Aktienrechtsfragen zum Verhältnis zwischen Kanton Bern und BKW AG
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KURZGUTACHTEN für Kanton Bern Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion (WEU) betreffend Aktienrechtsfragen zum Verhältnis zwischen Kanton Bern und BKW AG von PETER V. KUNZ Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, LL.M. Ordinarius für Wirtschaftsrecht Geschäftsführender Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht Universität Bern Bern, 2. Juni 2021 1
I. Inhaltsverzeichnis I. Inhaltsverzeichnis………………………………………………. 2 II. Vorbemerkungen..……………………………………………... 5 A. Einführung……..………………………………………………………. 5 B. Konkreter Auftrag.…………….……………………………………….. 5 III. Grundlagen des Aktienrechts…………………………………. 7 A. Interessenten…………………………………………………………… 7 1. BKW AG………………………………………………………….. 7 a) Übersicht……………………………………………………… 7 aa) PublikumsAG…………………………………………... 7 bb) Gemischtwirtschaftliche AG…………………………… 7 cc) Holding…………………...……………………………. 8 b) Organe………………………………………………………... 9 aa) Generalversammlung und Revisionsstelle…………….. 9 bb) Verwaltungsrat………………………………………... 10 2. Kanton Bern………………..….………………………………….. 11 a) (Mehrheits-)Aktionär………………………………………… 11 b) Rechtsstellung……..…………………………………………. 12 3. Zusätzliche Gesichtspunkte………………………………………. 13 a) Publikumsaktionäre.………………………………………….. 13 b) Politik, Berner Bevölkerung, Medien etc……………………. 13 B. Folgerungen............................................................................................. 14 1. Anwendbares Recht……………………………………………….. 14 a) Bundesrecht (und kantonales Recht)…………………………... 14 b) BKW AG als «staatliches Unternehmen»?.............................. 15 2. (Un-)Möglichkeiten des Kantons Bern…………..……………….. 16 2
IV. Aktienrechtliche Fragestellungen…….……..…………...…… 17 A. Faktische Organschaft des Kantons Bern?..…………………………... 17 1. Ausgangslage……………………………………………………... 17 2. Generelle Hinweise……………………………………………….. 17 a) Regulierungen……………………………………………….. 17 aa) Art. 754 Abs. 1 OR……………………………………. 17 bb) Art. 762 Abs. 4 OR……………………………………. 18 b) Differenzen…………………………………………………... 19 3. Ergebnisse………………………………………………………… 20 B. BKW AG als TBTF-Unternehmung?…..……………………………... 20 1. Ausgangslage……………………………………………………... 20 2. Generelle Hinweise……………………………………………….. 21 a) Volkswirtschaftliche Aspekte………………………………... 21 b) Aktuelle Rechtslage………………………………………….. 22 3. Ergebnisse………………………………………………………… 22 C. Informationsprivilegien für Kanton Bern?.............................................. 23 1. Ausgangslage……………………………………………………... 23 2. Generelle Hinweise……………………………………………….. 23 a) Regulierungen……………………………………………….. 23 b) VR als Forum………………………………………………… 24 aa) Interessenabwägung und Geheimhaltung……………... 24 bb) Staatlicher «Delegierter»………………………………. 25 c) GV als Forum………………………………………………… 26 aa) Interessenabwägung und Geheimhaltung……………… 26 bb) Staatlicher Aktionär……………………………………. 27 d) Besonderheiten bei PublikumsAG............................................ 27 3. Ergebnisse………………………………………………………… 28 D. Weitere ausgewählte Aussagen………………………………………... 29 1. Grenzen für staatliche «Controllinggespräche»…….…………...... 29 3
2. Analogien zum Konzernrecht…………………………………….. 30 a) Konzernverhältnis?................................................................... 30 b) Konzerninteressen v. Partikularinteressen…………………… 31 V. Schlussbemerkungen…………………………………………... 32 A. Fazit zur Situation für den Kanton Bern................................................. 32 B. Mögliche Risiken……………................................................................ 33 VI. Literaturverzeichnis….………………………………………... 34 4
II. Vorbemerkungen A. Einführung Der BKW-Konzern und die Beteiligung des Kantons Bern an dessen herrschender Gesellschaft, der BKW AG, erweisen sich seit langem als «Politikum». Intensiv diskutiert wird eine «Auf- spaltung» der Gruppe 1. Der Berner Regierungsrat verfasste einen Bericht 2, in dem eine solche Transaktion abgelehnt wurde 3; indes stellte er den Status quo – eine Mehrheitsbeteiligung ohne qualifiziertes Mehr – für den Grossen Rat des Kantons Bern zur Diskussion. Der Regierungsrat thematisierte eine Minderheitsbeteiligung mit Sperrminorität («Reduktion der Untergrenze auf 34 Prozent») an der BKW AG 4. In diesem Zusammenhang wurde ein Rechtsgutachten zu einigen aktienrechtlichen und kapitalmarktrechtlichen Fragen verfasst 5. Aufgrund von Fragen der Finanzkommission betreffend «Umwandlung der BKW in eine spe- zialgesetzliche AG» wurde ausserdem ein Kurzgutachten erstellt 6. Unabhängig davon gab die Geschäftsprüfungskommission des Kantons Bern bei Prof. MARKUS MÜLLER und bei Dr. UELI FRIEDERICH ein Rechtsgutachten in Auftrag. Die GPK publizierte das entsprechende Gutachten 7 mittels einer Medienmitteilung am 28. Mai 2021 8. B. Konkreter Auftrag Das G-MM/UF hat zahlreiche Ausführungen zum Aktienrecht (und z.T. zum Kapitalmarktrecht) gemacht, die weder im G-PVK noch im KG-SpAG behandelt wurden. Der Berner Regierungs- rat bzw. die Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion (WEU) baten vor diesem Hintergrund um eine aktienrechtliche Beurteilung der entsprechenden Teile des G-MM/UF 9. 1 Im Vordergrund steht die Frage nach einer ev. «Abspaltung» des Betriebsteils Dienstleistungen. 2 Bericht «Perspektiven der Beteiligung an der BKW AG» vom 10. März 2021 («Bericht RR re BKW»). 3 Vgl. Bericht RR re BKW: 16 f./33. 4 Hierzu der Bericht RR re BKW: 25 ff./33 sowie 31 f./33. 5 Gutachten «Rechtsfragen zu einer allfälligen Minderheitsbeteiligung an der BKW AG» vom 26. April 2021 («G-PVK»). 6 Kurzgutachten «Rechtsfragen zu einer Spezialgesetzlichen Aktiengesellschaft: BKW SpAG» vom 30. April 2021 («KG-SpAG»). 7 Gutachten «Umfang der Aufsicht und Oberaufsicht über andere Träger öffentlicher Aufgaben im Kan- ton Bern (Art. 78 KV, Art. 95 KV)» vom 3. Mai 2021 («G-MM/UF»). 8 Medienmitteilung der GPK vom 28. Mai 2021 «Mehrheitsbeteiligungen des Kantons an Unternehmen – Regierung trägt die politische Letztverantwortung» («Medienmitteilung GPK»). 9 Während sich der Unterzeichner jeweils spezifisch zur BKW AG (sowie zum BKW-Konzern) äussert, geht es beim G-MM/UF in erster Linie um generelle Ausführungen zu verschiedenen «öffentlichen Unternehmen» des Kantons Bern, die seitens der GPK allerdings momentan v.a. im Hinblick auf For- derungen zur BKW AG vorgelegt werden. 5
Aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit 10 hatte eine Beschränkung des Gegenstands der Beurtei- lung zu erfolgen. Im Vordergrund der folgenden Ausführungen stehen drei Themenkomplexe 11: erstens, die Haftung aus faktischer Organschaft 12; zweitens, eine allfällige Systemrelevanz13 der BKW AG; drittens, ev. aktienrechtliche Informationsprivilegien des Kantons Bern 14. Einleitend wird auf die betroffenen «Parteien» hingewiesen, auf die BKW AG 15 einerseits so- wie auf den Kanton Bern 16 andererseits, wobei weitere Interessenten nicht ausser Acht gelassen werden dürfen (z.B. die Publikumsaktionäre) 17. Übersichtsmässig soll aufgezeigt werden, was der Kanton Bern als Aktionär rechtlich kann (oder eben nicht kann) 18. Die WEU sicherte dem Rechtsgutachter vollständige Unabhängigkeit zu. Mit Vertretern des BKW-Konzerns gab es keinerlei Kontakte, und die WEU unternahm keine unzulässigen Be- einflussungsversuche. Die aktienrechtlichen Abklärungen waren ergebnisoffen. Die Ergebnisse geben die persönliche wissenschaftliche Überzeugung des Gutachters wieder. 10 Für die Erstellung des Gutachtens standen nur fünf Tage (inklusive Wochenende) zur Verfügung. 11 Ausserdem wird auf einige weitere aktienrechtliche Einzelaussagen des G-MM/UF jeweils kurz einge- gangen: Vgl. dazu hinten IV. D. 12 Vgl. dazu hinten IV. A. 13 Vgl. dazu hinten IV. B. 14 Vgl. dazu hinten IV. C. 15 Vgl. dazu hinten III. A. 1. 16 Vgl. dazu hinten III. A. 2. 17 Vgl. dazu hinten III. A. 3. a. 18 Vgl. dazu hinten III. B. 2. 6
III. Grundlagen des Aktienrechts A. Interessenten 1. BKW AG a) Übersicht aa) PublikumsAG Die BKW AG ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Bern, die über ein Aktienkapital von no- minal CHF 132 Mio. verfügt, eingeteilt in 52'800'000 Namenaktien zu je CHF 2,5.-- 19. Es han- delt sich um eine PublikumsAG, deren Aktien an der SIX Swiss Exchange kotiert sind 20. Als Folge dieser Kotierung gelangt – in Ergänzung zum Aktienrecht 21 – ebenfalls das Börsen- gesellschaftsrecht 22 zur Anwendung, notabene auf die BKW AG als PublikumsAG auf der einen Seite sowie auf die Publikumsaktionäre (z.B. auf den Kanton Bern) auf der anderen Seite. Der Börsenwert der BKW AG beträgt ca. CHF 5'237'760'000.-- 23. bb) Gemischtwirtschaftliche AG Für gemischtwirtschaftliche AG sieht das Aktienrecht vor 24: «Haben Körperschaften des öffent- lichen Rechts wie (…) Kanton (…) ein öffentliches Interesse an einer Aktiengesellschaft, so kann der Körperschaft in den Statuten der Gesellschaft das Recht eingeräumt werden, Vertreter in den Verwaltungsrat (…) abzuordnen» (Art. 762 Abs. 1 OR) 25. 19 Die Namenaktien sind vinkuliert, d.h. für die Eintragung eines Aktienerwerbers im Aktienbuch der BKW AG ist die Zustimmung der Gesellschaft notwendig. 20 Hinweise: G-PVK, 22 f. 21 Vgl. dazu hinten III. B. 1. a. 22 Vgl. dazu hinten III. B. 1. a. 23 Diese Zahl folgt aus der Multiplikation der Aktienzahl bei der BKW AG (52'800'000 Namenaktien) mit dem Tageskurs der BKW-Aktien vom 31. Mai 2021; zu Beginn des Jahres 2021 war der Wert ca. CHF 5,4 Mia. (Bericht RR re BKW: 29/33); der höchste bis anhin erreichte Börsenwert der BKW AG lag bei CHF 5'786'000'000.-- – der Wert für den Kanton Bern: fast CHF 3 Mia. 24 Re gemischtwirtschaftliche AG statt aller: STÄMPFLI, Aktiengesellschaft, passim; weitere Hinweise fin- den sich im G-PVK, 29 ff. 25 Generell: STÄMPFLI, Aktiengesellschaft, 104 ff.; MAGRO, Interessenvertretung, 15 ff.; KUNZ, Staatsbe- teiligungen, 131 f.; zu «öffentlichen Unternehmen» im Allgemeinen: LIENHARD, Leitplanken, 4 ff. 7
Bei solchen Unternehmungen können staatliche Abordnungs- und Abberufungsrechte vorgese- hen werden 26, unbesehen davon, ob es um eine private AG oder um eine PublikumsAG geht 27. M.E. ist die BKW AG als gemischtwirtschaftliche AG zu qualifizieren 28: Dies ergibt sich aus den Statuten der BKW AG, wobei ein statutarischer Hinweis auf «öffent- liche Interessen» (Art. 762 Abs. 1 OR) im Gesellschaftszweck fehlt 29. Einerseits ist bei der VR- Wahl durch die GV das regierungsrätliche Abordnungsrecht vorbehalten 30, und auf der anderen Seite bestehen Sonderregelungen zu delegierten VR-Mitgliedern 31. Bei der BKW AG handelt es sich hingegen um keine spezialgesetzliche AG (SpAG) 32. Es wäre zwar rechtlich möglich, eine «Umwandlung» der heutigen BKW AG in eine BKW SpAG vor- zunehmen, doch nur in einem aufwändigen (und rechtsunsicheren) Verfahren 33. cc) Holding Die BKW AG nimmt gruppenintern die Funktion als Obergesellschaft das BKW-Konzerns wahr 34. Sie hat einen ausschliesslichen Holdingzweck: «Die Gesellschaft bezweckt das Halten von Beteiligungen an in- und ausländischen Unternehmen aller Art, insbesondere an solchen der Energiewirtschaft, der Energieindustrie und verwandter Geschäftsbereiche» (Art. 2 Abs. 1 Statuten BKW AG) 35 – ein Hinweis auf «Gemeinwohl» o.Ä. fehlt hingegen 36. Die Funktion als Holding stellt den formellen Zweck dar. Bei der BKW AG gibt es auch keinen faktischen Zweck, der davon abweicht. Die ev. Motive der Aktionäre sind für den Zweck einer 26 Hinweise: KUNZ, Wirtschaftsrecht, § 2 N 307 ff. 27 Das «neue» Aktienrecht wird dies wie folgt regeln: «Das Recht von Körperschaften des öffentlichen Rechts, Vertreter in den Verwaltungsrat abzuordnen oder abzuberufen, gilt auch bei Gesellschaften, deren Aktien an einer Börse kotiert sind» (Art. 762 Abs. 5 revOR). 28 Vgl. G-PVK, 23 f.; zudem: STÄMPFLI, Aktiengesellschaft, 229 ff.; MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER/SETHE, Gesellschaftsrecht, § 1 N 53. 29 Es wird ein ausschliesslicher Holdingzweck vorgesehen: Vgl. dazu hinten III. A. 1. a. cc. 30 Art. 9 Abs. 2 Ziff. 2 Statuten BKW AG: «Es stehen [der GV] folgende unübertragbare Befugnisse zu: (…) die Wahl der Mitglieder des Verwaltungsrates, soweit sie nicht nach Art. 19 hiernach durch den Regierungsrat des Kantons Bern abgeordnet werden (…)». 31 Art. 19 Abs. 2 Statuten BKW AG: «Dem Kanton Bern steht im Sinne von Art. 762 OR das Recht zu, bis zu zwei Mitglieder durch den Regierungsrat abzuordnen (…)»; Art. 19 Abs. 4 Statuten BKW AG: «Die Amtsdauer der im Sinne von Art. 762 OR vom Kanton Bern abgeordneten Mitglieder wird durch den Regierungsrat bestimmt». 32 Generell: KUNZ, Staatsbeteiligungen, 133 f.; DERS., Wirtschaftsrecht, § 2 N 310 ff. 33 Vgl. KG-SpAG, passim. 34 Hinweise re BKW-Gruppe: G-PVK, 22. 35 Konzernrechtlich sind herrschende Gesellschaften frei, ob sie als Holding «ausgestaltet» werden oder nicht: KUNZ, Konzernrecht, N 176 ff. 36 Art. 2 Abs. 2 Statuten BKW AG sieht die Möglichkeit zur Gründung von Tochtergesellschaften sowie eine Konzernklausel betreffend Finanzierung vor: KUNZ, Konzernrecht, N 261 ff. 8
Gesellschaft aktienrechtlich bedeutungslos; der Kanton Bern könnte immerhin eine entspre- chende statutarische Zweckänderung der BKW AG beantragen 37. Mangels einer gegenteiligen Statutenbestimmung ist m.E. aktienrechtlich heute von einer Ge- winnstrebigkeit der BKW AG auszugehen 38. Obwohl die Ansicht eines Aktionärs prinzipiell irrelevant erscheint, entspricht dies nicht zuletzt einer früher geäusserten Einschätzung des Ber- ner Regierungsrats: «Die BKW AG steht ihren Aktionären gegenüber in einer unternehmeri- schen Verantwortung. Sie ist gesetzlich zur Gewinnstrebigkeit verpflichtet (…)»39. Dem BKW-Konzern bzw. der BKW AG wurden – notabene sogar aus Perspektive des Kantons Bern – bewusst «Unabhängigkeit» gewährt. Dies ist daran ersichtlich, dass – Beispiel 1 – keine Leistungsvereinbarung o.Ä. besteht 40, und dass – Beispiel 2 – delegierte VR-Mitglieder bei der BKW AG heutzutage keine Regierungsmitglieder (mehr) sein sollen 41. b) Organe aa) Generalversammlung und Revisionsstelle Die Generalversammlung einer AG beruht aktienrechtlich auf dem Mehrheitsprinzip gemäss Art. 703 OR 42, d.h. der Kanton Bern kann die meisten GV-Beschlüsse bei der BKW AG sozu- sagen autonom fassen. Dies trifft hingegen nicht zu auf die Beschlussfassungen, für die quali- fizierte Mehrheiten erforderlich sind (z.B. Art. 704 OR) 43: «Die aktienrechtlichen Einflussmöglichkeiten hängen in erster Linie davon ab, ob eine Mehr- heitsbeteiligung – und in welcher Höhe – oder eine Minderheitsbeteiligung – und in welcher 37 Aktienrechtlich wäre es möglich, im Zweck z.B. eine Gemeinwohlorientierung oder einen Verzicht auf Gewinnstrebigkeit vorzusehen, doch müssten einem solchen GV-Beschluss sämtliche Aktionäre der BKW AG zustimmen; Hinweise: G-PVK, 33; insofern unzutreffend MÜLLER, Unternehmen, 6 f., der davon ausgeht, der Staat könne den Unternehmenszweck «eigenständig» (a.a.O. 6) regeln. 38 Gewinnstrebigkeit bedeutet eine «Wertmaximierungspflicht», ohne dass zwangsläufig der Fokus auf kurzfristigen Erfolgen liegt: WATTER/PELLANDA, Kommentar, N 38 zu Art. 717 OR. 39 Antrag des Regierungsrats: Gesetz über die Beteiligung des Kantons an der BKW AG (BKW-Gesetz, BKWG) vom 28. Juni 2017, 4/15 (Hervorhebung hinzugefügt). 40 Aufsichtskonzept zur BKW AG, S. 3 Ziff. 4. 41 Aufsichtskonzept zur BKW AG, S. 3 Ziff. 5.; unbesehen dessen sollen diese «Delegierten» eine «Früh- warnfunktion» für den Kanton Bern wahrnehmen: a.a.O. 42 Es geht um «Kapitaldemokratie»: KUNZ, Gesellschaftsrecht, 80. 43 Für die entsprechenden Beschlüsse – Zweckänderungen, Verlegung des Sitzes der Gesellschaft etc. – braucht es im Wesentlichen jeweils Mehrheiten von «mindestens zwei Drittel der vertretenen Stim- men»: Art. 704 Abs. 1 a.A. OR; die Aufhebung der Gewinnstrebigkeit setzt sogar die «Zustimmung sämtlicher Aktionäre» voraus: Art. 706 Abs. 2 Ziff. 4 OR. 9
Höhe – vorliegt 44. M.E. dürfte die Situation des Kantons Bern betreffend BKW AG etwas über- schätzt und eine ev. Minderheit mit Sperrminorität etwas unterschätzt werden»45. Der Kanton Bern ist aktienrechtlich nicht «allmächtig» im Hinblick auf die BKW AG, und gegen allfällige rechtswidrige Beschlüsse sowie Verhaltensweisen der GV (oder des VR) stünden diverse Me- chanismen des aktienrechtlichen Minderheitenschutzes zur Verfügung 46. Die Einflussmöglichkeiten des Kantons Bern als Aktionär sind inexistent (oder zumindest er- heblich limitiert) im Hinblick auf die Revisionsstelle der BKW AG. Die Unabhängigkeit von Revisionsstellen im Rahmen von Art. 728 OR stellt einen zentralen Leitstern dar 47. bb) Verwaltungsrat Die Mitglieder des VR werden durch die GV mittels Mehrheitsbeschluss (Art. 698 Abs. 2 Ziff. 2 OR i.V.m. Art. 703 OR) gewählt, d.h. der Kanton Bern könnte theoretisch sämtliche Verwal- tungsräte der BKW AG autonom bestimmen. In jedem Fall steht bei der BKW AG als gemischt- wirtschaftliche AG 48 dem Kanton Bern ein u.a. staatliches Abordnungsrecht zu 49, wobei das delegierte VR-Mitglied keine Sonderrechte hat 50. M.E. untersteht der VR der BKW AG insbesondere keiner «Befehlsgewalt» des Kantons Bern, der aktienrechtlich als «regulärer» Aktionär agiert. Der VR hat denn auch in erster Linie die 44 Korrekt ist die Übersicht im Bericht RR re BKW: 30 ff./33. 45 G-PVK, 57 (Hervorhebungen im Original). 46 Vgl. KUNZ, Minderheitenschutz, passim. 47 Statt aller: KUNZ, Gesellschaftsrecht, 192; die Revisionsstelle der BKW AG dürfte m.E. beispielsweise keine bilateralen Gespräche o.Ä. mit dem Kanton als Publikumsaktionär führen (und ev. das «Revisi- onsgeheimnis» [KUNZ, Gesellschaftsrecht, 84] verletzen), sondern hat sämtlichen Aktionären anlässlich einer GV für Informationen zur Verfügung zu stehen: Art. 730b Abs. 2 OR: «Die Revisionsstelle wahrt das Geheimnis über ihre Feststellungen, soweit sie nicht von Gesetzes wegen zur Bekanntgabe ver- pflichtet ist. Sie wahrt bei der Berichterstattung, bei der Erstattung von Anzeigen und bei der Aus- kunftserteilung an die Generalversammlung die Geschäftsgeheimnisse der Gesellschaft»; massgebliche Rechtsgrundlage zu den zulässigen Kontakten zwischen Aktionären und Revisionsstellen in der GV ist Art. 697 Abs. 1 OR. 48 Vgl. dazu vorne III. A. 1. a. bb. 49 Ein Mitglied des VR der BKW AG – aktuell ANDREAS RICKENBACHER – ist der «Delegierte» des Kan- tons Bern auf Grundlage von Art. 762 Abs. 1 OR; diese rechtlichen Privilegien der «Staatsaktionäre» haben jedoch – als negative Kompensation (vgl. KUNZ, Staatsbeteiligungen, 132) – potentielle Haf- tungsfolgen für die entsprechenden Körperschaften: Art. 762 Abs. 4 OR. 50 Art. 762 Abs. 3 OR: «Die von einer Körperschaft des öffentlichen Rechts abgeordneten Mitglieder des Verwaltungsrates (…) haben die gleichen Rechte und Pflichten wie die von der Generalversammlung gewählten»; folglich gelangt auch im VR von gemischtwirtschaftlichen AG bzw. für entsprechende Beschlussfassungen das Mehrheitsprinzip zur Anwendung: Art 713 Abs. 1 OR. 10
Gesellschaftsinteressen im Allgemeinen und nicht spezifische Gesellschafterinteressen – ins- besondere nicht primär die Interessen des Mehrheitsaktionärs – zu wahren. Nichts anderes ergibt sich aus dem statutarischen Zweck der BKW AG 51. Eine etwas brachiale «Konfliktlösung» könnte aktienrechtlich durch Abberufungen im VR (Art. 705 OR) erfolgen. Eine andere Frage wäre, ob sich der Kanton Bern ein solches aggressives Vorgehen «erlauben» könnte 52. Art. 762 OR räumt zwar dem Kanton Bern gewisse Vorrechte ein, m.E. allerdings keinen Anspruch auf einen «willfährigen» VR der BKW AG Massgeblich für den VR der BKW AG sind die folgenden Verhaltensgrundsätze: «1Die Mit- glieder des Verwaltungsrates (…) müssen ihre Aufgaben mit aller Sorgfalt erfüllen und die Interessen der Gesellschaft in guten Treuen wahren. 2Sie haben die Aktionäre unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln» (Art. 717 OR) 53. Die Verletzung von Art. 717 OR kann den VR auf Basis von Art. 754 ff. OR verantwortlich machen 54. 2. Kanton Bern a) (Mehrheits-)Aktionär Der Kanton Bern ist aktuell Eigentümer von ca. 52% der Aktien der BKW AG und somit der Mehrheitsaktionär 55. Nichtsdestotrotz handelt es sich aktienrechtlich – vorbehältlich der Privi- legien von Art. 762 OR – um einen «regulären» Aktionär, auf den insofern v.a. die aktienrecht- lichen und die börsengesellschaftsrechtlichen «Spielregeln» 56 zur Anwendung gelangen, was dem Kanton Bern als Investor ohne weiteres bewusst war 57. Nebst den bundesrechtlichen Bestimmungen hat der Kanton Bern als Aktionär der BKW AG kantonale Vorgaben (konkret: das BKW-Gesetz) 58 zu beachten, notabene nur, aber immerhin, 51 Vgl. dazu vorne III. A. 1. a. cc. 52 Ein solches «Kampfszenario» erscheint m.E. indessen als unwahrscheinlich, nicht zuletzt aus Gründen der Reputation des Kantons Bern: Vgl. dazu hinten III. A. 3. 53 Die h.M. in der Schweiz geht davon aus, dass es auf Basis von Art. 680 OR keine Treuepflicht des Hauptaktionärs entweder gegenüber «seiner» AG oder gegenüber den Minderheitsaktionären gibt bzw. geben kann: BÖCKLI, Aktienrecht, § 13 N 659 ff. m.w.H. 54 Statt vieler: KUNZ, Gesellschaftsrecht, 79. 55 Eine solche Konstellation ist verbreitet: GUTZWILLER, Einflussmöglichkeiten, N 101 f. 56 Vgl. dazu hinten III. B. 1. a. 57 Antrag des Regierungsrats: Gesetz über die Beteiligung des Kantons an der BKW AG (BKW-Gesetz, BKWG) vom 28. Juni 2017, 4 f./15; dies wird deklarativ «anerkannt» mit Art. 3 Abs. 1 BKWG: «Dem Kanton kommen als Aktionär der BKW AG die Rechte und Pflichten nach Artikel 660 ff. OR zu»; re Aktienrecht und Börsengesellschaftsrecht: Art. 2 Abs. 1 BKWG. 58 Vgl. dazu hinten III. B. 1. b. 11
im Zusammenhang mit seinem «Aktionärsverhalten» 59. Der Grosse Rat entscheidet nicht über die Wahrnehmung der Aktionärsrechte: «Der Regierungsrat übt die Rechte aus, die dem Kanton als Aktionär zustehen» (Art. 4 Abs. 1 BKWG). Die BKW AG-Beteiligung muss heute min. 51% und max. 60% des Aktienkapitals (und der Stimmen) betragen (Art. 7 BKWG) 60. b) Rechtsstellung Dem Kanton Bern stehen als (Mehrheits-)Aktionär nur, aber immerhin, sämtliche Aktionärs- rechte zu 61, wie den übrigen Gesellschaftern; aufgrund der 52%-Beteiligung an der BKW AG62 einerseits und Art. 762 OR 63 andererseits besteht m.E. eine bloss beschränkte «Dominanz»64. Im Übrigen kann der Kanton Bern keine Sonderrechte beanspruchen, weder als Mehrheitsakti- onär noch als staatlicher Aktionär bei einer gemischtwirtschaftlichen AG. Kann der Kanton Bern allenfalls als Aktionär der BKW AG finanziell haftbar werden? Zahl- reiche Gesellschaftsformen sehen eine Gesellschafterhaftung vor, entweder von Gesetzes we- gen 65 oder auf statutarischer Grundlage 66. Gesellschafter von AG haben zwar de lege lata einige Aktionärspflichten (nebst der Liberierungspflicht gemäss Art. 680 OR 67) 68, doch es besteht keine Haftung der Aktionäre, weder ex lege noch durch Statuten 69. 59 Es geht m.a.W. um die «Bern Perspektive» und nicht um die «BKW Perspektive». 60 Es war ursprünglich ein Ziel des Kantons Bern, mindestens eine «Sperrminorität» an der BKW AG zu behalten, wobei keine Grenzwerte erwähnt wurden: Eigentümerstrategie zur BKW AG vom 29. August 2015, 5 f./8; mit dem Antrag des Regierungsrats: Gesetz über die Beteiligung des Kantons an der BKW AG (BKW-Gesetz, BKWG) vom 28. Juni 2017, 14/15 wurde damals festgehalten, dass eine «Zweidrit- telsmehrheit (…) nicht nötig» sei. 61 Auswahl: Teilnahme- und Stimmrechte an der GV, Informationsrechte (sc. Auskunftsrechte und Ein- sichtsrechte), diverse Minderheitenrechte (z.B. Sonderprüfung und GV-Einberufungsrecht), zahlreiche Klagerechte (Beispiele: Anfechtung, Verantwortlichkeit, Auflösung der AG) etc. 62 Vgl. dazu vorne III. A. 2. a. 63 Vgl. dazu vorne III. A. 1. a. bb. 64 Die aktienrechtlichen Einflussmöglichkeiten des Kantons Bern als Aktionär der BKW AG werden im G-PVK, 56 ff. aufgezeigt. 65 Einfache Gesellschaft: Art. 544 Abs. 3 OR; Kollektivgesellschaft: Art. 568 Abs. 3 OR; Kommanditge- sellschaft: Art. 604 OR. 66 Genossenschaft: Art. 869 Abs. 1 OR und Art. 870 Abs. 1 OR. 67 Art. 680 Abs. 1 OR: «Der Aktionär kann auch durch die Statuten nicht verpflichtet werden, mehr zu leisten als den für den Bezug einer Aktie bei ihrer Ausgabe festgesetzten Betrag»; statutarische Aktio- närspflichten gelten nach h.M. als nichtig: Art. 706b Ziff. 3 OR; differenzierend re Treuepflichten: KUNZ, Minderheitenschutz, § 8 N 31 ff. 68 Bei PublikumsAG wie der BKW AG sind v.a. die Meldepflicht (Art. 120 FinfraG i.V.m. Art. 10 ff. FinfraV-FINMA) sowie die Angebotspflicht (Art. 135 FinfraG i.V.m. Art. 30 ff. FinfraV-FINMA) zu erwähnen, die nicht zuletzt für den Kanton Bern bedeutsam sind bzw. werden könnten: G-PVK, 52 ff. 69 Art. 620 Abs. 1 OR: «Die Aktiengesellschaft ist eine Gesellschaft mit eigener Firma, deren zum voraus bestimmtes Kapital (Aktienkapital) in Teilsummen (Aktien) zerlegt ist und für deren Verbindlichkeiten nur das Gesellschaftsvermögen haftet»; gleich verhält es sich bei der Gesellschaft mit beschränkter Haf- tung: Art. 794 OR. 12
Dass das Aktienrecht keine Gesellschafterhaftung vorsieht, bedeutet nicht, Aktionäre könnten unter keinen Umständen zur Verantwortung gezogen werden 70. Doch sollte ein Gesellschafter einer AG für Schulden als haftbar betrachtet werden, «muss eine andere Rechtsgrundlage als seine Gesellschafterstellung dienen (z.B. ein Vertrag oder eine materielle Organschaft)» 71, d.h. Aktionäre können durchaus als materielle Organe haftbar werden 72. 3. Zusätzliche Gesichtspunkte a) Publikumsaktionäre Der Kanton Bern ist nicht Alleinaktionär der BKW AG, denn ca. 48% der Aktien stehen nicht in seinem Eigentum 73. Aktienrechtlich kann sich der Kanton Bern zwar um diese Publikums- aktionäre foutieren, doch anders verhält es sich für den VR der BKW AG. Der VR der BKW AG muss die Gesellschaftsinteressen wahren und schuldet Sorgfalts-, Treue- und Gleichbehandlungspflichten im Rahmen von Art. 717 OR sämtlichen Aktionären, nicht zuletzt den Minderheitsaktionären bzw. den Publikumsaktionären. U.a. aus Reputationsgrün- den 74 könnte wohl der Kanton Bern im Hinblick auf den BKW-Konzern bzw. die BKW AG nicht ohne weiteres die Karte «Ich bin der grosse Mehrheits-Macker» spielen. Das Gleichbehandlungsprinzip steht im Zentrum des aktienrechtlichen Minderheitenschutzes 75 und damit des Schutzes von Publikumsaktionären. Insofern stünden Informationsprivilegien für gewisse Aktionäre zu diesem «Grundrecht» des Aktionärs a priori im Widerspruch 76. b) Politik, Berner Bevölkerung, Medien etc. Der Regierungsrat des Kantons Bern ist in Bezug auf die BKW-Beteiligung nicht völlig frei, doch erweist sich diese «Bern Perspektive» 77 für die BKW AG und insbesondere für deren VR als aktienrechtlich irrelevant. Das BKW-Gesetz – als Beispiel – spielt insofern nur, aber immer- hin, für den Kanton Bern eine wichtige (rechtliche und politische) Rolle 78. 70 Bei gemischtwirtschaftlichen AG erwähnt werden muss die potentielle Verantwortlichkeit aufgrund von Art. 762 Abs. 4 OR; hierzu: KUNZ, Wirtschaftsrecht, § 2 N 319 ff. m.w.H. 71 KUNZ, Gesellschaftsrecht, 88 f. (Hervorhebung hinzugefügt). 72 Vgl. dazu hinten IV. A. 73 Insofern kann aktienrechtlich keine Rede davon sein, dass die BKW AG dem Kanton Bern «gehört». 74 Vgl. dazu hinten III. A. 3. b. 75 Grundlegend: KUNZ, Minderheitenschutz, § 8 N 56 ff. m.w.H.; zudem: KUNZ/JUNG, Gleichbehand- lungsgrundsatz, passim. 76 Vgl. dazu hinten IV. C. 3. 77 Allg.: ABEGG/FREI, Kriterien, 44 f. 78 Vgl. dazu hinten III. B. 1. a. 13
Vor dem Hintergrund, dass der BKW-Konzern ein «Politikum» im Kanton Bern darstellt, müs- sen ohne weiteres ebenfalls beispielsweise die Politik, die «Stimmung» der Berner Bevölkerung und die Medien beachtet werden; insofern können (und dürfen) z.B. auf die Beteiligungshöhe oder auf die konkrete Stimmabgabe in einer GV der BKW AG durchaus «politische Einwir- kungen» erfolgen – m.E. darf dies jedoch die «BKW Perspektive» nicht beeinflussen 79. Schliesslich sollten Reputationsüberlegungen des Kantons Bern nicht vernachlässigt werden, nicht allein aufgrund der politischen Konstellation. Vielmehr dürfte das Aktionärsverhalten des Kantons Bern positive oder negative Folgen für den Börsenwert der BKW AG haben 80. B. Folgerungen 1. Anwendbares Recht a) Bundesrecht (und kantonales Recht) Auf Bundesebene wird das Gesellschaftsrecht geregelt, also in erster Linie das Aktienrecht (v.a. Art. 620 ff. OR) 81 auf der einen Seite sowie das Börsengesellschaftsrecht auf der anderen Seite 82; im Wesentlichen handelt es sich um Organisationsrecht 83. Bundesrecht ist insofern an- wendbar auf die «BKW Perspektive» (also: BKW AG als PublikumsAG) sowie auf die «Bern Perspektive» (sc. Kanton Bern als Publikumsaktionär). Durch Regulierung auf Kantonsebene wird ausschliesslich die «Bern Perspektive» umschrie- ben, konkret nämlich die «Aktionärsperspektive» des Kantons Bern als Aktionär der BKW AG 84; Kantone können im Rahmen von Art. 6 ZGB festlegen, «wie sie als Aktionäre mit der Gesellschaft umgehen wollen»85, mehr jedoch nicht. Mit dem kantonalen BKW-Gesetz bzw. 79 Der VR der BKW AG ist aktienrechtlich der PublikumsAG und sämtlichen Aktionären (inklusive den Minderheitsaktionären) verpflichtet, hingegen z.B. nicht dem Grossen Rat des Kantons Bern. 80 Bei einem aktuellen Börsenwert der BKW-Beteiligung in Höhe von ca. CHF 5'237'760'000.-- versteht es ist sich wohl ohne weiteres, dass der Kanton Bern sich nicht leichtfertig verhalten sollte. 81 Vor einiger Zeit hat das Bundesparlament das «neue» Aktienrecht verabschiedet, das voraussichtlich im Jahr 2023 in Kraft treten wird; die folgenden Ausführungen weisen darauf hin, wenn aktienrechtliche Änderungen bei den abzuklärenden Themen des Kurzgutachtens vorgenommen wurden. 82 Zu den verschiedenen börsengesellschaftsrechtlichen Rechtsquellen: JUNG/KUNZ/BÄRTSCHI, Gesell- schaftsrecht, § 14 N 23 ff.; im Vordergrund stehen etwa das FinfraG, doch wichtig – für die BKW AG, weniger für den Kanton Bern als Aktionär – ist ausserdem das Kotierungsrecht: a.a.O. § 14 N 31 f. 83 Vgl. PETER V. KUNZ, Funktion(en) des Aktienrechts – vom Organisationsrecht zum Katalysator der Gesellschaftspolitik?, SZW 90 (2018) 253 ff. 84 G-PVK, 29; zu einigen Regulierungsthemen: MÜLLER, Unternehmen, 6 ff. 85 ABEGG/FREI, Kriterien, 45. 14
BKWG 86, das eine wichtige politische Rolle im Kanton Bern spielt, werden etwa die Beteili- gungshöhe (konkret: der «Rahmen») an der BKW AG festgelegt. M.E. rechtlich irrelevant ist das BKW-Gesetz hingegen für die «BKW Perspektive» 87: «Kan- tonen (…) steht es nicht zu, das Bundeszivilrecht abzuändern, wozu auch das Gesellschaftsrecht gehört» 88. Für die BKW AG gilt zwar das Aktienrecht, aber nicht das BKW-Gesetz 89. Ebenso unverbindlich für die PublikumsAG ist die kantonale «Eigentümerstrategie» 90. b) BKW AG als «staatliches Unternehmen»? Im G-MM/UF wird mehrfach der Begriff «staatliche Unternehmung» o.Ä. verwendet 91. Im Hin- blick auf eine aktienrechtliche Einschätzung, die für die BKW AG als PublikumsAG und für den Kanton Bern als deren Aktionär massgeblich ist, spielt eine öffentlich-rechtliche Kategori- sierung keine Rolle 92, erscheint doch für Unternehmungen in erster Linie das Wirtschaftsrecht im Allgemeinen und das Aktienrecht im Besonderen als verpflichtend 93. M.E. handelt es sich bei der BKW AG um keine «staatliche Unternehmung», sondern um ein Privatunternehmen aufgrund von Art. 620 ff. OR, das als PublikumsAG weitere Regeln berück- sichtigen muss; im Ergebnis geht es um eine «besondere Ausprägung der privatrechtlich kon- stituierten Aktiengesellschaft»94. Als gemischtwirtschaftlich AG ist die BKW AG faktisch zwar sozusagen «Diener zweier Herren» 95, was zu Interessenkonflikten führen kann. Nichtsdestot- rotz hat der Kanton Bern keine generellen Privilegien als Aktionär 96. 86 Hinweise: G-PVK, 28 f. 87 D.h. der VR der BKW AG dürfte gesetzliche Vorgaben im BKW-Gesetz betreffend z.B. Gemeinwohl nicht beachten, solange eine entsprechende Unternehmensstrategie nicht im statutarischen Gesell- schaftszweck abgedeckt würde. 88 ABEGG/FREI, Kriterien, 45; ähnlich: MÜLLER, Unternehmen, 6. 89 Die konkrete Umsetzung des kantonalen Rechts kann daher einzig unter «Einhaltung des privaten Ge- sellschaftsrechts erfolgen»: ABEGG/FREI, Kriterien, 45 ad FN 79. 90 Zwar sind «Eignerstrategien» o.Ä. verbreitet in der Praxis (vgl. G-MM/UF, N 71 m.w.H.): MÜLLER, Unternehmen, 8; für betroffene Unternehmen können sie indessen durchaus zu «erheblichen Wettbe- werbsnachteilen» führen: LIENHARD, Leitplanken, 7. 91 Vgl. G-MM/UF, N 65, N 68, N 83, N 117 etc.; bei MÜLLER, Unternehmen, 3 wird u.a. von «staatlichen Aktiengesellschaften» gesprochen. 92 Re «öffentliche Unternehmen»: KUNZ, Wirtschaftsrecht, § 2 N 315 ff.; anders verhält es sich im öffent- lichen Recht (so spricht z.B. LIENHARD, Leitplanken, passim generell von «öffentlichen Unternehmen», ohne konkrete Rechts- bzw. Gesellschaftsformen zu differenzieren). 93 Übersicht: KUNZ, Staatsbeteiligungen, 130 ff.; DERS., Wirtschaftsrecht, § 2 N 302 ff. 94 BÖCKLI, Aktienrecht, § 1 N 68; d.h. das in der öffentlich-rechtlichen Doktrin postulierte «Bewusstsein der Staatlichkeit» (MÜLLER, Unternehmen, 5 f.) spielt keine aktienrechtliche Rolle. 95 KUNZ, Wirtschaftsrecht, § 2 N 304. 96 Die BKW AG ist eine «reguläre» AG, und der Kanton Bern erweist sich als «regulärer» Aktionär, wobei nur, aber immerhin, Art. 762 OR vorbehalten bleibt; mit Art. 762 OR wurde indes keine «einsei- tige Staatsprivilegierung» angestrebt: KUNZ, Wirtschaftsrecht, § 2 N 307. 15
Wenn der Staat ein «privatwirtschaftliches Spiel» spielt (und spielen will), kann er nicht ohne weiteres die «Spielregeln» ändern und plötzlich ein «hoheitliches Spiel» behaupten, erst recht nicht im Nachhinein 97. Sollte in der Zukunft die Rechtsform der BKW AG als AG (Art. 620 ff. OR) geändert werden, wäre dies zwar aktienrechtlich möglich, doch müssen in diesem Zusam- menhang die geltenden Aktienrechtsbestimmungen beachtet werden 98. 2. (Un-)Möglichkeiten des Kantons Bern Der Kanton Bern hat im Hinblick auf die BKW AG rechtliche Einflussmöglichkeiten, wobei die Aktionärsrechte im Vordergrund stehen; aufgrund der aktuellen Stimmenmehrheit kann der Kanton Bern in der GV der BKW AG nur, aber immerhin, eine beschränkte «Dominanz» wahr- nehmen 99. Des Weiteren kann der Kanton Bern aufgrund seines Abordnungsrechts (Art. 762 OR) einen potentiell erheblichen Einfluss im VR der BKW AG zur Geltung bringen 100. Ausserdem existieren faktische Einflussmöglichkeiten des Kantons Bern; m.W. kommt es ins- besondere vor dem Hintergrund einerseits der vertraulichen «Eigentümerstrategie» 101 sowie an- dererseits des vertraulichen «Aufsichtskonzepts» für die BKW AG 102 zu institutionalisierten Kontakten zwischen dem VR der BKW AG und dem Regierungsrat des Kantons Bern 103. In der Wirtschaftsrealität bei vielen Gesellschaften scheinen schliesslich informelle Kontakte zwi- schen Hauptaktionären und Unternehmensexekutiven (Mails, Telefonate, Mittagessen, Golf- runden etc.) zur Einflussnahme verbreitet 104. 97 A.M.: MÜLLER, Unternehmen, 5 f. sowie 8. 98 Insofern erweist sich als zumindest missverständlich – und als aktienrechtlich unzutreffend – die Aus- sage: «Staat bleibt Staat» (MÜLLER, Unternehmen, 6) – auch der Staat kann nicht «Weggli und Fünfer» beanspruchen; re BKW SpAG mittels «Umwandlung» (Beispiel 1): KG-SpAG, passim; re BKW AG ohne Gewinnstrebigkeit mittels Zweckänderung (Beispiel 2): G-PVK, 34 f. 99 Vgl. dazu vorne IV. A. 2. b. 100 Dem Staat steht m.E. – indes nach nicht unumstrittenere Ansicht – bei gemischtwirtschaftlichen AG gegenüber seinen «Delegierten» kein vorbehaltloses Weisungsrecht zu, was die staatlichen Einfluss- möglichkeiten relativiert; generell: STÄMPFLI, Aktiengesellschaft, 37. 101 Eigentümerstrategie des Kantons Bern zur BKW AG vom 29. August 2015. 102 Aufsichtskonzept für die BKW AG, genehmigt vom Regierungsrat am 31. Oktober 2018. 103 Für die BKW AG gibt es keine aktienrechtliche Pflicht für solche Kontakte, die – trotz dem damit verbundenen «Goodwill» – sogar potential problematisch sein können, v.a. unter den Aspekten der Ge- heimhaltungspflicht einerseits sowie der materiellen Organschaft andererseits; entsprechende «Control- linggespräche» werden im Bereich des öffentlichen Rechts begrüsst (z.B. G-MM/UF, N 71), obwohl m.E. deren Aktienrechtskonformität z.T. in Zweifel zu ziehen sind: Vgl. dazu hinten IV. D. 1. 104 Ein Haupt- oder Mehrheitsaktionär kann im Einzelfall rechtlich durchaus als «faktischer VR» qualifi- ziert werden, in Abhängigkeit von der «Einflussintensität»: Vgl. dazu hinten IV. A. 16
IV. Aktienrechtliche Fragestellungen A. Faktische Organschaft des Kantons Bern? 1. Ausgangslage Im G-MM/UF wird u.a. auf «Controllinggespräche» 105 hingewiesen, auf deren Basis der Re- gierungsrat «auf die strategische Ausrichtung des kantonalen Unternehmens» Einfluss nehmen könne 106. Im Ergebnis könne der Kanton Bern die Geschäftspolitik und die Geschäftsführung der BKW AG massgeblich beeinflussen, was durchaus sinnvoll sei. In diesem Zusammenhang wird betreffend allfällige Verantwortlichkeit des Kantons Bern festgehalten: «Nicht zu vermeiden ist, dass der Staat dadurch unter Umständen zum «faktischen Organ» werden kann, mit entsprechenden haftungsrechtlichen Konsequenzen. Dies erscheint deshalb nicht weiter schlimm, weil der Staat für ein allfällig schädigendes Handeln «seiner» Unterneh- mensorgane ohnehin im Rahmen seiner Ausfallhaftung (…) geradestehen muss»107. Im Hinblick auf die gemischtwirtschaftlichen AG wird festgehalten: «Im Geltungsbereich von Art. 762 OR haftet der Staat direkt»108. Damit dürfte angedeutet werden, dass die Verantwort- lichkeitsfolgen als «faktisches Organ» vernachlässigt werden können, weil «ohnehin» eine staatliche Haftung bestehe. Doch es bestehen erhebliche Differenzen 109 zwischen Art. 754 Abs. 1 OR und Art. 762 Abs. 4 OR, was sich auf das staatliche Haftungsrisiko auswirkt. 2. Generelle Hinweise a) Regulierungen aa) Art. 754 Abs. 1 OR Haftbar bzw. verantwortlich können nicht allein formelle VR, sondern auch faktische VR bzw. materielle Organe werden 110: «Die Mitglieder des Verwaltungsrates und alle mit der Geschäfts- führung (…) befassten Personen sind sowohl der Gesellschaft als den einzelnen Aktionären und 105 Vgl. dazu hinten IV. D. 1. 106 G-MM/UF, N 79 a.A. 107 G-MM/UF, N 80 (Hervorhebungen hinzugefügt). 108 G-MM/UF, N 80 FN 145. 109 Vgl. dazu hinten IV. A. 2. b. 110 Statt aller: DRUEY/DRUEY JUST/GLANZMANN, Handelsrecht, § 14 N 27 ff.; MEIER-HAYOZ/FORSTMO- SER/SETHE, Gesellschaftsrecht, § 16 N 799 f. 17
Gesellschaftsgläubigern für den Schaden verantwortlich, den sie durch absichtliche oder fahr- lässige Verletzung ihrer Pflichten verursachen» (Art. 754 Abs. 1 OR) 111. Die h.M. 112 bejaht (ebenso das G-MM(UF), dass der Staat als materielles Organ betrachtet werden kann, sofern die «üblichen» aktienrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Dass ein (Mehrheits-)Aktionär durchaus als materielles Organ in Frage kommt, scheint unbestritten113. Was macht einen solchen Aktionär zum materiellen Organ einer AG? Das Bundesgericht umschreibt ein solches Organ wie folgt: «Als mit der Verwaltung oder Ge- schäftsführung betraut im Sinne dieser Bestimmung gelten nicht nur Entscheidungsorgane, die ausdrücklich als solche ernannt worden sind, sondern auch Personen, die tatsächlich Organen vorbehaltene Entscheide treffen oder die eigentliche Geschäftsführung besorgen und so die Wil- lensbildung der Gesellschaft massgebend mitbestimmen (…)» 114. Bei der materiellen Organ- schaft geht es um eine Verantwortlichkeit für «Eigenverhalten». bb) Art. 762 Abs. 4 OR Eine Verantwortlichkeit für «Drittverhalten» wird aktienrechtlich hingegen bei gemischtwirt- schaftlichen AG vorgesehen: «Für die von einer Körperschaft des öffentlichen Rechts abgeord- neten Mitglieder haftet die Körperschaft der Gesellschaft, den Aktionären und den Gläubigern gegenüber, unter Vorbehalt des Rückgriffs nach dem Recht des Bundes und der Kantone» (Art. 762 Abs. 4 OR) 115 – es handelt sich m.a.W. um eine «stellvertretende Haftung» 116. 111 Zur materiellen Organschaft: KUNZ, Organschaft, passim; MICHAEL WYTTENBACH, Formelle, materi- elle und faktische Organe (…) (Diss. Basel 2012) passim; MEINRAD VETTER, Der verantwortlichkeits- rechtliche Organbegriff (Diss. St. Gallen 2007) passim; JUNG/KUNZ/BÄRTSCHI, Gesellschaftsrecht, § 6 N 16 ff.; VON DER CRONE, Aktienrecht, N 1841 ff; BÖCKLI, Aktienrecht, §18 N 109 ff. 112 Statt aller: FORSTMOSER/JAAG, Staat, N 106 ff.; BÖCKLI/BÜHLER, Staat, 23 ff. 113 BÖCKLI/BÜHLER, Staat, 26 m.w.H.; KUNZ, Organschaft, 175; zudem hielt BBl 1983 II 935 fest: «Als faktisches Organ gilt der Hauptaktionär, der sich in die Geschäftsführung einmischt». 114 BGE 4A_268/2018 vom 18. November Erw. 5. (Hervorhebungen hinzugefügt); Hinweise zur bundes- gerichtlichen Praxis finden sich bei KUNZ, Organschaft, 176 f. 115 Der Staat haftet für seinen «Delegierten» direkt, primär sowie ausschliesslich: STÄMPFLI, Aktiengesell- schaft, 132; WERNLI/RIZZI, Kommentar, N 20 f. zu Art. 762 OR; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, Aktienrecht, § 63 N 15; BUOB, Beteiligung, N 880 ff.; für den abgeordneten VR des Staates bedeutet dies im Aussenverhältnis eine eigentliche Haftungsbefreiung: KUNZ, Wirtschaftsrecht, § 2 N 330; zu- dem: FORSTMOSER/JAAG, Staat, N 74; STÖCKLI, Unternehmen, 495 f. 116 In diesem Sinn: FORSTMOSER/JAAG, Staat, N 74; dieser Umstand wirkt sich ebenfalls auf die Verteidi- gungsmöglichkeiten gegen Verantwortlichkeitsklagen aus: Vgl. dazu hinten IV. A. 2. b.; der Staat haftet ohne eigenes Verschulden, sogar wenn er den Schaden nicht wollte und nicht davon wusste: GUTZWIL- LER, Einflussmöglichkeiten, N 580. 18
Das Bundesgericht hielt fest: «Art. 762 Abs. 4 OR regelt hinsichtlich der aktienrechtlichen Ver- antwortlichkeit für Organmitglieder, die von einer Körperschaft des öffentlichen Rechts abge- ordnet sind, nur die Passivlegitimation besonders. Im übrigen stellt Art. 762 Abs. 3 OR die vom Gemeinwesen abgeordneten Mitglieder den von der Generalversammlung gewählten ausdrück- lich gleich. Voraussetzungen und Umfang der Verantwortlichkeit richten sich daher auch bei der direkten Haftung des Gemeinwesens nach Art. 754 ff. OR (…)» 117. Art. 754 Abs. 1 OR sowie Art. 762 Abs. 4 OR schliessen sich nicht gegenseitig aus, d.h. der Staat kann sich aufgrund beider Bestimmungen verantwortlich machen. Als materielles Organ kann der Staat beispielsweise qualifiziert werden, wenn «das Gemein- wesen nicht über seinen abgeordneten Vertreter, gleichsam als Drahtzieher im Hintergrund, sondern auf andere Art und Weise in die Befugnisse der Organe eingreift. Dies kann z.B. ge- schehen, indem das Gemeinwesen über eine andere, nicht im Verwaltungsrat vertretene Person direkt im Rahmen der Sitzungen des Verwaltungsrats Einfluss ausübt»118. b) Differenzen Das G-MM/UF betrachtet offensichtlich das Risiko einer materiellen Organschaft als vernach- lässigbar, weil «ohnehin» eine Haftung auf Grundlage von Art. 762 Abs. 4 OR drohe 119. Damit wird allerdings übersehen, dass es sich um keine identischen Verantwortlichkeiten handelt, und dass die entsprechenden Differenzen eine Staatshaftung für den eigenen «Delegierten» im VR gemäss Art. 762 Abs. 4 OR im Ergebnis als wesentlich «milder» erscheinen lassen: Bei Art. 762 Abs. 4 OR (für «Drittverhalten»), nicht aber als materielles Organ (für sein «Ei- genverhalten»), kann der Staat zu seiner Verteidigung ev. Einreden seines «Delegierten» gegen Verantwortlichkeitsansprüche vorbringen 120. Bei Mehrpersonen-VR – wie beim VR der BKW AG – kann z.B. die differenzierte Solidarität geltend gemacht werden 121. 117 BGE 116 II 160 Erw. 3. a. (Hervorhebungen z.T. hinzugefügt). 118 BUOB, Beteiligungen, N 886; das Gemeinwesen kann zum materiellen Organ werden, wenn sein Abge- ordneter «quasi als verlängerter Arm des Staates handelt»: GUTZWILLER, Einflussmöglichkeiten, N 591. 119 Vgl. dazu vorne IV. A. 1. 120 BUOB, Beteiligungen, N 885: «Dagegen darf das Gemeinwesen diejenigen Einreden vorbringen, die dem Abgeordneten zustehen würden, wäre er selber passivlegitimiert, und zwar sowohl diejenigen, die sich gegen den einzelnen Kläger richten, als auch die erga omnes wirkenden Einreden». 121 Art. 759 Abs. 1 OR: «Sind für einen Schaden mehrere Personen ersatzpflichtig, so ist jede von ihnen [nur] insoweit mit den anderen solidarisch haftbar, als ihr der Schaden aufgrund ihres eigenen Verschul- dens und der Umstände persönlich zurechenbar ist»; allg.: FORSTMOSER/JAAG, Staat, N 147 ff.; MAGRO, Interessenvertretung, 163 ff. 19
Die in der Praxis bedeutsamste Verteidigungsmöglichkeit für VR stellt die «Business Judgment Rule» (BJR) 122 dar; die Gerichte sollen sich grundsätzlich zurückhaltend zeigen bei Klagen 123 und bloss eine «Willkürprüfung» bzw. eine «Milchglas-Kontrolle» 124 vornehmen 125. Auf die BJR können sich die einzelnen VR-Mitglieder für ihr Verhalten berufen, und somit ebenfalls der Staat für seinen «Delegierten» gemäss Art. 762 Abs. 4 OR. M.E. steht hingegen einem materiellen Organ gemäss Art. 754 Abs. 1 OR die BJR nicht zur Verfügung 126. 3. Ergebnisse Zwischen Art. 754 Abs. 1 OR (materielle Organschaft) sowie Art. 762 Abs. 4 OR (stellvertre- tende Haftung des Staates für den «Delegierten» im VR) existieren erhebliche rechtliche Dif- ferenzen 127, etwa betreffend Verteidigungsmöglichkeiten gegen Verantwortlichkeitsklagen 128. Das Risikopotential einer materiellen Organschaft des Staates erscheint m.E. erheblich grösser als die potentielle Staatshaftung auf Basis von Art. 762 Abs. 4 OR 129. Insofern sollte der Kanton Bern eine (zu) intensive «Einmischung» bei der BKW AG, die ins- besondere über die blosse Wahrnehmung der Stimmrechte der Gesellschaftsbeteiligung in GV hinausgeht, tunlichst vermeiden, könnte dies doch zu einer möglichen Verantwortung als ma- terielles Organ führen – und im Ergebnis könnte dies wesentlich teurer sein als eine stellvertre- tende Haftung für den eigenen «Delegierten» im VR der BKW AG 130. B. BKW AG als TBTF-Unternehmung? 1. Ausgangslage Die GPK thematisierte u.a. die Systemrelevanz von Unternehmungen («Too Big to Fail» bzw. TBTF), und zwar im Hinblick auf die Aufsicht des Regierungsrats des Kantons Bern und auf 122 Hierzu: CHRISTEN, BJR, passim; KUNZ, BJR, passim; DERS., Wirtschaftsrecht, § 10 N 191 ff. und v.a. N 204 ff.; DERS., Minderheitenschutz, § 6 N 115 ff. 123 Die Rede ist von «judicial restraint»: KUNZ, BJR, 274. 124 KUNZ, Gesellschaftsrecht, 79 FN 335. 125 Das Bundesgericht setzt einen Geschäftsentscheid, einen einwandfreien Entscheidprozess, eine ange- messene Informationsbasis, ein Fehlen von Interessenkonflikten und eine Nachvollziehbarkeit voraus; statt aller: CHRISTEN, BJR, 125 ff.; KUNZ, BJR, 276 ff.; DERS., Wirtschaftsrecht, § 10 N 208 ff. 126 KUNZ, BJR, 279 f.; DERS., Organschaft, 192; DERS., Wirtschaftsrecht, § 10 N 225 f. 127 Das «neue» Aktienrecht führt zu keinen Neuerungen bei diesen beiden Normen. 128 Vgl. dazu vorne IV. A. 2. b. 129 Selbst eine kombinierte Verantwortlichkeit kann im Einzelfall zum Tragen kommen, d.h. der Staat könnte sowohl als materielles Organ als auch als delegierende Körperschaft haftbar werden, notabene für unterschiedliche Schädigungen. 130 Allg.: GUTZWILLER, Einflussmöglichkeiten, N 591. 20
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