Einblicke in den Europäischen Betriebsrat der Clariant-Gruppe

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Europäische Sozialpolitik in der Unternehmenswirklichkeit

Kai-Uwe Hemmerich

Einblicke in den Europäischen Betriebsrat
der Clariant-Gruppe

E   rste Erfolge einer gemeinsamen Sozialpolitik sind zu verzeichnen, aber
    von einem gemeinsamen Verständnis einer europäischen Arbeitneh-
mervertretung sind wir bei Clariant, wie viele andere Unternehmen auch,
noch weit entfernt. Europäische Sozialpolitik und einen guten sozialen
Dialog können wir schon vorweisen, und darauf sind wir auch stolz. Es
muss aber nach wie vor das Ziel bleiben, ein gemeinsam getragenes Ver-
ständnis aller Delegierten einer europäischen Arbeitnehmervertretung zu
bekommen. Dieses gemeinsame Verständnis beginnt nicht im Äußeren,
sondern im Inneren, denn schon dort warten die Herausforderungen. Ein
guter Anfang ist der Blick auf die eigene Aufgabe innerhalb der Landes-
delegation beziehungsweise des einzelnen Delegierten.
   Welche Aufgabe hat man als Mitglied in einem Europäischen Betriebs-
rat, welche Interessen muss man vertreten und welche Verantwortung
trägt man? Im Allgemeinen findet man zu diesen Fragen sehr schnell
übergreifende Antworten:

    ●   Man muss das Ganze betrachten,
    ●   im europäischen Sinne handeln,
    ●   nicht immer nur die eigenen Arbeitsplätze sehen,
    ●   sondern die europäischen Arbeitsplätze im Fokus haben.

   Aber was ist im speziellen Fall meine Pflicht und was ist meine Aufga-
be? Welche Interessen habe ich zu vertreten? Meine persönlichen, die
eines freigestellten Betriebsrats oder die meines Standorts – von dessen
Mitarbeitern ich gewählt werde und denen ich natürlich auch verpflichtet
bin? Dann stellt sich die Frage, was ist mit den Interessen meines Gesamt-
betriebsrats oder gar mit den Interessen meines Konzernbetriebsrats?
   Wenn das Interesse des Konzernbetriebsrats zu vertreten ist, ist zu fra-
gen, was liegt denn im speziellen Fall im Interesse des Konzernbetriebs-

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rats? Schon diese wenigen Fragestellungen machen deutlich, wie viel
Zündstoff innerhalb einer deutschen Europabetriebsratsdelegation liegt. Es
ist schon im Inneren schwer die nationalen Fragen unter einen Nenner zu
bekommen. Innerhalb der deutschen Delegation (die deutsche Delegation
hat sieben Sitze im Europäischen Betriebsrat) herrscht zu diesen Fragen
natürlich Vertrauen und die Bereitschaft, sich untereinander zu einigen.
Beispielsweise in der französischen Delegation (die französische Delegati-
on hat drei Sitze im Europäischen Betriebsrat) sitzen drei verschiedene
Chemie-Gewerkschaften mit am Tisch bei denen die Frage nach Verant-
wortung und Aufgabe nicht wirklich abgestimmt ist. Erst wenn man diese
Fragen sauber beantworten kann, sollte man den Fokus vom Inneren aufs
Äußere wenden.
   Bei dem nun folgenden Blick auf unsere europäischen Kolleginnen und
Kollegen muss man sich, wenn man ehrlich bleibt, eingestehen, dass wir
meistens viel zu schnell über sie urteilen, obwohl wir doch nur minimale
Kenntnisse über sie haben.
   Insgesamt wissen wir viel zu wenig über unsere europäischen Nach-
barn:

      ●   Über das Leben der Arbeiter und Angestellten in den einzelnen
          europäischen Staaten,
      ●   über ihre Gewohnheiten,
      ●   über ihre Sozialsysteme,
      ●   über ihre Gewerkschaften,
      ●   über ihre Tarifsysteme,
      ●   über ihre Arbeitsgesetze und vor allem
      ●   über ihre Arbeitsbedingungen vor Ort.

   Obwohl wir alle in einem Europäischen Betriebsrat sitzen, haben gera-
de einmal vier Staaten in der Europäischen Union ein reines Betriebsrats-
system wie wir: Neben Deutschland sind dies Österreich, Luxemburg und
die Niederlande. In den fünf Ländern Dänemark, Schweden, Finnland,
Italien und England gibt es gar keine Betriebsräte, stattdessen ein Ge-
werkschaftssystem. Gemischte Systeme, Gewerkschaft und Betriebsräte
gibt es in den neun Staaten Frankreich, Belgien, Bulgarien, Griechenland,
Ungarn, Portugal, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien. In Lettland,

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Europäische Sozialpolitik in der Unternehmenswirklichkeit

Mazedonien, Rumänien und Zypern gibt es Gewerkschaftssysteme, aber
auch die Option und die Möglichkeit von Betriebsräten. Betriebsräte, aber
nur wenn keine Gewerkschaft im Betrieb vertreten ist, gibt es in der
Tschechischen Republik, der Slowakischen Republik, in Litauen und Polen.
   Man erkennt sehr schnell, wie unterschiedlich die verschiedenen Sys-
teme in Europa sind. Schon bei der einfachen Vokabel „Betriebsrat“ ver-
stehen alle Teilnehmer einer europäischen Betriebsratssitzung etwas an-
deres. Selbst bei der besten Übersetzung. Wenn es dann noch Schwächen
bei der Übersetzung gibt, weil zum Beispiel Werkstätte/Werk, also ein
Standort gesagt wurde, jedoch Werkstatt übersetzt wird, hat man sich
ganz schnell in der „europäischen Wolle“. Nur mit viel Toleranz und durch
viel Verständnis allen Delegierten gegenüber kommt ein europäischer Dia-
log zustande.
   Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Dauer der Zugehörigkeit der einzel-
nen Delegierten im Europäischen Betriebsrat. Nur wenn man lange im
Europäischen Betriebsrat sein Mandat hat, hat man die Möglichkeit die
einzelnen Länder kennen zulernen. Durch dieses langfristige Mandat kann
ein gemeinsames Verständnis entwickelt und ein gemeinsames Handeln
erreicht werden. Leider kranken wir Europäer an einer Vielsprachigkeit.
Die Chance auf europäische Freundschaften ist dadurch stark beeinträch-
tigt. Freundschaften entstehen doch erst, wenn man sich versteht und das
läuft fast immer über die Sprache. Für den Europabetriebsrat der Clariant
kann ich sagen, dass es dort solche Freundschaften gibt – sogar über die
vielen Sprachbarrieren hinweg. Das liegt mit Sicherheit daran, dass viele
Delegierte Deutsch sprechen oder es zumindest ein wenig verstehen. Aber
auch wenn es diese Sprachbarrieren gibt, können Freundschaften ent-
stehen. So trug es sich zu, dass in einem Frankfurter Vorort private Treffen
eines deutschen und eines französischen Delegierten zustande kamen.
Obwohl der Deutsche weder Englisch noch Französisch und der Franzose
kein Deutsch sprach. Man verstand sich eben ohne Worte bei französi-
schem Rotwein und geschmackvollen Frankfurter Gerichten. Solche
Freundschaften helfen dem Gremium bei aller Vielschichtigkeit, in ent-
scheidenden Momenten dann doch an einem Strang zu ziehen. Leider
sind solche Freundschaften die Ausnahme und beide Kollegen mittler-
weile in Rente. Die deutsch-französische Partnerschaft muss nun mühe-
voll von Neuem wieder aufgebaut werden. Da macht es zum Beispiel Sinn,

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dass man bei der Besetzung von Delegierten auch darauf achtet, welche
Sprachfähigkeiten Betriebsratsmitglieder haben. Im Europabetriebsrat bei
Clariant haben wir den Vorteil, dass unser Vizepräsident (Präsident wird
von der Arbeitgeberseite gestellt, 1996er Vereinbarung nach belgischem
Recht) fünfsprachig ist und somit viele Barrieren aufgehoben sind. Dies
bewirkt, dass seine persönliche Verantwortung gegenüber allen Beteilig-
ten im Europäischen Betriebsrat enorm steigt!
   Innerhalb einer europäischen Betriebsratsplenarsitzung macht sich lei-
der fast niemand Gedanken über seine benutzten Ausdrücke oder die Art
des Vortragens. Oftmals sprechen die Delegierten in ihrem Dialekt, wobei
mir natürlich nur die deutschsprachigen Dialekte auffallen und selbst da
ist es verwunderlich, wenn im Schwitzerdütsch von Mutationen gespro-
chen wird und Veränderungen gemeint sind (obwohl nicht in der Eu-
ropäischen Union Mitglied, haben wir zwei Arbeitnehmervertreter aus
der Schweiz im Europäischen Betriebsrat – da die Clariant ein Schweizer
Unternehmen ist).
   Ebenso ist es mir unverständlich, warum selbst Vertreter des Arbeit-
gebers nicht mit klaren Vokabeln oder einer bildhaften Sprache dazu bei-
tragen, Übersetzungs- und vor allem Verständnisfehler zu vermeiden. Es
liegt wohl daran, dass das Sprechen für uns viel zu selbstverständlich ist.
Jeder weiß, was er gesagt hat, und es ist kaum jemandem bewusst, dass
beim Zuhören mehr als 50 Prozent gefühlt wird. Dieses „gehörte Fühlen“
beginnt schon bei der Lautstärke, der Geschwindigkeit mit der wir reden,
der Tonlage, die wir anschlagen und vielen, vielen weiteren Details, die
bei einer Simultanübersetzung einfach nicht mehr da sind.
   Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Reisen. Nur wenn man die Plenar-
sitzungen nach und nach in den einzelnen Mitgliedsländern durchführt,
hat man die Chance, die am Anfang beschriebenen Informationen zu be-
kommen. Europäische Betriebsratsplenarsitzungen sind alles andere als
Urlaubsreisen. Man sitzt meist drei oder mehr Tage in einem großen Kon-
ferenzhotel, trägt Kopfhörer und wird „gedolmetscht“ mit all den damit
verbundenen Verständigungsproblemen. Nur in diesen wenigen Stunden
hat man die Möglichkeit, die eingangs beschriebenen Ziele eines gemein-
samen Verständnisses und gemeinsamen Handelns zu erreichen. Aber es
gibt sie doch, die Momente! Wenn ein Landesleiter mit Stolz seine Unter-
nehmenscharts zeigt und dazu sagt, bei Hoechst war ich noch General-

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direktor und bei Clariant nennt man die Aufgabe Country-Präsident. Dann
lernt man auch etwas über den Stolz und die Kultur, die vor Ort anzutref-
fen ist. Für uns Betriebsräte ist dies die einzige Chance europäisch denken
und handeln zu lernen. Es wäre grundfalsch von dieser Praxis abzukehren
und praktischerweise immer am Konzernsitz zu tagen, denn nur ein
untereinander verständiges Europa kann die vielen Probleme einer immer
globaleren Wirtschaft lösen.
   Leider wird die Kompetenz der Mitglieder eines Europäischen Betriebs-
rats viel zu wenig in Anspruch genommen. Die dort sitzenden Arbeitneh-
mervertreter kennen die Firma wie ihre eigene Westentasche. Es sind die
europäischen Experten „vor Ort“. Bei allen Unternehmenskonzepten, die
im europäischen Betriebsrat vorgetragen werden, hat man die Chance, sie
auf Tauglichkeit zu überprüfen. Bei allen Kampagnen, wie zum Beispiel
einer Diskussion über „Mission, Vision, Werte“ könnte man überprüfen,
was in Wirklichkeit bei den Kolleginnen und Kollegen vor Ort ankommt
und wie die Thematik aufgenommen wird. Am Wichtigsten jedoch scheint
mir, wenn ein Unternehmenskonzept vom Europäischen Betriebsrat abge-
lehnt oder als nicht tauglich kommentiert wird, trifft dies in den allermei-
sten Fällen hinterher auch so ein. Konzepte, die ein Betriebsratsgremium
nicht überzeugen, sind eben schlechte Konzepte. Selbst bei wirtschaft-
lichen Angelegenheiten hat man bei erfahrenen Betriebsräten eine sehr
hohe Kompetenz. Die Arbeitgeberseite hat diese Kompetenz kraft Amtes.
Man schreibt sie den Managern zu. Die vorherrschende Weltwirtschafts-
krise beweist, dass dieser Kompetenzzuspruch nicht jedem dieser Manager
gerecht wird.
   Mit einer europäischen Sozialpolitik und einem sozialen Dialog kann
man, wenn auch für viele Mitarbeiter unbemerkt, europäische Standards
setzen und die Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Kolleginnen und
Kollegen verbessern. Wir haben dies in einer europäischen Sozialcharta
vereinbaren können. Grundfreiheiten wie Menschenrechte, Menschen-
würde, Freiheit, Gleichheit, Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Verbot
der Zwangs- und Kinderarbeit, Diskriminierungsverbot, aber auch Ar-
beits-, Gesundheits- und Umweltschutz, lebenslanges Lernen, Bildung
und Werte, um nur einige zu nennen, konnten vereinbart werden.
Langfristig muss das schon jetzt Erreichte für alle Arbeitnehmer zu einem
globalen Ziel werden.

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