Einführung in das deutsche öffentliche Recht - 7 Deutschland in der Europäischen Union - Verfassungsrechtliche Fragen - Einführung in das ...

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Einführung in das deutsche öffentliche Recht - 7 Deutschland in der Europäischen Union - Verfassungsrechtliche Fragen - Einführung in das ...
Einführung in das deutsche
                            öffentliche Recht
                § 7 Deutschland in der Europäischen Union –
                       Verfassungsrechtliche Fragen

Univ.-Prof. Dr. Ulrich Stelkens
Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere
deutsches und europäisches Verwaltungsrecht
Einführung in das deutsche öffentliche Recht - 7 Deutschland in der Europäischen Union - Verfassungsrechtliche Fragen - Einführung in das ...
§ 7 Deutschland in der Europäischen Union –
   Verfassungsrechtliche Fragen

                                     Achtung

• Die für Sie bei zu § 7 der Veranstaltung eingestellte Literatur ist gegenüber der
  einschlägigen „Europarechtsprechung“ des BVerfG. i.d.R. kritisch eingestellt.

• Das ist (1.) unterhaltsamer und (2.) beschränkt sich die die Rechtsprechung
  des BVerfG in dieser Hinsicht befürwortende Literatur i.d.R. darauf, die
  Argumentationslinien des BVerfG nachzuzeichnen bzw. darzulegen, dass das
  BVerfG mit seinen Auffassungen der eigenen früher publizierten Auffassung
  des jeweiligen Autors gefolgt ist.

• Hier gilt aber noch deutlicher als bei den anderen Abschnitten der
  Veranstaltung: Die Lektüre dieser Beiträge ist nur für diejenigen sinnvoll, die
  sich näher mit der Argumentation des BVerfG und der Haltung der deutschen
  Staatsrechtslehre hierzu auseinandersetzen wollen. Es handelt sich um
  vertiefende Hinweise, nicht um Pflichtstoff für die Abschlussprüfung!
§ 7 Deutschland in der Europäischen Union –
   Verfassungsrechtliche Fragen

Die der Rechtsprechung des BVerfG zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben und
Grenzen der Integration Deutschlands in die EU
• wird dauernd nuanciert, geändert und unterscheidet sich zudem zwischen den
  beiden Senaten des BVerfG.
• entspricht nicht den Standards, die normalerweise an die Stringenz auch ver-
  fassungsrechtlicher Argumentation gestellt werden; die einzelnen – vielfach
  mehr als 100-seitigen – Entscheidungen lesen sich wie mäandernde
  „Verfassungspredigten“ und staatsphilosophische Traktate
• ist damit nicht mehr juristisch erfassbar, sondern nur noch "auswendig-lernbar".

Lehner, Der Staat 52 (2013), 535, 537 f.:
„Die Urteilsbegründung [des Lissabon-Urteils] mag überlang geworden sein, […]
sie [nimmt] den Leser aber auf eine reizvoll verschlungene gedankliche Reise
mit. Die Entscheidungsfindung wurde allerdings im Lissabon-Urteil […] sowohl in
prozessualer als auch in materieller Hinsicht partiell in Richtung eines kreativ-
fluiden Assoziationsvorgangs gekippt, dessen normative Grundlagen nicht
hinreichend gesichert sind.“
§ 7 Deutschland in der Europäischen Union –
   Verfassungsrechtliche Fragen

Die der Rechtsprechung des BVerfG zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben und
Grenzen der Integration Deutschlands in die EU
• ist von einem tiefen Misstrauen gegenüber den Unionsorganen,
  insbesondere gegenüber dem EuGH, geprägt
• neigt dazu, den EuGH wortreich zu belehren, wie Unionsrecht richtig auszu-
  legen sei und ist insoweit ungeachtet gegenteiliger Selbsteinschätzung (BVerfG,
  2 BvR 2728/13 u. a. v. 21.6.2016, Abs. 158 ff. = BVerfGE 142, 123, 205 ff. -
  OMT-Urteil) wenig methodensensibel in Bezug auf die Auslegung des Unions-
  rechts, v. a. weil insoweit als selbstverständlich die deutsche juristische Rechts-
  anwendungsroutinen (und i.d.R. auch nur deutsche Literatur) herangezogen
  werden, die Perspektive der anderen Mitgliedstaaten jedoch unberücksichtigt
  bleibt
• hat schon vor Mai 2020 schon mehr oder weniger unverhohlen mit „Exit-
  Szenarien“ gedroht, findet ihren vorläufigen traurigen Höhepunkt jedoch in
  BVerfG, 2 BvR 859/15 u. a. v. 5.5.2020, Abs. 154 ff. = BVerfGE 154, 17, 117 ff.
  (PSPP-Urteil). Hier wird erstmals EuGH-Entscheidung, die in einem vom BVerfG
  selbst initiierten Vorabentscheidungsverfahren ergangen ist, als "ultra vires" in
  Deutschland für unverbindlich erklärt.
§ 7 Deutschland in der Europäischen Union –
   Verfassungsrechtliche Fragen

Die der Rechtsprechung des BVerfG zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben und
Grenzen der Integration Deutschlands in die EU stößt insbesondere bei den
Mitgliedstaaten auf Unverständnis, die keine Verfassungsgerichtsbarkeit nach
deutschem Vorbild haben und deshalb auch das BVerfG nicht für besser
demokratisch legitimiert ansehen als die Unionsorgane
de Boer/J. van 'T Klooster, CML 57 (2020), 1689, 1719:
„Secondly, and most fundamentally, judicial review does not by itself provide the
ECB’s operations with democratic legitimacy. Strict review supplants the
discretionary choices of one democratically unaccountable body – the ECB – with
that of another – in this case the ECJ or BVerfG. It makes judges the arbiters of
how the economic effects of monetary policy should beweighed against its
contribution to the monetary policy objective. It is not just the ECB that operates on
a diminished level of democratic legitimation. The judges of the ECJ and the
BVerfG are in a structurally similar position: they are independent judges who are
not democratically accountable to citizens. The BVerfG has a further democratic
deficit, because in an EU context it is especially problematic that a German
court rules on these topics, while the ECB’s monetary policy affects all
citizens of the Eurozone Member States.“
§ 7 Deutschland in der Europäischen Union –
   Verfassungsrechtliche Fragen

Interview mit Johannes Masing (Richter am 1. Senat des BVerfG von
Februar 2008 bis Juli 2020) in: ZRP 2020, 194, 197:

„Ob die Ultra-vires-Entscheidung in meinen Augen erforderlich war, dazu will ich
mich öffentlich nicht abschließend äußern. […] Jedenfalls wird hier ein tieferer
Konflikt deutlich. Wir haben in Deutschland ein sehr starkes Verfassungs-
gericht und gehen davon aus, dass jede Vertrags- und Verfassungsfrage
gerichtlich kontrolliert wird. Dieses Grundverständnis haben andere Länder
aber nicht. Soweit mir bekannt ist, hat noch kein Gericht der Welt die
Geldpolitik einer Zentralbank kontrolliert. Wenn nun der Zweite Senat den
EuGH dazu bringen wollte, eine solche Kontrolle vorzunehmen, merkt man, dass
hier verschiedene Verständnisse von Rechtsstaat und Gerichtsbarkeit
aufeinandertreffen. Die Geltendmachung etwaiger rechtlicher Grenzen aus
den Verträgen wird für solche hochpolitischen Materien in anderen Ländern
vielfach als Aufgabe der Politik gesehen. Im Übrigen ist ja auch nach
deutschem Prozessrecht die Eröffnung der Verfassungsbeschwerde und damit
die Prüfungskompetenz des BVerfG nicht unstreitig. Hier ist ein Konflikt
ausgebrochen – hoffentlich mit gutem Ausgang. “
§ 7 Deutschland in der Europäischen Union –
   Verfassungsrechtliche Fragen

Generalanwalt Tanchev in der Rs. C-824/18 v. 17.12.2010 – A.B. u. a.
(Folie 1 von 3)
„80. Im kürzlich ergangenen [PSPP-]Urteil des BVerfG […] hat der Zweite Senat
des BVerfG im Wesentlichen befunden, dass es sich beim Urteil der Großen
Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Weiss u. a. […] wie auch bei
mehreren Entscheidungen der Europäischen Zentralbank, die das 2015
angekündigte Public Sector Assets Purchase Programme betreffen, um Ultra-
vires-Akte handele, die in Deutschland nicht anwendbar seien.
81. Das BVerfG hätte, anstatt mit seiner aus dem Rahmen fallenden Vorgehens-
weise das gesamte, auf dem Rechtsstaatsprinzip beruhende System der Rechts-
gemeinschaft der Union zu gefährden, erklären können, was seiner Ansicht nach
an der Rechtsprechung des [EuGH] kritikwürdig ist, und dann dem [EuGH] ein
neues Vorabentscheidungsersuchen vorlegen können (und genauso hätte es
auch verfahren müssen, wenn es seiner eigenen Rechtsprechung zu dieser Frage
gefolgt wäre […]. Schließlich ist der Dialog der Gerichte nicht nur von hohem
Wert, sondern von integraler Bedeutung für die Funktionsweise der
Rechtsordnung der Union.“
§ 7 Deutschland in der Europäischen Union –
   Verfassungsrechtliche Fragen

Generalanwalt Tanchev in der Rs. C-824/18 v. 17.12.2010 – A.B. u. a.
(Folie 2 von 3)
„82. Jedenfalls handelt es sich hier nicht um die Situation, dass es nationales
Recht gibt und Völkerrecht, wobei die nationale Rechtsordnung einem der beiden
den Vorrang einräumt […]: „[D]as Unionsrecht ist nicht ‚ausländisches Recht‘,
sondern vielmehr seinem ureigenen, durch seine Eigenständigkeit geprägten
Charakter nach das in jedem Mitgliedstaat geltende ‚Recht des Landes‘… [Sein]
Vorrang geht Hand in Hand mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der
Mitgliedstaaten, der jede den Interessen einzelner Staaten dienliche
‚Rosinenpickerei‘ ausschließt“ [Verweis auf Lenaerts, „The Primacy of EU Law and
the Principle of the Equality of the Member States before the Treaties“,
Verfassungsblog, 8.10.2020].
83. Der Ultra-vires-Ansatz des BVerfG untergräbt die Rechtsstaatlichkeit in der
Union, die jedoch als conditio sine qua non für die Integration unerlässlich ist. Die
Union hat keine übergeordnete Struktur für die Bewältigung von Konflikten
zwischen Gerichten; es ist vielmehr das Rechtsstaatsprinzip, das die Brücke für
die Bewältigung solcher Konflikte bildet.“
§ 7 Deutschland in der Europäischen Union –
   Verfassungsrechtliche Fragen

Generalanwalt Tanchev in der Rs. C-824/18 v. 17.12.2010 – A.B. u. a.
(Folie 3 von 3)
„84. Nach den Verträgen, die den von den Mitgliedstaaten geschlossenen „Vertrag“
darstellen, ist in Fragen des Unionsrechts der Gerichtshof die letzte Instanz. Dies
ergibt sich eindeutig aus Art. 19 EUV und Art. 267 AEUV. Darüber hinaus sind die
Mitgliedstaaten in Art. 344 AEUV […] die Verpflichtung eingegangen, ‚Streitigkeiten
über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hierin vorge-
sehen zu regeln‘ […]. Pacta sunt servanda. […]. Nach den Verträgen ist es keinem
nationalen Gericht gestattet, sich über ein Urteil des Gerichtshofs hinwegzusetzen,
denn andernfalls würde das Unionsrecht nicht in allen 27 Mitgliedstaaten gleich-
mäßig und wirksam angewendet, womit die gesamte rechtliche Grundlage der Union
in Frage gestellt wäre. Ist ein nationales Verfassungsgericht der Ansicht, dass ein
Akt der Union […] mit der Verfassung des Landes in Konflikt steht, kann es nicht ein-
fach den Akt […] für in seinem Land nicht anwendbar erklären. Das Verfassungs-
gericht kann jedoch versuchen, Abhilfe zu schaffen, indem es der eigenen Re-
gierung auferlegt, die Verfassung zu ändern, sich im unionspolitischen Pro-
zess um eine Änderung der Unionsvorschrift zu bemühen oder, falls notwen-
dig, aus der Union auszutreten […]. Nur auf diese Weise ist die Gleichbehand-
lung der Mitgliedstaaten in der von ihnen geschaffenen Union gewährleistet.“
§ 7 Deutschland in der Europäischen Union –
   Verfassungsrechtliche Fragen

A) Verfassungsrechtliche „Aufhänger“ der Rechtsprechung des BVerfG zu
   den verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration Deutschlands in die
   EU

B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht nach der
   Rechtsprechung des EuGH

C) Grundrechtsschutz durch das BVerfG gegenüber Unionsrechtsakten und
   deutschen Akten der öffentlichen Gewalt, die Unionsrecht umsetzen und
   anwenden?

D) Schutz vor „Sprengung“ der sich aus Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden
   „Integrationsgrenzen“?

E) Fazit
A) Verfassungsrechtliche „Aufhänger“ der Recht-
   sprechung des BVerfG zu den verfassungsrechtlichen
   Grenzen der Integration Deutschlands in die EU

                                      Art. 23 GG
(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutsch-
land bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen,
rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der
Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen
vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch
Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die
Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertrag-
lichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grund-
gesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderun-
gen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3.
(2) bis (7) [Regelungen zu Informationspflichten der Bundesregierung und zu
Mitwirkungsrechten von Bundestag, Bundesrat und der Länder in EU-
Angelegenheiten]

Artikel 23 GG wurde erst durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes v. 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2086) in das Grundgesetz eingefügt
A) Verfassungsrechtliche „Aufhänger“ der Recht-
   sprechung des BVerfG zu den verfassungsrechtlichen
   Grenzen der Integration Deutschlands in die EU

Bis zur Einfügung des Artikel 23 GG durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes v. 21.12.1992 (BGBl. I, S. 2086) galt auch für die Integration der
Bundesrepublik in die Europäischen Gemeinschaften

                                 Art. 24 GG
 (1) Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche
 Einrichtungen übertragen.
 (1a) bis (3) […]

In Bezug auf Art. 24 Abs. 1 GG war diskutiert worden, ob und inwieweit
• das Übertragungsgesetz nach Art. 24 Abs. 1 GG auch das Hoheitsrecht zu
  Grundrechtseingriffen übertragen kann
• die Übertragungsberechtigung nach Art. 24 Abs. 1 GG an die Grenzen des
  Art. 79 Abs. 3 GG i.V. mit Art. 1 und 20 GG gebunden ist (ob also die
  Übertragung von Hoheitsrechten durch Art. 79 Abs. 3 GG begrenzt ist).
Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG führt diese Bindung an Art. 79 Abs. 3 GG explizit in den
Verfassungstext ein
A) Verfassungsrechtliche „Aufhänger“ der Recht-
   sprechung des BVerfG zu den verfassungsrechtlichen
   Grenzen der Integration Deutschlands in die EU

                                  Grundgesetz
Art. 79. (1) und (2) [Formelle Anforderungen an Verfassungsänderungen].
(3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des
Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der
Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze
berührt werden, ist unzulässig.

Art. 146. Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit
Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem
Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier
Entscheidung beschlossen worden ist.
A) Verfassungsrechtliche „Aufhänger“ der Recht-
   sprechung des BVerfG zu den verfassungsrechtlichen
   Grenzen der Integration Deutschlands in die EU
Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und
unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen
Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt
und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Art. 20 (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer
Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und
Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden
Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die
vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht
gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle
Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
A) Verfassungsrechtliche „Aufhänger“ der Recht-
   sprechung des BVerfG zu den verfassungsrechtlichen
   Grenzen der Integration Deutschlands in die EU
Je mehr Grenzen das BVerfG für die Integration Deutschlands in die EU aus Art.
23 Abs. 1 Satz 3 GG i. V. mit Art. 79 Abs. 3 GG herausliest, desto
• weniger lässt sich die Rechtsprechung des BVerfG hierzu durch Verfassungs-
  änderung „aushebeln“ und ist sie auch gegenüber 2/3 Mehrheiten in Bundestag
  und Bundesrat „immun“
• eher wird das BVerfG dazu neigen, sich selbst als Garant der Grenzen des Art.
  79 Abs. 3 GG auch gegenüber der EU zu verstehen, um „Austrittsgebote“ zu
  vermeiden (und damit selbst als „Kontrollinstanz“ auch gegenüber der EU bzw.
  dem EuGH auftreten)
• eher wird BVerfG dazu neigen, Unionsrecht letztlich „verfassungskonform“
  auszulegen und damit eine Art „alternatives Europarecht Karlsruher Lesart“
  zu schaffen (Karpenstein/Kottmann, EuZW 2020, 185;
  Ludwigs/Pascher/Sikora, EWS 85, 93; ähnlich Hellwig, NJW 2020, 2497, 2501
  f.; Ullrich, EWS 2020, 301, 321 ff.), das für die Fortentwicklung des
  Unionsrechts als gemeinsames Recht der Mitgliedstaaten wenig
  anschlussfähig sein kann aber deutsche Behörden und Gerichte erheblich
  verunsichern dürfte
A) Verfassungsrechtliche „Aufhänger“ der Recht-
   sprechung des BVerfG zu den verfassungsrechtlichen
   Grenzen der Integration Deutschlands in die EU

Zur Frage, ob das Grundgesetz Deutschland einen Austritt aus der Europäischen
Union nach Art. 50 EUV erlaubt, ob Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG also verpflichtend
ist:

• Groß, EuR 2018, 387 ff. mit ausführlicher Analyse der historischen Voraus-
  setzungen und Entwicklungen der Mitgliedschaft Deutschlands in der EU und
  dem überzeugendem Ergebnis, dass ein Austritt Deutschlands aus der EU
  nach Art. 50 EUV grundsätzlich gegen das Grundgesetz verstoßen würde,
  solange die EU mit dem bisher erreichten Stand grundsätzlich funktionsfähig
  ist.

• Hieraus folgt, dass die vom BVerfG verschiedentlich angedeuteten „Exit-
  Szenarien“ ohne Verfassungsänderung (wohl) nicht realisierbar wären
B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht
   nach der Rechtsprechung des EuGH

• Monopol hinsichtlich der Auslegung und Ungültigkeitserklärung von
  Rechtsakten der Union liegt nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV beim EuGH.

• Das Unionsrecht sieht keine Zuständigkeit nationaler Verfassungs-
  gerichte zur Kontrolle von Rechtsakten der EU (und der EU-
  Eigenverwaltung) vor.

• Eine „Ultra vires“-Kontrolle durch nationale Verfassungsgerichte (mit
  denen entweder Unionsrechtsakte im Territorium des jeweiligen Mitgliedstaates
  für ungültig erklärt werden oder den nationalen Behörden und Gerichten
  verboten wird, sie anzuwenden und umzusetzen) ist eine klarer Verstoß
  gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV, der auch nicht mit Art. 4 Abs. 2 EUV oder
  Art. 5 EUV gerechtfertigt werden kann

    Deutlich Arnold, in: Festschrift für Dieter H. Scheuing, 2011, S. 17, 22 ff.; Epiney, NVwZ
    2016, 655, 659 f.; Frenz, DVBl. 2020, 1017, 1019 f.; Galetta/Ziller, RTDeur 2020, 855,
    868 ff.; Giegerich, ZEuS 2016, 3, 31 f.; ders., EuZW 2020, 560, 564 f.; Mayer, Jura
    2011, 532, 539 f.; ders., JZ 2020, 725, 728 ff.; Nicolaysen, EuR Beih. 1/2010, 9, 23 ff.;
    Proelß, EuR 2011, 241, 246 ff.; Ullrich, EWS 2020, 301, 321 ff.
B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht
   nach der Rechtsprechung des EuGH

Der EuGH lässt an der Verbindlichkeit seiner Entscheidungen - für die
nationalen Verfassungsgerichte - keine Zweifel zu:
Gegenüber den umfangreichen Ausführungen des BVerfG im OMT-
Vorlagebeschluss (BVerfG, 2 BvR 2728/13 u.a. v. 14.1.2014, Abs. 22 ff. und Abs. 44
ff. = BVerfGE 134, 366, 382 ff. und 394 ff.) zu der dem BVerfG zustehenden
Befugnis zu einer "Ultra-Vires-Kontrolle" von Rechtsakten der EU und zu den
verfassungsrechtlichen Handlungs- und Unterlassungspflichten deutscher
Staatsorgane im Fall des Vorliegens eines "Ultra-Vires-Akt" der EU antwortet der
EuGH in seiner Vorabentscheidung (EuGH, Rs. C-62/14 v. 16.6.2015, Rn. 16 -
Gauweiler) nur:

„16. Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass ein Urteil des Gerichtshofs im Vor-
abentscheidungsverfahren nach dessen ständiger Rechtsprechung das nationale
Gericht hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit der fraglichen Handlungen
der Unionsorgane bei der Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit bindet (vgl.
u. a. Urteile Fazenda Pública, C-446/98, EU:C:2000:691, Rn. 49, und Elchinov,
C-173/09, EU:C:2010:581, Rn. 29) “

                                                        Fortsetzung nächste Folie
B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht
   nach der Rechtsprechung des EuGH

Vor dem Hintergrund der Abs. 30 ff. der Schlussanträge des Generalanwalts Cruz
Villalón zu dieser Rechtssache (C-62/14) kann dies nur als sehr deutlicher Hinweis
des EuGH verstanden werden, dass er auch jegliche Missachtung seiner
Entscheidungen durch das BVerfG oder andere Verfassungsgerichte als
"Vertragsverletzung" verstehen wird., die - auf entsprechenden Antrag der
Kommission auch im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 ff. AEUV) vom
EuGH festgestellt werden kann
    Wie hier die Beurteilungen der Ausführungen des EuGH in der Rechtssache
    Gauweiler: Anagnostaras, CML. Rev. 40 (2015), 744, 755 ff.; Classen, EuR
    2015, 477, 478; Epiney, NVwZ 2016, 655, 659 f.; Frenz, DVBl. 2015, 978;
    Herrmann/Dornacher, EuZW 2015, 579, 582; Kovar, RTDeur. 2015, 579, 591 f.
B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht
   nach der Rechtsprechung des EuGH

Deutlich auch EuGH, Rs. C-715/17 u. a. v. 2.4.2020 – Kommission ./. Polen u. a.
(betraf die unterlassene Umsetzung eines Beschlusses zur Flüchtlingsumsiedlung,
was u. a. Polen im Hinblick auf Art. 4 Abs. 2 EUV verweigerte)
„139. In der Union, die auf Rechtsstaatlichkeit gründet, gilt für Handlungen der Orga-
ne die Vermutung der Rechtmäßigkeit. Da die Beschlüsse […] seit ihrem Erlass für
die Republik Polen und die Tschechische Republik verbindlich waren, waren diese
Mitgliedstaaten verpflichtet, diese Unionsrechtsakte zu beachten und sie während
ihrer gesamten Geltungsdauer […] durchzuführen. Gleiches gilt für Ungarn in Bezug
auf den Beschluss 2015/1601, der ab seinem Erlass und während seiner gesamten
Geltungsdauer von zwei Jahren für diesen Mitgliedstaat verbindlich war
140. An dieser Verbindlichkeit der Beschlüsse […] ändert sich nichts dadurch, dass
Ungarn und die Slowakische Republik die Rechtmäßigkeit des Beschlusses
2015/1601 vor dem Gerichtshof im Rahmen von Nichtigkeitsklagen nach Art. 263
AEUV in Abrede gestellt haben und die Republik Polen in diesen Verfahren als
Streithelferin zur Unterstützung dieser beiden Mitgliedstaaten aufgetreten ist. Von
den Letztgenannten beantragte im Übrigen keiner die Aussetzung der Vollziehung
des letztgenannten Beschlusses oder den Erlass einstweiliger Anordnungen durch
den Gerichtshof nach den Art. 278 und 279 AEUV, so dass diese Nichtigkeitsklagen
gemäß Art. 278 AEUV keine aufschiebende Wirkung hatten.“
B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht
   nach der Rechtsprechung des EuGH

Deutlich auch EuGH (GK), Rs. C-311/18 v. 16.7.2020, Abs. 100 - Schrems II.

„100. Im Übrigen entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass die Gültigkeit
unionsrechtlicher Bestimmungen und, sofern darin kein ausdrücklicher Verweis
auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten erfolgt, ihre Auslegung nicht anhand
dieses nationalen Rechts zu beurteilen sind, selbst wenn es im Verfassungsrang
steht, insbesondere nicht anhand der Grundrechte, wie sie in den nationalen
Verfassungen der Mitgliedstaaten ausgestaltet sind (vgl. in diesem Sinne Urteile
vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft, 11/70,
EU:C:1970:114, Rn. 3, vom 13. Dezember 1979, Hauer, 44/79, EU:C:1979:290,
Rn. 14, sowie vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis, C-135/15, EU:C:2016:774,
Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).“
B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht
   nach der Rechtsprechung des EuGH

Nationales Verfassungsrecht und „Anwendungsvorrang des Unionsrechts“:
• Der EuGH nimmt in st. Rspr. (seit EuGH, Rs. 6/64 v. 15.7.1964, Slg. 1964, 1251,
  1269 f. - Costa/E.N.E.L.) einen unbedingten Vorrang des Unionsrechts vor dem
  nationalen Recht an.
• Hiernach führt ein Verstoß von innerstaatlichem Recht gegen Unionsrecht dazu,
  dass die nationale Norm "ohne weiteres unanwendbar" ist (grundlegend: EuGH,
  Rs. 106/77 v. 6.3.1978, Rn. 17 - Simmentahl II). Die unionsrechtswidrige
  nationale Norm wird somit von entgegenstehendem Unionsrecht „verdrängt“. Sie
  ist jedoch nicht nichtig, sondern könnte in dem Fall des Außerkrafttretens der ihr
  entgegenstehenden Norm des Unionsrechts wieder "aufleben".
• Anwendungsvorrang des Unionrechts gilt jedoch nur für unmittelbar
  anwendbares Unionsrecht (insbes. Richtlinien [soweit sie nicht unmittelbar
  anwendbar werden können]); nicht unmittelbar anwendbares Unionsrecht kann
  nationales Recht nicht „verdrängen“ (weil es nicht an die Stelle des nationalen
  Rechts treten kann).
    Siehe zur Funktionsweise und zum Anwendungsbereich des „Anwendungsvorrangs des
    Unionsrechts ausführlich: EuGH (GK), Rs. C-573/17 v. 24.6.2019 – Poplawski
B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht
   nach der Rechtsprechung des EuGH

Nationales Verfassungsrecht und „Anwendungsvorrang des Unionsrechts“:
• Anwendungsvorrang des Unionrechts gilt nach der Rechtsprechung des EuGH
  insbesondere auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht
    S. etwa EuGH, Rs. 11/70 v. 17.12.1970, Rn. 3 f. - Internationale Handelsgesellschaft;
    EuGH, Rs. C-409/06 v. 8.9.2010, Rn. 60 f. - Winner Wetten-GmbH; EuGH, Rs. C-399/11
    v. 26.2.2013, Rn. 59 – Melloni; EuGH, Rs. C-378/17 v. 4.12.2018, Abs. 49 – Workplace
    Relations Commission; EuGH (GK), Rs. C-311/18 v. 16.7.2020, Abs. 100 - Schrems II

• Für nationale Behörden und Gerichte bedeutet Anwendungsvorrang des
  Unionsrechts Pflicht zur Nichtanwendung der „nachrangigen“ nationalen
  (Verfassungs)Norm, ohne dass dies durch nationales (Verfassungs)Recht an
  ein vorheriges Durchlaufen von Vorlagepflichten oder an eine
  „Offensichtlichkeit“ u. ä. geknüpft werden dürfte.
    EuGH, Rs. C-409/06 v. 8.9.2010, Abs. 55 ff. - Winner Wetten-GmbH; EuGH, Rs.
    C-188/10 und C-189/10 v. 22.6.2010, Abs. 40 ff. - Melki und Abdeli; EuGH, Rs. C-5/14 v.
    4.6.2015, Abs. 32. - Kernkraftwerke Lippe-Ems GmbH; EuGH, Rs. C-689/13 v.
    5.4.2016, Rn. 40 – PFE; EuGH, Rs. C-378/17 v. 4.12.2018, Abs. 33 ff. – Workplace
    Relations Commission.
B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht
   nach der Rechtsprechung des EuGH

EuGH, Rs C-511/18 u. a. v. 6.10.2020 - La Quadrature du Net (Folie 1 von 2)

„214. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts besagt, dass das
Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz
verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen
unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht
der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in
ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf […].
215. Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist ein nationales
Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des
Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit
den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, verpflichtet, für die volle
Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls
jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus
eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es ihre vorherige
Beseitigung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes
verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste […].“
B) Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht
   nach der Rechtsprechung des EuGH

EuGH, Rs C-511/18 u. a. v. 6.10.2020 - La Quadrature du Net (Folie 2 von 2)

„216. Nur der Gerichtshof kann in Ausnahmefällen und aus zwingenden
Erwägungen der Rechtssicherheit eine vorübergehende Aussetzung der
Verdrängungswirkung herbeiführen, die eine unionsrechtliche Vorschrift
gegenüber mit ihr unvereinbarem nationalem Recht ausübt. Eine solche zeitliche
Beschränkung der Wirkungen einer Auslegung des Unionsrechts durch den
Gerichtshof kann nur in dem Urteil vorgenommen werden, in dem über die
begehrte Auslegung entschieden wird […].
217. Der Vorrang und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts würden
beeinträchtigt, wenn nationale Gerichte befugt wären, nationalen
Bestimmungen, sei es auch nur vorübergehend, Vorrang vor dem
Unionsrecht einzuräumen, gegen das sie verstoßen […].“
C) Grundrechtsschutz durch das BVerfG gegenüber
   Unionsrechtsakten und deutschen Akten der
   öffentlichen Gewalt, die Unionsrecht umsetzen?

I.   Schützen deutsche Grundrechte vor Maßnahmen der EU?

II. Schützen deutsche Grundrechte vor deutschen Akten der öffentlichen
    Gewalt, die Unionsrecht umsetzen?

III. Art. 1 Abs. 1 GG als „Notbremse“ gegenüber menschenwürdewidrigem
     Unionsrecht
I. Schützen deutsche Grundrechte vor Maßnahmen der
   EU?

BVerfG, 2 BvR 2728/13 u. a. v. 21.6.2016, Abs. 97 f. = BVerfGE 142, 123, 179 f. -
OMT - Hauptsachverfahren:

"Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der
Europäischen Union sind keine Akte deutscher öffentlicher Gewalt im Sinne von
Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG und daher auch nicht
unmittelbarer Beschwerdegegenstand im Verfahren der
Verfassungsbeschwerde".

• Abweichung von früherer Rechtsprechung, die angenommen hatte, die EU sei
  unmittelbar an die deutschen Grundrechte in Deutschland gebunden (ausführlich
  bei C I dieses Hinweises)
• Unionsrechtsakte können im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde jedoch als
  Vorfrage Gegenstand der Prüfung durch das BVerfG sein, soweit sie die
  Grundrechtsberechtigten in Deutschland betreffen. Das BVerfG kann prüfen, ob
  der Unionsrechtsakt vom „Integrationsprogramm“ des Art. 23 Abs. 1 GG gedeckt
  ist. Wenn nicht, darf er von den deutschen Stellen nicht angewandt werden
  (hierzu § 7 D II des Kurses)
II. Schützen deutsche Grundrechte vor deutschen Akten
    der öffentlichen Gewalt, die Unionsrecht umsetzen?

BVerfG, 2 BvR 2735/14 v. 15.12.2015, Abs. 33 ff. = BVerfGE 140, 317, 334 -
Europäischer Haftbefehl II
• Art. 23 Abs. 1 GG ermächtigt den deutschen "Integrationsgesetzgeber" dazu,
  Organe und Stellen der Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt
  ausüben, von einer umfassenden Bindungen und andere Gewährleistungen des
  Grundgesetzes "freizustellen“. Eine solche „Freistellung“ erfasst auch
  Maßnahmen der deutschen Staatsgewalt, soweit sie zwingendes EU-Recht
  umsetzen
• Aber: Eine Freistellung der Organe und Stellen der Union von den Bindungen
  des Art. 1 GG (Menschenwürde) kommt auch im Einzelfall nicht in Betracht.
  Eine Verfassungsbeschwerde, mit der eine Missachtung des Art. 1 GG (auch)
  durch Organe und Stellen der EU gerügt wird, ist dementsprechend zulässig,
  wenn der Einzelne substantiiert darlegt, dass in dem konkreten Fall die durch
  Art. 1 GG geschützte Garantie der Menschenwürde verletzt sei.
II. Schützen deutsche Grundrechte vor deutschen Akten
    der öffentlichen Gewalt, die Unionsrecht umsetzen?

BVerfG, 1 BvR 16/13 v. 6.11.2019, Abs. 39 = BVerfGE 152, 152, 168 - Recht auf
Vergessen I:
• Akte deutscher öffentlicher Gewalt, die der Umsetzung von Unionsrecht dienen,
  sind grundsätzlich sowohl an die Grundrechte des Grundgesetzes wie an die
  Unionsgrundrechte gebunden.
• Die Grundrechtskataloge des Grundgesetzes und der EU-Grundrechte-Charta
  können dementsprechend auf derartige Akte grundsätzlich nebeneinander
  Anwendung finden (ausführlich zur nicht sehr geradlinig verlaufenden
  Rechtsprechung des BVerfG bei C II dieser Anmerkung)
BVerfG, 1 BvR 276/17 v. 6.11.2019, Abs. 60 ff. = BVerfGE 152, 216, 233 ff. - Recht
auf Vergessen II:
• Auch die Verletzung von Unionsgrundrechten kann mit der Verfassungsbe-
  schwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG gerügt werden (näher hierzu (m.w.N.)
  bei C III 1 dieser Anmerkung).
II. Schützen deutsche Grundrechte vor deutschen Akten
    der öffentlichen Gewalt, die Unionsrecht umsetzen?

Unterschiedliche Kontrollmaßstäbe, je nachdem, ob der deutsche Akt öffentlicher
Gewalt der Umsetzung zwingenden Unionsrechts dient oder ob das Unionsrecht
den zuständigen Stellen Gestaltungspielräume belässt:
• BVerfG, 1 BvR 276/17 v. 6.11.2019, Abs. 68 ff. und Abs. 95 ff. = BVerfGE 152,
  216, 243 ff, 252 ff. - Recht auf Vergessen II: In den Fällen, in denen der umzu-
  setzende Unionsrechtsakt den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum
  belässt, erfolgt verfassungsgerichtliche Prüfung nur am Maßstab der
  Unionsgrundrechte
• BVerfG, 1 BvR 16/13 v. 6.11.2019, Abs. 45, 63 ff. = BVerfGE 152, 152, 170, 179
  ff. - Recht auf Vergessen I: Für die Fälle, in denen bei der Umsetzung des
  Unionsrechts den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume belässt, werden
  dagegen im Grundsatz die angegriffenen Akte der deutschen öffentlichen Gewalt
  sowohl an den deutschen Grundrechten als auch an die Unionsgrundrechten
  gemessen. Das BVerfG will seine Prüfung jedoch in diesen Fällen "primär am
  Maßstab des Grundgesetzes" ausüben. Beispiel in Form einer Fallbearbeitung:
  Kriegsspielzeug-Fall
• Näher hierzu (m.w.N.) bei C III 3 dieser Anmerkung
II. Schützen deutsche Grundrechte vor deutschen Akten
    der öffentlichen Gewalt, die Unionsrecht umsetzen?

BVerfG, 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 v. 1.12.2020, Abs. 36 ff. – Europäischer
Haftbefehl III
• Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen
  seien "grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern die
  Unionsgrundrechte maßgeblich". Die Nichtanwendung der deutschen
  Grundrechte als unmittelbarer Kontrollmaßstab beruhe auf der Anerkennung
  des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und lasse „die Geltung der
  Grundrechte des Grundgesetzes als solche unberührt.“
• Explizites Festhalten an dem Grundsatz der Entscheidung „Europäischer
  Haftbefehl II“ (BVerfG, 2 BvR 2735/14 v. 15.12.2015, Abs. 33 ff. = BVerfGE
  140, 317, 334), dass die deutsche Staatsgewalt auch bei Umsetzung
  zwingender unionsrechtlicher Vorgaben an Art. 1 Abs. 1 GG gebunden ist - mit
  der Gewährleistung der Grundrechte in der Konkretisierung, die sie durch die
  Charta erfahren haben, dürfte eine Berührung der von Art. 1 Abs. 1 in
  Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG verbürgten
  Grundsätze jedoch in der Regel vermieden werden können…
II. Schützen deutsche Grundrechte vor deutschen Akten
    der öffentlichen Gewalt, die Unionsrecht umsetzen?

Ein Versuch, die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrechtsschutz
gegenüber Akten deutscher öffentlicher Gewalt, die Unionsrecht anwenden bzw.
zu beachten haben, in eine Fallbearbeitung als Beispiel zu „übersetzen“, findet
sich bei

:
III. Art. 1 Abs. 1 GG als „Notbremse“ gegenüber
     menschenwürdewidrigem Unionsrecht?

Ansatz der Entscheidungen „Europäischer Haftbefehl II“ und „Europäischer
Haftbefehl III“ als nachvollziehbar, Art. 1 Abs. 1 GG als „Notbremse“ bereit zu
halten
• erscheint für die Fälle menschenwürdewidriger Haftbedingungen oder Verstöße
  gegen das Folterverbot, Todesstrafe usw. nachvollziehbar
• wird problematischer, je weiter der „Menschenwürdegehalt“ der einzelnen
  Grundrechte gezogen wird (Menschenwürdegehalt der Eigentumsfreiheit, der
  Berufsfreiheit, der Religionsfreiheit usw.)
• wird problematischer, je öfter aus der Menschenwürde objektive staatliche
  Schutzpflichten und „Wohlverhaltensregeln“ (ein würdiger Mensch verhält sich
  sittlich) hergleitet werden (Bereich der Sexualität [z. B. in Zusammenhang mit
  Prostitution], Fortpflanzungsmedizin, Gentechnik usw.)
D) Rechtsprechung zu den sich aus Art. 23 Abs. 1 und
   Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Grenzen der Integration
   Deutschlands in die Europäische Union
Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG:
• "Maastricht-Entscheidungskette" des BVerfG: BVerfG, 2 BvR 2134, 2159/92
  v. 12.10. 1993 = BVerfGE 89, 155 ff. - Maastricht; BVerfG 2 BvR 1877/97, 2 BvR
  50/98 v. 31.3.1998 = BVerfGE 97, 350 ff. - Euro; BVerfG, 2 BvL 1/97 v. 7.7.2000
  = BVerfGE 102, 147 ff. – Bananenmarkt
• "Lissabon-Entscheidungskette" des BVerfG: BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.
  6. 2009 = BVerfGE 123, 267 ff. - Lissabon; BVerfG, 2 BvR 2661/06 v. 6. 7. 2010
  = BVerfGE 126, 286 ff. - Honeywell; BVerfG, 1 BvR 1916/09 v. 19. 7. 2011 =
  BVerfGE 129, 78 ff. - Grundrechtsberechtigung; BVerfG, 2 BvR 987/10 u. a. v.
  7.9.2011 = BVerfGE 129, 124 ff. - EFS; BVerfG, 1 BvL 3/08 v. 4. 10. 2011 =
  BVerfGE 129, 186 ff. - Investitionszulagengesetz; BVerfG, 2 BvR 1390/12 v.
  12.9.2012 = BVerfGE 132, 195 ff. - ESM - einstweiliges Rechtsschutzverfahren;
  BVerfG, 2 BvR 1390/12 v. 18.3.2014 = BVerfGE 135, 317 ff. - ESM –
  Hauptsacheentscheidung
D) Rechtsprechung zu den sich aus Art. 23 Abs. 1 und
   Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Grenzen der Integration
   Deutschlands in die Europäische Union
Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG:
• „OMT-Verfahren“: Vorlagebeschluss des BVerfG: BVerfG, 2 BvR 2728/13 u. a.
  v. 14.1.2014 = BVerfGE 134, 366 ff.; Reaktion des EuGH auf den OMT-
  Vorlagebeschluss: EuGH, Rs. C-62/14 v. 16.6.2015- Gauweiler; Schlussanträge
  des Generalanwalts Cruz Villalón zur Rechtssache C-62/14; OMT-Urteil des
  BVerfG: BVerfG, 2 BvR 2728/13 u. a. v. 21.6.2016 = BVerfGE 142, 123 ff.
• PSPP-Vorlagebeschluss des BVerfG: BVerfG, 2 BvR 859/15 u. a. v. 18.7.2017
  = BVerfGE 146, 216 ff.; Reaktion des EuGH auf den PSPP-Vorlagebeschluss:
  EuGH, Rs. C-493/17 v. 17.8.2018 - Weiss u.a.;
• Bankenunion-Urteil: BVerfG, 2 BvR 1685/14 und 2 BvR 2631/14 v. 30.7.2019 =
  BVerfGE 151, 202 ff.
• EPGÜ-Urteil : BVerfG, 2 BvR 739/17 v. 13.2.2020 = BVerfGE 153, 74 ff.
• PSSP-Urteil: BVerfG, 2 BvR 859/15 u. a. v. 5.5.2020 = BVerfGE 154, 17 ff.
• EU-Wiederaufbaufonds: Entscheidung über Eilantrag zur Ausfertigung des
  Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetzes: BVerfG, 2 BvR 547/21 v.
  21.4.2021
D) Rechtsprechung zu den sich aus Art. 23 Abs. 1 und
   Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Grenzen der Integration
   Deutschlands in die Europäische Union

Ein Versuch, die Rechtsprechung des BVerfG zu den zu den sich aus Art. 23 und
Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Grenzen der Integration Deutschlands in die
Europäische Union in eine Fallbearbeitung als Beispiel zu „übersetzen“, findet
sich bei

:
D) Rechtsprechung zu den sich aus Art. 23 Abs. 1 und
   Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Grenzen der Integration
   Deutschlands in die Europäische Union

I.   Ausbau des Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Grundrecht auf deutsche
     Souveränität“

II. „Identitätskontrolle“ und „Ultra-vires-Kontrolle“

III. Problem der Herleitung der verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen
     aus Art. 79 Abs. 3 GG
I. Ausbau des Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Grundrecht
   auf deutsche Souveränität“

                                  Grundgesetz
Art. 38. (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner,
unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des
ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem
Gewissen unterworfen.
(2) und (3) […].

Art. 93 (1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet […]
4a. über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung
   erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner
   Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und
   104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein; […]

BVerfG, 2 BvR 2134, 2159/92 v. 12.10.1993 = BVerfGE 89, 155, 171 f. – Maastricht:
Art. 38 GG bedeutet nicht nur formelles Wahlrecht zum Bundestag, sondern soll den
Wahlberechtigten das subjektive Recht gewährleisten, an der Legitimation der
Staatsgewalt durch das Volk (Art. 20 Abs. 2 GG) auf Bundesebene mitzuwirken
und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen.
I. Ausbau des Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Grundrecht
   auf deutsche Souveränität“

BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 174 f. = BVerfGE 123, 267, 330 -
Lissabon:

• Wahlakt zum deutschen Bundestag verliert Sinn, wenn das gewählte Staats-
  organ nicht über ein hinreichendes Maß an Aufgaben und Befugnissen verfügt,
  in denen die legitimierte Handlungsmacht wirken kann.

• Grundgesetz hat diesen legitimatorischen Zusammenhang zwischen dem
  Wahlberechtigten und der Staatsgewalt durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. mit
  Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für unantastbar erklärt.

• Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verbietet im Anwendungsbereich des Art. 23 GG, die
  durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf
  deren Ausübung durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des
  Bundestages auf die EU so zu entleeren, dass das Demokratieprinzip verletzt
  wird.
I. Ausbau des Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Grundrecht
   auf deutsche Souveränität“

BVerfG 2 BvR 987/10 u.a. v. 7.9.2011, Abs. 98 ff. = BVerfGE 129, 124, 167 f. -
Euro-Rettungsschirm :

• Der letztlich in der Würde des Menschen wurzelnde Anspruch des Bürgers
  auf Demokratie ist hinfällig, wenn das Parlament Kernbestandteile politischer
  Selbstbestimmung aufgäbe und damit dem Bürger dauerhaft seine
  demokratischen Einflussmöglichkeiten entzieht.

• Das Grundgesetz hat den Zusammenhang zwischen Wahlrecht und Staats-
  gewalt in Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für unantastbar
  erklärt.

• Gegen eine mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbare Entäußerung von
  Kompetenzen durch das Parlament müsse sich der Bürger
  verfassungsgerichtlich zur Wehr setzen können.
I. Ausbau des Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Grundrecht
   auf deutsche Souveränität“

BVerfG, 2 BvR 2728/13 u. a. v. 21.6.2016, Abs. 124 ff. = BVerfGE 142, 123, 189 ff. –
OMT-Urteil:
• Für vom Grundgesetz verfasste Staatsordnung ist eine durch Wahlen betätigte
  Selbstbestimmung des Volkes nach dem Mehrheitsprinzip konstitutiv.
• Das Grundgesetz geht vom Eigenwert und der Würde des zur Freiheit befähigten
  Menschen aus und verbürge im Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit
  durch Wahlen und Abstimmungen die sie betreffende öffentliche Gewalt personell
  und sachlich zu bestimmen, einen menschenrechtlichen Kern des
  Demokratieprinzips, der in der Würde des Menschen verankert sei.
•    Der Mensch ist eine zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte
    "Persönlichkeit". Er wird als fähig angesehen und es wird ihm demgemäß
    abgefordert, seine Interessen und Ideen mit denen der anderen auszugleichen.
    Um seiner Würde willen muss ihm eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner
    Persönlichkeit gesichert werden.
• Für den politisch-sozialen Bereich bedeutet dies, dass es nicht genüge, wenn
  eine "Obrigkeit" sich bemühe, noch so gut für das Wohl von "Untertanen" zu
  sorgen; der Einzelne solle vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich
  auch an den Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken
I. Ausbau des Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Grundrecht
   auf deutsche Souveränität“

BVerfG, 2 BvR 739/17 v. 13.2.2020, Abs. 95 ff. = BVerfGE 153, 74, 132 ff. - EPGÜ:
• Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG schützt auch vor formell rechtswidriger Übertragung
  von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG (hier: Erfordernis des
  Zweidrittel-Mehrheitserfordernisses nach Art. 79 Abs. 2 GG)
• Damit kann auch die Verletzung der Einhaltung dieser formellen Vorgaben
  unmittelbar mit der gegen das Übertragungsgesetz gerichteten
  Verfassungsbeschwerde gerügt werden

Ansatz des OMT-Urteils wird auch bestätigt durch
• BVerfG, 2 BvR 1685/14 und 2 BvR 2631/14 v. 30.7.2019, Abs. 90 ff., 140 ff., 203
  ff. = BVerfGE 151, 202, 274 und 296 ff. - Bankenunion
• BVerfG, 2 BvR 859/15 u. a. v. 5.5.2020, Abs. 99 ff. = BVerfGE 154, 17, 85 f. -
  PSPP-Urteil
I. Ausbau des Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Grundrecht
   auf deutsche Souveränität“

• Nach Ansicht des BVerfG enthält Art. 38 GG damit ein subjektives Recht auf
  Verwirklichung des in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG enthaltenen Demokratieprinzips
  gerade durch die Bundestagswahlen.
• Die Anknüpfung an Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet, dass dieses Recht wohl
  nicht durch Verfassungsänderung beseitigt werden kann: Zumindest dieser Teil
  des Art. 38 GG - also das subjektive Recht auf Verwirklichung der Demokratie
  gerade durch den Bundestag – wird damit selbst Teil der Ewigkeitsklausel des
  Art. 79 Abs. 3 GG, ebenso wie die Durchsetzbarkeit mittels der Verfassungs-
  beschwerde
• Bedeutet im Ergebnis, dass zur Sicherung der Einhaltung der Ewigkeitsklausel
  des Art. 79 Abs. 3 GG jedenfalls in Fällen mit EU-Bezug eine
  „Popularverfassungsbeschwerde“ eingeführt wurde
• Begrenzung der Antragsbefugnis bei den „eigentlich“ einschlägigen
  staatsorganisationsrechtlichen Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 3 GG
  (Organstreitigkeiten, Bund-Länder-Streitigkeiten, abstrakte Normenkontrollen)
  wird damit bei Fällen mit EU-Bezug unterlaufen.
I. Ausbau des Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Grundrecht
   auf deutsche Souveränität“

„Grundrecht auf deutsche Souveränität“ beruht auf Demokratieverständnis, das
nur den „Nationalstaat“ als Quelle demokratischer Legitimation akzeptiert: :
BVerfG, 2 BvR 2134, 2159/92 v. 12.10. 1993 = BVerfGE 89, 155, 185 - Maastricht;
BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 274 ff. = BVerfGE 123, 267, 359, 370 ff.
- Lissabon
• Die vorrechtlichen Voraussetzungen für eine Demokratie auf Unionsebene lägen
  (noch?) nicht vor, da eine funktionierende Demokratie einen einheitlichen
  Kommunikationsraum voraussetze, der aber (noch) nicht existiere, da es (noch)
  keine einheitliche europäische Öffentlichkeit gebe.
• Daher verlange das Demokratieprinzip (zur Zeit noch?) vor allem eine
  Rückkoppelung der demokratischen Legitimation des Handelns der
  europäischen Organe an die Parlamente der Mitgliedsstaaten
• Da Art. 38 GG ein Grundrecht auf Legitimation gerade durch den Bundestag
  gewährt, lässt sich der Verlust des demokratischen Gehalts der Bundestagswahl
  auch nicht dadurch kompensieren, dass dem Europäischen Parlament
  weitergehende Rechte zugewiesen werden, etwa ein parlamentarisches
  Regierungssystem auf europäischer Ebene begründet wird.
I. Ausbau des Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Grundrecht
   auf deutsche Souveränität“

„Grundrecht auf deutsche Souveränität“ beruht auf Demokratieverständnis,
das nur den „Nationalstaat“ als Quelle demokratischer Legitimation akzeptiert:

BVerfG, 2 BvC 4, 6, 8/10 v. 9.11.2011, Abs. 96 ff. = BVerfGE 129, 300, 324 ff.

• Durch die europäischen Verträge sind die Aufgaben des Europäischen
  Parlaments so ausgestaltet, dass es an zwingenden Gründen fehlt, die einen
  Eingriff in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln (5 %-Klausel)
  für die Wahl zum Europäischen Parlament rechtfertigen könnte

• Insbesondere kann man ein Erfordernis stabiler Mehrheiten im Europäischen
  Parlament nicht damit begründen, dass die Rechte des Europäischen
  Parlaments bei der Bestellung der Kommission (Art. 17 EUV) gestärkt worden
  seien.

         BVerfG sieht das Europäische Parlament nicht als wirkliches Parlament,
         dessen Funktionsfähigkeit durch eine Sperrklausel gesichert werden
         müsse
II. „Identitätskontrolle“ und „Ultra-vires-Kontrolle“

Nach Auffassung des BVerfG begründet das aus Art. 38 Abs. 1 GG hergeleitete
„Grundrecht auf deutsche Souveränität“ ein Recht darauf, dass
1. der Bund bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU die Grenzen des
   Art. 23 Abs. 1 i. V. mit Art. 79 Abs. 3 GG beachtet, was sich auf die
   Zustimmungsgesetze zu Änderungen der EU-Verträge bzw. auf
   Zustimmungsgesetzen zu ergänzenden Vertragswerken bezieht (1. Variante
   der „Identitätskontrolle“)
2. die deutschen Staatsorgane die Rechte Deutschlands aus den EU-Verträgen in
   einer Weise wahrnehmen, dass die Einhaltung der Grundsätze des Art. 23 Abs.
   1 i. V. mit Art. 79 Abs. 3 GG auch bei der Umsetzung der EU-Verträge
   gewährleistet werden (2. Variante der „Identitätskontrolle“)
3. die deutschen Staatsorgane die Tätigkeit der EU-Institutionen dahingehend
   überwachen, dass diese das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung des
   Art. 5 EUV und die nationale Identität Deutschlands nach Art. 4 Abs. 2 GG ach-
   ten, und im Fall der Nichtbeachtung dieser Grundsätze entsprechende „ultra
   vires“ Akte der EU in Deutschland nicht anwenden/umsetzen („ultra-vires
   Kontrolle“)
II. „Identitätskontrolle“ und „Ultra-vires-Kontrolle“

Nach der Rechtsprechung des BVerfG begründet das aus Art. 38 Abs. 1 GG
hergeleitete „Grundrecht auf deutsche Souveränität“ ein Recht darauf,
• dass alle Bundes- und Landesorgane ihrer sog. „Integrationsverantwortung“
  gerecht werden, also ihrer Verantwortung dahingehend, dass die Souveränität
  Deutschlands nicht aufgegeben und ausgehöhlt wird
• um auf diese Weise den Legitimationsdefizite der EU-Hoheitsgewalt zu
  kompensieren und die Selbstbestimmung Deutschlands zu sichern
• wobei insbesondere der öffentlichen Debatte im Bundestag eine besondere
  Rolle zukommen soll (siehe hierzu auch Art. 23 Abs. 1a bis 7 GG und das
  Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des
  Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen
  Union (Integrationsverantwortungsgesetz - IntVG)

    zusammenfassend hierzu Weiß, JuS 2018, 1046 ff.
II. „Identitätskontrolle“ und „Ultra-vires-Kontrolle“

BVerfG, 2 BvE 2/08 u. a. v. 30.6.2009, Abs. 249 = BVerfGE 123, 267, 359 ff. –
Lissabon: Folgende "Kernbereiche staatlichen Handelns" sind einer
weitergehenden Integration nur begrenzt zugänglich (Wer weiter gehen will, muss
den Weg des Art. 146 GG beschreiten)

"die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen
und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die
Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei
intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege
oder bei Unterbringungsmaßnahmen. Zu diesen bedeutsamen Sachbereichen
gehören auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die
Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-,
Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder
weltanschaulichen Bekenntnis".

Kritisch zu diesem Konzept ("Unnötige Theorie der notwendigen Staatsaufgaben")
und der "Auswahl" der Gebiete etwa Halberstam/Möllers, German Law Journal 10
(2009), 1241, 1249 ff.
II. „Identitätskontrolle“ und „Ultra-vires-Kontrolle“

Einzelheiten zur „Ultra-vires-Rechtsprechung“ des BVerfG (Folie 1 von 2):
• BVerfG sieht sich als verfassungs(prozess)rechtlich berechtigt, als Vorfrage in
  einem gegen einen Akt deutscher öffentlicher Gewalt gerichteten Verfahren zu
  überprüfen, ob Rechtsakte der Union die sich aus den Verträgen ergebenden
  Kompetenzen (Art. 5 AEUV) in „offensichtlicher und strukturell bedeutsamer
  Weise“ überschreiten.
• Ein „Ultra-vires-Akt“ kann sowohl ein Rechtsetzungsakt wie eine Maßnahme der
  EU-Eigenverwaltung oder auch eine EuGH-Entscheidung sein
• Liegt ein „Ultra-vires- Akt“ vor, darf die deutsche Staatsgewalt (Gesetzgeber,
  Regierung, Verwaltung, Gerichte) sich nicht an der Umsetzung dieses Aktes in
  Deutschland beteiligen und muss aktiv auf die Befolgung und Beachtung der
  Kompetenzgrenzen der Union hinwirken. Der Gesetzgeber darf die
  Bundesregierung auch nicht dazu ermächtigen, einem Ultra-vires-Akt von
  Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union
  zuzustimmen..
II. „Identitätskontrolle“ und „Ultra-vires-Kontrolle“

Einzelheiten zur „Ultra-vires-Rechtsprechung“ des BVerfG (Folie 2 von 2):
• verfassungsrechtliche „Integrationsgrenzen“ können von jedem Deutschen mit
  der „Integrationsverfassungsbeschwerde“ gestützt auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG
  verfassungsgerichtlich durchgesetzt werden
• zunehmende Verankerung der verfassungsrechtlichen „Integrationsgrenzen“ in
  Art. 1 und Art. 20 GG (und damit in von der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs.
  3 GG umfassten Vorschriften)
     BVerfG, 2 BvR 2728/13 u. a. v. 21.6.2016, Abs. 124 ff. = BVerfGE 142, 123,
      189 ff. – OMT-Urteil
     BVerfG, 2 BvR 1685/14 und 2 BvR 2631/14 v. 30.7.2019, Abs. 90 ff. und
      140 ff. = BVerfGE 151, 202, 274 und 296 ff. - Bankenunion
     BVerfG, 2 BvR 859/15 u. a. v. 5.5.2020, Abs. 99 ff. = BVerfGE 154, 17, 85
      f. - PSPP-Urteil
• Im Ergebnis wird so sichergestellt, dass der Verfassungsgeber die Rechtspre-
  chung des BVerfG nicht durch eine Verfassungsänderung „überholen“ kann,
  sondern allein das BVerfG darüber bestimmt, wie weit es eine Einbindung der
  Bundesrepublik in die EU zulassen will
II. „Identitätskontrolle“ und „Ultra-vires-Kontrolle“

BVerfG, 2 BvR 1685/14 und 2 BvR 2631/14 v. 30.7.2019 = BVerfGE 151, 202 ff. -
Bankenunion
„151 Die Annahme eines Ultra-vires-Aktes setzt – ohne Rücksicht auf den betroffe-
nen Sachbereich – voraus, dass eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und
sonstigen Stellen der Europäischen Union offensichtlich außerhalb der ihr übertra-
genen Kompetenzen liegt […]. Das ist der Fall, wenn sich die Kompetenz – bei An-
wendung allgemeiner methodischer Standards – unter keinem rechtlichen Gesichts-
punkt begründen lässt […]. Dieses Verständnis von Offensichtlichkeit folgt aus dem
Gebot, die Ultra-vires-Kontrolle zurückhaltend auszuüben […]. Bezogen auf den
EuGH folgt es zudem aus der Unterschiedlichkeit der Aufgaben und Maßstäbe, die
das [BVerfG] einerseits und der EuGH andererseits zu erfüllen oder anzuwenden
haben. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der EuGH einen Anspruch auf
Fehlertoleranz hat […]. Dieser mit der Aufgabenzuweisung des Art. 19 Abs. 1 Satz
2 EUV notwendig verbundene Spielraum endet allerdings dort, wo eine Auslegung
der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich ist. Würde der
EuGH diese Grenze überschreiten, wäre sein Handeln nicht mehr durch Art. 19 Abs.
1 Satz 2 EUV gedeckt und fehlte seiner Entscheidung für Deutschland das gemäß
Art. 23 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3
GG erforderliche Mindestmaß an demokratischer Legitimation […].“
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