Eine retrospektive Untersuchung zu differenzialdiagnostischen Überlegungen in vermeintlichen Kinderschutzfällen

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Eine retrospektive Untersuchung zu differenzialdiagnostischen Überlegungen in vermeintlichen Kinderschutzfällen
Kasuistiken
Rechtsmedizin
https://doi.org/10.1007/s00194-021-00512-6
Angenommen: 29. Mai 2021
                                             Eine retrospektive Untersuchung
© Der/die Autor(en) 2021                     zu differenzialdiagnostischen
                                             Überlegungen in vermeintlichen
                                             Kinderschutzfällen
                                             Kindeswohlgefährdung, klarer Fall – oder?
                                             Stefanie Röding1 · Aline Dittmann-Wolf2 · Denise Lackner3 · Christian Blume4 ·
                                             Anette Hasse1,2 · Elisabeth Mützel3 · Gerhard K. Wolf1
                                             1
                                               Kinderklinik Traunstein, Kliniken Südostbayern, akademisches Lehrkrankenhaus der LMU München,
                                               Traunstein, Deutschland
                                             2
                                               Sozialpädiatrisches Zentrum, Kliniken Südostbayern, akademisches Lehrkrankenhaus der LMU München,
                                               Traunstein, Deutschland
                                             3
                                                 Institut für Rechtsmedizin, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
                                             4
                                                 Kinderchirurgie und Kinderurologie Südostbayern, Traunstein, Deutschland

                                                 Zusammenfassung

                                                 Hintergrund: Die Diagnosestellung einer Kindesmisshandlung kann mit Irrtümern
                                                 in beide Richtungen verbunden sein; einerseits können Misshandlungen unentdeckt
                                                 bleiben oder aber Misshandlungen fälschlicherweise als Ursache für Verletzungen
                                                 angenommen werden. Derartige diagnostische Irrtümer können dazu führen, dass
                                                 Kinder dem misshandelnden Umfeld weiterhin ausgesetzt werden oder aber Kinder zu
                                                 Unrecht in Obhut genommen und von ihrer Familie getrennt werden.
                                                 Methoden: Kinderschutzfälle aus den letzten 10 Jahren wurden retrospektiv anhand
                                                 der elektronischen Krankenakte auf falsch-positive Fälle untersucht. Ein positives
                                                 Ethikvotum der LMU München zur Publikation liegt vor.
                                                 Ergebnisse: Die als falsch-positiv identifizierten Fälle hatten als Ursache für
                                                 vermeintliche nichtakzidentelle Verletzungsmuster eine genetisch gesicherte
                                                 Osteogenesis imperfecta Typ 6, einen Lichen sclerosus und eine Hämophilie B. In allen
                                                 Fällen wurde das Jugendamt miteinbezogen, in allen Fällen kam es zu einer Belastung
                                                 für Eltern und Kinder, in einem Fall kam es zu einer, im Nachhinein ungerechtfertigten,
                                                 temporären Inobhutnahme.
                                                 Diskussion: Eine interdisziplinär und multiprofessionell besetzte Kinderschutzgruppe
                                                 an der Kinderklinik kann notwendige Differenzialdiagnosen ins Gespräch bringen
                                                 und die Koordination mit dem Jugendamt und der Polizei erleichtern. Die
                                                 Inobhutnahme durch das Jugendamt ist einerseits eine wichtige Maßnahme, um
                                                 Kinder und Jugendliche vor weiteren Gefährdungen zu schützen, andererseits
                                                 sollten ungerechtfertigte Inobhutnahmen vermieden werden, weil die daraus
                                                 resultierende Trennung von Eltern und Kind zu erheblichen Belastungen führen kann.
                                                 Die Konsultation der Rechtsmedizin ist hilfreich, um die Diagnose entsprechend
                                                 einzugrenzen oder aber um alternative, medizinische Diagnosen anzubieten.

                                                 Schlüsselwörter
                                                 Kindesmisshandlung · Kinderschutzgruppe · Osteogenesis imperfecta · Lichen sclerosus ·
                                                 Hämophilie

                                                                                                                                 Rechtsmedizin   1
Eine retrospektive Untersuchung zu differenzialdiagnostischen Überlegungen in vermeintlichen Kinderschutzfällen
Kasuistiken

Einleitung                                   manchmal unentdeckt, weil die Diagnose       auszuschließen. Es besteht ein positives
                                             aus verschiedenen Gründen nicht rich-        Ethikvotum der Ethikkommission der LMU
Kinderschutz kann häufig nur interdiszipli-   tig gestellt werden konnte, das Kind         München zur Publikation dieser Fälle.
när geregelt werden, indem multiple Fach-    kommt nach der klinischen Vorstellung
disziplinen miteinander kooperieren. An      in das familiäre Setting zurück, und die     Ergebnisse
vielen deutschen Kinderkliniken bestehen     Misshandlungen setzen sich fort. Ande-
inzwischen Kinderschutzgruppen, welche       rerseits liegt in manchen Fällen gar keine   Fall 1
interdisziplinär besetzt und in der Regel    Misshandlung oder ein Missbrauch ei-
mit dem Jugendamt, der Polizei, dem Fa-      nes Kindes vor, und Erkrankungen, die        Ein 15 Monate altes Kind wurde von sei-
miliengericht und der Rechtsmedizin ver-     zu den entsprechenden „Verletzungsmus-       nen Eltern mit seit 2 Tagen bestehen-
netzt sind. Am beschriebenen Standort ist    tern“ führten, werden nicht erkannt. Diese   den Schmerzen und Schwellung am linken
die Kinderschutzgruppe nach den Emp-         Fälle werden aufgrund einer Fehlinterpre-    Oberschenkel in der Notaufnahme vorge-
fehlungen der Deutschen Gesellschaft für     tation der Befunde möglicherweise als        stellt. Radiologisch zeigte sich eine links-
Kinderschutz in der Medizin multidiszi-      Kindeswohlgefährdung dem Jugendamt           seitige Femurfraktur, die kinderchirurgisch
plinär zusammengesetzt (Kinderheilkun-       mitgeteilt, was dazu führen kann, dass       mit Prévot-Nägeln versorgt wurde.
de, Kinderchirurgie, Kinderneurologie, Ra-   die Kinder von den Fachkräften des Ju-           Die Familie war vor wenigen Jahren
diologie, Psychotherapie, Sozialdienst und   gendamtes (dann ungerechtfertigt) in         nach Deutschland geflüchtet. Auch im aus-
Pflege) und kooperiert mit dem Institut       Obhut genommen werden und sich eine          führlichen Gespräch mit dem Dolmetscher
für Rechtsmedizin der LMU. Das Ziel des      notwendige Therapie der Grunderkran-         können die Eltern keine adäquate Erklä-
Zusammenwirkens dieser verschiedenen         kung verzögert. Auch in diesem Fall wird     rung für die Fraktur liefern. Das Kind laufe
Fachdisziplinen ist es, Kindeswohlgefähr-    das Wohl des Kindes gefährdet, jedoch        seit ca. 2 Monaten frei und sei vor 2 Tagen
dungen zu erkennen und ggf. adäquate         ergibt sich die (sekundäre) Kindeswohl-      aus dem Stand auf den Po gefallen, als ihn
Schutzmaßnahmen für das Kind einzulei-       gefährdung [5] aus dem Handeln der           seine Mutter gebeten habe, aus dem Weg
ten. Die Bewertung, ob eine Kindeswohl-      professionellen Akteure und Akteurinnen.     zu gehen. Seither laufe es nicht mehr und
gefährdung vorliegt oder nicht, ist kom-         Einige dieser medizinischen Befunde      sei insgesamt sehr weinerlich.
plex, und die medizinische Diagnosestel-     und differenzialdiagnostischen „Erkran-           Bei der Durchsicht der Krankenakten
lung erfordert eine hohe fachliche Exper-    kungen“, welche als Erklärung für Häma-      (pädiatrisch, kinder- und unfallchirurgisch)
tise. Dass kleine Kinder den Verletzungs-    tome, Blutungen, Frakturen etc. dienen       fiel auf, dass das Kind bereits 2 Mona-
hergang oftmals nur begrenzt beschreiben     können, sollen vorgestellt und kritisch      te zuvor aufgrund einer Oberarmfraktur
können, teilweise Sprachbarrieren existie-   gewürdigt werden.                            links in konservativer kinderchirurgischer
ren und Eltern oder andere betreuende                                                     Behandlung war. Ursache sei der Sturz
Personen eine Misshandlung in der Regel      Methoden                                     von einem Hocker nach Schubsen durch
nicht offen ansprechen und einräumen, er-                                                  ein Geschwisterkind gewesen. Vor 3 Wo-
schwert die Diagnosestellung zusätzlich.     Die Kinderschutzfälle der letzten 10 Jah-    chen war eine unfallchirurgische Vorstel-
    Einerseits müssen Kinder, deren Wohl     re wurden revidiert. Kinderschutzfälle       lung aufgrund von Schmerzen im rechten
gefährdet ist, umgehend geschützt wer-       (n = 33), welche im Rahmen der klini-        Oberarm erfolgt. Hier kam es aber offen-
den, andererseits bedeuten ungerechtfer-     schen Routine zur Vorstellung kamen,         sichtlich zu einem Missverständnis, und
tigte Verdächtigungen und falsch-positive    wurden identifiziert. In etwa der Hälfte      es wurde davon ausgegangen, dass die
Einschätzungen von Anzeichen für eine        der Fälle lag eine eindeutige Kindesmiss-    Schmerzen den zuvor frakturierten Arm
Kindeswohlgefährdung einen schweren          handlung vor, in 6 dieser Fälle kam es       betreffen würden, sodass lediglich dieser
Schaden für Kinder und Eltern, den es        zur Inobhutnahme. In den anderen Fällen      Arm geröntgt wurde. Hierbei zeigte sich
ebenso zu vermeiden gilt. Vor diesem         wurde zwar keine Kindesmisshandlung,         eine adäquate Kallusbildung.
Hintergrund müssen neben medizini-           aber zumindest eine Vernachlässigung             Aufgrund der erneuten Fraktur eines
schen Diagnosen, die den Verdacht einer      festgestellt. Ein Kind war bereits vor der   großen Röhrenknochens innerhalb weni-
Misshandlung oder eines sexuellen Miss-      klinischen Vorstellung vom Jugendamt         ger Monate und der nichtplausiblen Ana-
brauchs bestätigen oder auch widerlegen,     in Obhut genommen. Bei 2 Verdachts-          mnese wurde der Verdacht auf eine Kin-
auch stets alternative Erklärungen für       fällen wurde die eindeutige Diagnose         deswohlgefährdung geäußert. Zusammen
scheinbare Misshandlungen in Erwägung        erst nach erneuter Vorstellung gestellt.     mit der Kinderschutzgruppe wurde das
gezogen werden. Steht die Verdachts-         Die Bayerische Kinderschutzambulanz der      weitere Vorgehen festgelegt. In der Rönt-
diagnose „Kindesmisshandlung“ einmal         Rechtsmedizin der LMU München wur-           genuntersuchung nach Leitlinie (Schädel,
im Raum, kommt es häufig zu einem             de bei Unklarheiten sekundär entweder        obere und untere Extremität, Wirbelsäule,
gravierenden Vertrauensverlust zwischen      telefonisch oder über ein Online-Portal      Thorax- und Beckenübersicht, [3]) wurden
Ärztinnen/Ärzten und Eltern.                 („Remed-online“ [1]) konsultiert. Die Ana-   zusätzlich zur Oberschenkelfraktur Frak-
    Fatalerweise kommt es immer wieder       mnesen und Darstellungen (z. B. Alter)       turen beider Oberarme unterschiedlichen
zu folgenschweren Fehleinschätzungen:        wurden an bestimmten Stellen verfrem-        Alters sowie mehrere Rippenfrakturen fest-
Einerseits bleiben Kindesmisshandlungen      det, um eine nachträgliche Identifikation     gestellt (. Abb. 1a–d). Eine Schädel-MRT

2   Rechtsmedizin
Abb. 1 9 Röntgendiag-
                                                                                                                 nostik, Auszug aus dem
                                                                                                                 Röntgenskelettscreening;
                                                                                                                 rote Pfeile markieren je-
                                                                                                                 weils denFrakturspalt:a lin-
                                                                                                                 ker Oberschenkel mit proxi-
                                                                                                                 maler Femurschaftfraktur,
                                                                                                                 b linker Oberarm 2 Mon. zu-
                                                                                                                 vor mit proximaler Hume-
                                                                                                                 russchaftfraktur, c rechter
                                                                                                                 Oberarm mit anamnestisch
                                                                                                                 zum Zeitpunkt des Rönt-
                                                                                                                 genbildes ca. 3 Wochen al-
                                                                                                                 ter Fraktur, d Thorax: Rip-
                                                                                                                 penserienfraktur der 6. bis
                                                                                                                 8. Rippe links dorsal, Alter
                                                                                                                 wenige Wochen. Fraglich
                                                                                                                 auch rechts dorsal im Rip-
                                                                                                                 penbereich Frakturen

                                                 in der Familie; bei ihnen konnten keine       ein mögliches Trauma auf einer Wippe
                                                 eindeutig misshandlungsverdächtigen äu-       vor einigen Tagen angegeben. Es erfolg-
                                                 ßeren Verletzungen festgestellt werden.       te die ausführliche Untersuchung durch
                                                     Nach weiteren 20 Tagen traf der hu-       eine Frauenärztin der Klinik im Beisein ei-
                                                 mangenetische Befund ein; beim Patien-        ner Kinderärztin aus dem Team der Kin-
                                                 ten konnte eine Mutation im SERPINF1-         derschutzgruppe. Es zeigte sich ein aus-
                                                 Gen, passend zu einer Osteogenesis imper-     geprägter Befund: Zu sehen waren eine
                                                 fecta Typ 6, nachgewiesen werden. Die-        Unterblutung der kleinen Labie rechts so-
                                                 ser Befund wurde am gleichen Tag dem          wie eine punktförmige Unterblutung am
                                                 Jugendamt, der Pflegefamilie und den El-       Introitus zwischen 3 Uhr und 5 Uhr. Im
Abb. 2 8 Unterblutung der kleinen Labie rechts   tern mitgeteilt, und das Kind konnte um-      Analbereich stellte sich bei 12 Uhr eine
sowie eine punktförmige Unterblutung am In-      gehend zurück in seine Familie verbracht      Fissur dar (. Abb. 2). Das Hymen zeigte
troitus zwischen 3 Uhr und 5 Uhr                 werden. Im Verlauf wurde eine Konsangu-       keine frischen Einrisse. Es wurden DNA-
                                                 inität der Eltern bekannt. Eine humange-      Abstriche vom Introitus entnommen. Im
ebenso wie eine augenärztliche Untersu-          netische Untersuchung zeigte bei beiden       Gespräch mit der Psychologin zeigte sich
chung zum Ausschluss retinaler Blutungen         Eltern einen heterozygoten Nachweis der       eine harmonisch erscheinende Interakti-
waren unauffällig. Zusätzlich wurde ein ge-       oben genannten Mutation.                      on der Mutter mit dem Mädchen, und
netisches Panel zur Diagnostik einer Os-                                                       das Mädchen zeigte ein unauffälliges al-
teogenesis imperfecta durchgeführt. Mit          Fall 2                                        tersentsprechendes Verhalten. Die Mutter
dem Ergebnis konnte jedoch erst eine bis                                                       drängte auf Entlassung, es wurde bei un-
2 Wochen später gerechnet werden.                Nach einer Vorstellung beim Kinderarzt        klarer Diagnose jedoch vor Entlassung das
   Es erfolgte die Kontaktaufnahme zum           wurde ein 8-jähriges Mädchen zunächst         Jugendamt einvernehmlich involviert.
zuständigen Jugendamt und zur Rechts-            zum niedergelassenen Gynäkologen und              Aufgrund des Missbrauchsverdachtes
medizin München, und noch am gleichen            dann in die Ambulanz der Kinderklinik ver-    erfolgte ein anonymisiertes Konsil durch
Tag fand das erste von mehreren Helfer-          wiesen. Grund für die Vorstellung war der     die Rechtsmedizin München, inklusive Fo-
gesprächen mit einem Dolmetscher statt.          V. a. eine genitale Verletzung. Seit etwa     todokumentation. Hier bestätigte sich der
Den Eltern wurde der Verdacht der Kindes-        einer Woche hatte die Patientin Schmer-       V. a. einen ausgeprägten Lichen sclerosus
misshandlung eingehend erläutert. Auf-           zen im Genitalbereich angegeben, und be-      et atrophicans. Durch die poröse Oberhaut
grund des Gesamtbildes wurde vom Ju-             reits zuvor war der Mutter ein Harnträufeln   konnte die Haut dabei bereits bei einem
gendamt die Indikation zur Inobhutnahme          aufgefallen. Am Vorabend der Vorstellung      minimalen Trauma mit Blutungen einrei-
bis zur endgültigen Klärung des Sachver-         waren der Mutter eine Verletzung und ei-      ßen. Einsexueller Missbrauchkonnteper se
haltes gestellt und das Kind 4 Tage nach         ne Schwellung der Schamlippen aufgefal-       nicht ausgeschlossen werden, erschien in
Klinikaufnahme in eine Pflegefamilie ent-         len. Ein Trauma war der Mutter zunächst       der Gesamtzusammenschau aber unwahr-
lassen. Die Geschwister blieben zunächst         nicht erinnerlich; auf Nachfragen wurde

                                                                                                                          Rechtsmedizin    3
Kasuistiken
scheinlich. Es zeigten sich keine fremden     Inanspruchnahme von Hilfen hingewirkt           te oder eine medizinische Erkrankung in
DNA-Spuren.                                   werden (§ 4 Abs. 1 KKG). Zur Einschät-          Betracht kam [9]. In einem rezenten publi-
                                              zung einer möglicherweise bestehenden           zierten Fall wurde in Ontario, Kanada, ein
Fall 3                                        Kindeswohlgefährdung haben Kinderärzte          lebenslängliches Urteil gegen den Onkel
                                              und Kinderärztinnen die Möglichkeit, sich       eines 4-jährigen Kindes aufgehoben. Das
Ein 4 Monate altes Kind wurde von den         durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“       Kind wurde leblos im Bett aufgefunden,
Eltern aufgrund eines unklaren Hämatoms       beraten zu lassen, sofern die übermittelten     der Onkel fungierte zu dieser Zeit als
am linken Handrücken vorgestellt. Eine Ur-    Daten pseudonymisiert werden (§ 4 Abs. 2        „Babysitter“. Postmortale Artefakte, wie
sache für das Hämatom in Form eines           KKG). In diesem Zusammenhang können             eine postmortal aufgetretene Blutung im
Traumas war nicht erinnerlich. Im Rah-        sie sich auch an eine rechtsmedizinische        Halsbereich sowie eine postmortal auf-
men der ansonsten unauffälligen Unter-         Stelle [1] wenden.                              getretene anale Dilatation, wurden im
suchung fiel zudem auf, dass das Kind              Irrtümer in beide Richtungen, nämlich       ursprünglichen Prozess als anale Verge-
beim Hochheben unter den Achseln links        entweder dieMisshandlungoder denMiss-           waltigung mit Würgen und Tod durch
empfindlich war. Im Röntgen wurde der          brauch eines Kindes oder Jugendlichen zu        Asphyxie gewertet [7]. Die eigentliche
Verdacht auf eine Fraktur gestellt. Bei dem   übersehen oder aber diese fälschlicher-         Todesursache des Kindes konnte nicht
schon länger zurückliegenden Fall wurde       weise zu diagnostizieren und hierdurch          festgestellt werden, aber natürliche Ur-
zu diesem Zeitpunkt zur Suche von älte-       eine Intervention durch das Jugendamt           sachen wie Long-QT-Syndrom, Epilepsie
ren Frakturen anstelle eines Röntgenske-      zu initiieren, können Folgen für die ge-        oder Anaphylaxie wurden in Betracht ge-
lettscreenings noch eine Skelettszintigra-    samte Familie haben. Im Besonderen ist          zogen. Der Onkel war bis zur Aufhebung
phie durchgeführt. Hier zeigten sich keine    die Inobhutnahme durch das Jugendamt            des Urteils 12 Jahre inhaftiert.
Auffälligkeiten. Im Rahmen der möglichen       eine Intervention, die mit einer abrupten          Differenzialdiagnosen bei Verdacht auf
Differenzialdiagnosen wurde auch der Ver-      Trennung des Kindes von seinen engs-            Kindesmisshandlung sind mitunter sehr
dacht auf eine Kindesmisshandlung mit         ten Bezugs- bzw. Bindungspersonen und           seltene Erkrankungen. So können z. B.
den Eltern diskutiert.                        somit, v. a. bei Kleinkindern, mit psychi-      Erweiterungen des Subarachnoidalraums
    Im Rahmen einer ausführlicheren La-       schen Belastungen einhergeht [4]. Speziell      und subdurale Blutungen eine Glutara-
bordiagnostik zeigte sich die PTT mit 89 s    bei jüngeren Kindern dauerten Inobhut-          cidurie Typ I (u. U. mit Retinablutungen),
deutlich verlängert, der Quick-Wert war       nahmen im Mittel um die 30 Tage [10].           eine Störung des Kupfertransportes (Men-
68 %, und der INR-Wert lag bei 1,3. Im        Angesichts der plötzlichen Trennung des         kes-Syndrom) oder einen Cobalamin-C-
weiteren Verlauf konnte eine schwere Hä-      Kindes von seinen Bezugspersonen und            Mangel als Ursache haben [8]. Als Ursache
mophilie B mit Restaktivität von Faktor IX    der Tatsache, dass ihm in dieser Situation      für Frakturen kommen eine Osteogenesis
Kindeswohlgefährdung                           sehr belastet. Der Befund des Kindes heilte        Einhaltung ethischer Richtlinien
und Situation der Eltern im                    unter topischer Steroidtherapie ab.
                                                                                                  Interessenkonflikt. S. Röding, A. Dittmann-Wolf,
Zusammenhang mit medizinischen                                                                    D. Lackner, C. Blume, A. Hasse, E. Mützel und G.K. Wolf
Fehleinschätzungen                              Fazit für die Praxis                              geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

                                               Die vorgestellten Fälle hatten als Ursache für     Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine
In den hier beschriebenen Fällen konnte ei-    vermeintliche nichtakzidentelle Verletzungs-       Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für
ne Kindesmisshandlung letztendlich aus-        muster eine genetisch gesicherte Osteogene-        die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort ange-
geschlossen werden, dennoch sprach in          sis imperfecta Typ 6, einen Lichen sclerosus       gebenen ethischen Richtlinien. Auf eine Einwilligung
                                               und eine Hämophilie B. Die Dunkelziffer der         der Patienten zur Bilddokumentation wurden im LMU-
den beschriebenen Fällen die initiale Kon-                                                        Ethikvotum unter Anonymisierung der Patienten
                                               nichtdiagnostizierten Fälle von Kindesmiss-
stellation für eine Kindeswohlgefährdung.      handlung ist vermutlich um ein vielfaches          verzichtet.
Der klinische Verlauf mit initialem Ver-       höher als die Fälle, welche falsch-positiv dia-
                                                                                                  Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative
dachtsmoment sowie dem anschließen-            gnostiziert wurden. Dennoch müssen medi-           Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz
den Einbezug des Jugendamtes und des           zinische Diagnosen als Differenzialdiagnose         veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung,
Familiengerichtes führten jedoch zu Be-        unbedingt ausgeschlossen werden. Hierfür           Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jegli-
                                               ist die Zusammenarbeit der jeweiligen Fach-        chem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die
lastungen für Eltern und Kinder [5].           disziplinen unabdingbar. Falls die klinische       ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsge-
    Die Mutter des Kindes mit Osteogene-       oder genetische Diagnostik länger dauert           mäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz
sis imperfecta, selbst durch Flucht trauma-    als der stationäre Aufenthalt, sollte das zu-      beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenom-
                                               ständige Jugendamt in Rücksprache mit der          men wurden.
tisiert und ohne Deutschkenntnisse, war
plötzlich damit konfrontiert, dass ihr Kind    Kinderschutzgruppe der Klinik festlegen, mit
                                                                                                  Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges
                                               welchen Maßnahmen der Schutz des Kindes            Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten
durchdas JugendamtinObhutgenommen              bis zum Abschluss der Diagnostik gewährleis-       Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbil-
und in einer Pflegefamilie untergebracht        tet werden kann. In der Regel kann ein Kind        dungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das be-
wurde. Das Kind war insgesamt 2 ½ Wo-          nicht über Wochen bis zum Erhalt der ge-           treffende Material nicht unter der genannten Creative
chen nicht bei der Familie. Anfängliche        netischen Diagnostik stationär in der Klinik       Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung
                                               bleiben, u. U. wäre aber auch ein abgestuftes      nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für
Überlegungen, auch die anderen Kinder                                                             die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Ma-
                                               Vorgehen des Jugendamtes denkbar, um eine
zum Schutz aus der Familie zu nehmen,          Inobhutnahme zu vermeiden.                         terials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers
wurden nicht umgesetzt. Im Anschluss be-                                                          einzuholen.
                                               Um die eingangs beschriebenen Irrtümer
schrieben die Eltern dies als eine extrem      in beide Richtungen – das Kind verbleibt
                                                                                                  Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der
traumatisch empfundene Situation. Die Fa-      im misshandelnden Umfeld oder wird un-             Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/
milie wurde für die Therapie an die Klinik     gerechtfertigt in Obhut genommen – best-           licenses/by/4.0/deed.de.
                                               möglich zu vermeiden, sollte die Diskussion
angebunden.                                    eines Falles in interdisziplinär und interpro-
    Die Diagnosestellung Lichen sclerosus      fessionell besetzten Kinderschutzgruppen           Literatur
erfolgt in der Regel anhand des klinischen     obligatorisch sein und die Gründung von Kin-
Erscheinungsbildes mit pergamentpapier-        derschutzgruppen an Kinderkliniken weiter           1. Bayerisches Staatsministerium für Familie Arbeit
                                               vorangetrieben werden. Notwendige Diffe-                und Soziales Kinderschutzambulanz Eine bay-
artigen Veränderungen der Haut im Ano-                                                                ernweite Anlaufstelle zur Beratung bei Verdacht
                                               renzialdiagnosen können auf diesem Weg ins
genitalbereich. Im beschriebenen Fall war      Gespräch gebracht werden; auch erleichtert
                                                                                                      auf Kindesmisshandlung. https://www.stmas.
aufgrund der akuten vaginalen Verletzun-                                                              bayern.de/kinderschutz/kinderschutzambulanz.
                                               eine Kinderschutzgruppe die oftmals not-               Zugegriffen: 1.4.2021
gen eine eindeutige Zuordnung zunächst         wendige Kooperation mit dem Jugendamt               2. Bidlingmaier C, Olivieri M, Kurnik K (2012) Haut-
erschwert. Auf dringenden Wunsch der           und der Polizei. Die Konsultation der Rechts-          blutungen bei Kindern. Monatsschr Kinderheilkd
Mutter wurde das Kind dennoch vor Klä-         medizin ist in vielen Fällen hilfreich, um die         6:538–544
                                               Diagnose entsprechend einzugrenzen oder             3. Blesken M, Franke I, Freiberg J et al (2019)
rung der endgültigen Diagnose nach Hau-        aber um alternative medizinische Diagnosen             Langfassung der Leitlinie „Kindesmisshandlung,
se entlassen, jedoch wurde vor der Entlas-     anzubieten.                                            -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung
sung das Jugendamt mit dem Einverständ-                                                               der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleit-
                                                                                                      linie)“. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/
nis der Mutter involviert. Dieses abgestufte    Korrespondenzadresse                                  027-069.html. Zugegriffen: 2.4.2021
Vorgehen erscheint auch im Nachhinein                                                              4. Bowlby J (2006) Verlust, Trauer und Depression.
                                               PD Dr. med. habil. Gerhard K. Wolf                     Reinhardt,
gerechtfertigt. Man wollte von Kliniksei-
                                               Kinderklinik Traunstein, Kliniken Südostbayern,     5. Dettenborn H (2003) Die Beurteilung der Kin-
te mit der Involvierung des Jugendam-          akademisches Lehrkrankenhaus der LMU                   deswohlgefährdung als Risikoentscheidung. FPR
tes sicherstellen, dass das Kind vor erneu-    München                                                06:293–299
tem sexuellen Missbrauch geschützt wird.       Cuno-Niggl-Str. 3, 83278 Traunstein,                6. Pickhardt C, Urban R, Körber F et al (2016)
                                               Deutschland                                            Seltene Differentialdiagnosen bei Verdacht auf
Nach der Diagnosestellung Lichen sclero-                                                              Kindesmisshandlung. Monatsschr Kinderheilkd
                                               gerhard.wolf@lmu.de
sus, dem Erhalt aller Befunde und der Rück-                                                           11:1020–1024
meldung der Rechtsmedizin erfolgte ein                                                             7. Pollanen MS (2012) Forensic pathology and the
                                                                                                      miscarriage of justice. Forensic Sci Med Pathol
erneutes Gespräch mit der Mutter, in dem                                                              8:285–289
die Diagnose sowie mögliche Therapien          Funding. Open Access funding enabled and organi-    8. Scholl-Bürgi S, Kapelari K, Michel M et al
                                               zed by Projekt DEAL.                                   (2016) Angeborene Stoffwechselstörungen in der
erläutert und eine kindergynäkologische
                                                                                                      Differenzialdiagnose von Kindesmisshandlung.
Anbindung empfohlen wurden. Die Mut-                                                                  Pädiatr Prax 86:273–283
ter zeigte sich in dem Gespräch emotional

                                                                                                                                     Rechtsmedizin      5
Abstract

 9. Todt M, Maciuga A, Derbertin AS (2014) „Projekt
    Kinderschutz“ in Niedersachsen. Rechtsmedizin      A retrospective analysis of differential diagnoses in cases of suspected
    24:399–404                                         child abuse. Child abuse, no doubt—or not?
10. Ziegenhain U, Fegert J, Petermann F et al (2014)
    Inobhutnahme und Bindung. Kindh Entwickl           Background: The diagnosis of non-accidental trauma or child abuse can lead to
    23:248–259                                         errors in both directions: either child abuse can go undetected or child abuse can be
                                                       wrongfully diagnosed, if other differential diagnoses were not correctly taken into
                                                       account. Such diagnostic errors can lead to continued child abuse in the home setting,
                                                       or that the child is removed from the family without reason and the parents are falsely
                                                       accused of child abuse.
                                                       Methods: Cases of child abuse from the last 10 years were retrospectively reviewed
                                                       in order to identify false positive cases. The study and publication were reviewed and
                                                       approved by the ethics committee of the Ludwig-Maximilians-University Munich.
                                                       Results: The cases where child abuse was wrongfully suspected had final diagnoses
                                                       such as osteogenesis imperfecta type 6, lichen sclerosus, and hemophilia B. In all cases,
                                                       local child protective services were involved, and in some cases the family court. In one
                                                       case, the child was temporarily removed from the family.
                                                       Discussion: The child protection team can review necessary differential diagnoses and
                                                       coordinate the collaboration with the local child protective services, the police, and the
                                                       family courts. Removing a child from the family can be an effective measure to protect
                                                       the child from further abuse in the case that abuse actually happened but unjustified
                                                       placement in a foster family, even temporarily, must be avoided by all means, as this
                                                       measure may unnecessarily traumatize children and parents. Consultation with forensic
                                                       medicine may be helpful to establish the correct diagnosis.

                                                       Keywords
                                                       Child abuse · Child protection team · Osteogenesis imperfecta · Lichen sclerosus · Hemophilia

6    Rechtsmedizin
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