Pharmazeutische Industrie und "Neue Deutsche Heilkunde"
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Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde« Ulrich Meyer Summary Pharmaceutical Industry and “New German Medicine” (“Neue Deutsche Heilkunde”) The so-called “New German Medicine”, initially propagated in the health policy of the National Socialist Party, promoted greater use of phytotherapeutic and homeopathic drugs by the medical community. In response, the “Reichsfachschaft der pharmazeutischen In- dustrie e. V.” (“Association of Pharmaceutical Industry of the Reich”) was obliged to pursue a carefully chosen double strategy, given that the members of the Association were Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr both manufacturers of natural remedies and manufacturers of allopathic drugs. However, the fact that I.G. Farben completely ignored the “New German Medicine” sug- gests that the large chemical-pharmaceutical manufacturers did not take this policy very seriously. The only documents pertaining to increased research in the area of natural reme- dies stem from the medium-sized manufacturers Knoll and Schering. In the case of both companies it is noteworthy that they worked towards obtaining a scientific foundation for the developed preparates, and that they employed conventional methods of chemical analysis and proof of activity. The growth of the classical manufacturers of natural remedies, such as the company Will- mar Schwabe was, as far as any growth at all could be observed, significantly smaller than had been theoretically postulated. There is no causal relationship between any commercial success during the period in which the Nazis were in power and today’s commercial pros- perity. Moreover, from the viewpoint of the pharmaceutical industry, the “New German Medi- cine” seems to have passed its zenith before 1936, when the 4-year plan for war preparation entered into force. Einleitung Die von der NS-Gesundheitspolitik forcierte »Neue Deutsche Heilkunde« propagierte den verstärkten Einsatz phytotherapeutischer oder auch ho- möopathischer Arzneimittel in der ärztlichen Praxis. Trotz einiger medizin- historischer Untersuchungen1 ist bislang wenig darüber bekannt, ob und inwieweit die deutsche (chemisch-)pharmazeutische Industrie auf diese ge- sundheitspolitische Vorgabe reagierte. Die grundlegenden Arbeiten von Gerald Schröder2 zur NS-Pharmazie fokussieren auf die Vorkriegsjahre und schildern die Problematik primär aus der Sicht der in der öffentlichen Apo- theke tätigen Offizin-Apotheker3. 1 Vgl. Haug (1985); Bothe (1991); Karrasch (1998). 2 Vgl. Schröder: NS-Pharmazie (1988); Schröder: Wiedergeburt (1980); Schröder: Wiederbelebung (1982). Auch Siebert (1992) nimmt die Perspektive des Offizin- Apothekers ein. 3 Offizin=Raum der Apotheke, der der Abgabe von Arzneimitteln dient. MedGG 23 2004, S. 165-182 Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart Franz Steiner Verlag
166 Ulrich Meyer Im folgenden soll dargestellt werden, wie sich die deutsche pharmazeutische Industrie in der Auseinandersetzung um die »Neue Deutsche Heilkunde« positionierte. Die Position der Reipha im Spiegel der »Pharmazeutischen Industrie« Als Sprachrohr der 1933 aus Vorläuferverbänden4 gegründeten »Reichsfachschaft der pharmazeutischen Industrie e.V.«5 (Reipha) diente die Hauszeitschrift Die Pharmazeutische Industrie, die eine Rekonstruktion zumindest der offiziell vertretenen Positionen erlaubt. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr Im Hinblick auf die »Neue Deutsche Heilkunde« war die Reipha um eine reibungslose Integration der »biologischen Heil- und Nährmittelindustrie« bemüht6 und bezog 1934 deutlich Stellung. »Weder die Allopathie, noch die Homöopathie und auch nicht die Naturheilkunde« könne »für sich in Anspruch nehmen, die allein seligmachende Lehre zu sein.« »Die Therapie« sei »kein ›heiliger Krieg‹«.7 Entsprechend fiel auch die Gestaltung des Messestandes auf der Ausstellung »Deutsches Volk – Deutsche Arbeit« aus, die vom 21. April bis 3. Juni 1934 in Berlin stattfand. Hier wurde unter der Überschrift »Die pharmazeutische Industrie schafft die für Deutschland und für einen großen Teil der Welt notwendigen Heilmittel aus Stoffen der Na- tur« eine Neudefinition des Naturheilmittels versucht. Sera, Impfstoffe, Hormone, Vitamine und Alkaloide standen nun als vermeintliche Natur- heilmittel im Vordergrund der Präsentation, die synthetischen Arzneimittel hingegen traten – scheinbar – zurück.8 (Abb. 1) Insbesondere der Verweis auf Sera und Impfstoffe erscheint ›pikant‹, denn gerade diesen Präparaten begegneten Anhänger der Naturheilkunde traditionell mit größter Zurück- 4 Dabei handelte es sich um den Verband der pharmazeutischen Großindustrie, den Verband Pharmazeutischer Fabriken Deutschlands und den Zentralverband der chemischen-technischen Industrie. Am 1. März 1935 ging die Reipha in der Fachgruppe »Pharmazeutische Erzeugnisse« der Wirtschaftsgruppe »Chemische Industrie« der Hauptgruppe V der deutschen Wirtschaft innerhalb der Reichsgruppe Industrie auf. Vgl. Heyl: Sinn (1935). Da das erste Heft der neugegründeten Zeitschrift erst am 5. Dezember 1933 erschien, wird der Jahrgang 1934 heute als Band 1 gezählt. 5 N. N.: Einführung (1933), S. 1f. 6 Vgl. Kunze: Bedeutung (1934), S. 633 f. Die 1935 in Nachfolge der Reipha gegründete Fachgruppe Pharmazeutische Erzeugnisse hatte fünf naturheilkundlich orientierte Fachabteilungen: I. Hersteller von Arzneimitteln der Naturheilkunde und der Homöopathie, IV. Hersteller von Reformhaus-Waren, V. Hersteller von Badezusätzen, VI. Hersteller von Heilwässern und Quellenprodukten, VII. Hersteller von Thüringer Hausmitteln. Die frühere »Reichsfachschaft der biologischen Heil- und Nährmittelindustrie« ging 1935 in der Fachabteilung IV auf. Vgl. N. N.: Mitgliederversammlung (1935), S. 500, und Kunze: Jahreswechsel (1936), S. 3f. 7 Heyl: Bedeutung (1934), S. 213-219. 8 N. N.: Ausstellung (1934), S. 299f. Franz Steiner Verlag
Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde« 167 haltung bis strikter Ablehnung.9 1935 sollte mit dem Beitrag »Der Weg zum ›biologischen‹ Heilmittel« eine »Reihe von Veröffentlichungen« zur Natur- heilkunde eröffnet werden, die indes nie in der Pharmazeutischen Industrie erschien. Im Vorspann wurde »wie [...] schon bei früheren Gelegenheiten betont«, es sei unrichtig, »wenn irgendeine ›Richtung‹ sich als die allein zu- treffende« bezeichne.10 Der Ausbau des heimischen Arzneipflanzenanbaus und der Arzneipflanzensammlung wurde zwar von der Industrie wie »von der gesamten Verbraucherschaft« – angeblich – »ausnahmslos begrüßt«, doch gleichzeitig äußerte man betriebswirtschaftliche Bedenken. Der Anbau müsse »nicht nur in Zeiten der Not oder der Möglichkeit einer Einfuhr- sperre, sondern auch darüber hinaus lebensfähig« sein. Der Einkauf teurer deutscher Drogen dürfe nicht die »Konkurrenzfähigkeit im Ausland, auf Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr dem Weltmarkt« beeinträchtigen, denn diese sei »von ausschlaggebender Bedeutung.« Einfuhrregelungen und -sperren sollten minimiert werden auf diejenigen Drogen, »in denen der deutsche Anbau in der Lage« sei, »quanti- tativ, qualitativ und preislich den Bedarf der deutschen Verbraucher – der chemisch-pharmazeutischen Industrie und der Großhändler – zu befriedi- gen.«11 Diese von ökonomischer Vernunft geprägten Überlegungen standen in deutlichem Gegensatz zu den ideologisch beeinflußten Positionen der 1934 gegründeten »Deutschen Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Be- schaffung heimischer Heil-, Gewürz- und Duftpflanzen« und der 1935 ins Leben gerufenen »Reichsarbeitsgemeinschaft für Heilpflanzenkunde«. Als Ursache für den Rückgang der Arzneipflanzengewinnung in Deutschland galt der Reichsarbeitsgemeinschaft nämlich die »merkantile Einstellung der Kreise, denen das Geschäft auch auf diesem Gebiet mehr bedeutete als die nationale Notwendigkeit und die deutsche Volksgesundheit«.12 In bezug auf die Heilpflanzenkunde gab das Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP erst 1943 die Devise aus, »daß eine Rationalisierung des ganzen Gebietes und die Beseitigung eines seit Jahrhunderten mitgeschleppten Ballastes von unkritischen Behauptetem, ja Aberglauben, unbedingt zu erstreben« sei. »Die künstliche Aufblähung« der Indikationen und die »kritiklose Anpreisung« sollten »zugunsten einer Förderung auf dem Boden eines überlegenen Wissens« abgestellt werden. Nur so könne die Phytotherapie »im Konkurrenzkampf der Heilmittel lebendig bleiben.«13 9 Vgl. z. B. Maehle (1991); Helmstädter (1990). 10 Wolff (1935). 11 N. N.: Arzneipflanzen-Anbau (1935), S. 53f. 12 Zitiert nach Aue (1983), S. 269. 13 Schenck (1943), S. 3-5. Zur Person von Ernst-Günther Schenck (geb. 1904) vgl. Bothe (1991), S. 172. Franz Steiner Verlag
168 Ulrich Meyer Die pharmazeutische Industrie hatte sich bereits 1939 am Prüfungsinstitut für biologische Heilmittel in Nürnberg beteiligt.14 Angriffe militanter Naturheilkundler gegen Serumtherapie und Schutzimp- fung, die in der Zeitschrift Volksgesundheit aus Blut und Boden publiziert wor- den waren, geißelte die Industrie »als schwere Schädigung der deutschen Volksgesundheit und Volkswirtschaft«, wobei auch hier der Hinweis auf die Beeinträchtigung der »Exportkraft« nicht fehlen durfte. Es sei kaum mög- lich, »mit Leuten sachlich zu verhandeln, die die wissenschaftlichen Arbeits- ergebnisse der deutschen pharmazeutischen Industrie als ›Erbgifte‹ und als ›allergröbste‹ Blutverunreinigung« bezeichneten.15 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr Die Reaktionen einzelner chemisch-pharmazeutischer Unternehmen Das größte und einflußreichste chemisch-pharmazeutische Unternehmen des Dritten Reiches, die I. G. Farben AG, scheint die »Neue Deutsche Heil- kunde« nicht einmal registriert, geschweige denn als potentielle Bedrohung gesehen zu haben.16 Bei der Darmstädter Firma Merck beschränkte man sich darauf, ohnehin hergestellte Präparate gemäß dem Schwabeschen Arzneibuch zu prüfen und zu kennzeichnen, nachdem diese Hauspharmakopöe 1934 amtliche Gültig- keit erlangt hatte.17 In den Jahren 1933 und 1934 wurden »Heilmittel der Eingeborenen aus tropischen Pflanzen [...] in grosser Zahl untersucht und brachten wissenschaftlich« zwar »viel Neues, aber keines erwies sich den bekannten Arzneimitteln der Kulturvölker überlegen.«18 Größere Aktivitäten lassen sich hingegen für die in Ludwigshafen ansässige Knoll AG belegen, wo noch 1942 an zentralem Platz des Werksgeländes ein nach Indikationen gegliederter Heilpflanzengarten angelegt wurde. Bereits 1934 hatte man eine eigene Abteilung für Pflanzenchemie eingerichtet, die bis Kriegsende bestand und die der Apotheker Gerhard Schenck (1904- 1993) bis 1939 leitete. Knoll befaßte sich mit der Entwicklung und Herstel- lung von Gesamtextrakten herzglykosidhaltiger Arzneipflanzen, die als Ole- ander-, Scilla-, Adonis- und Convallaria-»Perpurate« in den Handel kamen. Diese »Perpurate« stellen die Vorläufer der heutigen »Miroton«-Präparate dar. Es handelte sich um »nach einem besonderen Verfahren gewonnene, biologisch eingestellte Gesamtextrakte mit voller Ausbeute an Wirkstof- 14 Vgl. N. N.: Prüfungsinstitut (1939), S. 74ff., und Conrad (1998), S. 4. Weiterer Träger des Prüfinstituts war der Verein Deutsche Volksheilkunde e.V. Nürnberg. 15 Heyl: Bedeutung (1934), S. 218. 16 Vgl. BA, Schreiben von Herrn Hans-Hermann Pogarell vom 9. März 2001. 17 MA, Bestand E 3, Protokolle Direktionsbesprechungen 1932-1945, Protokoll vom 14. Dezember 1934. 18 MA, Bestand F 3, Nr. 38c, Bericht »Arbeiten der Forschungsabteilungen 1933 und 1934«, S. 27. Franz Steiner Verlag
Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde« 169 fen.«19 Berücksichtigt man die Bedeutung des Codeins und seiner Derivate für den Aufstieg der Firma Knoll, so erscheinen die Untersuchungen zum Giftlattich (Lactuca virosa)20 besonders bemerkenswert. Eine Zubereitung aus dem Milchsaft kam 1937 als Antitussivum unter dem Namen »Latucyl« auf den Markt, für den Lattich waren großangelegte Anbauversuche im Deutschen Reich und dem »angeschlossenen« Österreich durchgeführt worden. Als weitere Resultate der phytochemischen Forschung gelangten das Tierarzneimittel »Enoulan« (standardisiertes Weizenkeimölpräparat, Einführung 1940), »E-Viterbin« (Vitamin-E-Präparat mit Begleitstoffen des Getreidekeimes, Einführung 1941) und das Dermatikum »Eutyol« (Fichten- holzgerbstoffextrakt, Einführung 1944) in den Handel.21 Schenck konnte die bei Knoll durchgeführten Untersuchungen für seine Habilitation nutzen, Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr die 1936 an der Universität München mit der Schrift »Studien über deut- sche Heilpflanzen« erfolgte.22 Besonders gut dokumentiert ist die Reaktion der Schering AG auf die »Neue Deutsche Heilkunde«. Hier kam es 1934 zur Gründung der Abteilung »Bio-Schering«, die sogar über ein eigenes Logo verfügte. Das dem Benzol-Ring nachempfundene Scheringsche Sechseck wurde mit einer stilisierten Blüte ausgefüllt.23 (Abb. 2) Das Sortiment umfaßte drei Präparate: den Heilschlamm »Pelose« aus dem nahe Rathenow gelegenen Schollener »Wundersee«, das Wermut-Tonikum »Fortamin« und die Baldrianzubereitung »Kessoval«. Das von der Firma Richard Schering24 übernommene Präparat25 »Kes- soval« basierte auf feinkörnig pulverisierten Baldrianwurzeln, die mit Gummilösung gebunden, getrocknet, verpreßt und dragiert wurden.26 Eine Besonderheit soll in der Verwendung einer »Radix kesso« gelegen haben, »die zum Unterschied von der europäischen Varietät, die nur 1 % Baldri- anöl« enthalte, »8 % dieses Oels« aufwies. Außerdem betrage »der Aschege- halt nur 5 % [...], während er sich im allgemeinen zwischen 10 und 15 %« 19 N. N.: Knoll (1949), S. 64. 20 Lactuca virosa ist seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein immer wieder Gegenstand phytochemischer und pharmakologischer Untersuchungen. Vgl. Eberhardt (1990), S. 128ff., und Funke/Melzig/Siems/Schenk (2002), S. 40-45. 21 Vgl. Thomas (1986), S. 83, S. 89f. 22 Vgl. zur Person von Schenck: Beyer: Schenck (1969), S. 307, und Beyer: Schenck (1993), S. 1023f. 23 Vademecum (1936), Abschnitt Medizinische Spezialpräparate, ohne Seitenangabe. 24 Richard Schering, Sohn des Firmengründers Ernst Schering (1824-1889), hatte 1881 eine eigene Fabrik eröffnet, woran die Schering AG ab 1924 50 Prozent der Anteile hielt. Vgl. N. N.: 25 Jahre (1972), S. 86f. 25 Vgl. SchA, Akte B 2 1377 b), Bericht über Abteilung Bio-Schering vom 31. Mai 1935. 26 SchA, Akte B 5 372, Herstellungsvorschrift für Kessoval vom 30. Juni 1944. Franz Steiner Verlag
170 Ulrich Meyer bewege.27 Das offensichtlich nach der »Radix kesso« benannte Valeriana- Präparat »Kessoval« wurde den Ärzten als ein »harmloses Einschläferungs- mittel [...] von besonders zuverlässiger Wirkung« vorgestellt, das 200 Milli- gramm Baldrianwurzel pro Dragee enthielt.28 Bemerkenswert sind die Bemühungen, die günstigen Ergebnisse bei einzelnen Patienten »zu objekti- vieren und bildmäßig29 zu veranschaulichen.« Hierzu wurden aufwendige Einfachblindversuche an »Kranken mit Tremorneigung«, darunter sogar solche mit Morbus Parkinson, durchgeführt. Auch bei Hypertonie- Patienten ließ sich eine Blutdrucksenkung im Einfachblindversuch nachweisen.30 1935 erfolgten für »Kessoval« »Propagandasendungen an sämtliche Aerzte, Homöopathen und Naturheilkundige«. Man ging davon aus, daß dank »der anerkannten Wirksamkeit des Präparates bei der Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr heutigen Einstellung von Aerzteschaft und Verbrauchern weitere Erfolgsaussichten durchaus gegeben« seien.31 Leider liegen bis auf einige Monate der Jahre 1934/1935 keine Absatzzahlen für »Kessoval« vor. Die Fabrikation des Präparates wurde 1944 eingestellt, da die Schering AG die kriegsbedingt notwendige Herstellungserlaubnis nicht mehr beantragt hatte.32 Das Präparat »Fortamin« entstand aus der Beschäftigung des Unternehmens mit der für die Santonin-Gewinnung genutzten Wermut-Art 27 Stephan (1937), S. 122-128. 28 SchA, Bestand 13, Akte 220, Ärztebrief vom 15. September 1936. 29 Hierbei bediente man sich drei verschiedener Versuchsanordnungen: »Den Patienten wurde ein etwa linsengroßer Spiegel auf dem Zeigefinger der am meisten zitternden Hand befestigt. Der durch eine Lichtquelle von vorn beleuchtete Spiegel reflektierte den Lichtstrahl punktförmig auf eine mit Achsenkreuz versehene Mattscheibe. Hinter der Mattscheibe war in 1 Meter Entfernung eine Kamera aufgestellt. Die Kranken wurden dann angewiesen, den Schnittpunkt des Achsenkreuzes auf der Mattscheibe mit dem Spiegelreflex zu fixieren. Auf der photographischen Platte entstanden auf diese Weise sternförmige Figuren, aus deren Größe man die Stärke der Zitterbewegungen direkt ablesen konnte [...] Da sich diese photographische Methode als zu umständlich erwies, wurden entsprechende Versuche in der Weise angestellt, daß den Kranken auf dem Zeigefinger der am meisten zitternden Hand eine Stecknadel mit Leukoplast befestigt wurde. Die Kranken wurden dann veranlaßt, das Achsenkreuz eines senkrecht aufgestellten berußten Papierstreifens mit gestrecktem Arm zu fixieren. Der Papierstreifen wurde mit Gummizügen gespannt gehalten und war federnd befestigt. Versuchsdauer ebenfalls eine Minute [...] Als dritte objektive Untersuchungsmethode wurden die Zitterbewegungen in analogen Versuchen auf dem Kymographen mit Hilfe des Schaltenbrandschen Myographen registriert.« Stephan (1937), S. 124f. 30 Stephan (1937), S. 127. 31 SchA, Akte B 2 1377 b), Bericht über Abteilung Bio-Schering vom 31. Mai 1935. 32 SchA, Akte S 1 105, Schreiben »Herstellungsanweisung für chemische Erzeugnisse« vom 10. Oktober 1944. Bei der »Herstellungsanweisung« handelt es sich nach heutigem Sprachgebrauch um eine Herstellungserlaubnis. Franz Steiner Verlag
Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde« 171 Artemisia maritima.33 Das 1935 eingeführte »Fortamin« stellte eine »hochkonzentrierte Lösung von Bitterstoffen« dar. Es sollte neben der allgemein bekannten appetitanregenden Wirkung auch solche Schwächezustände positiv beeinflussen, die »sich nicht durch eine mangelnde Nahrungsaufnahme oder –ausnützung erklären« ließen, darunter »leichte Ermüdbarkeit« und »verminderte Arbeitsfähigkeit«. Als Wirkungsmechanismus postulierte der Schering-Pharmakologe Karl Junkmann (1897-1976)34 aufgrund diverser Tierversuche, daß »Fortamin« »die Ansprechbarkeit für sympathikotrope Mittel wie Adrenalin« steigere, »die für vagotrope Mittel« jedoch herabsetze. Dabei sei es für den therapeutischen Einsatz wesentlich, »dass die Adrenalinwirkung auf den gleichzeitig registrierten Blutdruck nicht verstärkt« würde.35 Mit Blick auf Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr die gängigen Stimulantien der Zeit, wie Adrenalin, Ephedrin und Cocain – wenig später wäre auch das von Fritz Hauschild (1908-1974) entwickelte Pervitin36 zu nennen gewesen! – führte Junkmann für die Bitterstoffe des »Fortamins« ins Feld, daß ihre Wirkung »zwar nicht so rasch« eintrete, »dafür aber [...] kaum die Gefahr der Überdosierung« bestehe, »denn auch lange Zeit fortgesetzter Gebrauch, selbst in großen Mengen«, habe »noch nie zu einer unphysiologischen Übererregbarkeit des vegetativen Nerven- systems geführt, wie sie bei den obengenannten Reizgiften gewohnt« seien.37 In Anzeigen wurde zudem betont, daß »Fortamin« nicht die früher gebräuchlichen Roborantien Arsen und Strychnin enthielt.38 Junkmann prüfte die Produktionschargen des »Fortamins« fortlaufend quantitativ auf Wasser-, Asche- und Stickstoffgehalt sowie qualitativ auf Chlorophyll. Zur Prüfung der sympathikotropen Wirkung dienten die Mo- delle des Kaninchen-Dünndarms und -Uterus’.39 Für »Fortamin« wurde intensiv Werbung betrieben. Beispielsweise öffnete in einer in der Münchener Medizinischen Wochenschrift vom 4. Juli 1936 erschie- nenen Anzeige ein äußerst muskulöser Mann aus eigener Kraft einen mehr als armdicken Stahlreif, nachdem er die »›Die Tinktur des langen Lebens‹ – Das Stärkungsmittel aus Bitterstoffen im Mittelalter« zu sich genommen und dadurch »Kräftesteigerung beim Sport« verspürt hatte.40 (Abb. 3) Indes 33 Junkmann: Fortamin (1937). Als weitere Bitterstofflieferanten waren neben der Schafgarbe Bitterklee, Enzian, Tausendgüldenkraut und Polygala amara im Gespräch. Vgl. SchA, Ordner Herstellungsvorschriften, Aktennotiz »Bitterstoff (Fortamin)- Herstellung« vom Januar 1943. 34 Zu Junkmann vgl. z. B. Langecker (1976), S. 1400f. 35 Junkmann: Fortamin (1937), S. 119. 36 Vgl. Meyer (2002), S. 400ff. 37 Junkmann: Bitterstofftonikum (1935), S. 146-149. 38 Anzeige in: Hausmitteilungen der Schering A. G. Berlin 13, Heft 2 (1941). 39 SchA, Bestand 05, Akte 30, Berichte Dr. Junkmann 1935-1938. 40 Kopie in SchA, Akte S 1 110. Franz Steiner Verlag
172 Ulrich Meyer entwickelte sich der Absatz des Präparates nicht wie erhofft. Am 31. Mai 1940 stellte man in einer Besprechung fest, »dass die Entwicklung des Fortamin auch in Deutschland stagnierend« sei, »obgleich die Propagandaquote etwa 50 %« betrage. »Von einer Aufwertung des Fortamin durch Kombination mit Hormonen« nahm Schering jedoch Abstand, da aus »Gründen klarer Preisbildung an dem Vertrieb der reinen Hormonpräparate [...] festgehalten werden« sollte.41 Die Besprechung war durch die Aktennotiz »FORTAMIN-Geschäft in Lateinamerika 1936/39« vom 21. Mai 1940 ausgelöst worden, in der man sogar einen »Verlust auf der ganzen Linie« konstatiert hatte. Als Grund für die mangelnde Akzeptanz des Präparates nahm die Medizinisch-Wissenschaftliche Abteilung an, daß die »Voraussetzung der schnellen und offensichtlichen Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr Wirkung [...] bei Fortamin nicht erfüllt« sei. In Südamerika sahen die Schering-Niederlassungen Chancen für ein »Forta con Testoviron«, da »besonders bei Männern« derartige Präparate als »›hormonale Stärkungsmittel‹ weitere Verbreitung« finden könnten.42 Wegen Mangels an Arbeitskräften stellte man die Fortamin-Produktion 1943 ein.43 Wie im Falle des »Kessovals« wurde die kriegsbedingt notwen- dige Herstellungserlaubnis 1944 nicht erneut beantragt.44 Als besonderes Kuriosum kann die Übernahme von Gewinnung und Ver- trieb des »Pelose«-Heilschlammes gelten, die seitens der Schering AG im Oktober 1934 erfolgte. Schering sah seine »Aufgabe zunächst darin, die wissenschaftlichen Grundlagen dieses neuartigen Heilschlamms zu schaffen, um auf dieser Basis den Vertrieb der ›Pelose‹ in dem bei uns üblichen Rahmen aufzuziehen.«45 Folgerichtig publizierte Schering analytisch fun- dierte »Forschungsergebnisse zur Geologie des Heilschlamms von Schol- lene«46 sowie Berichte über »Erfahrungen mit einem neuen deutschem Heil- schlamm«, die das meßbar außergewöhnlich große Wärme- und Kältehal- tevermögen der »Pelose« hervorhoben.47 Bereits im folgenden Jahr wurde die »Propaganda« für dieses Präparat durch »Bearbeitung von Badeanstal- ten« und Kontaktaufnahme zur Heilpraktikerfachschule Berlin verstärkt. »Ärzte, Reformärzte, Heilpraktiker« erhielten schriftliches Informationsma- 41 SchA, Akte B 2 0687, Notiz über die Besprechung am 30. Mai 1940. 42 SchA, Akte B 2 0687. 43 Vgl. SchA, Akte B 2 0687, Schreiben an die Prüfungsstelle »Chemische Industrie« vom 19. Februar 1943. 44 SchA, Akte S 1 105, Schreiben »Herstellungsanweisung für chemische Erzeugnisse« vom 10. Oktober 1944. 45 SchA, Akte B 2 1377 b), Schreiben an die Fachgruppe Pharmazeutische Erzeugnisse der Wirtschaftsgruppe Chemische Industrie vom 22. September 1943. 46 Potonie/Benade (1936). 47 Wagner (1937), S. 129ff. Franz Steiner Verlag
Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde« 173 terial, letztere durften sich sogar über die »Uebersendung eines unaufgefor- derten Musters mit 250 g« »Pelose« freuen.48 Werbeschriften ließ Schering in großen Stückzahlen drucken. Laut einer Inventur vom 1. Juli 1943 stan- den 7.475 Stück Sonderdrucke, 28.050 Prospekte und 7.750 Klappkarten zur Verfügung.49 (Abb. 4) Der aufwendig illustrierte Prospekt »Schollene und sein Wundersee« verdient besondere Beachtung. Hier wurden auf dem Titelblatt germanisch anmutende junge Frauen »Am Strand des Wunder- sees« präsentiert, während im Inneren »Eine der malerischen ›schwimmen- den Inseln‹« die Aufmerksamkeit des Lesers wecken sollte. Zu lesen war: Schollene [...] Seit Hunderten von Jahren leben dort fleißige Fischer- und Ackerbürgerfamilien, ihren Beruf und ihre Liebe zur Heimat vom Vater auf den Sohn Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr vererbend [...] Das Kleinod [...] ist der etwa zwei Quadratkilometer große See, den der Volksmund den »Wundersee von Schollene« getauft hat [...] Zwei Merkwürdigkeiten [...] werden durch das Schlammvorkommen erklärt, seine schwimmenden Inseln und sein oft märchenhaft silberner Glanz [...] Die in Schollene ansässige Landbevölkerung kannte schon seit langer Zeit die hervorragenden Heilwirkungen seines Schlammes. Erst den letzten Jahren war es vorbehalten, diesen in seiner Art einzigen deutschen Na- turheilschlamm, die »Pelose«, wie man den Heilschlamm nach dem Griechischen be- zeichnete, eingehend zu erforschen, seine Hochwertigkeit zu erkennen und seine An- wendung weitesten Kreisen zugänglich zu machen.50 (Abb. 5) Ähnlich illustriert und lyrisch formuliert war ein Beitrag für die Werkszei- tung Schering-Blätter, der unter der Überschrift »Wir fahren nach Schollene« 1935 erschien.51 »Um in Laienkreisen den Schollener See und den daraus gewonnenen Heil- schlamm möglichst bekanntzumachen«, versuchte die Presse-Abteilung, »Aufsätze, Bilder und Referate über die Pelose in der Tagespresse unterzu- bringen«, was auch gelang. Man war der Auffassung: »Die heutige starke Propagierung naturgemässer Heilfaktoren dürfte auch unserer Pelose die Aufmerksamkeit weiterer Kreise sichern, zumal das an sich grosse Indika- tionsgebiet sicherlich noch erweitert werden« könne. Die Auswertung des Propagandamomentes »Deutscher Heilschlamm« dürfte sich auch bei zurückhaltendem Gebrauch gegenüber unserer Hauptkonkurrenz, dem Pistyan-Schlamm günstig auswirken, zumal die Abkehr von der Verwendung ausländischer Erzeugnisse Hand in Hand gehe »mit Devisenschwierigkeiten für die Einfuhr dieser Artikel.«52 Dem »Kleinsiedler« wurde die »Pelose« unter dem Motto »Märkischer Schlamm 48 SchA, Akte B 2 1377 b), Bericht über Abteilung Bio-Schering vom 31. Mai 1935. 49 Vgl. SchA, Akte B 2 1377 b), Aufstellung »Werbematerial ›PELOSE‹ (Stand vom 1. Juli 1943)«. 50 Prospekt »Schollene und sein Wundersee« (1935). 51 SchA, Akte S 1 106, Beitrag von F. Strauhal in Schering-Blätter Heft 6/1935, S. 118ff. 52 SchA, Akte B 2 1377 b), Bericht über Abteilung Bio-Schering vom 31. Mai 1935. Franz Steiner Verlag
174 Ulrich Meyer heilt lahme Rinderhüften und verstauchte Ziegenbeine« auch für veterinär- medizinische Zwecke ans Herz gelegt.53 Nachdem das Präparat in den Jahren 1934 bis 1937 120.700 RM Verlust erbracht hatte, denen 1938/1939 bescheidene 12.100 RM Gewinn gegen- überstanden, wendete sich im August 1940 das Blatt für die »Pelose«. Der Vorstand der Schering AG war nun »prinzipiell damit einverstanden«, seine »Interessen an dem [...] Heilschlamm PELOSE zu verkaufen, da der Vertrieb und die Propaganda dieses Produktes« nicht in die »Fabrikations- und Geschäftsinteressen passen« würde. Als potentieller Käufer erschienen zunächst die Münchner Bastian-Werke, ein »auf dem Gebiete der Bädertherapie in Deutschland zurzeit führendes« Unternehmen.54 Nach Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr dem Scheitern der Verhandlungen mit den Bastian-Werken sollte der weitere Vertrieb eingestellt werden55, bis mit der Firma Bewal- und Rheumaweg-Fabrik und dem früheren Schering-Mitarbeiter Walter Hund neue Interessenten auf den Plan traten.56 Hund erhielt – wohl aus alter Verbundenheit – den Zuschlag.57 Ende 1944 mußte er beim Reichsgesundheitsamt um die Verlängerung der Herstellungserlaubnis für »Pelose« kämpfen, wobei er betonte, daß es sich eigentlich um »kein Erzeugnis, sondern ein Naturprodukt« handle. Es werde »jetzt im Kriege« auch an Lazarette in Großpackungen geliefert. Die 1944 abgegebenen 110.000 kg »Pelose« hätten ca. 660.000 Applikationen erlaubt, »für den Kriegsgesundheitsdienst« sei »dies doch ein recht beachtlicher Beitrag«, und »besonders auch viele Kriegsverletzungen« seien mit »Pelose« behandelt worden. »Nicht unerwähnt« wollte man lassen, »dass der Eifelfango zur Zeit nicht lieferbar« sei »und auch die ausländischen Fangoarten« fehlten.58 Hund gelang es, das »Pelose«-Werk in die DDR hinüberzuretten, bis es Mitte der fünfziger Jahre verstaatlicht und schließlich in einen Betriebsteil des VEB Polstermöbelwerkes Havelberg (!) überführt wurde. 53 Sonntagszeitung vom 13. Oktober 1935, Privatarchiv Erika Gorges, Schollene. Wir danken Frau Gorges sehr herzlich für ihre freundliche Unterstützung. 54 SchA, Akte B 2 1377 b), Schreiben »Betr.: PELOSE« vom 23. August 1940. 55 Vgl. SchA, Akte B 2 1377 b), »Auszug aus den Notizen über die Vorstandspostbesprechung am 8.4.« vom 9. April 1943. 56 Vgl. SchA, Akte B 2 1377 b), Aktennotiz »Betr.: Pelose« vom 7. Mai 1943. 57 Vgl. SchA, Akte B 2 1377 b), Schreiben an die Bewal- und Rheumaweg-Fabrik vom 15. Mai 1943. 58 SchA, Akte B 2 1377 b), Schreiben an das Reichs-Gesundheitsamt Berlin vom 19. Dezember 1944. Franz Steiner Verlag
Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde« 175 »Neue Deutsche Heilkunde« und Naturheilmittelhersteller Fritz Krafft bemerkte 1996 zur NS-Gesundheitspolitik: Die »Naturheilkunde« fand in diesem Umfeld einen vorzüglichen Nährboden, und die heute auf diesem Gebiet tätigen Firmen verdanken, wenn schon nicht ihre Entstehung, so doch ihre wirtschaftliche Bedeutung dieser nationalsozialistischen »Wiedergeburt der Pharmazie«59. Die Schwabesche Pharmakopöe wurde aus dieser Perspektive zu einem für die »firmeneigene Werbung gedachten Homöopathischen Arzneibuch«60 (HAB). Bereits ein kurzer Blick in das HAB von 1934 zeigt jedoch, daß es sich um eine Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr nüchterne Sammlung von Herstellungs- und Prüfvorschriften handelt, die jeden werblichen Charakters entbehrt. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der »Neuen Deutschen Heilkunde« lassen sich zumindest für den bedeutendsten Naturheilmittelhersteller des Deutschen Reiches, die Firma Dr. Willmar Schwabe61, beleuchten. Die vom Leipziger Archivar Volker Jäger bereits 1991 publizierten Zahlen zeigen, daß Schwabe selbst im Jahr 1940 mit 3,8 Mio. RM den Umsatz des Jahres 1930 (4,1 Mio. RM) noch nicht wieder zu erreichen vermochte. Erst die Kriegsproduktion brachte – wie für die gesamte pharmazeutische Industrie – ein deutliches Umsatzwachs- tum. 1944 belief sich der Jahresumsatz auf 6,7 Mio. RM.62 Für den zweitgrößten Hersteller, die in Dresden-Radebeul ansässige Firma Madaus, ließ sich entsprechendes Zahlenmaterial bislang noch nicht ermit- teln.63 Indes ist auch hier keine Brücke zur wirtschaftlichen Entwicklung in der Nachkriegszeit zu schlagen, da das in der Sowjetischen Besatzungszone gelegene Unternehmen entschädigungslos verstaatlicht wurde und im VEB Arzneimittelwerk Dresden aufging.64 Die enteignete Familie mußte in Köln- Merheim neu beginnen. Gleiches gilt im übrigen für die Firma Schwabe, die in Leipzig beheimatet war. Sie bildete die Keimzelle des VEB Leipziger Arzneimittelwerks, während die Eignerfamilie in den Westen übersiedelte und in Karlsruhe-Durlach ein neues Werk aufbaute.65 Lediglich für die deutlich kleinere Firma Schaper & Brümmer (Salzgitter- Ringelheim) läßt sich ein positiver Einfluß der »Neuen Deutschen Heil- 59 Krafft: Einstein (1996). 60 Krafft: Pharmacia (1999). 61 Zur Geschichte der Firma Schwabe vgl. Michalak (1991). 62 Vgl. Jäger (1991), S. 181, S. 185. 63 Recherchen im Sächsischen Staatsarchiv in Dresden und im Archiv des Arzneimittelwerks Dresden (Radebeul) verliefen ergebnislos. Wir danken Herrn Dr. Andreas Schuhmann (Freital/Sachsen) sehr herzlich für seine Unterstützung. 64 Vgl. Schuhmann (2002), S. 15-23. 65 Vgl. z. B. Herrmann (1998), S. 401-404. Franz Steiner Verlag
176 Ulrich Meyer kunde« auf den Geschäftsgang feststellen. Der Umsatz stieg von 1934 bis 1939 von 190.000 auf 670.000 RM. Nichtsdestotrotz war das Unternehmen 1940 von der Stillegung bedroht und konnte dieser nur mit Hinweis auf Export-Devisenerlöse und einer Umstellung auf Kriegsproduktion entgehen. Diese ermöglichte eine weitere Steigerung des Umsatzes auf fast 4 Mio. RM im Jahr 1944.66 Berücksichtigt man allerdings die Umsatzentwicklung der Jahre 1952-1963, ein Zeitraum, in dem in der Bundesrepublik die Allopa- thie deutlich an Boden gewann und die Naturheilkunde an Bedeutung ver- lor, so differenziert sich das Bild auch für Schaper & Brümmer. Das Unter- nehmen konnte in diesen Jahren den Umsatz von 2 auf 10 Mio. DM ver- fünffachen.67 Die einzige relevante Frucht der »Neuen Deutschen Heil- kunde« für Schaper & Brümmer blieb das Präparat »Esberitox«, das Erich Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr Schaper (1901-1970) 1934, durch den radikalen Impfgegner Julius Streicher (1885-1946)68 inspiriert, als Mittel gegen Impfschäden konzipiert hatte.69 Diskussion Im Hinblick auf den Arzneimittelmarkt strebte die NS-Gesundheitspolitik neben der Propagierung phytotherapeutischer oder auch homöopathischer Arzneimittel eine »Wiedergeburt der Pharmazie« an. Diese sollte die indu- striell gefertigten Arzneispezialitäten zurückdrängen und einen Aufschwung von Rezeptur und Defektur in den Apotheken bewirken. Über den hohen Anspruch und die nüchterne Wirklichkeit der »Wiedergeburt der Pharma- zie« wurde an anderer Stelle berichtet.70 Vergleicht man die Reaktion der pharmazeutischen Industrie auf die »Neue Deutsche Heilkunde« mit der auf die »Wiedergeburt der Pharmazie«, so wird deutlich, daß letztere als weitaus bedeutendere Gefahr wahrgenommen wurde. Von einer echten Wiederbelebung der Rezeptur und Defektur wäre die gesamte Branche – unabhängig von der individuellen Ausrichtung des einzelnen Herstellers – betroffen gewesen. Entsprechend heftig gestaltete sich die Auseinandersetzung mit der deutschen Apothekerschaft. In bezug auf die »Neue Deutsche Heilkunde« mußte die Reipha hingegen diplomatisch agieren, da innerhalb des Verbandes selbst eine ganze Anzahl von Naturheilmittel-Herstellern vertreten war. Die Reipha verfolgte eine geschickte Strategie des »Sowohl-als-Auch«, wobei Angriffe fanatischer Na- turheiler, z. B. auf die Behringsche Serumtherapie, stets abgewehrt wurden. 66 Vgl. Conrad (1998), S. 36, S. 48-54. 67 Conrad (1998), S. 83. 68 Zur Rolle von Streicher in den Auseinandersetzungen um die »Neue Deutsche Heilkunde« vgl. Bothe (1991). 69 Vgl. Conrad (1998), S. 35. 70 Meyer: Pharmazeutische Industrie (2004). Franz Steiner Verlag
Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde« 177 Die völlige Ignoranz der I. G. Farben gegenüber der »Neuen Deutschen Heilkunde« spricht dafür, daß die chemisch-pharmazeutische Großindustrie das Phänomen von Anfang an weniger ernst nahm, als man heute vermuten würde. Lediglich für die beiden mittelständischen Hersteller Knoll und Schering lassen sich Aktivitäten auf dem Gebiet der Naturheilmittel nachweisen. Auffallend ist bei beiden Firmen, daß sie sich um eine naturwissenschaftliche Fundierung der entwickelten Präparate bemühten und sich konventioneller Methoden der Analytik und des Wirksamkeitsnachweises bedienten. Letztlich blieben ihre mehr oder weniger als Naturheilmittel zu bezeichnenden Präparate Fremdkörper im jeweiligen Sortiment, denn eine bewährte Vertriebsstruktur, z. B. zur Ansprache der Heilpraktiker, fehlte. Beide Firmen ließen in ihren Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr Bemühungen Ende der dreißiger Jahre nach, im Falle Scherings wurde seit 1938 nicht einmal mehr der Begriff »Bio-Schering« verwendet.71 Dies spricht für die von Robert Jütte und anderen72 vertretene These, daß die »Neue Deutsche Heilkunde« 1936 mit dem Inkrafttreten des kriegsvorbereitenden Vierjahresplans ihren Zenit bereits überschritten hatte.73 Der Aufschwung der Naturheilmittelhersteller war, wenn er denn überhaupt stattfand, deutlich kleiner, als theoretisch postuliert wurde. Es besteht kein kausaler Zusammenhang zwischen eventuellen geschäftlichen Erfolgen wäh- rend der NS-Zeit und heutiger wirtschaftlicher Prosperität. Lediglich beim staatlich forcierten Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen waren eklatante Steigerungen zu verzeichnen. Indes läßt sich aus der Erwei- terung des Anbaus nicht unmittelbar auf eine erhöhte Produktion von Phy- topharmaka bzw. Homöopathika schließen. Zum einen entfiel ein Teil des Flächenzuwachses auf Küchengewürze und Duftpflanzen, zum anderen wurde im Rahmen der Autarkiebemühungen der Bezug von Drogen aus dem Ausland eingeschränkt.74 Es fällt auf, daß die Industrie sowohl in bezug auf die »Wiedergeburt der Pharmazie« als auch im Hinblick auf die »Neue Deutsche Heilkunde« stets betonte, daß unüberlegte Maßnahmen im Inland den Arzneimittel-Export schwer schädigen würden. Die starke Auslandsorientierung der reichsdeut- schen pharmazeutischen Industrie könnte auch eine Erklärung dafür sein, daß ihre Hauszeitschrift im Vergleich zur Deutschen Apotheker Zeitung weni- ger ideologiebehaftet erscheint und antisemitische Äußerungen weitestge- 71 Vgl. Vademecum (1938), S. 9. Im Vademecum des Jahres 1940 fehlten sogar die Produktabbildungen. 72 Vgl. Haug (1985); Bothe (1991); Karrasch (1998). 73 Vgl. Jütte (1996), S. 52. 74 Vgl. Aue (1983), S. 277. Während die Anbaufläche von Heil- und Gewürzpflanzen 1934 nur 820 Hektar betragen hatte, erreichte sie 1940 mit 8.362 Hektar mehr als die zehnfache Größe. Franz Steiner Verlag
178 Ulrich Meyer hend fehlen.75 Die industrielle »Apotheke der Welt« wollte ihr Gesicht so weit als möglich wahren. Bibliographie Archivalien Bayer-Archiv (BA) Schreiben von Herrn Hans-Hermann Pogarell vom 9. März 2001 Merck-Archiv (MA) Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr Bestand E 3: Protokolle Direktionsbesprechungen 1932-1945 Bestand F 3, Nr. 38 c Bericht Arbeiten der Forschungsabteilungen 1933 und 1934 Schering-Archiv (SchA) Bestand 13, Akte 220 Bestand B 2 Akte 1377 b) Bestand B 5 Akte 372 Bestand S 1 Akte 105 Ordner Herstellungsvorschriften Bestand 05, Akte 30 Bestand B 2 Akte 0687 Bestand S 1 Akte 106 Band S 1 Akte 110 Privatarchiv Erika Gorges, Schollene Sonntagszeitung vom 13. Oktober 1935 Quellen Anzeige in Heft 2 der Hausmitteilungen der Schering A. G. Berlin 13 (1941). Heyl, Werner: Die Bedeutung der pharmazeutischen Industrie für Deutschlands Volksge- sundheit und Kultur. In: Pharmazeutische Industrie 1 (1934), 213-219. Heyl, Werner: Sinn und Aufgaben der Fachgruppe »Pharmazeutische Erzeugnisse«. In: Pharmazeutische Industrie 2 (1935), 129-132. Junkmann, Karl: Ein neues Bitterstofftonikum (Fortamin). In: Hausmitteilungen der Sche- ring A. G. Berlin 7 (1935), 146-149. Junkmann, Karl: Über Fortamin. In: Hausmitteilungen der Schering A. G. Berlin 9 (1937), 117-122. 75 Vgl. die von Schwarz (1996) vorgelegte Analyse der Deutschen Apotheker Zeitung. Franz Steiner Verlag
Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde« 179 Kunze, Ernst: Die Bedeutung der biologischen Heil- und Nährmittelindustrie für die Volksgesundheit. In: Pharmazeutische Industrie 1 (1934), 633-634. Kunze, Ernst: Zum Jahreswechsel! – An alle Mitglieder der Fachabteilungen I und IV. In: Pharmazeutische Industrie 3 (1936), 3-4. N. N.: Zur Einführung. In: Pharmazeutische Industrie 0 (1933), 1-2. N. N.: Ausstellung »Deutsches Volk – Deutsche Arbeit« 1934. In: Pharmazeutische Indu- strie 1 (1934), 299-300. N. N.: Die konstituierende Mitgliederversammlung der Fachabteilung I. In: Pharmazeuti- sche Industrie 2 (1935), 500. N. N.: Arzneipflanzen-Anbau und -Sammlung. In: Pharmazeutische Industrie 2 (1935), 53- 54. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr N. N.: Das Prüfungsinstitut für biologische Heilmittel. In: Pharmazeutische Industrie 6 (1939), 74-76. N. N.: Knoll 1886-1949. Ludwigshafen/Rhein 1949. Potonie, R.; Benade, W.: Forschungsergebnisse zur Geologie des Heilschlamms von Schol- lene. In: Hausmitteilungen der Schering A. G. Berlin 8 (1936), 111-114. Prospekt »Schollene und sein Wundersee« (1935). Schenck, Ernst-Günther: Rationalisierung in der Heilpflanzenkunde. In: Pharmazeutische Industrie 10 (1943), 3-5. Stephan, Martin: Versuche über die sedative Wirkung des Baldrians. In: Hausmitteilungen der Schering A. G. Berlin 9 (1937), 122-128. Vademecum für das ärztliche Laboratorium Schering-Kahlbaum A. G. Berlin 1936. Vademecum für das ärztliche Laboratorium Schering-Kahlbaum A. G. Berlin 1938. Wagner, H.: Erfahrungen mit einem neuen deutschen Heilschlamm. In: Hausmitteilungen der Schering A. G. Berlin 9 (1937), 129-131. Wolff, Albert: Der Weg zum »biologischen« Heilmittel. In: Pharmazeutische Industrie 2 (1935), 3-6. Literatur Aue, Uta von der: Die deutsche Hortus-Gesellschaft (1917-1943) – Natürlicher Heilpflan- zenanbau und Förderung der Phytotherapie in Deutschland. Diss. rer. nat. Berlin 1983. Beyer, Karl-Heinz: Prof. Dr. Gerhard Schenck, Berlin, 65 Jahre. In: DAZ 109 (1969), 307. Beyer, Karl-Heinz: Professor Dr. Gerhard Schenck in memoriam. In: DAZ 133 (1993), 1023-1024. Bothe, Detlef: Neue Deutsche Heilkunde 1933-1945. Husum 1991. Conrad, Claus: Wollen, Wägen, Wagen – 75 Jahre Schaper & Brümmer. Salzgitter 1998. Eberhardt, Gunter: G. F. Walz (1813-1862). Stuttgart 1990. Funke, Ines; Melzig, Matthias F.; Siems, Wolf-Eberhard; Schenk, Regina: Lactuca virosa L. und Lactucarium – Molekularpharmakologische Untersuchungen zur Erklärung der analgetischen Potenz. In: Zeitschrift für Phytotherapie 23 (2002), 40-45. Haug, Alfred: Die Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde (1935/36). Husum 1985. Franz Steiner Verlag
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Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde« 181 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Franz Steiner Verlag
Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 20.06.2022 um 16:03 Uhr 182 Abb. 4 Abb. 5 Franz Steiner Verlag Ulrich Meyer
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