Ein transhumanistischer Leviathan? Die Borg als emotionslose Dystopie in Star Trek
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Arbeitstitel – Forum für Leipziger Promovierende // Gegründet 2009 Herausgegeben von Stephanie Garling, Enrico Thomas, Franziska Naether, Christian Fröhlich, Felix Frey Meine Verlag, Magdeburg Ein transhumanistischer Leviathan? Die Borg als emotionslose Dystopie in Star Trek Sebastian Stoppe Zitationsvorschlag: Sebastian Stoppe: Ein transhumanistischer Leviathan? Die Borg als emotionslose Dystopie in Star Trek. In: Arbeitstitel – Forum für Leipziger Promovierende Bd 3, Heft 2 (2011). S. 69–82. http://www.wissens-werk.de/index.php/arbeitstitel/article/viewFile/85/106 69
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 70 Abstract – deutsch – – englisch – Der Beitrag diskutiert die Notwendigkeit The paper discusses the necessity of emo- von Emotionen im futuristischen Gesell- tions in the futuristic concept of society schaftsbild von Star Trek anhand der Fö- in Star Trek and compares the Federation derationsgesellschaft und dem Borg-Kol- society with the Borg Collective. We show lektiv. Es wird herausgestellt, dass die Borg that the Borg driven by their will to achieve begründet durch ihren Willen zur Perfek- perfection submit to a sophisticated tech- tion sich vollkommen einer fortgeschrit- nology and negate the individuality of sing- tenen Technologie unterwerfen und die le Borg drones. In this society, emotions are Individualität von einzelnen Borgdrohnen irrelevant. Thus the Borg may be seen as a negieren. Emotionen spielen bei den Borg manifestation of transhumanism which keine Rolle. Die Borg kann man damit als shows certain parallels to Hobbes’ Levia- transhumanistische Staatsordnung inter- than. pretieren, die starke Parallelen zu Hobbes’ Leviathan aufweist.
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 71 Einleitung aristotelischer Tradition wird dort sowohl dem Einzelnen als auch der ganzen Ge- „Der Mensch hat zwei Triebfedern: aus meinschaft das Recht zugesprochen, nach seinem Vernunftursprung […] folgt er ihrer Glückseligkeit zu streben: pursuit of dem Gesetz; aus seinem Zeitursprung Happiness (vgl. Flam 2002: 254–255). als psychologisch erkennbarem Natur- In dem US-amerikanischen Serienfran- wesen folgt er seinen Neigungen, Lei- chise1 Star Trek wird jedoch eine Spezies2 denschaften, will er sein Glück in der porträtiert, die eine Gesellschaftsstruktur Welt, oder vielmehr, was er dafür hält.“ aufgebaut hat, welche ganz ohne Emotio- (Jaspers 1993: 56) nen auskommt und deren Individuen kei- ne Emotionen kennen: die Borg. In diesem Diese Bemerkung Karl Jaspers verweist auf Beitrag soll aufgezeigt werden, wie die Borg die politische Philosophie Aristoteles’, der ihre Gesellschaftsstruktur ohne Emotionen feststellte, dass der Mensch ein zoon po- realisieren und warum dies sie fundamen- litikon sei, ein politisches Wesen, und gar tal von anderen Gesellschaftsentwürfen im nicht anders könne, als in einer Gemein- Star Trek-Universum unterscheidet. schaft zu leben (vgl. Braun/Heine/Opolka 1996: 53–54). Jaspers legt zudem nahe, Das Gesellschaftsbild der Föderation dass Emotionen ein grundlegender Be- In Star Trek ist die Erde als geeinter Pla- standteil menschlichen Handelns und da- netenstaat Mitglied einer interstellaren mit auch menschlichen Zusammenlebens Organisation, der so genannten „Ver- sind. Der Mensch geht seinen Neigungen einten Föderation der Planeten“. Durch nach, hegt bestimmte Leidenschaften und technologische Fortschritte insbesonde- Vorlieben und ist ein fühlendes Wesen. re im Bereich der Raumfahrt konnte die Sympathie und Antipathie entscheiden Menschheit ihren Lebensraum auf das All über die Zusammenarbeit von Einzelnen, außerhalb des Planeten Erde und des Son- über das Funktionieren von Teams und letztlich auch über soziale und politische 1 Wir verwenden hier den Begriff „Franchise“ des- Entscheidungen. halb, um die Vielfalt in Medien deutlich zu ma- chen, in denen Star Trek präsent ist. Neben den als offiziell („canon“) anerkannten Fernsehserien „Ohne Emotionen wüssten wir gar und Kinofilmen existieren eine Vielzahl an Roma- nicht, dass und wie wir leben. Emotio- nen, Comics, Fanfiction und (Computer-)Spielen, nen, wie Wut, Scham, Traurigkeit und die im Star Trek-Universum stattfinden. Im Ein- zelnen unterscheiden wir die folgenden Fernseh- Glück, begleiten unseren Alltag und serien: The Original Series (TOS, 1966–1969) u. a. geben ihm eine Gestalt.“ (Flam 2002: mit den Charakteren Captain James T. Kirk und 165) Commander Spock, The Next Generation (TNG, 1987–1994) u. a. mit den Charakteren Capti- an Jean-Luc Picard und Lieutenant Comman- Das Entstehen von Herrschaft, das Stre- der Data, Deep Space Nine (DS9, 1993–1999), ben nach Eigentum, das Eintreten in einen Voyager (VOY, 1995–2001) und Enterprise (ENT, Kriegszustand – nur um einige Beispiele 2001–2005). von Politik zu nennen – sind verbunden 2 In Star Trek wird der Begriff „Spezies“ sowohl im ursprünglichen biologischen Sinn als auch in ei- mit emotionalen Zuständen des Indivi- nem kulturellen Kontext verstanden. Das Star duums. Das findet nicht zuletzt Ausdruck Trek-Universum besteht zum überwiegenden Teil aus humanoiden Lebensformen, die den Men- in der Präambel der Unabhängigkeitser- schen äußerlich zumindest ähnlich sind. Im kultu- klärung der Vereinigten Staaten. Ganz in rellen Kontext greift der Begriff den Bedeutungs- inhalt des US-amerikanischen Begriffs „race“ auf.
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 72 nensystems ausdehnen. Der Warpantrieb ist letztlich die Existenz dieser zukünftigen ermöglicht Reisen mit einem Vielfachen Gesellschaft zu verdanken, doch in TOS der Lichtgeschwindigkeit (vgl. Sternbach/ wird die Angst vor einer Verselbstständi- Okuda 1994: 65) in Raumschiffen, die au- gung der Technik (und einer damit einher- ßerordentlich komfortabel eingerichtet gehenden Unterwerfung der menschlichen sind. „Die Lebensbereiche des Raumschiffs Natur) regelmäßig thematisiert. „Whether sind für maximale Bequemlichkeit und Si- set against superior beings or superior tech- cherheit der Besatzung während einer Mis- nology, the value of the human factor is sion entworfen worden“ (Sternbach/Okuda constantly emphasised“ (Gregory 2000: 34; 1994: 15). Große soziale Probleme der Ge- Hervorhebung im Original). Insbesondere genwart, etwa das Streben nach Profit oder in TOS möchte man also auf die Mensch- Hungersnöte, sind in der utopischen Vision lichkeit, das menschliche Intuitionsvermö- von Star Trek überwunden. gen nicht verzichten. Zwar ist allen Star Trek-Serien und den Fil- „A lot has changed in the past 300 men gemeinsam, dass einzelne Charaktere years. People are no longer obsessed in die Gesellschaft der Föderation stark ein- with the accumulation of things. We’ve gebunden sind. Zum einen haben wir es bei eliminated hunger, want, the need for Star Trek mit einer starken, omnipräsenten possessions. We’ve grown out of our Sternenflotte zu tun, die im Prinzip der infancy.“ (Picard in TNG The Neutral militärische Arm der Föderation ist. Auch Zone) wenn die Enterprise oder die Voyager pri- Dies ist nicht zuletzt dem technologi- mär Forschungsschiffe sind und man Deep schen Fortschritt zu verdanken, etwa der Space Nine als entfernten galaktischen Erfindung von Nahrungsreplikatoren (vgl. Handelsplatz begreift, so werden diese Sternbach/Okuda 1994: 102 f.), die Lebens- Mikrogesellschaften in Star Trek strikt hi- mittel aus Energie replizieren können. Die erarchisch organisiert und geführt. Nun ist fortschrittliche Gesellschaft der Föderation eine strenge Hierarchie in utopischen Dar- basiert also zu einem großen Teil auf Tech- stellungen nichts Ungewöhnliches. Mo- nologie. Ohne diese wäre eine bemannte rus’ Utopia und Campanellas Sonnenstaat Raumfahrt, wie sie in Star Trek das über- kennen ebenfalls eine strenge hierarchi- greifende Thema ist, um unbekannte Wel- sche Ordnung bis hin zu einem Fürsten als ten zu entdecken, gar nicht möglich. Durch obersten Herrscher (vgl. Morus 2003: 65; den technologischen Fortschritt ist die Campanella 2007: 21). Dennoch wird die Menschheit also gewachsen, weil sie ihre Rolle des Individuums im Gesellschaftsbild Verfügungsmacht über die Natur signifi- der Föderation hervorgehoben. Gerade in kant steigern konnte (vgl. Münkler 1997: TOS ist Captain Kirk als einzelgängerischer 62). Abenteurertyp charakterisiert, der sein ei- genes Handeln und seine eigene moralische Dennoch ist das Bild von Technik in Star Auffassung in den Episoden häufig über die Trek ein durchaus kritisches, insbesondere der Föderation stellt. Die Oberste Direktive in der Frühzeit Star Treks. Es ist auffällig, der Föderation, die eine absolute Nichtein- dass Technik in The Original Series noch mischung in die Angelegenheiten anderer durchaus als potenzielle Gefahr und stän- Völker postuliert, wird von Kirk mehr als dige Bedrohung der Menschheit gesehen einmal bewusst verletzt, um seine persön- wird (vgl. Stoppe 2008: 100). Der Technik
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 73 lichen Interessen zu erreichen. In der TOS- Sein Freund und Kollege Spock als Vulka- Episode The Return of the Archons kom- nier4 versucht hingegen rein rational lo- men Kirk und seine Crew mit einem Volk gisch zu argumentieren. Vulkanier sind der in Kontakt, das von einem Supercomputer Ansicht, dass Gefühle und Emotionen bei namens Landru beherrscht wird. Kirk un- der objektiven Bewertung von Situationen terstützt eine Untergrundbewegung, die hinderlich sind und haben deshalb die Fä- gegen die Tyrannei des Computers an- higkeit entwickelt, ihre Gefühle zu unter- kämpft und bringt den Computer durch drücken. Im Gegensatz zu den Borg haben logisches Argumentieren dazu, sich selbst die Vulkanier jedoch Gefühle und verlieren zu zerstören. Kirk nimmt dabei wissentlich ihre geistige Kontrolle über diese regel- die Zerstörung einer Gesellschaft zuguns- mäßig. Im so genannten Pon Farr erleben ten der einzelnen Individuen in Kauf, um Vulkanier Aggressivität und Irrationalität. die Vorherrschaft von Technik gegenüber Interessant ist der Umstand, dass zur Be- der humanoiden Bevölkerung zu beenden. endigung dieses Zustandes Vulkanier sich Dabei zerstört er aber nicht nur die fremde paaren müssen. Offenbar kann also eine Gesellschaft, sondern stellt auch die Nor- starke emotionale Bindung (in diesem Fall men der eigenen Gesellschaftsordnung, Liebe) dazu beitragen, die emotionale Kon- nämlich der Föderation, in Frage. Kirk ar- trolle wiederherzustellen. In der TOS-Epi- gumentiert letztlich damit, dass Landru die sode Amok Time durchlebt Spock sein Pon Individuen für die Aufrechterhaltung der Farr. Um seinen Freund auf seinen Hei- Gesellschaft versklavt habe und ihnen die matplaneten zu bringen, damit dieser dort Möglichkeit, Kreativität oder Begeisterung sich paaren kann, missachtet Kirk abermals für ihre Tätigkeiten zu entwickeln und da- seine Befehle und fliegt mit der Enterpri- mit die Gesellschaft zu bereichern, versagt se nach Vulkan. Als es zu einem Kampf habe.3 Sich für Dinge begeistern zu können zwischen Kirk und Spock kommt (weil und kreativ zu sein, wird im Sinne Kirks für Spocks eigentliche Partnerin T’Pring sich das Funktionieren einer Gesellschaft für mit dem ebenfalls anwesenden Kirk paaren absolut notwendig erachtet – notfalls um will) und Spock Kirk offenbar tötet,5 will den Preis, dass gesellschaftliche Normen er zunächst den Dienst quittieren und sich verletzt werden. Emotionen spielen also dem Kriegsgericht stellen. Aber: „When he eine wesentliche Rolle in der moralischen sees that Kirk is indeed alive, Spock is so bzw. ethischen Bewertung von Handlun- ecstatic […] that he momentarily breaks gen. Kirk lässt sich nicht allein von Rechts- form, embracing the captain with utter joy normen und Vorschriften der Sternenflotte leiten und geht auch nicht ausschließlich 4 Die Vulkanier sind eine humanoide Spezies im vernünftig vor, sondern verlässt sich in kri- Star Trek-Universum, die sich äußerlich von den tischen Situationen auf seine Intuition, sein Menschen insbesondere durch ihre nach oben hin spitz zulaufenden Ohrmuscheln unterschei- Bauchgefühl. den. Die Vulkanier beherrschten die interstella- re Raumfahrt früher als die Menschen und wa- ren die erste außerirdische Spezies, mit denen die Menschen den so genannten Erstkontakt hatten (Star Trek: First Contact). Sie sind zudem Grün- 3 In der TOS-Episode The Apple zerstört Kirk aber- dungsmitglied der Vereinten Föderation der Pla- mals einen Computer, der von einem Volk als neten. Gott verehrt wurde, weil dieser Kirks Meinung 5 Tatsächlich wendet der Schiffsarzt McCoy einen nach das Volk in seiner Entwicklung ebenfalls un- Trick an, um Spock in diesen Glauben zu verset- terdrückte. zen.
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 74 [sic!] and relief“ (Barad 2001: 133). Freund- Wie stark Emotionen in diesen Beziehun- schaft spielt im Gesellschaftsbild von Star gen der Besatzungsmitglieder untereinan- Trek, das zeigt dieses Beispiel, eine nicht der wirken, zeigt sich am Androiden Data zu vernachlässigende Rolle. In allen Serien in TNG. Data, ein künstliches Wesen (wel- und Filmen wird gezeigt, dass sich die äu- ches die buchstäbliche Verkörperung weit ßere strenge Hierarchie der Sternenflotte fortgeschrittener Technologie darstellt), insoweit auflöst, wie im Innenverhältnis strebt in seinem Leben auf der Enterprise die Charaktere zueinander starke Freund- danach, so weit als möglich menschlich zu schaften pflegen (vgl. Barad 2001: 128– werden. Rein äußerlich ist er in Gestalt, 129). Die Föderationsgesellschaft mag also Auftreten und Benehmen einem Mensch auf technischem Fortschritt fußen, aber en detail nachgebildet.6 Data ist in der Se- getragen wird sie von der gegenseitigen In- rie nicht dazu in der Lage, Emotionen zu teraktion der Individuen. In Star Trek wird empfinden. Sie sind als zu komplexe Struk- also auf emotionale Bindung nicht verzich- tur nicht Teil seiner Programmierung,7 tet – im Gegenteil. Auch wenn (parallel zu was ihn im sozialen Gefüge auf dem Schiff den klassischen Utopien etwa von Morus) zuweilen isoliert. Wenn man das Gesell- dem Arbeitsleben ein extrem hoher Stel- schaftsbild in Star Trek als Spannungsfeld lenwert beigemessen wird und insbeson- begreifen will, in dem sich jeweils die Pole dere auf einem Raumschiff jeder Einzelne „Gesellschaft“ und „Individuum“ als auch eine spezifische Funktion erfüllt, sieht die „menschliche Natur“ und „Technik“ dicho- Besatzung genau hierin ihre Erfüllung (vgl. tomisch gegenüberstehen, dann ist der An- Stoppe 2011: 28–29). Dabei bringt jeder droide Data praktisch die Personifizierung seine Individualität bewusst ein, und zwar dieses Feldes. neben seiner Vernunft auch seine Emoti- Die Figur des Androiden reflektiert ein re- onen. Im Gegensatz zur ersten Serie wird vidiertes Verhältnis zu Technik in TNG im dabei in The Next Generation ein abwä- Vergleich zur Vorgängerserie. Technik wird gendes Verhältnis zwischen Vernunft und nun vermehrt als selbstverständlich und Emotionen angestrebt, bevor in einer Si- alltäglich erachtet (vgl. Stoppe 2008: 103).8 tuation gehandelt wird. Hatte in TOS Kirk mit Spock zwar sein Korrektiv, das aber zu- 6 Selbst in sexueller Hinsicht scheint das der Fall zu sein. In der TNG-Episode The Naked Now wird meist erst im Nachhinein eine Bewertung Data von Lieutenant Tasha Yar verführt und ant- von Kirks Handlungen vornahm, gibt es wortet ihr auf die Frage, ob er „voll funktionsfä- mit dem Schiffscounselor Deanna Troi in hig sei“ mit: „In every way, of course. I am pro- grammed in multiple techniques. A broad variety TNG ein Besatzungsmitglied, das explizit of pleasuring.“ eine emotionale Bewertung während kriti- 7 In der TNG-Episode Datalore entdecken Data scher Situationen vornehmen soll. Troi ist und die Crew der Enterprise einen Zwilling- Halb-Betazoidin, eine Spezies in Star Trek, sandroiden namens Lore. Dieser war von seinem Erbauer Noonian Soong auch mit der Fähigkeit die empathische Fähigkeiten besitzt und ausgestattet worden, Emotionen zu erleben. Da er Gefühle anderer Personen wahrnehmen aber nicht in der Lage war, seine Emotionen un- kann. Insbesondere gegenüber Captain Pi- ter Kontrolle zu behalten und gegenüber seinem Erbauer zunehmen aggressiv wurde, deaktivier- card nimmt sie damit eine starke beratende te Noonian Soong Lore wieder und erbaute Data Position ein: „In the context of this utopia, ohne die Fähigkeit, Emotionen zu erleben. Picard is generally shown as basing his ac- 8 Dieser Wandel zwischen den Serien drückt sich exemplarisch in der TNG-Pilotfolge Encounter tions on a mastery of both reason and emo- at Farpoint aus, wo der gealterter Schiffsarzt Mc- tion“ (Boyd 1996: 105). Coy sich weigert, auf die neue Enterprise gebe-
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 75 Dazu gehört auch die Akzeptanz eines wird also von seiner Gesellschaft die Frei- künstlichen Menschen. Gerade aber hier heit zugesprochen, als Individuum selbst befindet sich Data in einem Konflikt. Er ist über sich entscheiden zu dürfen. Dieser verglichen mit den anderen Charakteren in Punkt macht die Philosophie von Star technischer Hinsicht perfekt, doch aus sei- Treks Zukunftsgesellschaft überdeutlich. ner Sicht nicht in menschlicher Hinsicht.9 Die Tatsache allein, dass ein Wesen fühlen Hierzu fehlen ihm Emotionen, die ihn bes- könnte, reicht dafür aus, dass es als Indivi- ser in das soziale Leben auf dem Schiff in- duum, ja schlechthin als Lebewesen in der tegrieren würden. Gesellschaft akzeptiert wird. Das Gerichts- Ein Sternenflotten-Kybernetiker möchte in urteil lässt offen, ob Data eine Seele hat, ja der TNG-Episode The Measure of a Man sogar die Richterin weiß nicht, ob sie selbst Datas einzigartige Technik erforschen und eine hat. Diese Aussage spielt letztlich auf ihn zu diesem Zweck demontieren. Er be- das philosophische Problem an, ob unser gründet dies damit, dass Data als künst- Fühlen und Denken unabhängig von un- lich erschaffenes Wesen nicht das Recht serem materiellen Dasein existiert, sprich: auf Leben besitze und, da er keine Emoti- Ob unsere Seele – so es sie gibt – unab- onen habe, nicht als fühlendes Wesen zu hängig von unserem Körper ist. Die Frage betrachten sei. Implizit wird hier Data das danach beantwortet Star Trek hier nicht. Recht auf Streben nach Glückseligkeit ver- Stattdessen soll Data sich selbst weiter er- wehrt, also dass Data endlich menschlich forschen, gleich wie die Menschheit sich würde. Es kommt schließlich zu einer Ge- weiter erforschen soll: Hier wird der Leit- richtsverhandlung, in der von der Richterin satz von Star Trek „To boldly go where no letztlich ein geradezu salomonisches Urteil one has gone before…“ reflektiert, in dem gefällt wird: die Menschheit eben nicht nur unerforsch- te (Außen-)Welten entdecken soll, sondern „We’ve all been dancing around the jedes einzelne Individuum seine eigene basic issue: does Data have a soul? I persönliche Entdeckungsreise in seinem don’t know that he has. I don‘t know Inneren unternimmt. that I have! But I have got to give him In der TNG-Folge Descent erhält Data the freedom to explore that question schließlich einen Emotionschip, den der Er- himself. It is the ruling of this court bauer der Androiden, Noonian Soong, für that Lieutenant Commander Data has Data nachträglich konstruierte (TNG Brot- the freedom to choose.“ hers). Data wagt es jedoch erst im Kinofilm Star Trek: Generations den Chip einzubau- Das Gericht weicht der Frage, ob Data ein en und sieht sich plötzlich mit einer Flut fühlendes Wesen ist, mithin eine Seele hat, von emotionalen Sensationen konfrontiert, aus, gibt Data aber das (Menschen-)Recht, die zur Folge haben, dass seine Schaltkreise dieses selbst zu erforschen. Data, ob seiner überladen. Der Emotionschip bringt Data ganzen Künstlichkeit nicht menschlich, näher heran an sein Ziel, „[dies] macht ihn amt zu werden und stattdessen lieber ein Shuttle […] zwar menschlicher, aber im Grunde nimmt. McCoy stand bereits in TOS der damali- auch schwächer, da er nun selbst Leiden- gen Transportertechnologie skeptisch gegenüber. schaften, Ängsten und Furcht unterliegt. 9 Interessanterweise spricht ihm die Borg Queen Data, in Stellvertretung der Technik, wird in Star Trek: First Contact seine Perfektion aus Sicht der Borg ab: „You are an imperfect durch Technik humaner“ (Weber 2008: being created by an imperfect being.“
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 76 44). Er lernt schließlich mit seinen Emoti- mit einem Schild schützt. So beendet sie onen, „vernünftig“ umzugehen. Data gibt ihre Aufgabe, ehe sie und der tote Borg also seinen Vorzug gegenüber der mensch- wieder dematerialisieren. lichen Natur, nämlich frei von Emotionen Diese anfängliche Charakterisierung der und Beeinflussung zu sein, freiwillig auf. Borg-Spezies in Star Trek wird in den wei- Objektiv betrachtet mag Data einen evolu- teren TNG-Episoden, in denen die Borg tionären Schritt zurück gemacht zu haben. auftreten, im Kinofilm Star Trek: First Aus Datas Sicht hat allerdings eine Fort- Contact und schließlich in der Serie Star entwicklung seines Daseins stattgefunden, Trek: Voyager weiter ausgeführt. Die Borg die kohärent ist mit Picards Aussage in der – vom Ursprung her rein biologische Hu- TNG-Episode The Neutral Zone: „The chal- manoide – versehen die Mitglieder ihrer lenge […] is to improve yourself… to enrich Gesellschaft, die so genannten Borgdroh- yourself.“ In der Gesellschaft von Star Trek nen, mit technischen Implantaten. „Not a dient also das Streben nach Perfektion des he, not a she, not like anything you’ve ever Einzelnen zum Guten des Ganzen. Der seen before. An enhanced humanoid“ (Q Fortschritt der Gesamtgesellschaft ist also in TNG Q Who). Neben den unüberseh- letztlich ein Ausfluss der Optimierung ih- baren Implantaten und der charakteris- rer eigenen Kultur (vgl. Saage 2006: 185). tischen fahlweißen Haut tragen die Borg eine Art Uniform aus schwarzem Leder, Der erste Auftritt der Borg aus der typischerweise mehrere Schläuche Die Borg werden im Star Trek-Franchise herausragen. „Their costumes seem at once erst in TNG als fiktive Spezies eingeführt, to celebrate the distinctions between their in der Originalserie kommen sie nicht organic and cybernetic components and to vor. In der TNG-Episode Q Who versetzt indicate the contamination of each by the das allmächtige Wesen Q das Raumschiff other“ (Harrison 1996: 247). Damit stellen Enterprise in einen unbekannten Teil des die Borg keine rein humanoide Spezies dar, Weltalls, rund 7000 Lichtjahre von ihrer sondern sind so genannte Cyborgs. Ein Cy- vorherigen Position entfernt. Ein kubus- borg im engeren Sinn ist ein biologischer förmiges Schiff nähert sich, das sich weder Organismus, der mit konvergenztechnolo- identifizieren lässt noch eine Grußbot- gischen Mitteln (vgl. Saage 2006: passim) schaft sendet. Stattdessen beamt sich eine erweitert wird, um dem ursprünglichen humanoide Gestalt auf das Maschinen- Körper entweder zusätzliche Fähigkeiten deck. Das erste, was der Zuschauer von ihr zu verleihen oder seine Widerstandskraft sieht, ist eine Art Roboterarm mit kleinen, zu erhöhen (vgl. Recht 2006: 101–102; sich bewegenden Werkzeugen. Diese so ge- Spreen 1997: 89).10 Die Borg reproduzieren nannte Borgdrohne ignoriert die Besatzung sich nicht auf natürlichem Wege, sondern vollkommen und beginnt ein Terminal im assimilieren Angehörige anderer Spezies, Maschinenraum zu analysieren. Um die um ihren Fortbestand zu sichern. Im Ki- Borgdrohne an ihrem unbefugten Zugriff nofilm Star Trek: First Contact wird der auf die Schiffssysteme zu hindern, wird sie Vorgang der Assimilierung dargestellt: mit einem Phaserschuss getötet. An ihrer Borgdrohnen injizieren ihren Opfern win- statt materialisiert sofort eine zweite Droh- zige Nanoroboter, die im Körper des Op- ne, die die Arbeit am Terminal konsequent 10 Von dem Begriff „Cyborg“ leitet sich letztlich fortsetzt. Ein erneuter Phaserschuss bleibt auch der Name der Spezies ab. Data als Androide ohne Wirkung, da sich die zweite Drohne ist nach dieser Definition übrigens kein Cyborg.
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 77 fers den Assimilationsprozess starten. In nizieren ebenfalls nicht untereinander einem zweiten Schritt werden den Assimi- in Form von Absprachen, arbeiten aber lierten künstliche Implantate eingesetzt.11 trotzdem zusammen, um ein gemeinsames „Borg costuming combines human bodies Ziel zu erreichen. Ähnlich wie bei einem with painfully visible apparatuses – added Ameisenstaat gibt es auch bei den Borg mechanical limbs, external electronic cir- eine Königin, die Borg Queen. Sie wurde cuitry, and independently moving parts – erstmal im Kinofilm Star Trek: First Con- showing the interdependence of machine tact eingeführt.14 Die Borg Queen ist „the and organism“ (Boyd 1996: 107). Die Assi- beginning… the end. The one who is many. milierung greift stark in den biologischen I am the Borg“ (Borg Queen in Star Trek: Organismus ein, scheint jedoch zumindest First Contact). Trotz ihrer individuellen teilweise reversibel.12 Mit der Vollendung Erscheinung kann man bei ihr nicht von der Assimilierung verliert die neue Droh- einem tatsächlichen Individuum sprechen. ne sämtliche Individualität und fügt sich in So gibt sie selbst an, bei der Schlacht um das Kollektiv der Borg vollständig ein. Über die Erde in TNG The Best of Both Worlds einen Neuraltransmitter, der jeder Drohne anwesend gewesen zu sein, obwohl das eingesetzt wird, sind die Borg untereinan- Borgschiff in dieser Episode am Ende zer- der stets verbunden: Eine Schwarmintel- stört wird. Auch in Star Trek: First Contact ligenz entsteht auf diese Weise. Alle Borg wird die Borg Queen getötet, taucht aber teilen dasselbe Wissen. Jede neue Informa- zu späterer Zeit in VOY Dark Frontier wie- tion, die eine einzelne Drohne erlangt, wird der auf. Es ist daher anzunehmen, dass die zeitgleich Bestandteil des Gesamtwissens Borg Queen keine tatsächliche Königin (im aller. Aus den Stimmen vieler wird ein Ver- Sinne etwa einer Ameisenkönigin) inner- stand, das so genannte „hive mind“. Dabei halb der Borggesellschaft darstellt, son- ist zu unterscheiden, dass es hier nicht um dern vielmehr eine Manifestation des „hive eine Kommunikation im eigentlichen Sin- mind“ in einem Individuum ist.15 ne geht. Die Borg kommunizieren nicht Genauso wie die Borg Queen unsterblich untereinander in einer Form, dass etwa erscheint, ist auch bei den Borgdrohnen Absprachen getroffen oder Diskussionen selbst der Tod irrelevant: Da eine Droh- geführt werden. ne jederzeit durch eine andere ersetzbar In gewisser Weise ähnelt dieses Konzept ist, spielt es keine Rolle, ob diese zu Tode einem Ameisenstaat.13 Ameisen kommu- kommt oder nicht. Diese Verhaltensweisen werden beim ersten Auftritt der Borg in Star 11 In VOY Dark Frontier wird der Assimilationspro- zess eines ganzen Volkes dargestellt. An Bord der Trek eindrucksvoll gezeigt. Entgegen dem Borgschiffe existieren regelrechte Assimilations- kammern, in denen den neu assimilierten Droh- insektenähnliches Wesen beschrieben. Diese Idee nen künstliche Prothesen eingesetzt werden. Wie wurde zugunsten des Cyborg-Erscheinungsbildes in der Episode gezeigt, amputieren die Borg hier- fallengelassen, die Organisation der Borg verweist für auch gezielt Extremitäten, um Armprothesen aber immer noch auf dieses Konzept. einsetzen zu können. 14 Allerdings wird sie in diesem Film nie als solche 12 So wird am Ende von TNG The Best of Both explizit angesprochen. Worlds Captain Picard erfolgreich re-assimiliert. 15 Die Einführung einer Borg Queen ist damit im Weiterhin wird in Star Trek: Voyager das Crew- Wesentlichen ein dramaturgischer Trick, da es mitglied Seven of Nine, eine von den Borg assi- nun einen einzelnen Antagonisten in der erzähl- milierte menschliche Frau, wieder re-assimiliert, ten Geschichte gibt anstatt eine Ansammlung na- obwohl einige Borgimplantate sich nicht entfer- menloser Borgdrohnen und ein abstraktes „hive nen lassen, ohne ihre Gesundheit zu gefährden. mind“. Nichtsdestotrotz wurde damit die Borgge- 13 In einer frühen Konzeptphase waren die Borg als sellschaft um ein weiteres Element bereichert.
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 78 common sense einer gegenseitigen Begrü- Die Borg als evolutionäre Entwicklung ßung zwischen zwei verschiedener Spezies der Menschheit entsenden die Borg schlicht eine wortlose Die Idee, Menschen in ihren Fähigkeiten Drohne, die sich sofort mit dem Compu- durch Technologie zu verbessern, ist in tersystem der Enterprise beschäftigt. Die der Utopieliteratur immer wieder disku- Kommunikation untereinander wird also tiert worden. Bereits Schwonke stellt die ersetzt durch das einseitige Beschaffen von „Frage nach der Zulänglichkeit des Men- Informationen aus dem Computersystem schen“ (Schwonke 1957: 54) und sieht in des Schiffs.16 Die Enterprise-Besatzung den Utopien der Nachkriegszeit die Ten- versucht auf dem üblichen Weg eine Kom- denz, nicht nur die Umwelt, sondern auch munikation herzustellen: „We mean you den Menschen selbst verändern zu wollen. no harm. Do you understand me?“ (Picard „Schließlich aber erweist sich eine Vervoll- in TNG Q Who). Doch Picards Ansprache kommnung der Welt als unmöglich, wenn lässt die Drohne scheinbar völlig unbeein- nicht auch der Mensch gewandelt wird“ druckt. Auch nachdem die erste Drohne (Schwonke 1957: 55). Damit bekommt die getötet wurde (immerhin eine klare Kont- in der Gesellschaft der Föderation streng radiktion zu Picards unmittelbar vorausge- beobachtete Trennung von Mensch und hender Aussage, dass die Menschheit keine Maschine eine neue Bedeutung. Technik Gefahr ist), scheint die zweite Drohne völ- wird, wie bereits erwähnt, zunehmend als lig unbeeindruckt zu bleiben. Sie reagiert selbstverständlich betrachtet. So besitzt nicht auf den Tod der anderen, zeigt kei- der Chefingenieur der Enterprise Geordi ne Trauer, aber auch keine Rachegefühle, LaForge eine Sehhilfe namens VISOR. Da- wie man sie nach einer derart provokanten mit kann er, obwohl blind geboren, sehen. Handlung gemeinhin erwarten würde. Der Der VISOR erfasst elektromagnetische Tod der einen Drohne wird nicht gerächt, Wellen im Lichtbereich und stimuliert di- aber auch nicht in einer anderen Art und rekt die Sehnerven von LaForge. Somit geht Weise irgendwie beachtet. Der Bedrohung, sein Sehvermögen sogar über das normale ebenfalls zu Tode zu kommen, entgeht die Sehen hinaus, beispielweise kann er damit zweite Drohne durch einen Schutzschild, auch Infrarotstrahlung erfassen (TNG pas- dies aber nicht, um ihr eigenes Leben zu sim). Captain Picard besitzt seit einem Un- schützen, sondern um die Aufgabe der ers- fall ein künstliches Herz (TNG Samaritan ten Drohne erfolgreich beenden zu kön- Snare).18 Im weiteren Sinne der Definition nen.17 Dieses Vorgehen ist von einer extre- sind damit beide auch Cyborgs. men Effektivität gekennzeichnet; gleichsam der Organisation eines Ameisenstaates. Die Menschheit könnte sich also durch die Anwendung von Technologie am Kör- per selbst stetig verbessern, nur ist dies in der Föderation per Gesetz untersagt. Eine 16 Es ist anzunehmen, dass die Borgdrohne in dieser Szene nicht nur die technischen Fähigkeiten des Verschränkung von Mensch und Techno- Schiffes analysiert, sondern höchstwahrschein- logie wird in Star Trek nur unter engen lich auch die Inhalte des Bordcomputers systema- tisch durchsucht, um sich auf Basis dieser Infor- mationen ein umfassendes Bild der menschlichen 18 Der VISOR erinnert in seiner Funktionsweise an Kultur machen zu können. die heutigen Cochlea-Implantate, mit denen Ge- 17 Insofern bleibt Picards Aussage, dass die Mensch- hörlose in die Lage versetzt werden, zu hören. heit keine Gefahr für die Borg („we mean you no Auch Sehimplantate und künstliche Herzen wer- harm“) darstellt, ironischerweise gültig. den bereits in der Gegenwart entwickelt.
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 79 Voraussetzungen akzeptiert.19 Damit wen- Natur wird als fehlerbehaftet und minder- det sich Star Trek explizit gegen Strömun- wertig betrachtet, gleichzeitig fehlt jedes gen des Transhumanismus, welcher „[…] Verständnis dafür, diese imperfekte Natur auf der Überzeugung [beruht], dass sich als akzeptabel anzusehen. Seven of Nine20 die Menschheit mit technowissenschaft- erklärt in der VOY-Episode Scorpion: lichen Mitteln radikal selbst verändern wird“ (Coenen 2009: 136). „Der Einsatz „You are erratic, conflicted, disorga- von Human-Enhancement-Technologien nized. Every decision is debated, every soll letztendlich zu einer Überlistung oder action questioned, every individual en- Überwindung des Todes und zur Entste- titled to their own small opinion. You hung von posthumanen, dem heutigen lack harmony; cohesion; greatness. It Menschen weit überlegenen Wesen führen“ will be your undoing.“ (Coenen 2009: 137). Offenbar kann nach Dies ist keine arrogante Aussage, vielmehr Ansicht des Transhumanismus eine voll- stört aus Sicht der Borg dieses menschli- kommene Utopie nur dann erreicht wer- che Verhalten schlicht die Ordnung des den, wenn nicht nur die Umwelt, sondern Kollektivs. Den Borg kommt es also nicht auch ihre Bewohner sich radikal ändern darauf an, dass der Einzelne sich selbst – und zwar nicht nur hinsichtlich ihres verwirklichen kann, selbst nach Perfektion Handelns, sondern auch hinsichtlich ihrer strebt. Bei den Borg geht es um das Stre- Fähigkeiten. „Die Defizite des Menschen ben nach Perfektion des Ganzen ohne die lösen sich, so das Credo, in dem Maße auf, Berücksichtigung des Einzelnen. Seven of wie die künstliche Intelligenz der Maschi- Nines Ansicht nach verstellen Emotionen nen dessen Denkvermögen konsumiert“ und Gefühle lediglich den Blick für das (Saage 2006: 186). Wesentliche. Sie führen zu unterschied- Genau dieser Verbesserungswillen ist An- lichen Meinungen, zu Diskussionen, zu trieb der Borg. Sie wollen sich mittels Tech- Disharmonie, ja mitunter zu irrationalen nologie kontinuierlich weiterentwickeln Handlungen. Doch „die kosmische Aufga- und nach absoluter Perfektion streben. be der posthumanen Zivilisation besteht „We wish to improve ourselves. We will add in der Sättigung des Universums mit In- your biological and technological distinc- telligenz […], der Unterwerfung des Alls tiveness to our own. Your culture will adapt unter die allein selig machende Herrschaft to service ours“ (die Borg in TNG The Best der Ratio, die in Gestalt dieser Zivilisation of Both Worlds). Als die Enterprise-Crew gottähnliche Macht erlangt“ (Coenen 2009: sich dem widersetzt, sind die Borg irritiert: 153). Hier liegt auch der fundamentale „Why do you resist? We only wish to raise Unterschied zwischen den Borg und den quality of life for all species.“ Aus Sicht der Vulkaniern, die ja ebenfalls rational den- Borg besteht die Erhöhung der Lebensqua- ken und handeln. Die Vulkanier verstehen lität darin, sich über die Individualität des sich selbst immer noch als Individuen, de- Einzelnen zu erheben. Die menschliche ren Gesellschaft zudem – wie das Pon Farr 19 Zum Beispiel steht Genmanipulation in der Fö- deration unter Strafe. Der Vater von Dr. Julian 20 Seven of Nine ist ein Charakter in Star Trek: Bashir in DS9 wird deshalb verurteilt, weil sich Voyager, der als menschliches Kind von den Borg herausstellt, dass Bashir als Kind genmanipu- assimiliert wurde und als Borgdrohne mit der Be- liert wurde und somit erweiterte mentale Fähig- satzung der Voyager in Kontakt kommt. Sie wur- keiten als normale Menschen besitzt (DS9 Doctor de erfolgreich re-assimiliert und bleibt danach an Bashir, I Presume). Bord des Schiffes.
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 80 zeigt – nicht völlig ohne Emotionen aus- schenbild, wobei der Mensch an sich nicht kommt. Die Borg haben sich jedoch durch schlecht ist, der Selbsterhaltungstrieb ihn die konsequente Anwendung von Technik aber zur Feindseligkeit gegen den anderen für eine vollständige Kollektivierung ihrer zwingt. „Das so beschriebene Leben wirkt Gesellschaft entschieden. Hier treten die armselig und angstvoll“ (Braun/Heine/ menschliche (bzw. humanoide, um den Be- Opolka 1996: 130). Indem die Borg also griff weiter zu fassen) Natur sowie das Indi- ganze Völker ihrer Doktrin unterwerfen viduum also völlig hinter ihren Gegenpart und sie assimilieren, überführen sie diese zurück. Die Gegensatzpaare, die wir weiter von dem Naturzustand, in dem die Indivi- oben in Bezug auf das vorherrschende Ge- duuen einander aufgrund ihrer Emotionen sellschaftsbild in Star Trek aufgezeigt ha- und daraus resultierenden Individualität ben, werden in dieser Form bei den Borg sich bekämpfen, in eine Staats-Ordnung. nicht diskutiert. Bei ihnen geht es lediglich „Assimilation turns us all into friends“ um das Verhältnis Technik zu Gesellschaft (Borg Queen in VOY Unimatrix Zero). Der oder Kollektiv. universelle Anspruch der Borg, neben sich keine anderen Völker zu dulden, erklärt Die Borg als Leviathan? sich dadurch, dass diese Ordnung nicht da- In der VOY-Episode Dark Frontier begrün- durch erreicht werden kann, „daß sich nur det die Borg Queen gegenüber Seven of einige wenige Menschen miteinander ver- Nine die Assimilation eines ganzen Volkes binden, weil bei einer geringen Anzahl die mit den Worten: „They left behind their tri- durch die wenigen Verbündeten erhaltene vial, selfish lives, and they’ve been reborn Verstärkung den Sieg ungewiß macht […]“ with a greater purpose. We’ve delivered (Hobbes 2010: 152). Der Sieg, also das Er- them from chaos into order.“ Diese Philoso- reichen größtmöglicher Perfektion, ist nach phie der Borg – ein Volk aus dem Chaos in Ansicht der Borg aber unabdingbar. Des- die Ordnung zu überführen – erinnert an halb kann eine Assimilation auch nur end- Hobbes’ Vertragstheorie des Leviathan.21 gültig und nicht auf Zeit geschehen,22 denn „Sooft daher zwei [Menschen, d. A.] ein und „so wird dennoch nachher, wenn sie keinen dasselbe wünschen, dessen sie aber beide gemeinsamen Feind mehr haben […], die nicht zugleich teilhaftig werden können, so Gesellschaft notwendig in sich gespalten wird einer des andern Feind […]“ (Hobbes werden und wegen der Verschiedenheit 2010: 113–114). Und weiter: „Mitbewer- ihrer Ansichten ein neuer Krieg unter ih- bung, Verteidigung und Ruhm sind die drei nen selbst entstehen“ (Hobbes 2010: 153). hauptsächlichsten Anlässe, daß die Men- Verschiedenheit oder Individualität ist also schen miteinander uneins werden“ (Hobbes unbedingt für den Fortbestand der Gesell- 2010: 115; Hervorhebung im Original). Im schaft zu vermeiden. Deshalb muss ein je- Naturzustand befindet sich die Menschheit der seine Macht übertragen. Hobbes sieht im „Krieg aller gegen alle“ (Hobbes 2010: die Lösung in einem Vertrag eines jeden 115). Damit steht Hobbes im Gegensatz mit einem jeden. „Auf diese Weise wer- zur aristotelischen Weltsicht, nach der der den alle einzelnen eine Person und heißen Mensch ein politisches Gemeinwesen sei. Staat oder Gemeinwesen“ (Hobbes 2010: Hobbes hat ein dezidiert negatives Men- 22 Diese Regel hat wie im Falle von Seven of Nine 21 Fricke sieht in dem System der Borg neben einem oder Picard Ausnahmen. Dennoch ist ein „Aus- „vereinfachten ‚Hobbes‘“ zusätzlich einen „verein- stieg“ aus dem Borgkollektiv per se nicht vorgese- fachten ‚Machiavelli‘“ (Fricke 2000: 122–123). hen.
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 81 155; Hervorhebung im Original). Respekti- den Dystopien des 20. Jahrhunderts. Star ve entsteht ein Kollektiv, das von sich sagt: Trek macht hier deutlich, dass es durchaus „Wir sind Borg.“23 In Star Trek wird dabei möglich ist, ein Gesellschaftssystem aufzu- die Natur der Borg Queen nie genau auf- bauen, das ohne Emotionen funktioniert, geklärt, doch ist anzunehmen, dass sie eine das sich in diesem Fall dann aber auch Art Repräsentation des Kollektivs darstellt. fundamental von der menschlichen Natur Soweit könnte man sie als Manifestation entfernt. des Leviathan interpretieren. Literaturverzeichnis Konklusion Barad, Judith A. (2001): The Ethics of Star Die Borg stellen im Star Trek-Universum Trek. Unter Mitarbeit von Ed Robertson. die Antithese zur Föderations-Gesellschaft New York, N.Y.: HarperCollins. dar. Die Föderation sieht in aristotelischer Tradition stehend die Menschen als zoon Boyd, Katrina G. (1996): Cyborgs in Uto- politikon, die über die Jahrhunderte durch pia. The Problem of Radical Difference in die sorgfältige Abwägung von Vernunft Star Trek: The Next Generation. In: Taylor und Emotion moralisch gewachsen sind Harrison/Sarah Projansky/Kent A. Ono et und ein funktionierendes System von Ge- al. (Hg.): Enterprise Zones. Critical Posi- setzen und Kodizes entwickelt haben, um tions on Star Trek. Boulder, Colo.: West- technologischen Fehlentwicklungen zu view Press, S. 95–113. begegnen. Dabei ist es keineswegs so, dass dieser Utopieentwurf frei von Fehlern ist. Braun, Eberhard/Heine, Felix/Opolka, Technologie wird durchaus missbraucht Uwe (1996): Politische Philosophie. Ein (wie etwa Genmanipulation), doch wird Lesebuch. 5. Aufl. Reinbek bei Hamburg: dies sanktioniert, um die Gesellschaft nicht Rowohlt. zu gefährden. Campanella, Tommaso (2007): Der Son- Die dystopische Beschreibung der Borg- nenstaat. Idee eines philosophischen Ge- Gesellschaft zeigt eine pessimistische meinwesens. Paderborn: Voltmedia. Sicht auf eine mögliche menschliche Ent- wicklung. Die Verbindung eines techno- Coenen, Christopher (2009): Transhuma- philen Transhumanismus mit der Vereini- nismus und Utopie. Ein Abgrenzungsver- gung möglichst aller Individuen zu einem such aus aktuellem Anlass. In: Rolf Stelte- buchstäblich unbesiegbaren Leviathan des meier/Sascha Dickel/Sandro Gaycken et al. Weltalls, wie die Borg ihn repräsentieren, (Hg.): Neue Utopien. Zum Wandel eines lässt die Mahnung erkennen, sich beim Genres. Heidelberg: Manutius, S. 135–168. technologischen Fortschritt nicht allein auf die Technologie, sondern auch auf die Flam, Helena (2002): Soziologie der Emoti- menschliche Natur zu besinnen. Dieser onen. Konstanz: UVK. Gegenentwurf hat seine Vorbilder klar in Fricke, Dietmar (2000): Raumschiff Voya- 23 In der TNG-Episode I, Hugh wird ein einzelner ger: Das Verhältnis zwischen Föderation Borg von der Crew der Enterprise gefangen ge- und Borg als interkultureller Diskurs? In: nommen und stellt sich selbst ebenfalls als „wir sind Borg“ vor; ein weiteres Indiz, dass sich der Frank Hörnlein/Herbert Heinecke (Hg.): Einzelne nicht nur als Teil der neuen Person vor- Zukunft im Film. Sozialwissenschaftliche stellt, sondern die neue Person ist.
Arbeitstitel // Jahrgang 3 (2011) 82 Studie zu „Star Trek“ und anderer Science- Schwonke, Martin (1957): Vom Staatsro- fiction. Magdeburg: Scriptum, S. 119–132. man zur Science Fiction. Eine Untersu- chung über Geschichte und Funktion der Gregory, Chris (2000): Star Trek. Parallel naturwissenschaftlich-technischen Utopie. narratives. New York, N.Y.: St. Martin’s Stuttgart: Enke Verlag. Press. Spreen, Dierk (1997): Was ver-spricht der Harrison, Taylor (1996): Weaving the Cy- Cyborg? In: Ästhetik & Kommunikation 26 borg Shroud. Mourning and Deferral in (96), S. 86–94. Star Trek: The Next Generation. In: Taylor Harrison/Sarah Projansky/Kent A. Ono et Sternbach, Rick/Okuda, Michael (1994): al. (Hg.): Enterprise Zones. Critical Posi- Die Technik der U.S.S. Enterprise. Königs- tions on Star Trek. Boulder, Colo.: West- winter: Heel. view Press, S. 245–257. Stoppe, Sebastian (2008): „Tee, Earl Grey, Hobbes, Thomas (2010): Leviathan. Stutt- heiß.“ Star Trek und die technisierte Gesell- gart: Reclam. schaft. In: Jan A. Fuhse (Hg.): Technik und Gesellschaft in der Science Fiction. Berlin: Jaspers, Karl (1993): Über Bedingungen Lit Verlag, S. 94–111. und Möglichkeiten eines neuen Humanis- mus. Drei Vorträge. Stuttgart: Reclam. Stoppe, Sebastian (2011): Ein perfekter Ort? Das utopische Element des Raum- Morus, Thomas (2003): Utopia. Stuttgart: schiffs in Star Trek. In: Judith Kretzschmar/ Reclam. Markus Schubert/Sebastian Stoppe (Hg.): Medienorte. Mise-en-scènes in alten und Münkler, Herfried (1997): Moral und Ma- neuen Medien. München: Meidenbauer, S. schine. Star Trek im Spannungsfeld von 19–35. Sozialutopie und technologischem Fort- schritt. In: Kai-Uwe Hellmann/Arne Klein Weber, Karsten (2008): Roboter und (Hg.): „Unendliche Weiten …“. Star Trek Künstliche Intelligenz in Science Fiction- zwischen Unterhaltung und Utopie. Frank- Filmen: Vom Werkzeug zum Akteur. In: Jan furt am Main: Fischer, S. 59–71. A. Fuhse (Hg.): Technik und Gesellschaft in der Science Fiction. Berlin: Lit Verlag, S. Recht, Marcus (2006): Homo Artificialis. 34–54. Androiden & Cyborganalyse mit dem Fo- kus auf Star Trek. Saarbrücken: VDM Ver- lag. Saage, Richard (2006): Konvergenztechno- logische Zukunftsvisionen und der klassi- sche Utopiediskurs. In: Alfred Nordmann/ Joachim Schummer/Astrid Schwarz (Hg.): Nanotechnologien im Kontext. Philosophi- sche, ethische und gesellschaftliche Pers- pektiven. Berlin: Akad. Verl.-Ges. Aka, S. 179–194.
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