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Einleitung ( Schwerpunkt »Welt im Fieber – Klima & Wandel« Welt im Fieber Zur Notwendigkeit einer globalen Agrar- und Ernährungswende in Zeiten des Anthropozäns von Marit Rosol und Christoph Rosol Vor ziemlich genau einem Jahr begann die globale Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS- CoV-2, eines ursprünglich aus dem Tierreich stammenden Erregers, der nun von Mensch zu Mensch übertragen wird. Was auf den ersten Blick wie eine »Naturkatastrophe« erscheint, die »von außen« auf die gesamte Weltbevölkerung einwirkt, entpuppt sich bei näherer Analyse als Folge massiver menschlicher Eingriffe in die Natur. Die Covid-19-Pandemie wird – wie der globale Klimawandel und die massiven Verluste biologischer Vielfalt – zur Signatur eines im Wesentlichen vom Menschen und seiner Technosphäre geprägten Erdzeitalters: des Anthropozäns. Die Corona-Krise verdeutlicht einmal mehr, dass die menschliche Gesundheit, das Wohlbefinden von Tieren und die planetare Gesundheit nicht isoliert betrachtet werden dürfen und ganz wesentlich von der Art und Weise ab- hängen, wie wir Nahrungsmittel produzieren, verarbeiten, handeln und konsumieren. Die damit verbundene Disruption bietet somit auch die Chance für eine tiefgreifende ökologische wie soziale Transformation von Landwirtschaft und Ernährung – einer globalen Agrar- und Ernährungswende. 2020 wurde zum Jahr der Pandemie – und die weitrei- Planetare Gesundheit chenden Folgen für Gesundheitssysteme, Volkswirt- schaften und zunehmend polarisierende Gesellschaf- Worin genau besteht der Zusammenhang zwischen ten zeigen, wie verletzlich das zivilisatorische Gewebe Pandemie, planetarer Gesundheit und unserem Er- der Gegenwart in unserer global vernetzten Welt ist. nährungssystem? Treiber für den in den letzten Trotz der damit verbundenen einschneidenden Verän- Jahrzehnten beobachteten Anstieg von neuen Infek- derungen sollten wir Corona nicht als black swan miss- tionskrankheiten (Emerging Infectious Diseases) ist verstehen, als extrem seltenes Ereignis, welches uns die Zunahme der sog. Zoonosen, d. h. zwischen Tier scheinbar aus dem Nichts überkommt. Im Gegenteil, und Mensch übertragenen Krankheiten. Wesent- die Covid-19-Pandemie macht auf dramatische Weise liche Ursache dafür ist die beständige Ausweitung systemische Problemlagen sichtbar und spürbar – sei- der Kontaktzone zwischen Mensch und Tier durch en sie ökonomischer, sozialer oder ökologischer Art. die rasant voranschreitende Zerstörung der Lebens Diese beruhen auf den sich gegenseitig verstärkenden räume von Wildtieren. Dieser Lebensraumverlust Wechselwirkungen von gesellschaftlichen, ökonomi- wird neben Bergbau und Siedlungsentwicklung sowie schen und technologischen Dynamiken und der rapi- einem beängstigend schnell ablaufenden Klimawandel den Verschlechterung der globalen Umweltsituation. insbesondere vorangetrieben durch die Vernichtung 8
Einleitung von Wäldern für landwirtschaftliche Nutzung – wie Ernährungsunsicherheit und soziale aktuell unter anderem in den Brandrodungen in den Determinanten brasilianischen Amazonasgebieten zu beobachten. In der Folge kommen – wie auf dem Lebendtiermarkt in Unser derzeitiges Agrar- und Ernährungssystem Wuhan – Wildtiere, oftmals die letzten ihrer Art, in muss also als eine wichtige Ursache für die Ausbrei- direkten Kontakt mit anderen Spezies und letztlich tung von neuen Infektionskrankheiten gelten. Neben dem Menschen. Ein weiterer begünstigender Faktor dem soeben beschriebenen medizinisch-biologischen für die Ausbreitung zoonotischer Erreger ist die ge- Zusammenhang reicht der zentrale Einfluss von netische Homogenität und räumliche Konzentration, Landwirtschaft und Ernährung auf die menschliche die in der derzeit dominanten Massentierhaltung vor- Gesundheit jedoch noch weiter: Global gesehen wer- herrscht. Ist einmal ein Erreger eingebracht, bildet den die meisten vorzeitigen Todesfälle nicht durch diese Art der industriellen Tierhaltung einen idea- Infektionskrankheiten verursacht, sondern durch len Nährboden für die Ausbreitung von Infektions Hunger, Mangelernährung und ungesunde Ernäh- krankheiten.1 rungsweisen.7 Noch immer sind mindestens 900 Mil- Der neuartige Coronavirus hat diese Zusammen- lionen Menschen unterernährt. Zudem stehen alle hänge in vorher ungekannter Dramatik und globaler sog. Zivilisationskrankheiten – wie Diabetes, Herz- Konsequenz sichtbar werden lassen.2 Er war aller- Kreislauf-Krankheiten, Bluthochdruck, geschwächtes dings nicht der erste und wird auch nicht der letzte Immunsystem oder Adipositas – im Zusammenhang gefährliche Erreger sein, mit dem wir es zu tun haben. mit unseren Ernährungsweisen. Insbesondere Fett Tatsächlich schlummern noch tausende weitere, bis- leibigkeit, Folge des Überflusses an hoch verarbeite- her unbekannte Viren in der Tierwelt und warten nur ten, energiedichten doch nährstoffarmen Produkten auf das Überschreiten der Artengrenze. Auf SARS- mit einem hohen Anteil an Salz, Fett und Zucker, wird CoV-2 folgt möglicherweise schon bald SARS-CoV-3 seit Langem selbst schon etwas lapidar als »Epidemie« und droht, Gesundheits- und Sozialsysteme erneut oder sogar »Pandemie« bezeichnet. zu überfordern und die Welt in ein wirtschaftliches Corona verschärft nun die bereits bestehende Er- Wachkoma zu versetzen. nährungsunsicherheit: Eine Studie des World Food Die Erkenntnisse über die Ursachen der gegenwär- Programme WFP prognostiziert, dass mehr Menschen tigen Epidemien bieten jedoch auch den Schlüssel zur an durch die sozialen und ökonomischen Folgen der Verhinderung der kommenden. Neue Konzepte in der Pandemie verursachtem Hunger sterben werden als an öffentlichen Gesundheitsforschung wie One Health3 der Infektionskrankheit selbst.8 Eine Bedrohung der oder auch Planetary Health4 tragen dem Umstand des Ernährungssicherheit durch die Pandemie zeigt sich im elementaren Zusammenhangs von Tier-, Umwelt- und Übrigen auch in entwickelten Ländern wie den USA, menschlicher Gesundheit bereits Rechnung. Demnach direkt z. B. infolge des Wegfalls der Schulverpflegung steht die Gesundheit des Menschen in direktem Zu- während des Lockdowns, indirekt als eine Konsequenz sammenhang mit biodiversen und weitgehend unkon- der pandemieinduzierten Einkommensverluste.9 taminierten Ökosystemen.5 Fehlen diese oder sind diese Die Covid-19-Pandemie zeigt erneut die entschei- nachhaltig gestört, kann dies die Ernährungssicherung dende Bedeutung einer funktionierenden Daseinsvor- und die Verfügbarkeit von Trinkwasser gefährden, zu sorge und einer sozialen Absicherung für einen effek mehr Todesfällen durch extreme Wetterereignisse tiven Gesundheitsschutz. Denn Gesundheit ist letztlich führen sowie zum bereits angesprochenen häufigeren neben biologischen und Umweltfaktoren wesentlich Kontakt mit übertragbaren Krankheiten. Konsequen- von sozio-ökonomischen Faktoren wie Einkommen ter Klima- und Artenschutz bedeuten folglich auch ef- und Armut, sozialem Status und sozialer Ungleichheit fektiven Gesundheitsschutz. In anderen Worten: Die bestimmt, den sog. »sozialen Determinanten von Ge- wirksamste Prophylaxe gegen Epidemien und Pande- sundheit« (social determinants of health). Diese wer- mien der Art, wie wir sie derzeit global durchleben, ist den ihrerseits neben der allgemeinen wirtschaftlichen der konsequente Schutz der natürlichen Vielfalt und Lage stark von staatlichem Handeln beeinflusst.10 Hier- das Aufrechthalten räumlicher Barrieren zwischen bei zeigt sich auch ein Bezug zur oft vernachlässigten Wirtstier und Mensch. Der Erhalt artenreicher und Multifunktionalität von Landwirtschaft. Neben ihrer somit widerstandsfähiger Naturräume für Tiere und Verantwortung für intakte Ökosysteme und der Si- Pflanzen, die Stabilisierung regionaler Ökosysteme so- cherung von Ernährung und kulturellem Erbe sichert wie letztlich auch der globale Klimaschutz sind in einer Landwirtschaft vor allem auch Einkommen.11 Gemäß Welt nach Covid-19 nicht mehr »nur« notwendiger Er- der International Labour Organization ILO arbeiteten halt langfristiger Lebensgrundlagen. Sie sind vielmehr 2017 global gesehen – neben fast einer halben Milliar- auch eine wesentliche, und vergleichsweise günstige de Menschen in der Subsistenzlandwirtschaft – noch Vorsorge vor ruinösen Pandemien.6 immer fast 30 Prozent aller Beschäftigten allein in der 9
Der kritische Agrarbericht 2021 Landwirtschaft (70 Prozent in den ärmsten Ländern).12 von einem Epochenbruch sprechen, in welchem die Der Ernährungssektor in seiner Gesamtheit beschäftigt massiven anthropogenen Eingriffe und Plünderun- nach wie vor die meisten Menschen auf diesem Plane- gen der natürlichen Ressourcen eine Wirkkraft ent- ten.13 Doch gerade im diesem Sektor – von der Nah- faltet haben, die nun auf die Existenzgrundlagen der rungsmittelproduktion über die Verarbeitung, den menschlichen Zivilisation selbst zurückschlägt. Die Handel und Konsum bis zur Abfallwirtschaft – sind Erfahrung der globalen Disruption, der ökologisch- faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen rar. Nicht gesellschaftlichen Grenzerfahrungen und Überforde- zufällig finden sich die gravierendsten Covid-19-Aus- rungen, wie wir sie mit der Coronapandemie erleben, brüche in Kanada, den USA oder der Bundesrepublik ist demnach nur ein Symptom für die dynamischen in der Fleischindustrie.14 Gerade hier dominieren pre- Veränderungen und elementaren Risiken, die uns käre Beschäftigungsformen und kaum zumutbare Ar- beim Übergang in einen neuen Erdzustand begleiten. beitsbedingungen, migrantische und oft nur temporär Auffällig ist bei alldem, dass diese Überschreitungs- geduldete Arbeiterinnen und Arbeiter sowie wenige dynamik speziell um die Mitte des vergangenen Jahr- sehr mächtige multinationale Firmen wie Cargill.15 Die hunderts an Fahrt aufgenommen hat. Man spricht Covid-19-Ausbrüche in der Fleischindustrie sowie bei in diesem Zusammenhang auch von der »Großen »Erntehelfern« verweisen also erneut auf die Bedeu- Beschleunigung« (great acceleration): dem exponen- tung der social determinants of health, vor allem der tiellen Anstieg vieler soziökonomischer und erd- Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen, die in unse- systemischer Indikatoren bzw. Faktoren planetarer ren kapitalistischen Gesellschaften sehr ungleich sind. Veränderung seit circa 1950.17 Die Mehrzahl dieser Faktoren weisen direkte Bezüge zur Agrarwirtschaft Treiber und Opfer des Anthropozäns auf, so beispielsweise die Zunahme des Düngemitte- leinsatzes, des Wasserverbrauchs, der Methan- und Die zentrale Bedeutung von Landwirtschaft und Er- Kohlendioxidanstieg, der Verlust tropischer Wälder nährung weit über den eigentlichen Nahrungsmit- infolge der Urbarmachung für die Landwirtschaft, der telsektor hinaus zeigt sich auch in der Einschätzung Fischfang und die Garnelen-Aquakultur, die allgemei- führender Nachhaltigkeitswissenschaftlerinnen und nen Biosphärenverschlechterungen an Land sowie die -wissenschaftler, derzufolge ohne eine tiefgreifende Stickstoffzunahme in küstennahen Gewässern. Nicht Agrar- und Ernährungswende nicht nur die Nach- von ungefähr ist die sich beschleunigende Vernutzung haltigen Entwicklungsziele der UN, sondern auch der Biosphäre gleichursprünglich mit den massiven die Ziele des Pariser Klimaabkommens verfehlt wer- landwirtschaftlichen Produktionssteigerungen durch den. Sie verweisen damit auf den immer deutlicher die Grüne Revolution, die Molekulargenetik, dem in- werdenden direkten Zusammenhang zwischen dem dustriellen Einsatz von Antibiotika, vor allem aber der derzeitigen dominanten Agrar- und Ernährungssys- allgemeinen Mechanisierung und Synthetisierung der tem und der Klima- und Biodiversitätskrise. In ihrem Landwirtschaft begünstigt durch die Verfügbarkeit vielbeachteten Diskussionsbeitrag charakterisieren sie von billigem Erdöl. unser derzeitiges dominantes Agrar- und Ernährungs- Unser Agrar- und Ernährungssystem wird deshalb system als zentraler Treiber und gleichzeitig als erstes als wesentlicher Treiber des Überschreitens der sog. Opfer des Anthropozäns.16 »planetaren Grenzen« (planetary boundaries) identifi- Der Begriff des Anthropozäns beschreibt zunächst ziert, jener Reihe von neun Indikatoren, die den bishe- ein neues Erdzeitalter, in dem der Menschheit ein rigen Stabilitätsbereich des Holozäns markieren.18 Die prägender Einfluss auf das planetare Ökosystem und entscheidende Rolle der Agrarwirtschaft zeigt sich in seine natürlichen Stoff- und Energiekreisläufe zuge- allen Bereichen, in denen diese Grenzen bereits über- sprochen wird. Die rapide industrielle Entwicklung schritten sind (wie dem rapiden Biodiversitätsverlust der letzten Jahrzehnte hat demnach zu massiven Ver- und der fundamentalen Veränderung der Stickstoff- änderungen auf planetarer Ebene geführt, die in ihrer und Phosphorkreisläufe), aber auch in den Bereichen, Deutlichkeit und Irreversibilität ebenbürtig sind mit in denen eine solche Überschreitung in Kürze droht, früheren klimatischen oder evolutionären Ereignissen falls nicht entschieden gegengesteuert wird (Treib der Erdgeschichte, welche die bekannten geologischen hausgasemissionen, Süßwasserverbrauch, Land Epochengrenzen markieren. Wir sind aktiv dabei, das nutzungsänderungen, insbesondere Entwaldung). Holozän und damit die letzten rund 11.700 Jahre rela- Dabei leidet gerade die Landwirtschaft unmittelbar tiv stabiler klimatischer und ökologischer Verhältnisse unter den Folgen des Klima- und globalen Wandels, zu verlassen, in denen sich unsere zunächst agrarische unter Dürre und den zunehmenden Wetterextrem und später industrielle Hochkultur entwickeln konnte. ereignissen, unter dem Rückgang der Artenvielfalt und Angesichts von Klima-, Biodiversitäts- und nun den erschöpften Böden – ist also Opfer des Anthropo- auch Gesundheitskrise könnte man aber ebenso gut zäns –, was in der Konsequenz nicht nur die Existenz 10
Einleitung der Bäuerinnen und Bauern, sondern auch die globale Chance nutzen Ernährungssicherheit mittel- und langfristig gefährdet.19 Gleichzeitig finden sich im Landwirtschafts- und Er- Die Covid-19-Pandemie als monströser, aber sicher nährungsbereich bereits eine Vielzahl von innovativen nicht einmaliger Störfall unterstreicht die Unab- Ansätzen, um diesen Trends entgegenzuwirken. Dabei dingbarkeit einer umfassenden sozial-ökologischen sei zum einen auf die ganz konkrete Form der Koh- Transformation, welche darauf abzielt, den Trend lenstoffspeicherung in Böden und Pflanzen verwiesen. zur Verschlechterung der Lebens- und also Gesund- Allgemeiner gesprochen bietet die Agrarökologie als heitsgrundlagen aufzuhalten und mittelfristig umzu- integraler Landwirtschaftsansatz Möglichkeiten und kehren – und zwar bevor katastrophale Kipppunkte Instrumente, um Umwelt-, Tier- und menschliche erreicht werden. Unsere gesellschaftliche und wirt- Gesundheit entscheidend zu verbessern und zukünfti- schaftliche Antwort auf diese Krise muss sowohl die gen Krisen wie Epidemien und auch Klimakrisen bes- aktuellen Erkenntnisse als auch die bereits umfassend ser zu widerstehen, Risiken abzumildern oder ihnen entwickelten Lösungsangebote Ernst nehmen. vorzubeugen.20 Politisch agiert die Food-Sovereignty- Durch Corona haben viele der Missstände wie auch Organisation La Via Campesina mit etwa 200 Millio- alternative Angebote eine breitere Aufmerksamkeit nen Mitgliedern, meist Kleinbäuerinnen und -bauern, erfahren – und diese Aufmerksamkeit sollte jetzt ge- als derzeit größte soziale Bewegung weltweit. Darüber nutzt werden. Als Reaktion auf den wirtschaftlichen hinaus wird gerade auch im Ernährungsbereich mit Einbruch im Zuge der Pandemie werden massive öf- neuen (und durchaus auch alten) ökonomischen An- fentliche Investitionen getätigt. Gemeinsam mit dem sätzen experimentiert, die wegweisend für eine post- ebenfalls zu beobachtenden Sinneswandel in Teilen fossile und Postwachstumsgesellschaft sein können. der Öffentlichkeit ergibt sich die historische Verant- Dazu gehören z. B. Foodsharing-Initiativen und So- wortung, aber auch die Chance einer echten Weiter- lidarische Landwirtschaften sowie Produktions-, Re- entwicklung der Agrar- und Ernährungswende (neben staurant- und Konsumgenossenschaften. Eine sozial- der ebenso notwendigen Energie- und Verkehrswen- ökologische gesellschaftliche Transformation muss de) jenseits der bisherigen zaghaften Veränderungen, zwangsläufig auch auf anderen Formen des Wirtschaf- welche die zugrunde liegenden Logiken und Struk- tens beruhen und der Ernährungssektor wird nicht zu- turen des Wachstumszwangs im Takt der great acce- fällig in Debatten um Postwachstum, Suffizienz und leration nicht infrage stellt oder zu verändern sucht. alternative Ökonomien als zentrales Beispiel, als Lern- Staatliches Geld, welches fortan in die Hand genom- und Interventionsfeld a ngeführt.21 men wird, ist verlorenes Geld, insofern es nicht der Allerdings zeigt ein Vergleich mit der ebenso not- Schaffung von Resilienz und Regeneration im fragi- wendigen Energiewende auch, dass wir noch weit da- len Mensch-Erde-System des Anthropozäns dient. von entfernt sind, das Ernährungssystem tatsächlich Notwendig ist dabei, die massiven externen Kosten »planet-proof«22 zu gestalten. Die Energiewende ist der von Klima- und Umweltschäden sowie nicht zuletzt Agrar- und Ernährungswende Jahrzehnte voraus und auch die daraus resultierenden Gesundheitsschäden ihre Notwendigkeit, jenseits vereinzelter Reste der Kli- zu berücksichtigen. Der Aufbau einer klimakompa- mawandelleugnung, auch international weitgehend tiblen Landwirtschaft, welche weitestgehend von Res- anerkannt. Dennoch verläuft auch hier die Entwick- sourcenverbrauch und Artenverlust entkoppelt wird lung in Anbetracht des drängenden Handlungsbedar- (zur Erinnerung: Landwirtschaft war lange Zeit Quelle fes schleppend. Dies lässt sich mit dem starken Fokus von Biodiversität!) und statt dessen zur Regeneration auf einseitige technische Lösungen (technological fix), von natürlichen Ressourcen wie Böden, Klima und mit politischer Zaghaftigkeit sowie mit der fehlenden Biodiversität beiträgt, bietet wesentliche Impulse für wirtschaftlichen Umorientierung erklären, welche die Innovation und einen gesellschaftlichen Wohlstand, durchaus beachtlichen technologischen Erfolge im der sich nicht mehr an den gängigen Indikatoren wirt- Bereich der Erneuerbaren Energien und der Effizienz schaftlichen Wachstums orientiert. durch Reboundeffekte wieder zunichte macht.23 Die Die globalen Bedrohungen und Herausforderun- Agrarwende steht hingegen noch ganz am Anfang gen, die Dringlichkeit unseres Handelns, aber auch die und ihre Notwendigkeit ist noch deutlich weniger im damit verbundenen Möglichkeitshorizonte sind durch allgemeinen Bewusstsein präsent. Noch immer wird die Covid-19-Pandemie deutlich geworden. Das Trau- Landwirtschaft gegen Arten- und Klimaschutz ausge- ma einer über Generationen nicht dagewesenen Stö- spielt, kleine Fortschritte an einer Stelle (zunehmende rung der gesellschaftlichen Interaktion muss erst noch Nachfrage nach ökologisch produzierten Lebensmit- bewältigt werden. Aber wie aus vielen anderen Krisen teln in westlichen Industrienationen) durch große bekannt, setzt nach einer Phase der akuten Zuspitzung Rückschritte an anderer Stelle zunichtegemacht (Ab- schnell wieder gesellschaftliches Vergessen ein. Es ist holzung der Regenwälder in Asien und Südamerika). wichtig, mit diesem mentalen und politischen Mecha- 11
Der kritische Agrarbericht 2021 nismus zu brechen und vorausschauend zu handeln. auch den Beitrag von Stig Tanzmann in diesem Kritischen Agrar- Die Corona-Krise ist eine Grundlagenkrise und ihre bericht (S. 102–107). 9 Vgl. E. W. Kinsey, D. Kinsey and A. G. Rundle: COVID-19 and food Bewältigung wird Jahre in Anspruch nehmen; Zeit, die insecurity: An uneven patchwork of responses. In: Journal of wir nicht zweimal haben, um die nötigen Transforma- Urban Health 97/3 (2020), pp. 332–335. tionen anzugehen. 10 Vgl. M. Marmot and R. G. Wilkinson (eds.): Social determinants of Was zu tun wäre, d. h. wie Landwirtschaft und Er- health. Oxford 2005. 11 Vgl. International Assessment of Agricultural Knowledge, Sci- nährung transformiert werden müssten und könnten, ence and Technology for Development (IAASTD): Agriculture ist seit Langem untersucht und bekannt. Es gibt un- at a crossroads. The Global Report. Washington, D.C. 2009. zählige Praxisbeispiele und wissenschaftliche Studien, 12 Vgl. https://data.worldbank.org/indicator/SL.AGR.EMPL. die von sehr konkreten Handlungsempfehlungen bis ZS?end=2017&start=1991, abgerufen 22. September 2020. hin zu grundlegenderen, systemischen Überlegungen 13 S. Böhm, M. Spierenburg and T. Lang: Fruits of our labour: Work and organisation in the global food system. Organization 27/2 reichen (nicht zuletzt hier im Kritischen Agrarbericht (2020), p. 198. veröffentlicht). Die Konzepte und Technologien sind 14 Vgl. L. Garcés: COVID-19 exposes animal agriculture’s vulnerabili- also längst da, ebenso der Wille in der Bevölkerung ty. In: Agriculture and Human Values 37 (2020), pp. 621–622. und inzwischen selbst in großen Teilen der Wirtschaft. 15 Vgl. M. K. Hendrickson: Covid lays bare the brittleness of a con- centrated and consolidated food system. In: Agriculture and Die umfassenden staatlichen Maßnahmen in Reaktion Human Values 37 (2020), pp. 579–580. auf die Pandemie zeigten uns, dass die notwendigen 16 Vgl. J. Rockström et al.: Planet-proofing the global food system. öffentlichen Investitionen auch kurzfristig getätigt In: Nature Food 1/1 (2020), pp. 3–5. werden können. Um in der medizinischen Metapho- 17 Vgl. W. Steffen et al: The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. In: The Anthropocene Review 2/1 (2015), rik einer »Welt im Fieber« zu bleiben: Die Diagnose ist pp. 81–98. längst gestellt, auch fundierte Therapievorschläge exis- 18 Vgl. W. Steffen et al: Planetary boundaries: Guiding human develop- tieren, was es nun braucht, ist entschiedenes Handeln, ment on a changing planet. In: Science 347/6223 (2015), 1259855. sowohl therapeutisch als auch präventiv. 19 Vgl. Rockström et al. (siehe Anm. 16) und W. Willett et al.: Food in the Anthropocene: The EAT-Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems. In: Lancet 393/10170 Calgary und Berlin im September 2020 (2019), pp. 447–492. 20 Vgl. M. A. Altieri and C. I. Nicholls: Agroecology and the recon- struction of a post-COVID-19 agriculture. In: The Journal of Anmerkungen Peasant Studies 47/5 (2020), pp. 1–18. 1 Vgl. J. E. Hollenbeck: Interaction of the role of Concentrated Ani- 21 Vgl. U. Schneidewind und A. Zahrnt: Damit gutes Leben ein- mal Feeding Operations (CAFOs) in Emerging Infectious Diseases facher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik. München (EIDS). In: Infection, Genetics and Evolution 38 (2016), pp. 44–46. 2013. – C. Müller und N. Paech: Suffizienz & Subsistenz. Wege – R. Wallace: Big farms make big flu: Dispatches on infectious in eine Postwachstumsökonomie am Beispiel von »Urban Gar- disease, agribusiness, and the nature of science. New York 2016. dening«. In: Der kritische Agrarbericht 2012, S.148–152. – J.-F. 2 Vgl. P. J. Sansonetti: COVID-19, chronicle of an expected pan- Gerber: Degrowth and critical agrarian studies. In: The Journal demic. In: EMBO Molecular Medicine 12/5 (2020), e12463. – of Peasant Studies 47/2 (2020), pp. 235–264. – M. Rosol und A. H. F. Lorentzen et al.: COVID-19 is possibly a consequence of Strüver: (Wirtschafts-)Geographien des Essens: transformatives the anthropogenic biodiversity crisis and climate changes. In: Wirtschaften und alternative Ernährungspraktiken. In: Zeit- Danish Medical Journal 67/5 (2020), A205025. schrift für Wirtschaftsgeographie 62 (3–4) (2018), S. 169–173. 3 Die erste gleichlautende Task Force wurde 2006 angesichts des 22 Vgl. Rockström et al. (siehe Anm. 16). Ausbruchs der Vogelgrippe von der Veterinärmedizin ins Leben 23 T. Santarius: Der Rebound-Effekt: ein blinder Fleck der sozial- gerufen; inzwischen wird der Ansatz sowohl von der Weltge- ökologischen Gesellschaftstransformation. In: GAIA 23/2 (2014), sundheitsorganisation WHO als auch der FAO unterstützt. Siehe pp. 109–117. hierzu: R. M. Atlas and S. R. Maloy (eds.): One health: people, animals, and the environment. Washington, D.C. 2014. – WHO, FAO and OIE: Taking a multisectoral, One Health approach: A tripartite guide to addressing zoonotic diseases in countries. Geneva 2019 (www.fao.org/3/ca2942en/ca2942en.pdf). 4 S. Whitmee et al. (2015) Safeguarding human health in the Anth- Marit Rosol ropocene epoch: Report of The Rockefeller Foundation-Lancet Professorin für Geographie an der Commission on planetary health. In: The Lancet 386/10007 University of Calgary, Canada. (2015), pp. 1973-2028. 5 Vgl. C. Romanelli et al.: Connecting global priorities: Biodiversity marit.rosol@ucalgary.ca and human health. A state of knowledge review. Geneva 2015. 6 Siehe dazu auch den Beitrag von Joachim Spangenberg in die- sem Kritischen Agrarbericht (S. 208–212). 7 Vgl. A. Afshin et al.: Health effects of dietary risks in 195 coun- Christoph Rosol tries, 1990–2017: A systematic analysis for the global burden of Leiter der Forschungsgruppe »Anthropozän« disease study 2017. In: The Lancet 393/10184 (2019), pp. 1958– am Max-Planck-Institut für Wissenschafts 1972. – Development Initiatives: 2020 Global Nutrition Report. geschichte und wissenschaftlicher Mitarbeiter Action on equity to end malnutrition. Bristol 2020. am Haus der Kulturen der Welt. 8 Vgl. Oxfam: The hunger virus: How Covid-19 is fueling hunger in a hungry world. Oxfam Media Briefing 2020. – Siehe hierzu rosol@mpiwg-berlin.mpg.de 12
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