Einheit als Wagnis Gedanken zum Stand der Wiedervereinigung - wbg Community
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Einheit als Wagnis Gedanken zum Stand der Wiedervereinigung „Ist es ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt? Sind es zwei, die sich erlesen, Daß man sie als eines kennt?“1 - Goethe: „Gingo Biloba“ Ein allzu großer Freund einer geeinten deutschen Nation war Goethe bekanntlich nicht. Er schrieb, den Deutschen sei vielmehr daran gelegen, „für sich zu bleiben“ statt „zusammen zu bleiben“.2 Und in der Tat muss man sich nach dreißig Jahren deutscher Einheit fragen, wie es um diesen Zusammenhalt bestellt ist. Ist die Wiedervereinigung geglückt oder steht die Bun- desrepublik vor einer Trennung? Spaltet sich das Land im Zuge einer neuartigen polarisieren- den Debattenkultur? Oder sind es vielmehr die Einschnitte vergangener Jahrzehnte, die unsere Gesellschaft noch immer nicht verwunden hat? Hierauf gilt es Antworten zu finden, um zu verstehen, welche wirtschaftlichen, politischen und menschlichen Herausforderungen bewältigt werden konnten und welche Chancen bis heute ungenutzt blieben. Dabei ist die Suche nach dem Stand der deutschen Einheit nie nur die Erforschung vergangener Entscheidungen und historischer Altlasten. Sie ist immer zugleich auch der Blick auf den gegenwärtigen Handlungs- spielraum, in dem es uns obliegt, die „gehoffte Zukunft“3 unseres Gemeinwesens vorzubereiten. Doch wodurch ist dieser Handlungsspielraum bedingt? Und auf welche Zukunft lohnt es sich zu hoffen? Die Frage nach der deutschen Einheit ist die Frage nach uns selbst, nach unserer Bereitschaft, zusammen zu bleiben, statt nur für uns zu sein. Verspüren wir diese Bereitschaft? I Das Maß der Einheit Verfolgt man die Debatten und Kommentare der letzten Zeit, so fällt auf: Eine jede Suche nach dem Stand der deutschen Einheit beginnt mit einem Blick in die Statistiken. Und die zeichnen zunächst ein hoffnungsvolles Bild: Seit 2009 sank die Arbeitslosenquote in den ostdeutschen Bundesländern stetig und näherte sich jener der westdeutschen Bundesländer bis auf 1,7 % 1 Johann Wolfgang von Goethe: „Gingo Biloba“. In: Ders.: Westöstlicher Divan. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 2: Gedichte und Epen II. München 2000. S. 66. 2 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 12: Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen. München 2000. S. 386. 3 Harald Welzer: „Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) No. 25- 26, 21.06.2010. S. 16-23, hier S. 23. 1
Differenz an.4 Die Lebenszufriedenheit in Ost und West ist nahezu identisch5 und auch die Pro- duktivitätsdifferenz von noch immer 17 % kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass „[d]em seit der Wiedervereinigung verfolgten politischen Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensverhält- nisse [...] in weiten Teilen entsprochen“ wurde.6 Ähnlich optimistisch stimmen die Untersu- chungen7 des Statistischen Bundesamtes, die ergaben, dass im Jahr 2018 etwa genauso viele Menschen aus Ost nach West auswanderten wie von West nach Ost. Tatsächlich sind 2017 das siebte Jahr infolge sogar mehr Studienanfänger8 aus den alten in die neuen Bundesländer gezo- gen. Entsprechend resümiert Ferdinand Bitz: „Heute, 30 Jahre nach der Einheit, kann sich die rechtsstaatliche, ökonomische und sozialpolitische Bilanz sehen lassen.“9 „[W]o einmal die Phantasie eines ganzen Volkes in der Richtung auf das rein quantitativ Große gelenkt ist, [...] da wirkt [...] Zahlenromantik mit unwiderstehlichem Zauber“.10 Diese Erkennt- nis Max Webers vom Zauber der Zahl gemahnt uns Einhalt im allzu deutungswilligen Umgang mit quantitativen Daten. Die erwähnten Erhebungen haben in ihrer Ermittlung wissenschaftli- che Legitimität und sind für konkrete Erwägungen politischen Handelns von unverzichtbarer Wichtigkeit. Doch wann immer es darum geht, den Raum des Spezifischen zu verlassen und die Ebene der übergeordneten Betrachtung zu erreichen, gilt es sich bewusst zu machen, dass ‚Zählen‘ und ‚Bewerten‘ nicht dasselbe ist. Zahlen sind die Antworten auf unsere Fragen an die Wirklichkeit und sie tragen keine Verantwortung für die Deutungen, für die wir sie heranziehen. Gerade in Bezug auf den Stand der deutschen Einheit wird dies einmal mehr deutlich: Wonach sollen wir fragen? Sollten wir die Zahl der in Ostdeutschland zugezogenen Studierenden höher gewichten als zum Beispiel jene der Schulabbrecher? So berechtigt die positive Einschätzung Ferdinand Bitz‘ vor dem Hintergrund einiger sozio-ökonomischer Entwicklungen auch ist: Be- trachtet man stattdessen gravierende Diskrepanzen zwischen Ost und West, wie den mittleren Lohn und die Quote der Unterbeschäftigten,11 dann ist auch die entgegengesetzte Diagnose gleichermaßen gerechtfertigt. So schreibt Ilko-Sascha Kowalczuk: „Politisch, sozial und 4 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (BA): Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf 02/2020. 5 Vgl. Peter Krause: „30 Jahre seit dem Mauerfall: Fortschritte und Defizite bei der Angleichung der Lebensver- hältnisse in Ost- und Westdeutschland“. In: DIW Wochenbericht No. 45 (2019). S. 827-838, hier S. 837. 6 Ebd. S. 838. 7 Vgl. DESTATIS – Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 378 vom 25. September 2019: „30 Jahre nach dem Mauerfall: Osten Deutschlands ist attraktiv für Studierende aus dem Westen“. 8 Es sind stets beide Geschlechter gemeint. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird jedoch auf die Nennung beider Formen verzichtet. 9 Ferdinand Bitz: „Gedanken zum 9. November 1989“. In: Ferdinand Bitz / Manfred Speck (Hgg.): 30 Jahre Deut- sche Einheit. „Wir sind dabei gewesen“. Reinbek 2019. S. 361-401, hier S. 361. 10 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Hrsg. v. Klaus Lichtblau u. Johannes Weiß. Wiesbaden 2016. S. 54. 11 Vgl. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle – IWH (Hg.): Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall. Halle (Saale) 2019. S. 43, 45. 2
ökonomisch [...] hat sich der Ost-West-Gegensatz so stark verfestigt, dass es gegenwärtig mü- ßig erscheint, weiter von Aufhol- und Angleichungsprozessen des Ostens zu reden.“12 Fragt man nach dem Stand der deutschen Einheit, so ist die Untersuchung und Vermessung dieser politischen, sozialen, ökonomischen, rechtlichen und institutionellen Erfolge und Ver- säumnisse unverzichtbar. Die Kenntnis von Missständen schafft erst die Bedingungen der Mög- lichkeit ihrer Beseitigung. Doch inwieweit diese empirischen Messungen wirklich eine Antwort auf die Frage nach dem Stand der Wiedervereinigung geben können, bleibt offen, solange eine entscheidendere Frage nicht beantwortet wurde: Woran bemisst sich die Einheit eines Volkes? In seiner Ansprache am dritten Oktober 1990 verkündete Richard von Weizsäcker, dass die „Form der Einheit“ gefunden ist. „Nun gilt es, sie mit Inhalt und Leben zu erfüllen.“13 Disku- tieren wir nicht vielmehr die „Form“ der Einheit, wenn wir uns zuvorderst auf die messbaren Wirtschaftsdaten konzentrieren? Sind dies nicht die immerwährend zu justierenden politischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die eigentliche Einheit, ihr „Inhalt“ und „Leben“ abspielt, bzw. abspielen sollte? Die Frage nach der Einheit eines Vol- kes ist die Frage nach der Einheit, die es lebt. Und verfolgt man die Debatten und Stimmungen der letzten Monate, so neigt man dazu, die Antwort zu scheuen. Sie ist betrübend. II Aufbruch alter Gräben „Ich erlebe zurzeit, dass es Schnitte gibt, die irgendwann wieder aufbrechen werden in den Biographien. Wir konnten Geld ziemlich leicht austauschen, Firmennamen auch noch, aber das Leben muss irgendwie eine Kontinuität behalten und dazu gehört, dass ich mich erinnern kann und erinnern darf und erinnern will [...].“14 Hört man diese Worte Angela Merkels aus dem Oktober 1991, so erklingen sie wie eine düstere Vorahnung der heutigen Zeit. Wir hätten „drei- ßig Jahre lang die Illusion eines einigen Landes gepflegt“, schreibt Mehmet Daimagüler im Mai 2020. „Jetzt brechen die Gräben auf, mit gefährlichem Furor.“15 Ähnlich diagnostiziert Harald Martenstein: „Das Land teilt sich, wieder einmal, und verwandelt sich in etwas, wofür ich noch 12 Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. München 52019. S. 268. 13 Richard von Weizsäcker. Reden und Interviews. Bd. 7: 1. Juli 1990 – 30. Juni 1991. Hrsg. v. Presse- und Infor- mationsamt der Bundesregierung. Bonn 1992. S. 74. 14 Günter Gaus: Zur Person. Angela Merkel. DFF, 28.11.1991. Online abrufbar: https://www.ardmediathek.de/ard/video/zur-person/guenter-gaus-im-gespraech-mit-angela-merkel/rbb-fernse- hen/Y3JpZDovL3JiYi1vbmxpbmUuZGUvenVycGVyc29uLzIwMTktM- TEtMDdUMDE6MTU6MDBfMWMwNDYxNmItZjk3My00MjQ2LTg4Y- zEtNzk3NGY0NDQ3MGQyL3p1cnBlcnNvbl8yMDE5MTEwN19hbmdlbGFfbWVya2Vs/, Zugriff am: 19.08.2020. 21:54-22:12. 15 Mehmet Daimagüler: „Wer sind hier die Einwanderer?“. In: DIE ZEIT No. 20, 07.05.2020. S. 11. 3
keinen Namen weiß.“16 Und selbst die ‚Nachwendekinder‘ verspüren, was ferner Nachhall sein sollte, als unleugbare Realität: „[D]as leise Gefühl, dass zwischen Ost und West noch immer eine unsichtbare Mauer verläuft, die das Land spaltet. [...] 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das alles noch da. Die Vorurteile, die Unterschiede. Das Gerede von der Spaltung wird sogar wieder mehr.“17 Die Teilung zeigt sich in diesen Diskursen nicht so sehr als historisch gewach- sene Narbe, die bloß der fortlaufenden Pflege bedarf, um den vorangeschrittenen Heilungspro- zess allmählich zu vollenden. Nein, vielmehr erlangt man den Eindruck einer Wunde, die auf- klafft, da die Fäden nicht standhielten. Diese Wunde ist weniger wirtschaftlicher, als vielmehr ideeller und emotionaler Natur und dadurch umso schwerer zu erfassen. In den demoskopischen Studien lässt sie sich dennoch erahnen. Das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelte, dass 77 % der Ostdeutschen den Umgang, den man in der DDR miteinander pflegte, für menschlicher halten als den Umgang heutzutage und lediglich 48 % sind der Meinung, dass die Bevölkerung mit dem Sturz des SED-Regimes eine Befreiung empfunden habe.18 Eine andere Studie ergab, dass zwei Drittel der Befragten überzeugt sind, es gebe ungeschriebene Gesetze der Meinungsfreiheit und über ein Drittel sagt sogar, freie Meinungsäußerung sei nur noch im privaten Kreis möglich.19 Der übergeordnete Zusammenhang dieser Erhebungen besteht in der Enttäuschung darüber, dass die Wiederverei- nigung nur sehr begrenzt jenen emotionalen und ideellen Mehrwert mit sich führte, den Zeit- zeugen und Nachgeborene gleichermaßen erhoffen. „Ein Volk bricht auf in die Vielfalt der Meinungen“,20 schreibt Durs Grünbein über den November 1989 und doch scheint ein Großteil des Volkes von dieser Vielfalt derzeit nicht ausreichend zu spüren. Sprachliche Reglementie- rungen werden von 56 % der Westdeutschen beklagt, in Ostdeutschland sind es 61 %. Die wachsende Skepsis gegenüber einer sich stetig verschärfenden Kultur der wachsamen Sprachlichkeit ist keineswegs ein primär deutsches oder gar ostdeutsches Phänomen. Unter den Bezeichnungen der political correctness oder wokeness steht diese Praxis gesellschaftlicher Öf- fentlichkeit auch und ganz besonders in den USA im Fokus der kontroversesten Debatten.21 16 Harald Martenstein: „Über eine enttäuschte Liebe und Haltung im Journalismus“. In: ZEITMagazin No. 32, 30.07.2020. S. 6. 17 Valerie Schönian: Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die deutsche Einheit bedeutet. München 2020. S. 9. 18 Vgl. Thomas Petersen: „Allensbach-Umfrage: Wenn die Erinnerung an eine Diktatur verblasst“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung No. 240, 16.10.2019. S. 8. 19 Vgl. Renate Köcher: „Allensbach-Umfrage: Immer mehr Tabuthemen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung No. 119, 23.05.2019. S. 12. 20 Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Berlin 2019. S. 131. 21 Vgl. Anatol Stefanowitsch: Eine Frage der Moral: Warum wir eine politisch korrekte Sprache brauchen. Berlin 2018; Simon M. Ingold: „Wokeness heisst die gesteigerte Form der Political Correctness: Sei wach, richte über andere, und fühle dich gut dabei“. In: Neue Zürcher Zeitung No. 15, Jg. 241, 20.01.2020. S. 25. 4
Doch für Ostdeutschland ergibt sich hier die Besonderheit, dass sich der Widerstand gegen derartige, als zu rigoros empfundenen Sprachregelungen zuweilen mit spezifisch ostdeutschen Erfahrungen der Benachteiligung paart. Worin aber bestehen diese Erfahrungen? Die Forschung der letzten Jahre konnte in einem zuvor nie dagewesenen Ausmaß die tiefen sozialen Umgrabungen sichtbar machen, die Ostdeutschland während der 90er Jahre erdulden musste. Philipp Ther spricht in Anlehnung an die ‚Kosovokrise‘, ‚Eurokrise‘ und ‚Flüchtlings- krise‘ sogar von der „Einheitskrise“.22 Und manch einer hält den weitgehend friedlichen Verlauf der Transformation für das größere Wunder als die Friedlichkeit der Revolution 1989/90.23 Doch dies ist nur auf den ersten Blick ein beruhigender Befund. Die gesellschaftliche Situation zwischen Massenabwanderung und Privatisierungsdruck äußerte sich zwar nicht in aggressi- vem Protest. Doch die Enttäuschung jener Zeit, die „Verunsicherung und Apathie“24 erschwer- ten das Gefühl der Zugehörigkeit und erschweren es noch heute. Als man gegen den Willen der Mehrheit der Ostdeutschen25 die Wiedervereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes durch- führte, anstatt eine neue Verfassung zu erarbeiten, verstärkte man diese empfundene Ungleich- heit noch um so mehr. All diese historischen Entwicklungen, die kritischen Untersuchungen politischer Entscheidun- gen vor dreißig Jahren, können uns dabei helfen, die Wurzeln eines Unmutes nachzuvollziehen, der noch heute wirkt und sich auch in Wahlergebnissen zeigt.26 Doch wenn man sich allein auf die Erforschung geschichtlicher, somit irreversibler Weichenstellungen konzentriert, so läuft man Gefahr, den gegenwärtigen Handlungsspielraum kleinzureden. Die historische Neugierde darf nicht davon ablenken, dass gelebte Einheit nur im Hier und Jetzt stattfinden kann. Denn so untrennbar der Einigungsprozess auch mit den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ent- scheidungen, die ihn hemmen oder fördern, verbunden ist: Einheit ist zuallererst eine Lebens- form. Und ein jeder entscheide tagtäglich, ob er sein Dasein in den Dienst eines vereinten Ge- meinwesens stellt. Hiernach zu streben bedeutet Einheit wagen. Wie aber kann dieses Wagnis ‚Einheit‘ gelingen? 22 Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation. Berlin 2019. S. 73. 23 Vgl. Kowalczuk: Die Übernahme. S. 256. 24 Norbert Frei / Franka Maubach / Christina Morina / Maik Tändler: Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Berlin 2019. S. 196. 25 Vgl. Manfred Baldus: „Eine vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung - Zum Schick- sal des Art. 146 GG nach Vorlage des Abschlußberichts der Gemeinsamen Verfassungskommission“. In: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV), Vol. 76, No. 4 (1993). S. 429-441, hier S. 438. 26 Vgl. Frei / u.a.: Zur rechten Zeit. S. 188. 5
III Das Leben der Anderen „Wie gut uns die Einheit menschlich gelingt, das entscheiden kein Vertrag der Regierungen, keine Verfassung und keine Beschlüsse des Gesetzgebers. Das richtet sich nach dem Verhalten eines jeden von uns, nach unserer eigenen Offenheit und Zuwendung untereinander.“27 Dreißig Jahre sind seit diesem Appell von Weizsäckers vergangen und noch immer scheint die Öffent- lichkeit ihm kaum zu folgen. „Offenheit und Zuwendung“ erfordern Interesse und Aufmerk- samkeit für das Gegenüber, dessen Lebenserfahrungen, Rückschläge und Leistungen. Und doch ist das Desinteresse an ostdeutschen Lebensläufen nach wie vor eklatant. Wenn Manuela Schwesig „mehr Respekt vor ostdeutschen Lebensleistungen“28 fordert oder der Regisseur An- dreas Dresen feststellt, dass auch „ein System von Verrat [...] eingebettet“ sei „in Leben“,29 so adressieren sie jenes Unbehagen, das Angela Merkel schon vor dreißig Jahren verbalisierte: „Man hat ein System gekannt und das ist weg und man interessiert sich aber eigentlich nicht für das wahrhaftige Leben in diesem System und das war ja auch schön.“30 Unablässig wird betont, dass das „Ende der Geschichte“31 als finaler Triumph der westlichen liberalen Demokratie niemals eintraf und dabei wird zu oft übersehen, dass für viele Menschen tatsächlich eine Geschichte an ihr Ende kam: Die Geschichte, die ihr Leben war. Solange es nicht gelingt, diese Geschichte, das Leben der Ostdeutschen vor und unmittelbar nach der Wende in das öffentliche Bewusstsein der Nation zu integrieren, kann die Einheit nicht gelin- gen. Wie weit wir hiervon noch entfernt sind, wie sehr uns Stereotype und Klischees eine aus- gewogene Sichtweise erschweren, zeigt nicht zuletzt das in den Medien dominierende Bild des ‚problematischen Ostens‘.32 Selbstverständlich muss sich ‚der Osten‘ mit einer Vielzahl von Problemen auseinandersetzen, mit neuen Problemen und den noch immer nicht geheilten „Wunden der SED-Diktatur und wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche nach der Wiederver- einigung“.33 Doch Wesen und Charakter Ostdeutschlands erschöpfen sich genauso wenig in 27 Von Weizsäcker. Reden und Interviews. S. 86. 28 „Ostdeutsche Regierungschefs: Schwesig und Ramelow wollen DDR nicht "Unrechtsstaat" nennen“. Spiegel.de, 7. Oktober 2019. Online abrufbar: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/manuela-schwesig-und-bodo-rame- low-ddr-war-kein-unrechtsstaat-a-1290265.html. Zugriff am: 19.08.2020. 29 Andreas Dresen im Gespräch mit Jakob Augstein. rbb radioeins: „Zerrissenes Deutschland. Warum wird aus Ost und West keine Einheit?“. Online abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=otyrPa401eI. Zugriff am: 19.08.2020. 22:46. 30 Gaus: Zur Person. Angela Merkel. 25:02-25:12. 31 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?. Übers. v. Helmut Dierlamm, Ute Mihr und Karlheinz Dürr. München 1992. 32 Vgl. Daniel Kubiak: „Deutsch-deutsche Identitäten in der Nachwendegeneration“. In: Aus Politik und Zeitge- schichte (APuZ): Deutsche Einheit. No. 28-29, 06.07.2020. S. 35-39, hier S. 39. 33 „Der Begriff „Unrechtsstaat“ im Rahmen der Erinnerungspolitik und seine Anwendung auf die ehemalige DDR“. Drucksache des Deutschen Bundestages 19/17163. S. 3. 6
diesen Problemen, wie in den Vorstellungen eines „Dunkeldeutschlands“34 mit demokratischem „Erziehungsdefizit“35, oder eines Volkes, dass „deutscher“ geblieben sei „als der Westen“.36 Derlei Generalisierungen stehen der Schaffung eines wirklichen gesellschaftlichen Zusammen- haltes entgegen. Sie schaffen eine Gesprächskultur, die nur die Bestätigung der eigenen Vorur- teile erlaubt, nicht aber ihre Infragestellung. Und so ist schließlich die Frage nach Stand und Aussicht der deutschen Einheit diese Frage, die sich für jeden Einzelnen stellt: Wage ich meine Vorurteile zu überwinden? Wage ich Offenheit und Zuwendung? IV Einheit in Eintracht „Sich zu vereinen, heißt teilen lernen.“37 Was von Weizsäcker vor allem mit Blick auf den wirt- schaftlichen Wohlstand sagte, gilt umso mehr für die Teilung der Aufmerksamkeit im öffentli- chen Diskurs. Denn Einheit kann nur dort gelingen, wo man sich einander annähert und sei es nur in der Bereitschaft, für einen Moment zuzuhören und seinen Gesprächspartner weniger als ‚den Anderen‘ zu betrachten, sondern vielmehr als ein ‚Gegenüber‘. Über die Gruppe der 20 schreibt Durs Grünbein: „Nach den Ansprachen folgt nun die Aussprache, nach den ewigen Monologen, dem Phrasendreschen, zaghaft der Dialog.“38 Genau dies ist die Herausforderung unserer Zeit: Von den Ansprachen zur Aussprache zu gelangen, von den Monologen, die in einer zunehmend polarisierten Medienlandschaft von konkret bis Cato ertönen, zum Dialog unter Andersdenkenden. Es gilt dabei zu bedenken, dass Einheit und Einigkeit nicht dasselbe sind. In einer gelebten Demokratie sind sie vielleicht sogar wesensverschieden. Nein, Einheit erfordert vielmehr eine gesellschaftliche Tugend, die zu Unrecht den Beigeschmack des Anti- quierten mit sich führt: Einheit erfordert Eintracht. Es ist jene „Art von Freundschaft“, die nicht „mit Gleichheit der Ansichten verwechselt werden darf“,39 sondern die Haltungen des Einzelnen achtet, ohne „das gemeinsame Interesse“40 zu ver- nachlässigen. Nach dieser „Freundschaft unter Mitbürgern“41 gilt es zu streben, nach diesem Zusammenhalt, der den Dissens nicht scheut. Dies bedeutet, dass es immer wieder aufs Neue zu prüfen gilt, ob mein Gegenüber wirklich schon ein Feind der freien Gesellschaft ist oder doch noch ein Gegner im politischen Diskurs. Es gilt anzuerkennen, dass die Lebensrealitäten 34 Vgl. Susanne Rippl, Nelly Buntfuß, Nicole Malke, Natalie Rödel, Luisa Schubert: „Ostdeutsche Identität: Zwi- schen medialen Narrativen und eigenem Erleben“. In: Deutschlandarchiv 2018. Bonn 2019. S. 43-54, hier S. 46. 35 Vgl. Anne Hähnig: „Gibt’s hier was zu gewinnen?“. In: ZEIT im Osten No. 34, 13.08.2020. S. 20. 36 Ellen Kositza / Götz Kubitschek: Sein und Haben. Notizen aus Deutschlands Mitte. 2004, Zitiert nach: Frei / u.a.: Zur rechten Zeit. S. 203. 37 Von Weizsäcker. Reden und Interviews. S. 81. 38 Grünbein: Aus der Traum (Kartei). S. 130. 39 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Hrsg. v. Günther Bien. Übers. v. Eugen Rolfes. Hamburg 1985. 1167a. 40 Ebd. 1167b. 41 Ebd. 7
zwischen Ost und West, die gegenwärtigen wie die erinnerten, verschieden sind und sich diese Unterschiede auch in politischen Haltungen niederschlagen. Doch genauso gilt es zu verstehen, dass diese Teilung der politischen Emotionen das Land nicht vom Priwall bis nach Mödlareuth spaltet. Die Spaltung ergreift das ganze Land und ihre regional bedingten Verschärfungen dür- fen die Gesellschaft als Ganze nicht von ihrer Betroffenheit entbinden. „[...] Groll ist kein Spe- zifikum der Himmelsrichtung, seit die Welt eins ist [...].“42 Diesem Groll mit Achtsamkeit zu begegnen, ihn verstehen zu wollen, ohne sich von ihm ergreifen zulassen, ihn einzubinden in das Gespräch der Vielen, dies ist die Aufgabe, der wir uns stellen müssen, wenn uns an der Einheit liegt. Nur in Eintracht kann sie erfüllt werden. Doch auch in ihr nur allmählich: „Denn durch Eintracht wachsen kleine Dinge, durch Zwietracht zerfallen die Größten“.43 V Hoffnung wagen Die Suche nach dem Stand der deutschen Einheit beginnt mit dem Erfassen von Strukturunter- schieden. Doch für wen die Wiedervereinigung mehr bedeutet, als das Zusammenwachsen zweier Wirtschafts- und Sozialräume, der findet dort nur Messdaten und keine wirklichen Ant- worten. Wem es um die menschliche Einheit geht, eine Einheit mit „Inhalt und Leben“,44 muss danach fragen, wie es um das gegenseitige Interesse bestellt ist, um die Offenheit zueinander und die Bereitschaft miteinander zu reden, statt übereinander zu urteilen. Allzu oft geben wir uns damit zufrieden, vermeintlich zu wissen, was jemand ist: ‚Ossi‘ oder ‚Wessi‘, ‚Populist‘ oder ‚Gutmensch‘, ‚Bürger‘ oder ‚Unterdrückter‘. Stattdessen gilt es zu fragen, wer jemand ist. Und dies können wir nur erfahren, schreibt Hannah Arendt, „wenn wir die Geschichte hören, deren Held er selbst ist, also seine Biographie; was immer wir sonst von ihm wissen mögen [...] kann uns höchstens darüber belehren, was er ist oder war.“45 Nur jene sprechen wirklich mitei- nander statt bloß zueinander, die das Gegenüber als ein eigenständiges Individuum anerkennen, dessen Lebensweg zwar ein anderer war, aber dadurch keineswegs ein wertloser. Und nur im Miteinander kann eine Einheit entstehen, die die Vielheit nicht leugnet. Streben wir nach die- sem Miteinander, diesem Forum, auf dem wir uns in Eintracht streiten und versöhnen, nur dann können wir es uns erlauben, auf wirkliche Einheit zu hoffen. Und was vor dreißig Jahren galt, gilt noch immer: Diese Hoffnung ist ein Wagnis. 42 Grünbein: Aus der Traum (Kartei). S. 188. 43 Sallust: De bello Iugurthino. 10,6. In: Leighton D. Reynolds (Hg.): C. Sallusti Crispi: Catinlina. Iugurtha. His- toriarum Fragmenta Selecta. Appendix Sallustiana. Oxford / New York 1991. S. 60: „Nam concordia paruae res crescunt, discordia maxumae dilabuntur“. 44 Von Weizsäcker: Reden und Interviews. S. 74. 45 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 202019. S. 231 f. 8
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