrates. www.studienkreis.de
TESTIMONIALS Stimmen aus dem Studienkreis „Die Abiturnote entsteht nicht allein durch die Abschlussprüfun- gen. Erheblich wichtiger sind die Vornoten aus den vier Schul- halbjahren der Oberstufe. Deshalb reicht es nicht, die Abitur- aufgaben zentral zu erstellen. Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe müssen in allen Bundesländern das gleiche lernen. Ich kenne die Schulsysteme von Baden-Württemberg und Bayern aus der jeweiligen Binnenperspektive. Einmal als lang- jähriges Mitglied im Vorstand des Elternbeirates am Plochinger Gymnasium, einmal als Gebietsleiterin für den Studienkreis. In einem derart dicht besiedelten Land wie Deutschland ist das Carolin Faulstich (54), zersiedelte Abitur längst nicht mehr zeitgemäß. Und es ist nicht Studienkreis-Senior- neutral. Denn im Grunde sind die Abschlüsse der einzelnen Gebietsleiterin in Bayern Bundesländer nicht miteinander vergleichbar, sie werden aber verglichen, etwa bei der zentralen Vergabe der Studienplätze. Ich habe selbst verschiedene Schulsysteme im Ausland kennen- gelernt. Aus dieser Erfahrung heraus plädiere ich für eine länge- re gemeinsame Grundschulzeit wie in Berlin und Brandenburg und bundesweit einheitlichen Lernstoff in der Oberstufe.“ „Ein bundesweites Zentralabitur macht aus meiner Sicht nur Sinn, wenn es einen gemeinsamen Lehrplan für die Oberstufe gibt und trotzdem Raum für die Vermittlung von individuellem Wissen bleibt“, sagt Gerhard Leibl (63). Seit 25 Jahren ist er als Lehrkraft für Deutsch in der Oberstufe beim Studienkreis tätig, seit acht Jahren leitet er zudem die Niederlassung in Neuss-Mitte. Ein Lehrer müsse auch noch eigene Akzente in den zwei Jahren Oberstufe setzen können. „Ein Zentralabitur sollte neben dem Wissenskanon auch Fähigkeiten vermitteln, die die Schülerinnen und Schüler später im Studium benötigen“, betont Leibl und nennt beispielhaft selbststän- diges Arbeiten oder das Vermögen, Texte aus mehreren Quellen Gerhard Leibl (63), zusammenstellen zu können. Insgesamt erwartet auch Leibl, dass Nachhilfelehrer Deutsch, die Objektivität und Vergleichbarkeit der Abiturleistungen durch Leiter des Studienkreises bundeseinheitliche Regeln gestärkt werden. „Das Zentralabitur darf Neuss-Mitte aber nicht über den eklatanten Lehrermangel hinwegtäuschen oder das Leistungsniveau auf Mittelmaß absenken.“ www.studienkreis.de
TESTIMONIALS „Ich finde die Idee eines Zentralabiturs gut“, sagt Marina Braun. „Das jetzige System ist unfair für Schüler in bestimm- ten Bundesländern.“ Die 18-Jährige macht in diesem Jahr ihr Abitur in Nordrhein-Westfalen am Gymnasium Marienberg in Neuss. Bundesweit einheitlichen Lernstoff in der Oberstufe und ein Abitur, dessen Aufgaben zentral vorgegeben werden, hält sie für objektiver. „Zurzeit ist es schon sehr vom Lehrer abhängig, wie schwer die Aufgaben sind“, sagt sie. Auch das System der zentralen Vergabe von Studienplätzen und ein dezentrales Abitur passen aus ihrer Sicht nicht zusammen. „Mit meinem Notendurchschnitt von 2,0 habe ich kaum eine Marina Braun (18), Chance, an meine Wunschuniversität zu kommen“, sagt die Abiturientin aus Kleinenbroicherin. Ihr Berufsziel: Gymnasiallehrerin für Eng- Kleinenbroich lisch und Geschichte. Das bayrische Abitur gilt landläufig als das anspruchsvollste. Die Erwartungen an die Gymnasiasten sind hoch. Das spürt auch Helena Galuffo (16) momentan sehr. Die Entscheidung, ihren Lebensmittel- punkt vom in Baden-Württemberg lebenden Vater zur Mutter in Bayern zu verlegen, führte direkt in die Nachhilfe. 20 Kilometer, die den Unterschied zwischen einem Einser-Zeugnis und einem mit befrie- digendem Notenschnitt ausmachen. „Helena hat jetzt Lernstoff, von dem sie noch nie zuvor gehört hatte“, erläutert ihre Mutter Tatjana das Problem. Zwei Bundesländer – zwei Schulsysteme mit verschiedenen Lehrplänen. Hinzu kommt, dass Helena von einer Privatschule für Tatjana Galuffo (47), Kinder mit Asperger-Autismus auf ein reguläres Gymnasium gewech- Mutter von Helena (16), selt ist. Normalerweise fällt dem Mädchen die Schule leicht. Nun Konstein/Bayern zweifle sie manchmal an ihren Fähigkeiten – obwohl sie um die Unterschiedlichkeit der Lehrpläne und Systeme wisse. Helena hatte sich zunächst keine Gedanken über den Schulwechsel gemacht und sieht die Herausforderung für sich momentan sportlich. „Ich denke, dass man durch schwerere Abiturprüfungen beispiels weise besser auf ein Studium vorbereitet ist“, sagt sie. Ein Zentral abitur findet sie dennoch besser – aus Gründen der Gerechtigkeit. „Jeder hat das Recht auf gleichwertige Bildung“, findet die 16-Jährige. www.studienkreis.de
QUELLEN Quellen und Literaturverzeichnis Zur vertiefenden Recherche haben wir Ihnen Sie finden dieses Whitepaper als PDF mit klickbaren auf diesen Seiten Artikel, Studien, offizielle Web-Links jederzeit unter Dokumente und Anlaufstellen für Interviewanfragen zusammengestellt. www.studienkreis.de/whitepaper-zentralabitur Presseartikel zdf.de, 17.02.2020 Bildungsklick.de, 05.11.2019 KMK-Präsidentin Hubig fordert Behindert der Föderalismus die Qualität vergleichbares Abitur der Bildung? Süddeutsche Zeitung, 12.07.2019 Süddeutsche Zeitung, 12.07.2019 Eisenmann fordert Zentralabitur Schulabschluss: So unterschiedlich fällt „auf bayerischem Niveau“ das Abi 2019 aus Berliner Morgenpost, 19.07.2019 SWR.de, 17.09.2019 Harte Fronten: Das sind Gegner und Fans Faktencheck Noteninflation: Wird das Abi des Zentralabiturs wirklich immer leichter? Deutsches Schulportal, 24.07.2019 Süddeutsche Zeitung, 08.05.2019 Worum es bei der Debatte um das Abitur geht Mathe-Abitur: Aufreger mit vielen Unbekannten Süddeutsche Zeitung, 26.07.2019 Süddeutsche Zeitung, 24.07.2019 Mehrheit der Deutschen für Zentralabitur Abiturprüfung: Schwerer? Leichter? Vor allem nützlicher Bildungsklick.de, 07.01.2020 „Das Abitur ist so vergleichbar wie noch nie.“ Die Welt, 10.07.2019 „Es ist zu erwarten, dass das Niveau ZEIT-Online, 06.07.2019 weiter sinkt“ Karliczek spricht sich für Zentralabitur aus tagesschau.de, 16.09.2019 Weser-Kurier, 01.08.2016 Trotz Einser-Abitur nicht fit für die Uni Bremen begrüßt Zentralabitur Die Welt, 29.07.2017 ZEIT-Online, 27.11.2019 „Ich fühle mich noch nicht reif für ein Studium“ Über den Nationalen Bildungsrat Bildungsklick.de, 28.01.2020 Bildungsforscherin Petra Stanat bezweifelt Neustart des Bildungsföderalismus www.studienkreis.de
QUELLEN Gutachten, Studien Dokumente der Kultusminister- und Statistiken konferenz und des Bundes Institut zur Qualitätsentwicklung Kultusministerkonferenz: im Bildungswesen (IQB): Abiturergebnisse 2019 Gemeinsame Abituraufgabenpools der Länder Bildungsstandards Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags: Vereinbarungen zur gymnasialen Oberstufe Innerdeutscher Schulleistungsvergleich durch (aktualisiert 2018) PISA-E und den IQB-Bildungstrend (2019) Gymnasiale Oberstufe und Abitur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM): Bildungsmonitor 2019 Deutscher Bundestag: Nationaler Bildungsbericht – Bildung in Marko Neumann und Ulrich Trautwein, Deutschland 2018 und Stellungnahme der Leibniz-Institut für Bildungsforschung Bundesregierung und Bildungsinformation (DIPF): Leistungs- und Bewertungsunterschiede zwischen Hamburger und Baden-Württemberger Abiturienten und die Rolle zentraler Organisationen und Abiturprüfungen Forschungsinstitutionen Präsentation von Marko Neumann, Leibniz- für die Vermittlung von Institut für Bildungsforschung und Bildungs Gesprächspartnern information (DIPF): Schulleistungen von Abiturienten Kultusministerkonferenz (KMK) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.2010: Zusammenfassung der Studie Institut zur Qualitätssicherung im Bildungs- wesen (IQB) Günter Germann: Abitur-Berechnungen/Unterschiede zwischen Forschungsinstitut für Bildungs- und den Bundesländern hinsichtlich der Abiturnoten Sozialökonomie (FiBS) Aktionsrat Bildung: Leibniz-Institut für Bildungsforschung Gemeinsames Kernabitur. Zur Sicherung von und Bildungsinformation (DIPF) nationalen Bildungsstandards und fairem Hochschulzugang Deutscher Philologenverband Deutscher Lehrerverband Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft www.studienkreis.de
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