Gesundheitsreform(en) aus Versicherten-/Patientensicht
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Dr. Bernard Braun, Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen Gesundheitsreform(en) aus Versicherten-/Patientensicht Vortrag in der Veranstaltungsreihe „Frau und Gesundheit ´09“ der Frauen-/ Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Albstadt am 9. Juni 2009 in Albstadt 1
Sei t 19 mit 77 5 "Unsere Organisation ist nur noch übe 2 g ein Sinnbild des gierigen Arztes“ r 8 roße (Munte 2009) .00 G und 0 e esu „na inze ndhe l vor ch de nen P itsrefo e m im r im der r Re arag rmg t i m lle n Re f o r h for rm is aphen esetze t ste ber A en t, a e! m“ t ... at i k eg r P un De ittelp W M "Ich schäme mich für eine Standesvertretung, die immer nur nach mehr Geld schreit, damit sich der Patient dafür Qualität kaufen kann.“ (Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern, Munte 2009) RLV, DMP, MRSA, G-BA, EBM, IV, GF, DRG, GMG, WSG... und wo geht "Es es um Gesundheit!??? sin d sc hon zu v ie le gest orbe n “ (M unte 2009 ) 2
Ihnen brummt bei Gesundheitsreformen der Kopf oder sie blicken nicht (mehr) durch? - Macht nichts: Sie sind nicht allein!!! Generell: Zwischen 2002 und 2008 fühlten sich 32,4 % der Krankenversicherten nicht ausreichend über die Auswirkungen der Gesundheitspolitik informiert 2007 wussten 35 % der Befragten nicht oder nur teilweise Bescheid wie oft sie persönlich einen Anspruch auf Früherkennungsuntersuchungen hatten 2009 führten 60 % der Befragten kein Zahnarzt-Bonusheft Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 1992/93: Mitte 1995 hörten 50 % der in NRW Befragten „zum ersten Mal“ von Maßnahmen oder Regelung des GSG 48 % kannten die freie Kassenwahl nicht 3
Ihnen brummt bei Gesundheitsreformen der Kopf oder sie blicken nicht (mehr) durch? - Macht nichts: Sie sind nicht allein!!! Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) 2004: 72,2 % der Befragten hatten 2006 nichts von den durch das GMG eingeführten strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke gehört 29,9 % hatten nichts von den Bonusregeln des Gesetzes gehört GMG/WSG etc. 2008 hatten 27,7 % der Befragten nichts von der elektronischen Gesundheitskarte gehört 2008 hatten 79,9 % nichts von den Krankenhaus-Qualitätsberichten gehört im April 2009 weiß ein Drittel der Deutschen noch nichts vom Gesundheitsfonds. Von den 66% Fonds-Kennern fühlen sich nur 35 % gut über den Sinn und Zweck der neuen Strukturen informiert. Dies sind weniger als ein Viertel der Bevölkerung. teilweise Folge: Unterversorgung durch Informationsmängel 4
Macht nichts: Auch Gesundheitspolitiker, Ärzte oder Journalisten haben Probleme, manche Maßnahmen zu verstehen Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit werden über Jahre und Jahrzehnte hinweg auch von Gesundheitspolitikern gesundheitspolitische Forderungen verbreitet, die schon längst im Gesetz stehen und nur nicht umgesetzt wurden (Paradebeispiel: Patientenquittung über Art und Kosten von Behandlungen) die aktuelle Debatte über die Wirkungen der Honorarreform für ambulante Ärzte zeigt, dass ein Großteil der niedergelassenen Ärzte nicht weiß oder wissen will, wie diese komplizierte Reform aussieht und wie sie die ihnen zunächst entstandenen Nachteile möglicherweise kompensieren können 5
Wer oder was ist schuld und wie kommt man zu einer besseren, versichertenorientierten Gesundheitspolitik? „um was geht’s denn“ oder „was soll ich denn tun oder wer weiß ob warten auf die nächste Reform nicht besser ist“ (Akzeptanz- und Umsetzungsdefizite) --> mehr Transparenz, verständliche Informationen zu den Inhalten der Gesundheitsreformen und mehr Verlässlichkeit der Reformen „die SPD“ oder „die CDU“ --> Regierungswechsel „handwerkliche Mängel“ --> klügere Ministerialbeamte „Pharmaindustrie“ --> weniger Lobby- oder Industrieeinflussnahmen „patientenferne Reformen“ --> Stärkung der Patientenvertretung im Gemeinsamen Bundesausschuss „Honorarreform, Morbi-RSA oder Gesundheitsfonds haben Macken und Härten“ = Reform der Reform, Novellierung alles notwendige Voraussetzungen für eine dauerhaft wirksamere, gerechtere Gesundheitspolitik. aber weder einzeln noch zusammen hinreichend 6
Warum sind die Reformen so wie sie sind und ist die Erfüllung der Forderung nach verständlichen Reformen so schwierig? Ein großer Teil der Gesundheitsreformen wird seit Jahrzehnten mit fragwürdigen Standardphrasen oder -Annahmen dominiert, die sich in das allgemeine Bewusstsein eingebrannt haben und damit von wirklichen Problemen und Reformthemen ablenken (Beispiele: Kostenexplosion, Lohnnebenkosten, Demografie) Ein Teil der Gesundheitspolitik und vor allem ihre „Stimmung“ wird mit zum Teil völlig falschen oder fragwürdigen Behauptungen vorangetrieben (Beispiel: Lage der Ärzte) Ein Teil der Gesundheitspolitik „fährt mit Vollgas durch Nebelwände“, riskiert damit unerwünschte Effekte und fährt möglicherweise in die falsche Richtung (Beispiele: DRG, Hausarztzentrierte Versorgung) Vernachlässigung des Problems der Über-, Fehl- und Unterversorgung und Dominanz der Finanzierungsaspekte (Beispiele: BMJ, Ethikkommission) 7
„Kostenexplosion“ und „Lohnnebenkosten“ Der einzige Indikator für die Kostenlast, die durch die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung entsteht, ist der Anteil der Leistungsausgaben der GKV am Bruttoinlandsprodukt. Dieser bewegt sich seit Ende der 1970er Jahre zwischen 5,6% und 6,7%. 2007 lag der Anteil bei 6,3%. Welche wichtigen Probleme werden durch die Phrase „Kostenexplosion“ verdrängt?: schleichende Auszehrung der GKV-Einnahmen (Arbeitslose, Lohnstagnation, Teilzeit) Der einzige Indikator, der die Belastung des Wirtschaftsstandorts durch Sozialversicherungsbeiträge korrekt anzeigt, sind der Anteil der Arbeitgeberbeiträge an den Gesamtkosten eines Produkts oder die Lohnstückkosten. Für das personalintensive Handwerk lag der Anteil aller (!) Sozialabgaben des Arbeitgebers 2003 bei 10,9% der Gesamtkosten. Eine Senkung der Beiträge um 5 Prozentpunkte würde die Gesamtkosten um 0,9% (GKV: rd. 0,3%) senken. Welche wichtigen Probleme werden durch die Phrase „Lohnnebenkosten“ verdrängt?: das Finanzproblem der GKV ist allein durch die Einnahmebasis Löhne auf Dauer nicht zu lösen Quelle: Hartmut Reiners (2009): Mythen der Gesundheitspolik, Bern 8
„Die demographische Bedrohung“ Der wichtige Indikator zur Bewertung von Auswirkungen der Verlängerung der Lebenserwartung und der Zunahme der älteren Bevölkerung ist der Gesundheitszustand dieser Personen. Die aktuellsten (2009) Erkenntnisse sehen folgendermaßen aus: "Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Verschlechterung der subjektiven Gesundheit keiner altersinhärenten Gesetzmäßigkeit folgt. ... in Deutschland ... deuten die vorliegenden Ergebnisse auf eine Zunahme der Lebenserwartung in Gesundheit hin.“ „Abschließend sei daher nochmals betont: Das Alter an sich muss keine größere gesundheitliche Belastung und Pflegebedürftigkeit bedeuten". Welche wichtigen Probleme werden durch die Phrase „demographische Bedrohung“ verdrängt?: Beendigung der Medikalisierung sozialer Probleme und der Umdefinition normaler Alterungsprozesse in behandlungsbedürftige Krankheiten Quelle: RKI/DZA/StatBA (Hrsg) (2009): Gesundheit und Krankheit im Alter” (http://www.rki.de/cln_100/DE/Content/GBE/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/alter__und__gesundh,templateId %3Draw,property%3DpublicationFile.pdf/alter_und_gesundh.pdf) 9
Lage der niedergelassenen Ärzte: „Verarmend ohne Perspektive und schlechtes Image“ • Insgesamt zu wenig und sinkendes • Gewinn aus GKV-Mitteln nach Abzug der Einkommen Betriebskosten und vor Steuern und Sozialabgaben 2007: schwankt zwischen 65.000€ (Psychiater), knapp 100.000€ (Hautärzte) und 113.000€ (Radiologen); hinzu kommen jeweils bis zu 30% PKV- und IgeL-Einnahmen GKV-Ausgaben für amb. Ärzte 1999- 2007: 23,7 auf 27,7 Mrd. Euro (1) • Ärzte haben geringere Einkünfte als • 2004 lagen amb. Ärzte mit einem Pro- andere Freiberufler Kopf-Einkommen von rd. 100.400€ nach den Lotsen und Zahnärzten auf Platz der Bestverdiener (danach 19 andere Berufe) (2) • Zahl der ambulant tätigen Ärzte stieg • Zahl der Ärzte schrumpft: Ärztemangel von 1997 bis 2007 um 13%, seit 1990 um 50%; berufstätige Ärzte 2007-2008: +1,5%; amb. tätige Ärzte 2007-2008: +0,6%. (3) 10
Lage der niedergelassenen Ärzte: „Verarmend ohne Perspektive und schlechtes Image“ • Immer mehr Ärzte wandern ins Ausland • Die Anzahl der Ärzte, die ins Ausland ab gehen (inkl. ausländische Ärzte) schwankt zwischen 2.575 (2006), 2.439 (2007) und 3.065 (davon 67% Deutsche) (2008) (3) • Der Anteil von 8,6% (2008) liegt • Ärzte suchen sich zunehmend Jobs in genauso hoch wie 1994 (Gipfelwert Behörden, Industrie und Forschung 1999: 9,5%) (3) • Immer weniger Abiturienten wollen • 1993: 90.594; 1999: 79.728; 2006: Medizin studieren 78.106 und 2007: 75.555 (3) • Das Image des Arztberufs sinkt • Lt. Allensbachinstitut: Ärzte werden von 78% der Befragten am meisten geachtet=Platz 1 beim Berufsprestige; (1): Bewertungausschuss KBV-GKV-Spitzenverbände Pfarrer 39%, Politiker 6%, Buchhändler (2): Statistisches Bundesamt 5% (3): Bundesärztekammer Ärztestatistik 11
Lage der niedergelassenen Ärzte: „Verarmend ohne Perspektive und schlechtes Image“ Welche wichtigen Probleme werden durch die „Lage“-Darstellung der niedergelassenen Ärzte verdrängt?: Ungleichheiten zwischen Arztgruppen nach Region, Spezialisierung oder Geschlecht; stärkere Orientierung der Arzt-Honorierung am Erreichen von Qualitäts- oder gesundheitlichen Zielen (z.B. „pay-for-performance“ oder „bundled payment for episodes of care“, neue Arbeitsteilung zwischen Ärzten und nichtärztlichem Personal Klärung der Frage ob man für die alternde Bevölkerung künftig mehr Ärzte oder andere Akteure und vor allem Maßnahmen braucht. 12
„Gesundheitspolitische Nebelfahrten“: Trotz gesetzlicher Verpflichtung keine wirkliche „Begleit“forschung über die Wirkungen von Fallpauschalen im Krankenhaus Die erwünschten und unerwünschten Wirkungen der seit 2003 in jedem Krankenhaus für fast alle Behandlungen und damit jährlich rund 15 Millionen Patienten eingeführten Fallpauschalen oder „diagnosis related groups (DRG)“ sollten nach § 17b des Krankenhausfinanzierungsgesetz durch eine Begleitforschung in der bis 2010 laufenden Einführungsphase untersucht und ggfls. korrigiert werden („lernendes System“) Die damit beauftragten Spitzenverbände der GKV, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Verband der privaten Krankenversicherungen haben erst Ende 2008 ein Institut beauftragt, diese „Begleit“-forschung durchzuführen und wahrscheinlich 2010 erste Ergebnisse vorzulegen 13
„Gesundheitspolitische Nebelfahrten“: Hausarztvertragspflicht ab 1. Juli 2009! Sind Hausarztverträge ein Fortschritt für Patienten? In jüngsten repräsentativen Erhebungen (2004-2007) konnten keine Anzeichen dafür gefunden werden, dass Teilnehmer an Hausarztmodellen zurzeit eine bessere Versorgungsqualität erleben als Nicht-Teilnehmer. Eine Erklärung hierfür liegt wohl darin, dass es kaum Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen gibt, was das Vertrauensverhältnis zum Hausarzt ausmacht, die Kontinuität des Kontakts und die Kenntnis des Arztes über persönliche Lebensumstände und Krankheitserfahrungen des Patienten. 53 % der Teilnehmer an Hausarzt- Modellen sagen etwa, der Hausarzt wisse sehr viel über ihre Krankengeschichte und Lebensumstände. Dieser Wert liegt aber bei Nicht-Teilnehmern (mit 43 %) nur geringfügig darunter. Hier wird deutlich, dass eine zentrale Voraussetzung für eine bessere Versorgungsqualität im Rahmen der ambulanten Versorgung bislang noch verfehlt wurde: Die Kontinuität und kommunikative Dichte der Arzt-Patient-Beziehung ist innerhalb von Hausarztmodellen nicht nennenswert größer als außerhalb (Marstedt 2008). 14
Über-, Unter-, Fehlversorgung 2000: Ethikkommission der Ärzteschaft: Wenig Leistungen sind wirklich notwendig! „3. ... Relativ wenige Leistungen der Medizin sind jedoch in einem strengen Sinne notwendig. Als notwendig - im Sinne der absoluten ärztlichen Indikation - können nur Leistungen gelten, die bei einer nicht- trivialen Gesundheitsstörung unentbehrlich sind, sodaß sie - ohne Alternative - eine akzeptable Chance bieten, ein wesentliches Behandlungsziel zu erreichen. Andere sind mehr oder weniger zweckmäßig, also relativ indiziert....Manche Leistungen sind in ihrer Wirksamkeit umstritten, erwiesenermaßen unwirksam oder sogar schädlich.“ (Quelle: Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) - Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Müssen und können wir uns entscheiden? In: Dtsch Arztebl 2000; 97(15): A-1017 / B-865 / C-813) 15
Über-, Unter-, Fehlversorgung 2008: Fehlende wissenschaftliche Evidenz („with a robust evidence base“) für mindestens 49% bis 57% der medizinischen Dienstleistungen oder Interventionen Quelle: British Medical Journal „Clinical Evidence Handbook“ Dezember 2008 16
Fazit Beseitigung der falschen Annahmen über wichtige Bedingungen der Gesundheitspolitik und damit eine wesentlich andere Fokussierung und damit Umorientierung der Gesundheitspolitik (z.B. Qualitäts- vor Kosten- und Finanzierungsorientierung, soziale Prävention vor Medikalisierung und Therapeutisierung, Orientierung an Versicherten- und Patientenbelangen statt an Versorgungssektoren und Anbietern) Entdramatisierung des gesundheitspolitischen Klimas z.B. durch die Beseitigung und Vermeidung falscher oder übertriebener Bedarfsschilderungen Konzentration auf die Qualität (Struktur-, Prozess- und vor allem Ergebnisqualität) der gesundheitlichen Versorgung und Wirksamkeit und Nutzen statt Finanzierungsfragen; durch den dadurch möglichen Abbau von Über- und Fehlversorgung auch Gewinnung eines finanziellen Spielraums für zusätzliche wirksame Leistungen oder Beitragssenkung Beachtung weiterer notwendiger Maßnahmen wie verbesserte Transparenz 17
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