Einsatzbedingte Belastungen bei Soldaten der Bundeswehr
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WISSENSCHAFT ORIGINALARBEIT Einsatzbedingte Belastungen bei Soldaten der Bundeswehr Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung Jens T. Kowalski, Robin Hauffa, Herbert Jacobs, Helge Höllmer, Wolf Dieter Gerber, Peter Zimmermann ZUSAMMENFASSUNG eit Mitte der 1990er Jahre engagiert sich die Bun- Hintergrund: Auslandseinsätze der Bundeswehr bergen ein S deswehr auf dem Balkan (Implementation Force, IFOR; Stabilization Force, SFOR; Kosovo Force, KFOR; hohes psychisches Traumatisierungspotenzial. In der vor- European Union Force, EUFOR), seit 2002 im Rahmen liegenden Arbeit werden Ursachen für ein gestiegenes In- der International Security Assistance Force (ISAF) auch in anspruchnahmeverhalten (IANV) in der Bundeswehrpsy- Afghanistan in internationalen militärischen Einsätzen. chiatrie untersucht. Derzeit befinden sich rund 7 700 Soldatinnen und Solda- Methoden: Die Entwicklung psychiatrisch-psychothera- ten der Bundeswehr in solchen Auslandseinsätzen (1). peutischer Behandlungskontakte von Soldaten aus den Die Teilnahme an einem mehrmonatigen Auslandsein- Einsatzgebieten Afghanistan und Balkan wurde unter- satz stellt für Soldaten eine besondere Stressbelastung dar. sucht. Dazu wurden die Hospitaldaten aller Bundeswehr- Permanente einsatzbezogene Belastungen sind (2): psychiatrien unter Berücksichtigung soziodemografischer ● das Leben in Feldlagern Faktoren (Geschlecht, Einsatzgebiet) und zugrundeliegen- ● die lange Trennung von zu Hause der psychiatrischer Krankheitsbilder zwischen Januar ● die intensivere Dienstzeitbelastung 2010 und Juni 2011 ausgewertet. ● die Begegnung mit einer fremden Kultur im Einsatz- Ergebnisse: In dem betrachteten Zeitraum nahmen land, häufig verbunden mit dem Erleben von Leid N = 615 Einsatzsoldaten erstmals psychiatrisch-psycho- der Zivilbevölkerung. therapeutische Behandlung in Anspruch. Während die Zahl Darüber hinaus bergen militärische Einsätze auch ein der Erstkontakte insgesamt konstant blieb (p = 0,195), erhöhtes Risiko, traumatisierende Erfahrungen zu machen stieg die Zahl weiblicher Soldaten mit Erstkontakt auf- (3) (Tabelle 1). grund einsatzbedingter psychischer Belastungen auffällig Die Exposition mit Gräueltaten, Gefechtssituationen, an (p = 0,003). Eine auffällige Zunahme der Erstkontakte das erlebte Ausmaß persönlicher Bedrohung und die Dau- ließ sich nur für die Soldaten nach einem Balkan-Einsatz er der Einsätze wirken sich auf die Prävalenz von psy- beobachten (p = 0,017). Grund für Erstkontakte waren bei chischer Störungen bei Einsatzkräften aus (4). So berich- 91 % der Soldaten Belastungsreaktionen (ICD 10: F43) ten beispielsweise Hoge et al. (3) von Prävalenzraten bei gefolgt von affektiven Störungen (ICD-10: F32.0, F32.1; US-amerikanischen Soldaten und Marines zwischen 8,9 %). 8,5 % und 19 % je nach Einsatzort (Afghanistan und Irak). Schlussfolgerung: Auslandseinsätze der Bundeswehr kön- Sowohl die unmittelbare Erfahrung der Bedrohung des ei- nen trotz psychologischer Vorbereitung bei Soldaten zu genen Lebens als auch das konkrete Erleben des Tötens psychischen Störungen führen. Die Befunde deuten darauf sind dabei besondere, militärspezifische Belastungsfakto- hin, dass der diskrete Anstieg der Neuerkrankungszahlen ren (5, 6). Vogt et al. (7) beschreiben vier spezifische ein- geschlechts- und einsatzgebietspezifisch ist. satzbedingte Belastungen, die Gegenstand zahlreicher Studien (Hoge et. al. [4]) waren: ►Zitierweise Kowalski JT, Hauffa R, Jacobs H, Höllmer H, Gerber WD, ● Teilnahme an Kampfhandlungen Zimmermann P: Deployment-related stress disorder ● Nachwirkungen von Gefechten in German soldiers: utilization of psychiatric and ● erlebte Gefährdung psychotherapeutic treatment. Dtsch Arztebl Int 2012; ● schwierige Arbeits- und Lebensbedingungen. 109(35–36): 569–75. DOI: 10.3238/arztebl.2012.0569 Nicht jede Konfrontation mit einer traumatischen Si- tuation führt allerdings zur Ausbildung einer behandlungs- bedürftigen psychischen Störung (8, 9). Die Bundeswehr Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Psychotraumazentrum: Dr. rer. medic. hat einen umfassenden Maßnahmenkatalog präventiver Kowalski, Dr. med. Hauffa, Dipl.-Psych. Jacobs, Dr. med. Zimmermann Maßnahmen zur Stabilisierung der psychischen Gesund- Bundeswehrkrankenhaus Hamburg: Dr. med. Höllmer heit der Soldaten etabliert (10). Ferner wurde das Psycho- Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universi- traumazentrum (PTZ) am Bundeswehrkrankenhaus Ber- tätsklinikum Schleswig- Holstein: Prof. Dr. rer. soc. Gerber lin eingerichtet. Es hat die Aufgabe, in Kooperation mit 418 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 9 | September 2012
WISSENSCHAFT dem zivilem Wissenschaftssystem Forschung zu allen TABELLE 1 Fragen der psychischen Gesundheit von Soldaten durch- 1 zuführen. Einsatzbedingte psychische Belastungen* Neben dem Präventions- wurde auch ein umfang- 2008 2009 2010 2011 reiches psychiatrisch-psychotherapeutisches Versorgungs- Soldaten im Einsatz 12 214 12 740 11 193 7 805 konzept etabliert, das die Besonderheiten einsatzbedingter psychischer Verletzungen berücksichtigt (10). Das Psy- Todesfälle im Einsatz 5 5 9 7 chosoziale Netzwerk der Bundeswehr (PSN), das neben militärische Zwischenfälle 42 87 141 32 dem Sanitätsdienst auch den Psychologischen und den So- zialdienst der Bundeswehr sowie die Militärseelsorge in- 1 * psychische Belastungen von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan in den Jahren 2008 bis Juni 2011. Militärische Zwischenfälle sind z. B. Gefechte, Anschläge, Unfälle. Quelle: Einsatzführungskommando tegriert, soll einen frühzeitigen Kontakt zu diesem Versor- gungssystem ermöglichen. Von den in der vorliegenden Untersuchung betrachteten erkrankten Soldaten (n = 615) hatten 23 % bereits im Einsatzland Kontakt zum PSN (Quelle: Einsatzstatistik Psychotraumazentrum). Die the- KASTEN rapeutischen Angebote (11, 12) integrieren stationäre und ambulante Maßnahmen in multidisziplinären Teams, in Versorgungswege und Finanzierung der die auch das soziale Netz der Soldaten, also Partner und medizinischen Behandlung bei aktiven und Familien, eingebunden wird (13). ehemaligen Soldaten Dennoch steigt die Zahl der in den medizinischen Ver- sorgungseinrichtungen registrierten, einsatzbezogenen ● Aktive Soldaten der Bundeswehr, Wehrübende und Reservisten psychiatrischen Patientenkontakte kontinuierlich (Bun- Sie erhalten unentgeltliche truppenärztliche Versorgung. Erster Ansprechpart- deswehr.de: Einsätze/Belastungsstörungen/Stand/Aktuel- ner für den Patienten, vergleichbar mit dem Hausarzt, ist der Truppenarzt. Er le Zahlen/2011). Diese Daten erlauben allerdings keine leitet bei Bedarf die weitere fachärztliche Versorgung ein. Diese kann ambu- Aussagen über insgesamt erkrankten Soldaten (Wittchen lant (Facharztzentrum) oder in einem der fünf Bundeswehrkrankenhäuser HU, Schönfeld S: Traumatische Ereignisse, PTBS und (BwKrHs) erfolgen. Der Truppenarzt kann auch an niedergelassene Fachärzte psychische Störungen bei Soldaten mit und ohne Aus- und zivile Fachkliniken überweisen, wenn eine besondere Qualifikation erfor- landseinsatz: Erste Ergebnisse. Pressekonferenz der TU derlich ist oder die Kapazitäten des Sanitätsdienstes nicht ausreichen. Davon Dresden, 2011). wird häufig nach Abschluss einer Akuttherapie im BwKrHs Gebrauch gemacht, In einer wissenschaftlichen Untersuchung an Bundes- zum Beispiel in Form einer ambulanten Psychotherapie. Die Abrechnung er- wehrsoldaten konnte zwar ein signifikanter Anstieg der folgt mit der Wehrbereichsverwaltung. Behandlungszahlen von Reaktionen auf schwere Belas- tungen und Anpassungsstörungen gemäß ICD 10 im Ver- ● Ehemalige Soldaten der Bundeswehr gleich der Jahre 2000 und 2006 gezeigt werden (9). Zim- Diejenigen, die gesetzlich oder privat versichert sind, werden durch das zivile mermann (ebd.) beschreibt, dass die belastungsreaktiven Gesundheitssystem versorgt. Bei einer durch den Dienst in der Bundeswehr Störungen (F43) sowohl für das Ansteigen psychiatri- verursachten Erkrankung (Wehrdienstbeschädigung, WDB) kann der zivile scher Erkrankungen insgesamt verantwortlich sind als Arzt den ehemaligen Soldaten an einen Facharzt der Bundeswehr überweisen auch zu einer Erhöhung der Behandlungstage führen. In oder eine Einweisung in ein BwKrHs vornehmen. Wichtig ist die rechtzeitige dieser Studie wurde auch ein erhöhter Anteil weiblicher Einleitung eines WDB-Verfahrens durch den Sozialdienst der Bundeswehr. Die Soldaten bei den psychiatrischen Patienten in der Bundes- Kosten der medizinischen Behandlung bei einer WDB trägt die Bundeswehr. wehr gefunden. Da in der Untersuchung allerdings nicht nur einsatzbedingte Störungen betrachtet wurden, erlau- ben die Ergebnisse keine Aussage darüber, ob der beob- achtete Anstieg im Zusammenhang mit Auslandseinsät- zen steht. TABELLE 2 Unklar ist auch, ob sich die Einsatzgebiete hinsichtlich Kontakt zu einem Facharzt Psychiatrie/Psychotherapie wegen einer einsatzbe- ihrer traumatogenen Potenz unterscheiden. Hinweise da- dingten psychischen Störung rauf, dass einsatzbedingte Belastungen bei Bundeswehr- 1 2 soldaten zu einem Anstieg des Beratungsbedarfs führen, Erstkontakte* Folgekontakte* ergaben sich bisher lediglich aus der Auswertung bundes- ISAF N = 576 N = 726 wehreigener anonymer telefonischer und Online-Bera- Balkan N = 39 N = 85 tungsangebote (12, 14). Männer N = 568 N = 752 Die vorliegende Untersuchung soll auch dem zivilen Bereich Perspektiven und Hinweise für aktuelle Problem- Frauen N = 46 N = 59 stellungen und zukünftige Entwicklungen des Versor- gungsbedarfs von Bundeswehrsoldaten geben. So verfügt *1 Erstkontakte: Erstmaliger Kontakt zu einem Facharzt Psychiatrie/Psychotherapie wegen einer einsatz- bedingten psychischen Störung; die Bundeswehr über kein umfassendes Versorgungsnetz, *2 Folgekontakte: Patienten, die wiederholt Kontakt zu einem Facharzt Psychiatrie/Psychotherapie aufge- mit dem bundesweit die poststationäre ambulante psycho- nommen haben. therapeutische Versorgung gewährleistet werden kann. ISAF, International Stabilization Force, Afghanistan; Balkan umfasst die Einsätze KFOR: Kosovo Force, Bereits heute sind daher neben der bundeswehreigenen EUFOR: European Union Force Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 9 | September 2012 419
WISSENSCHAFT GRAFIK 1 mentiert, ausgewertet und archiviert. Soldaten mit statio- nären oder ambulanten Erst- und Folgekontakten werden Anzahl pro Monat als Inanspruchnehmer (IAN) definiert. 140 Die der Untersuchung zugrundeliegende Statistik be- rücksichtigt nur aktive Soldaten. Soldaten, die nach dem Folgekontakte 120 Erstkontakte Ausscheiden aus der Bundeswehr mit ihren Beschwerden 100 im zivilen Bereich Hilfe suchen, sind hier nicht erfasst. 80 Stichprobe 60 Insgesamt umfasst die Stichprobe N = 1 515 psychiatri- sche Behandlungskontakte, davon 7,2 % Frauen, Durch- 40 schnittsalter 32,06 (SD = 7,88). Tabelle 2 zeigt die rele- 20 vanten demografischen Daten (Erst- und Folgekontakte, Geschlecht, Einsatzgebiet). In die Studie einbezogen wur- 0 den die Erstkontakte (N = 615) von Soldaten aus den Ein- 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 r 1 r 1 z 1 il 1 i 1 i 1 li 1 t 1 r 1 r 1 r 1 r 1 r 1 r 1 z 1 il 1 i 1 i 1 sätzen ISAF (Afghanistan) und KFOR/EUFOR (zusam- n ua rua Mär Apr Ma Jun Ju gus mbe obe mbe mbe nua rua Mär Apr Ma Jun Ja Feb Au pte Okt ove eze Ja Feb mengefasst als Balkan). Einbezogen wurden nur Perso- Se N D nen, die sich nach fachärztlicher Untersuchung aufgrund Anzahl pro Monat einer eindeutig in einem Auslandseinsatz erlebten trauma- tisierenden Erfahrung in Behandlung begeben haben (Ta- Psychiatrisch-psychotherapeutische Erst- und Folgekontakte (Inanspruchnahme) in Monaten belle 2). im Zeitraum Januar 2010 bis Juni 2011. Aufgrund der Einführung des systematischen Daten- erhebungssystems im Januar 2010 beginnt die Darstellung im Nullpunkt: (seit Beginn der Durchführung und statistische Auswertung Missionen eingesetzte Bundeswehrsoldaten in Afghanistan n = 81 289, auf dem Balkan Analysiert wurde die monatsweise Entwicklung der psy- n = 170 554. Die hier genannten Zahlen beziehen sich auf die Gesamtzeit der beiden Einsätze). chiatrisch-psychotherapeutischen Erst- und Folgekon- takte. Aufgrund des relativ symmetrischen Verlaufes der Zahlen (Grafik 1) und der höheren Datenqualität der Erstkontakte, wurden ausschließlich diese inferenzstatis- psychiatrischen Versorgung auch zunehmend zivile psy- tisch ausgewertet. Einbezogen wurden demografische chotherapeutische und psychiatrische Praxen und Klini- Patientendaten (Geschlecht), Angaben zum traumabe- ken in die Behandlung einsatzbedingter Traumafolgestö- dingenden Einsatz sowie die nach eingehender klinisch- rungen involviert (Kasten) (15). fachärztlicher Untersuchung gestellte Diagnose gemäß Folgende Fragestellungen sollen in dieser Studie beant- ICD-10. wortet werden: Die deskriptive als auch die inferenzstatistische Aus- ● Lässt sich im beobachteten Zeitraum von Januar wertung der Daten erfolgte mit dem Statistikprogramm 2010 bis Juni 2011 ein Trend hinsichtlich der Ge- SPSS 17.0. Zur Überprüfung der Annahme einer linea- samtzahl der psychiatrischen Erstkontakte bei Sol- ren Trendentwicklung wurden für die Erstkontakte linea- daten mit einsatzbedingten psychischen Störungen re Regressionsmodelle berechnet und hinsichtlich eines identifizieren? auffälligen Verlaufs geprüft. Abweichende Zahlen bei ● Unterscheiden sich die Einsatzgebiete Afghanistan der Beschreibung der Stichprobe sind durch unvollstän- und Balkan hinsichtlich beobachteter Trends? dige Angaben bedingt. ● Unterscheiden sich männliche und weibliche Solda- ten hinsichtlich möglicher Trends? Ergebnisse ● Unterscheiden sich die einsatzbedingten Diagnose- Seit Beginn der Beteiligung der Bundeswehr an interna- gruppen hinsichtlich möglicher Trends? tionalen Missionen waren insgesamt 251 843 Bundes- wehrsoldaten in Afghanistan (n = 81 289) und auf dem Methode Balkan (n = 170 554) eingesetzt. In dem betrachteten In der vorliegenden Untersuchung soll untersucht werden, Zeitraum nahmen insgesamt N = 615 Soldatinnen und ob sich die Zahl der Erstvorstellungen in einer psychiatri- Soldaten erstmals ein ambulantes oder stationäres psy- schen Ambulanz oder einer psychiatrischen Abteilung ei- chiatrisches Behandlungsangebot aufgrund einsatzbe- nes Bundeswehrkrankenhauses aufgrund einsatzbedingter dingter (Afghanistan und Balkan) Störungen in An- Störungen bei aktiven Bundeswehrsoldaten in der Zeit spruch. Grafik 1 zeigt den Verlauf des Inanspruchnahme- von Januar 2010 bis Juni 2011 verändert hat. Dieser Zeit- verhaltens (IAV) differenziert nach Erstkontakten und raum wurde gewählt, weil seit 2010 die Daten einheitlich Folgekontakten. und zentral erfasst wurden und so erstmals differenziertere Grafik 2 stellt den Zeitraum zwischen einem erlebten Aussagen möglich sind. Soldaten mit einsatzbedingten Trauma und der Erstmanifestation der Beschwerden dar psychischen Störungen werden in allen psychiatrisch-psy- (Latenz-Trauma-Symptom) sowie der Zeit zwischen chotherapeutischen Behandlungseinrichtungen der Bun- erstmaliger Symptomausprägung und dem ersten Be- deswehr mit einem einheitlichen Dokumentationsstandard handlungskontakt zu einem Facharzt dar (Latenz-Symp- erfasst und zentral im Psychotraumazentrum (PTZ) doku- tom-Kontakt). Nach sechs Monaten haben 78,8 % der 420 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 9 | September 2012
WISSENSCHAFT GRAFIK 2 GRAFIK 3 % Anzahl Erstkontakte Balkan a 6 100 90 5 beobachtet 80 Latenz-Trauma-Symptom linear 70 Latenz-Symptom-Kontakt 4 60 50 45,8 3 40 36,5 30 21,1 2 19,6 20 16,0 13,3 11,3 10 6,8 8,0 7,7 5,8 1 2,9 1,3 4,0 0 0 1–3 4– 6 7–12 13–24 25– 48 > 48 Monate 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 Monat im Zeitraum 01/2010–06/2011 Zeitraum (Latenz) zwischen der Traumatisierung und der erstmaligen Symptommanifestation (Latenz-Trauma-Symptom) sowie zwischen der ersten Symptommanifestation und dem Anzahl weiblicher Soldaten b Erstkontakt zu einem Facharzt (Latenz-Symptom-Kontakt) in Monaten im Zeitraum Januar 7 2010 bis Juni 2011 6 beobachtet linear 5 untersuchten Soldaten Symptome beklagt, nach zwei Jahren ist es bei 87,5 % zu einer Erstmanifestation der 4 Beschwerden gekommen. Innerhalb des ersten Jahres nach Symptombeginn hat- 3 ten 64,4 % der Patienten den ersten Kontakt zu einem Facharzt, nach zwei Jahren waren 96 % in fachärztlicher 2 Behandlung. Die Häufigkeiten der Erstkontakte gesamt und pro Monat in dem beobachteten Zeitraum sowie aufge- 1 schlüsselt nach Geschlecht, Einsatzgebiet und Diagnose sind in Tabelle 3 aufgeführt. 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 Im Folgenden werden die Ergebnisse der Regressi- Monat im Zeitraum 01/2010–06/2011 onsanalysen dargestellt (Tabelle 4). Als abhängige Varia- ble (AV) wurde die Anzahl der Erstkontakte definiert. Die Behandlungszahlen bei weiblichen Soldaten Grafische Darstellung der Regressionsanalyse in den Regressanden (B = 0,239; F = 12,12; p = 0,003; R² = 0,431) sowie die Einsatzgebiet und weibliche Soldaten durch einen Balkaneinsatz verursachten Kontakte (B = 0,156; F = 7,04; p = 0,017; R² = 0,306) stiegen im Verlauf des Beobachtungsintervalls auffällig an, nicht dagegen die Inanspruchnahme insgesamt und die der 2010 und Juni 2011 niederschlägt. Zusätzlich wurde der männlichen Soldaten (Tabelle 4). Frage nachgegangen, ob sich Männer und Frauen in ih- Die Grafik 3 zeigt den Verlauf der abhängigen Varia- rem Inanspruchnahmeverhalten (IANV) im zeitlichen blen „Erstkontakte“ mit den Regressanden „Frauen ins- Verlauf unterscheiden und ob das Einsatzgebiet sowie gesamt“ und Einsatzgebiet „Balkan“. Die linear anstei- die gestellte Diagnose einen Einfluss auf das IANV hat- genden Geraden weisen auf einen auffälligen Zusam- ten. menhang hin. Entgegen der Erwartung zeigte sich bei den Erstkon- takten insgesamt kein signifikanter Anstieg des IANV. Diskussion Betrachtet man die beiden Einsatzgebiete separat, so wa- Soldaten der Bundeswehr sind in Auslandseinsätzen er- ren lediglich für den Balkaneinsatz steigende Zahlen zu heblichen und wachsenden psychischen Belastungen beobachten, nicht aber für Afghanistan. Dies verwun- ausgesetzt In der vorliegenden Studie wurde untersucht, dert, weil es gerade in Afghanistan in den vergangenen ob sich dies auch in Form ansteigender psychiatrisch- zwei Jahren zu einer verschärften militärischen Situation psychotherapeutischer Erstkontakte zwischen Januar mit fast täglichen militärischen Auseinandersetzungen Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 9 | September 2012 421
WISSENSCHAFT TABELLE 3 des IANV sein (17). Kessler (18) belegte 1981 anhand einer umfangreichen Studie, dass Frauen emotionale Zeiträume der Erstkontakte zu Psychiatern/Psychotherapeuten Probleme bewusster wahrnehmen und eher Hilfe in An- N Min/Max Mittelwert/ SD spruch nehmen als Männer. In einer aktuellen Studie wa- Monat Monat ren weibliche Einsatzkräfte psychischen Erkrankungen Erstkontakte insgesamt 615 3/64 34,2 14,9 und deren Behandlungen gegenüber aufgeschlossener als Männer (19). In Verbindung mit einer steigenden männliche IAN 568 2/60 31,5 14,4 Zahl von Frauen, die auch außerhalb des Sanitätsdienstes weibliche IAN 46 0/7 2,6 2 vermehrt extremen militärischen Belastungen ausgesetzt Einsatz ISAF 576 2/61 32 14,3 sind, erklärt sich wahrscheinlich der steigende Anteil Einsatz Balkan 39 0/6 2,2 1,5 weiblicher Soldaten. Hoge et al. (8) beschrieben, dass sich psychiatrische PTBS (F43.1) 292 1/39 16,2 8,7 Erkrankungen bei militärischem Personal in Abhängig- Reaktionen auf schwere Belas- 548 2/60 30,4 13,6 keit von der Einsatzbelastung veränderten. In unserer tungen u. Anpassungsstörungen (F43.0; F43.2) Untersuchung konnten wir hingegen keine Veränderung der Diagnosespektren und -häufigkeiten im Verlauf be- Affektive Störungen 53 0/8 2,9 2,6 (F32.0; F32.1) obachten. Belastungsreaktive Störungsbilder, gefolgt von affektiven Störungen, waren sowohl nach ISAF- als Deskriptive Darstellung der Erstkontakte im Zeitraum 01/2010 – 07/2011 auch nach Balkan-Einsätzen die Hauptursachen für ei- IAN, Inanspruchnahme; Min, Minimum; Max, Maximum; SD, Standardabweichung; nen Erstkontakt mit der Bundeswehrpsychiatrie. Unge- ISAF, International Security Assistance Force; PTBS, posttraumatische Belastungsstörung wöhnlich, auch im Vergleich mit internationalen Studien, war das vollständige Fehlen von Suchterkrankungen, so- matoformen und Persönlichkeitsstörungen als Haupt- diagnosen. Diese Störungsbilder finden sich in der Stich- gekommen ist. Wittchen und Schönfeld (2011) wiesen probe der Autoren ausschließlich als komorbide Diagno- nach, dass eine große Zahl der 2009/2010 eingesetzten sen wieder. Dies ist möglicherweise darauf zurückzufüh- ISAF-Soldaten während des Einsatzes mehrfach poten- ren, dass für die Diagnosestellung ein eindeutiger kausa- ziell traumatisierenden Bedingungen ausgesetzt waren. ler Zusammenhang zwischen traumatisierendem Erleb- Denkbar ist, dass die Erwartungen der Soldaten be- nis und einer Störung gefordert wird, wie es in der Regel züglich der Gefährlichkeit der Einsatzbedingungen eine nur bei den belastungsreaktiven Störungen möglich ist. Rolle gespielt haben. Eine realistische Antizipation von Die stabilen Tendenzen bei den Erstkontakten (gesamt Belastungen scheint präventiv auf die Entwicklung psy- und afghanistanbezogen) kontrastierten mit der seit eini- chischer Störungen zu wirken (16). Während aktuell gen Jahren stark steigenden Gesamtzahl aller Patienten- Presseberichte über verletzte oder getötete ISAF-Solda- kontakte. Im Jahr 2008 wurde beispielsweise noch bei ten den Soldaten das Gefährdungspotenzial eines Afgha- 255 Patienten eine posttraumatische Belastungsstörung nistan-Einsatzes verdeutlichen, ist der Balkaneinsatz der diagnostiziert, 2009 waren es 455 Patienten, 2010 schon Bundeswehr zunehmend aus dem Blickfeld der Medien 729 und in 2011 wurden insgesamt 922 Patientenkontak- geraten. te gezählt (1). Betrachtet man die geschlechtsspezifische Entwick- Die Bundeswehr (20) hat, wie auch andere Armeen lung des IANV, so zeigt sich lediglich bei den weiblichen (21) ein umfassendes Konzept zur psychischen Versor- Soldaten ein auffälliger Anstieg. Eine Erklärung für die- gung ihrer Soldaten entwickelt. Dazu gehören verschie- sen Trend könnten geschlechtsspezifische Unterschiede dene klinische wie auch präventive Maßnahmen (10, 15, TABELLE 4 Darstellung der Ergebnisse der Regressionsanalyse 2 Unabhängige Variable B R F df Signifikanz alle Einsätze 0,891 0,103 1,83 16 0,195 ISAF 0,735 0,075 1,3 16 0,271 Balkan 0,306 0,306 7,04 16 0,017 (*) Anzahl Frauen insgesamt 0,281 0,431 12,12 16 0,003 (**) PTBS (ICD-10: F43.1) 0,648 0,160 3,04 16 0,100 sonstige Belastungsstörungen (ICD-10: F43.0; F43.2) 0,636 0,062 1,06 16 0,319 affektive Störungen (ICD-10: F32.0; F32.1) .187 .152 2.88 16 0,109 2 B, Regerssionskoeffizeient; R , Quadrat des multiplen Korrelationskoeffizienten; F, Prüfwert für Signifikanztest; df, Freiheitsgrade; PTBS, posttraumatische Belastungsstörungen; ISAF, International Security Assistance Force. 422 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 9 | September 2012
WISSENSCHAFT 22), die zum teil obligatorisch vor und nach einem Ein- Interviews wird dabei häufig praktiziert, allerdings nicht satz durch die Soldaten zu absolvieren sind. Es ist anzu- in allen Fällen. In künftigen Studien sollten auch komor- nehmen, dass die steigende Zahl der Behandlungen auch bide Diagnosen zumindest als Kovariate berücksichtigt auf eine zunehmende Akzeptanz und Entstigmatisierung werden. psychischer Erkrankungen und deren Behandlungsme- Nicht immer lagen vollständige Datensätze vor. Dies thoden in der Bundeswehr zurückzuführen ist. Die rela- erklärt sich dadurch, dass die Daten in den Bundes- tiv kurzen Latenzzeiten zwischen Erstmanifestation der wehrkrankenhäusern anonym erfasst werden und es ist Symptome und dem Erstkontakt zu Fachärzten stützen daher retrospektiv nicht möglich, fehlende Eintragungen die Hypothese eines frühen Inanspruchnahmeverhaltens. zu ergänzen. Es ist aber davon auszugehen, dass es sich Die erhöhte Akzeptanz spiegelt sich auch im klinischen bei fehlenden Daten beziehungsweise unvollständigen Alltag der Bundeswehrkrankenhäuser in Form intensiver Datensätzen um zufällige Fehler handelt. Intervalltherapien mit mehrfachen Wiederaufnahmen bei Die zivile Inanspruchnahme wird in der hier ausge- zunehmend schweren und chronifizierten Erkankungs- werteten Statistik nicht erfasst. Sie hat aber quantitativ verläufen wider. keinen Einfluss auf die zentralen Aussagen, weil ein vor- Das in der vorliegenden Studie untersuchte Inan- heriger Kontakt mit einem Psychiater der Bundeswehr spruchnahmeverhalten ist aber keinesfalls gleichzuset- die Voraussetzung für die Nutzung ziviler Angebote ist, zen mit Prävalenzraten psychischer Erkrankungen. Zahl- so dass die Betroffenen der Statistik nicht verloren ge- reiche Faktoren wie Angst vor Stigmatisierung, Sorge hen. Untersuchungen, die sich mit der Schnittstelle zivi- vor beruflichen Konsequenzen aber auch Unkenntnis ler und militärischer medizinischer Versorgungsstruktu- über therapeutische Möglichkeiten beeinflussen das ren (24), zum Beispiel den spezifischen Problemen der IANV und gehen mit einem erheblichen Dissimulations- Psychotherapie von Soldaten durch zivile Therapeuten risiko einher (8). Aktuelle internationale Untersuchun- (25) beschäftigen, liegen unserer Kenntnis für die Bun- gen bestätigen diese Erkenntnisse (23). In der Regel ist deswehr noch gar nicht vor. das IANV deutlich geringer als die tatsächlichen Präva- Während im englischsprachigen Raum bereits zahl- lenz- oder Inzidenzraten. Wittchen (2011) hat zum Bei- reiche Original- und Übersichtsarbeiten zu unterschied- spiel in seiner aktuellen Studie an Bundeswehrsoldaten lichsten Aspekten (8, 21) militärischer Belastungsfolgen zeigen können, dass etwa 50 % der Erkrankten tatsäch- bei amerikanischen (26) und britischen Streitkräfte (27) lich zeitnah professionelle Hilfe suchen. existieren, handelt es sich bei der vorliegenden Untersu- Verstärkte Präventions- und Aufklärungsarbeit und chung um die aktuellste und umfangreichste, die sich mit ein effektives, auch ziviles Behandlungsangebot, sind einsatzbedingten Störungen von Bundeswehrsoldaten ein erfolgversprechender Weg, die Akzeptanz einsatzbe- befasst. dingter psychischer Erkrankungen und deren Behand- Letztlich erlaubt der untersuchte Zeitraum von 18 lung in den Streitkräften zu erhöhen. Monaten nur einen ersten Einblick in aktuelle Trendent- wicklungen, langfristige Verlaufsstudien sind geplant. Limitationen Den Autoren ist bewusst, dass die vorliegende Untersu- chung durchaus Schwächen aufweist. Vielen Traumafolgestörungen liegt nicht nur einzel- KERNAUSSAGEN nes traumatisierendes Ereignis zugrunde, sondern diese addieren sich kumulativ auf (16). Auch bei den hier un- ● Von Januar 2010 bis Juni 2011 nahmen n = 615 Solda- tersuchten Soldaten ist anzunehmen, dass einem Stö- tinnen und Soldaten erstmals psychiatrisch-psychothe- rungsbild nicht nur ein einzelner Einsatz zugrunde liegt. rapeutische Hilfe aufgrund psychischer Störungen, die Die Datenqualität erlaubte allerdings nicht immer eine auf Erlebnisse in einem Auslandseinsatz zurückzufüh- eindeutige Zuordnung. Die Bundeswehr erfasst die An- ren sind, in Anspruch. zahl der pro Jahr im Einsatz befindlichen Soldaten, nicht aber, um wie viele verschiedene Personen es sich dabei ● Das Einsatzgebiet, in dem die Traumatisierung erfolgte, handelt. So kommt es vor, dass Soldaten zum Beispiel ist nicht auf Afghanistan beschränkt. Die Zahl der Koso- mehrfach in verschiedenen Missionen, unter anderem vo-Rückkehrer mit psychischen Beschwerden stieg in auch für kürzere Zeiträume, zweimal innerhalb von unserer Stichprobe stärker als die der Soldaten nach zwölf Monaten, im Auslandseinsatz waren. Eine Berech- einem Afghanistan-Einsatz. nung von Inzidenz- und Prävalenzraten oder Prozent- ● 64 % der Soldaten hatten innerhalb des ersten Jahres werten könnte aufgrund der unpräzisen Angaben zur tat- nach Symptombeginn fachärztliche Hilfe aufgesucht. sächlichen Grundgesamtheit möglicherweise stark feh- ● Die Zahl der Frauen, die Hilfe suchten, stieg stärker im lerbehaftet sein. Wir haben aus diesem Grund auf die Vergleich zu den männlichen Soldaten. Angabe dieser Kennwerte verzichtet. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Diagnosestel- ● Häufigste Diagnosen waren Anpassungsstörungen lung. Diese erfolgt in der Bundeswehr zwar nach einge- (ICD-10: F42.2), posttraumatische Belastungsstörungen hender klinischer Untersuchung grundsätzlich durch (ICD-10: F42.1) sowie leichte und mittelgradige depres- Fachärzte unter Berücksichtigung der Kriterien der sive Episoden (ICD-10: F32.0 und F32.1). ICD-10. Die Verwendung standardisierter diagnostischer Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 9 | September 2012 423
WISSENSCHAFT Interessenkonflikt 16. Adler A, Bliese P, Castro C: Deployment Psychology: Evidence-ba- Dr. Kowalski, Dr. Hauffa, Dipl.-Psych. Jacobs, Dr. Höllmer und Dr. Zimmermann sed strategies to promote mental health in the military. Washington, sind bei der Bundeswehr angestellt. DC : American Psychological Association, 2011. Prof. Gerber erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht. 17. Hausner H, Hajak G, Spiessl H: Gender differences in help-seeking behavior on two internet forums for individuals with self-reported Manuskriptdaten depression. Gend Med 2008; 5: 181–5. eingereicht: 1. 12. 2011, revidierte Fassung angenommen: 8. 3. 2012 18. Kessler RC, Brown RL, Broman BL: Sex differences in psychiatric help-seeking: evidence from four large-scale surveys. J Health Soc Behav 1981; 22: 49–64. LITERATUR 19. Kowalski JT, Niederberger U, Koch A, Gerber WD: Akute Kriseninter- 1. Bundesministerium der Verteidigung, Abteilung Personal-, Sozial- vention. 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