Die "Takfiristen" - Stiftung Wissenschaft und Politik
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NR. 9 JANUAR 2021 Einleitung Die »Takfiristen« Eine salafistisch-jihadistische Teilströmung gewinnt an Bedeutung Guido Steinberg Die »Takfiristen« sind eine stark sektenartige Strömung des Jihadismus, deren An- hänger glauben, dass fast alle Muslime außer ihnen selbst ungläubig sind. Aufgrund ihrer geringen Zahl hatten viele von ihnen die Hoffnung aufgegeben, einen erfolg- reichen »Jihad« gegen die Feinde des Islam führen zu können. Dies änderte sich mit der Ausrufung des Islamischen Staates (IS) im Juni 2014, als viele Takfiristen aus Europa, den Kaukasusländern, Saudi-Arabien und Nordafrika nach Syrien und in den Irak zogen und sich dem IS anschlossen – während andere diesen Schritt ablehnten, auf den bewaffneten Kampf verzichteten und in ihren Heimatländern blieben. Seit- dem stellt sich die Frage nach der Gefährlichkeit der Takfiristen erneut. Der Anschlag in Wien am 2. November 2020 hat der Debatte neue Nahrung verschafft, denn der Attentäter verkehrte vor seinem Ausreiseversuch nach Syrien im Jahr 2018 in einer takfiristischen Moschee in der österreichischen Hauptstadt. Er ist das jüngste Beispiel dafür, dass die Takfiristen ein integraler Bestandteil der jihadistischen Bewegung sind und eine teils unterschätzte Gefahr darstellen. Am 2. November 2020 verübte der öster- wo er im April 2019 zu 22 Monaten Haft reichisch-nordmazedonische Doppelstaatler verurteilt wurde, nach acht Monaten aber und ethnische Albaner Kujtim Fejzulai den schon wieder freikam. In den Monaten vor bisher einzigen jihadistischen Anschlag in seiner Ausreise hatte Fejzulai häufig die der österreichischen Hauptstadt. Mit einem Melit-Ibrahim-Moschee besucht, die als wich- Sturmgewehr und einer Pistole bewaffnet tiger Treffpunkt der Wiener Takfiristen galt. streifte er durch ein Ausgehviertel in der Wiener Innenstadt, tötete vier und verletzte 23 Menschen, bevor er selbst von der Polizei Die Geschichte der Takfiristen erschossen wurde. Fejzulai war erst im De- zember 2019 aus der Haft entlassen worden. Das arabische Nomen »takfir« heißt wört- Im September 2018 war er in die Türkei lich »Für-ungläubig-Erklären« und kann geflogen, um von dort aus nach Syrien zu auch als »Exkommunizierung« übersetzt reisen und sich dem IS anzuschließen. werden. In der jihadistischen Bewegung Doch türkische Sicherheitskräfte griffen ihn gibt es schon seit den 1970er Jahren heftige auf und schoben ihn nach Österreich ab, Debatten über die Frage, unter welchen
Bedingungen Muslime zu Ungläubigen Aufmerksamkeit auf sich zog, mit der aus- (arabisch kafir, Plural kuffar) erklärt, also ufernden Exkommunizierung großer Massen mit dem »takfir« belegt werden dürfen. von sunnitischen Muslimen aber nie viel anfangen konnte. Die Prominenz al-Qaidas Historische Vorläufer verdeckte so, dass es schon seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre unter den arabi- Während die Anhänger der sunnitischen schen Afghanistankämpfern eine starke Strö- Orthodoxie üblicherweise sehr zurückhal- mung gab, die eine sehr viel radikalere Posi- tend in dieser Praxis sind, nutzen Jihadisten tion vertrat. Wie sehr sich diese von der der den takfir häufig, um so ihre Gewalt gegen al-Qaida unterschied, zeigte sich beispiels- Muslime zu rechtfertigen. Jedoch gibt es weise an ihrer kritischen Haltung gegen- unter den Jihadisten große Unterschiede. über den Taliban, die ihren Vertretern als Eher politisch-pragmatische Organisatio- nicht ausreichend islamkonform galten – nen wie al-Qaida beschränken sich meist wohingegen Bin Laden und seine Gefolgs- darauf, die autoritären Regierungen in Län- leute mit den Afghanen ein Bündnis knüpf- dern wie Ägypten oder Saudi-Arabien als ten, das bis heute Bestand hat. Ungläubige zu kategorisieren, um auf diese Wie einflussreich die takfiristische Strö- Weise ihren »Jihad« gegen diese Regime mung in der jihadistischen Bewegung religiös zu legitimieren. Doch schon in den damals wurde, lässt sich etwa am Wirken 1970er Jahren entstand in Ägypten eine der algerischen Bewaffneten Islamischen Gruppe namens »Gemeinschaft der Musli- Gruppe (Groupe Islamique Armé, GIA) me« (Jama‘at al-Muslimin), die so weit ging, ablesen, die – mit dem Argument, es nicht nur die eigene Regierung, sondern die (be)treffe Ungläubige – Mitte der 1990er gesamte ägyptische Gesellschaft mit dem Jahre brutale Gewalttaten gegen die Zivil- »takfir« zu belegen. Bei ihren Gegnern hieß bevölkerung in ihren Operationsgebieten sie »Jama‘at al-Takfir wa-l-Hijra« (»Gemein- verübte. schaft der Exkommunikation und Aus- wanderung«). Teile der Gruppe zogen sich Die zeitgenössischen Takfiristen aus der Gesellschaft zurück und versuch- ten, ihre Kontakte mit der (»ungläubigen«) Die zeitgenössische Takfiristenszene ist in Umgebung auf ein absolutes Minimum zu den Jahren nach dem Beginn des Irakkriegs reduzieren. Dennoch geriet sie in Konflikt 2003 entstanden. Die ersten Takfiristen ge- mit dem ägyptischen Staat, als sie 1976 hörten ursprünglich zu den Anhängern des gegen Abweichler vorging. Die Polizei ver- Palästinensers Abu Muhammad al-Maqdisi haftete einige Mitglieder und schrieb ihren (geboren 1959), der mit einer Neuinterpre- Anführer Shukri Mustafa (1942–1978) zur tation des Konzepts von der »Loyalität (gegen- Fahndung aus. Im Juli 1977 reagierte die über Gott und den Muslimen) und der Los- Gruppe mit der Ermordung des Religions- sagung (vom Unglauben und seinen Anhän- gelehrten und früheren Ministers Muham- gern)« (al-wala’ wa-l-bara’) zum wichtigsten mad al-Dhahabi, woraufhin die Sicherheits- jihadistischen Vordenker überhaupt wurde. behörden sie zerschlugen und Mustafa hin- Im Kern handelt es sich dabei um die reli- gerichtet wurde. giöse Rechtfertigung für die Abgrenzung Im jihadistischen Milieu der nächsten der Jihadisten von ihrer Umwelt und den Jahrzehnte eiferten zahlreiche religiöse Kampf gegen die nominell islamischen Vordenker und Einzelgruppen dem Vorbild Regime in der arabischen Welt. Die Anhän- der Jama‘at al-Takfir wa-l-Hijra nach. Dass ger Maqdisis legten seine Lehre allerdings diese von vielen Beobachtern oft nur am sehr unterschiedlich aus. Rande wahrgenommen wurden, hatte viel Unter der Führung ihres kuwaitischen mit der ab 1998 wachsenden Prominenz Vordenkers Abd al-Rahman al-Mikhlif (alias von al-Qaida zu tun, die mit ihren Anschlä- Abu Mariam) gingen die Takfiristen einen gen auf US-amerikanische Ziele öffentliche Schritt weiter als Maqdisi, indem sie dem SWP-Aktuell 9 Januar 2021 2
Beispiel Shukri Mustafas und seiner An- firistischen Kreisen allgegenwärtig; das wich- hänger folgten und bei allen andersdenken- tigste Merkmal der Takfiristen ist, dass sie den Muslimen Anzeichen von Unglauben Unglauben nicht entschuldigen. Dabei geht entdeckten. In der religiösen Theorie berie- es in einem zweiten Schritt nicht mehr nur fen sie sich vor allem auf den Begründer um die Entschuldigungsgründe, sondern des Wahhabismus, Muhammad Ibn Abd al- auch den »Entschuldiger«. Denn derjenige, Wahhab (gestorben 1792), und seine Schüler so die Takfiristen, der offenkundigen Un- und Nachkommen, die die ideologische glauben aus den genannten Gründen ent- Grundlage für den saudi-arabischen Staat schuldigt, ist ebenfalls ein Ungläubiger. schufen, einen äußerst strikten Monotheis- Diese Haltung führt zu teils kuriosen, mus (tauhid) propagierten und häufig wenn auch in sich strikt logischen Schluss- dessen Gegenteil, die Vielgötterei (shirk), folgerungen. Viele Takfiristen glauben näm- am Werk sahen. lich, dass selbst Usama Bin Laden (1957– Wie die Wahhabiten bemerken die Tak- 2011) ein Ungläubiger war. Sie bemängeln firisten überall besonders schwere Fälle von zum Beispiel, dass der al-Qaida-Chef die Vielgötterei, die einen Muslim ihrer Ansicht palästinensische Hamas nicht mit dem nach zum Ungläubigen machen. Ein Objekt takfir belegt hat, obwohl diese an Wahlen der Verehrung, das nicht Gott ist, nennen teilgenommen und kurzzeitig mit der säku- sie »taghut«, was meist als »Götze« oder laren Palästinensischen Befreiungsorgani- »falsche Gottheit« übersetzt wird. Doch sation (PLO) koaliert hatte. Wer aber die erweitern die Takfiristen die ursprüngliche offenkundig und unzweifelhaft ungläubige Bedeutung des Wortes und subsumieren Hamas nicht als solche bezeichne, meinen alles, was den modernen Staat ausmacht, die Takfiristen, müsse selbst ungläubig sein. unter dem »taghut«-Begriff. »Taghut« sind In der Praxis gelten den Takfiristen deshalb demnach nicht mehr nur die konkreten sogar Organisationen wie al-Qaida, ihre Objekte der Verehrung wie etwa Heilige Führer und Kämpfer als Ungläubige. und ihre Gräber, der Teufel oder ein Jinn Die logische Konsequenz solch doktrinä- (Geist), sondern auch Staaten und ihre rer Radikalität war paradoxerweise oft eine Vertreter wie Polizei, Gerichte und der ge- faktische Abkehr von der Militanz. Denn samte öffentliche Dienst, hinzu kommen heutzutage, argumentieren viele Takfiris- politische Systeme und Ideologien wie ten, gebe es so wenige wahre Muslime, dass Demokratie, Kommunismus oder Atheis- der Jihad nicht erfolgreich geführt werden mus, mitsamt allen ihren Vertretern. Wer könne. Auf diese Weise wird der bewaffnete sich mit diesen Kräften einlässt, so die Kampf zurückgestellt, ihm geht eine Missio- Lehre der Takfiristen, wird zum Ungläubi- nierungsphase voraus, die erst ende, wenn gen. Schon ein solch einfacher Akt wie die Muslime zu alter Stärke gefunden haben. das Wählen in einer Demokratie ist mit Wann dies der Fall ist bzw. sein wird, sagen dem wahren Islam aus ihrer Sicht nicht die Takfiristen in der Regel nicht; somit zu vereinbaren. war (und ist) auch bei ihnen immer zu be- Takfiristen zeichnen sich dadurch aus, fürchten, dass sie gewalttätig werden könn- dass sie keine oder nur sehr wenige »Ent- ten. Überdies sprechen sie häufig von »isla- schuldigungsgründe« (mawani’ at-takfir) für mischem Gebiet« (dar al-islam) und einem vermeintlichen Unglauben akzeptieren. »islamischen Staat«, den es heute noch Diese werden von weniger radikalen Salafis- nicht gebe, den zu schaffen aber auch ihr ten oft vorgebracht, um die Exkommuni- Fernziel sei und der dann – so zumindest zierung von Muslimen zu vermeiden. Stark die logische Schlussfolgerung – gleichfalls verbreitet ist der Verweis auf Unwissenheit den Jihad gegen die Feinde des Islam auf- (jahl) oder eine Notlage (ikrah), die ihrer nehmen werde. Ansicht nach eine Exkommunizierung ver- hindern. Insbesondere die Debatte über Unwissenheit und deren Folgen ist in tak- SWP-Aktuell 9 Januar 2021 3
Der Islamische Staat und im Oktober 2004 öffentlichkeitswirksam zu die Takfiristen Bin Laden bekannte und seine Gruppe fort- an al-Qaida in Mesopotamien (al-Qaida fi Als im Juni 2014 der Islamische Staat (IS) Bilad al-Rafidain) hieß. Doch brachen in ausgerufen wurde und Abu Bakr al-Bagh- den Jahren nach 2004 gravierende Meinungs- dadi sich zum Kalifen ernannte, weckte dies verschiedenheiten auf. An der Oberfläche in Teilen der takfiristischen Szene große ging es um die Strategie. So versuchte al- Hoffnungen. Der IS ist zwar keine takfiristi- Qaida sehr pragmatisch, sich auf den Kampf sche Organisation (selbst wenn seine nah- gegen die USA zu konzentrieren und die östlichen Gegner das gerne behaupten), eigenen Erfolgschancen durch Bündnisse aber doch eine, die dem Takfirismus welt- mit ähnlich gesinnten Gruppierungen wie anschaulich sehr nahesteht. Das zeigt sich den Taliban zu steigern. Die irakische al- unter anderem daran, dass der IS sich eben- Qaida (al-Qaida in Mesopotamien, aus der so wie die Takfiristen ideologisch an den später der IS hervorging) bekämpfte hin- saudi-arabischen Wahhabiten und ihren gegen ein sehr viel breiteres Spektrum an Lehren orientiert und besonders viele Mus- Feinden, oft ohne Rücksicht auf die militäri- lime für ungläubig hält. schen Folgen. Drei Aspekte waren in den Der Grund für die Nähe ist, dass der IS, Jahren ab 2004 besonders umstritten: wie der Takfirismus, seine jüngeren Wur- Antischiitische Gewalt: Die irakische al-Qaida zeln in derjenigen Jihadismusschule hat, verübte seit 2003 zahlreiche Anschläge auf die sich unter den arabischen Afghanistan- Schiiten, die häufig auch Zivilisten galten. kämpfern Ende der 1980er Jahre verbreitete Zwar sind sich alle Jihadisten einig, dass es und eine radikalere Alternative zu al-Qaida sich bei den Schiiten um Ungläubige han- bildete. Während Letztere viel von dem delt, aber die al-Qaida-Führung glaubte, der politischen Pragmatismus der Muslimbrüder Kampf gegen sie müsse hinter dem gegen übernommen hatte, dominierte bei den Vor- die USA zurückstehen. Sie wollte sich nicht läufern des IS und der Takfiristen die in mehr Feinde als nötig machen und vor allem Religions- und Weltanschauungsfragen kom- den schiitischen Iran nicht provozieren, so promisslose Rigidität der saudi-arabischen dass der Bin-Laden-Vize Aiman al-Zawahiri Wahhabiten. Darüber hinaus teilten sie die 2005 einen berühmten Brief an Zarqawi Begeisterung für die Ideen von Abu Muham- schrieb, in dem er ihn zur Mäßigung auf- mad al-Maqdisi, der im Jordanien der frühen forderte. Zawahiri argumentierte jedoch 1990er Jahre ein enger Weggefährte und re- nicht nur politisch, sondern auch religiös- ligiös-ideologischer Mentor des IS-Gründers ideologisch, indem er erklärte, unwissen- Abu Mus‘ab al-Zarqawi gewesen war. Doch den schiitischen Zivilisten müsse zunächst als dieser 2003 den bewaffneten Kampf der wahre Glaube verkündet werden – er gegen die amerikanischen Besatzungstrup- entschuldigte also den Unglauben der Schi- pen und ihre lokalen Verbündeten im Irak iten. Zarqawi und seine Anhänger hielten aufnahm, traten bald Unterschiede zutage, dem entgegen, alle Schiiten seien Ungläu- die zum Bruch zwischen beiden führten. bige, die getötet werden müssten. Die Mah- Selbst für Maqdisi war Zarqawi zu unnach- nungen der al-Qaida-Führung wurden im giebig und brutal in seinem Umgang mit Irak ignoriert und brutale antischiitische Muslimen, die sich ihm widersetzten. Für Gewalt zu einem Markenzeichen der iraki- die Takfiristen waren es aber gerade die schen Organisation. Punkte, bei denen Zarqawi und seine Gefolgs- Alleiniger Vertreter der Sunniten: Al-Qaida leute radikalere Positionen als al-Qaida ver- geht immer wieder Bündnisse mit Organisa- traten, die ihn und den IS als die bessere tionen ein, deren Ziele mit den ihren kom- Alternative erscheinen ließen. patibel sind. In Afghanistan hat sie sich den Über die weltanschaulichen Unterschiede Taliban sogar untergeordnet, um die eigenen zwischen Zarqawi und al-Qaida täuscht die Überlebens- und Erfolgschancen zu vergrö- Tatsache etwas hinweg, dass Zarqawi sich ßern. Zarqawi und die irakische al-Qaida SWP-Aktuell 9 Januar 2021 4
dagegen begannen spätestens 2006, konkur- Gleichzeitig nahm er takfiristische Kämpfer rierende sunnitische Aufständische zu be- auf, die der Meinung waren, die gesamte kämpfen und ihre Unterwerfung zu fordern. sunnitische Bevölkerung in Syrien (und an- Dies wurde offizielles Programm, als sich deren Ländern) sei, ebenso wie die al-Qaida- die Organisation im Oktober 2006 in »Isla- Führung, ungläubig. Diese Meinungsunter- mischer Staat im Irak« (ISI) umbenannte. schiede mussten in Konflikten münden. Mit dem Argument, es könne nur einen »islamischen Staat« und einen »Befehlshaber der Gläubigen« (Amir al-Mu’minin, so der Die Takfiristen im damalige Titel des ISI-Anführers) geben, setz- Islamischen Staat ab 2014 ten sie sich tatsächlich an die Spitze des Auf- stands, der aber an Stärke verlor, weil viele Als im Juni 2014 das Kalifat ausgerufen Rebellen den bewaffneten Kampf aufgaben. wurde, zeigte sich auch in der Praxis, wie Exkommunizierung (takfir): Al-Qaida zielte nahe viele Takfiristen dem IS standen. Hun- stets darauf ab, sich als kämpfende Avant- derte, vielleicht Tausende Takfiristen in der garde an die Spitze einer Massenbewegung arabischen Welt, den Kaukasusländern und zu stellen und die Macht in arabischen Staa- in Europa glaubten, dass es sich um den ten zu übernehmen. Aus diesem Grund ist idealen »islamischen Staat« handele, von sie sehr zurückhaltend, wenn es darum dem ihre Vordenker gesprochen hatten und geht, sunnitische Muslime zu exkommuni- in den ein wahrer Muslim verpflichtet sei zieren. Ihr Bann trifft vielmehr die Regie- auszureisen. rungen arabischer und muslimischer Länder Diejenigen Takfiristen, die sich 2014 dem und darüber hinaus Angehörige der Armee IS zuwandten, orientierten sich an den Leh- und der Sicherheitskräfte, sofern diese aktiv ren des saudi-arabischen Predigers Ahmad für deren Machterhalt sorgen. Der IS zeigt al-Hazimi, der für den Anschluss an den IS sich auch hier deutlich radikaler und rück- warb, obwohl er selbst in Saudi-Arabien sichtsloser, indem er sunnitische Muslime, blieb, wo er im April 2015 verhaftet wurde. die sich ihm nicht anschließen oder unter- Beim IS wurde Abu Umar al-Kuwaiti sein werfen, schnell als »Ungläubige« bezeichnet. einflussreichster Vertreter, man sprach in Gleichzeitig kennt er diesbezüglich Gren- jihadistischen Kreisen vom »Hazimi-Trend« zen, denn er ging im Irak, in Syrien und (Tayyar al-Hazimi). Die Aufnahme Kuwaitis anderswo nie so weit, ganze sunnitische und seiner Anhänger beim IS scheint an- Bevölkerungen mit dem takfir zu belegen. fangs unproblematisch gewesen zu sein, Dies ist der wichtigste Unterschied zu den denn die Organisation verhielt sich unduld- Takfiristen. Trotz dieses Unterschieds über- sam gegenüber »Ungläubigen« aller Art, zeugten die offenkundigen Gemeinsam- darunter auch vielen Sunniten, die sich keiten – ein ausgeprägter Schiitenhass, ein gegen den IS stellten. Außerdem bemühte Alleinvertretungsanspruch unter Sunniten, sich der IS, eine Gesellschaft aufzubauen, die Exkommunizierung von viel mehr die sich stark an dem orientierte, was Sunniten als bei anderen Gruppierungen Muhammad Ibn Abd al-Wahhab und seine üblich – viele Takfiristen, dass der IS ein Nachkommen in Saudi-Arabien seit dem wahrer islamischer Staat sein könne. 18. Jahrhundert errichtet hatten. Nicht- Sie übersahen dabei, dass der IS trotz sunnitische Moscheen und Heiligengräber aller Kompromisslosigkeit mehr Pragmatis- wurden zerstört, die als »Ungläubige« kate- mus an den Tag legte als sie. Es scheint das gorisierten Schiiten und Alawiten wurden Ziel des IS gewesen zu sein, ungeachtet aller getötet, wahhabitische Verhaltens- und weltanschaulichen Radikalität für möglichst Kleidervorschriften rigoros durchgesetzt. viele Jihadisten attraktiv zu bleiben. So ver- Eine »Hisba« genannte Religionspolizei kon- mied er es, die al-Qaida-Führung um Aiman trollierte die Einhaltung der strikten Regeln. al-Zawahiri und damit auch die Angehörigen Die kommenden Probleme kündigten dieser Organisation zu exkommunizieren. sich aber schon früh an. Der wichtigste SWP-Aktuell 9 Januar 2021 5
Grund hierfür war zunächst, dass Abu bekannte Zahl ihrer Anhänger wurden hin- Umar al-Kuwaiti und seine Gefolgsleute gerichtet, andere wurden inhaftiert und auf auch die Mehrheit der sunnitischen Bevöl- ihre Linientreue überprüft. Wenn sie ihren kerung Syriens für Ungläubige hielten. Ideen abschworen, wurden sie wieder frei- Bereits 2013 wurden Berichte über die gelassen und in die Organisation reintegriert. Schreckensherrschaft einer takfiristischen In den takfiristischen Gemeinden in Europa Kampfgruppe in der nordwestsyrischen machte sich Ernüchterung breit, viele riefen Provinz Idlib publik. Ihr dagestanischer ihre Anhänger auf, den IS zu verlassen. Kommandeur Magomed Abdurachmanow Andere Takfiristen wiederum reisten nach (alias Abu al-Banat) hatte die örtliche Bevöl- Beginn der Verfolgungswelle aus in Rich- kerung so brutal drangsaliert, dass er vor tung Syrien und schlossen sich dem IS an. seinen Vorgesetzten in einer kaukasischen Einheit in die Türkei flüchtete; später wech- selte diese Einheit zum IS über. Die Mehr- Takfiristen in Österreich zahl der Takfiristen jedoch – die unter Jihadisten aus Dagestan und Aserbaidschan Die Ausrufung des Islamischen Staates im besonders stark vertreten waren – blieb Juni 2014 führte zur Spaltung der takfiristi- integraler Bestandteil des entstehenden IS. schen Gemeinden in Europa zwischen den- Sie bildeten ganze Kampfgruppen wie bei- jenigen, die nun argumentierten, die Aus- spielsweise die dagestanische »Katibat al- reise (hijra) nach Syrien und in den Irak sei Muwahiddin« (»Monotheisten-Bataillon«), die Pflicht jedes Muslims, und denjenigen, die wegen ihres religiösen Fanatismus und die in der Neugründung keinen legitimen ihrer militärischen Erfahrung zu den Elite- islamischen Staat sahen und weiter abwar- truppen des entstehenden Kalifats zählten. ten wollten. Am deutlichsten waren die Der Konflikt zwischen dem »Hazimi- Spannungen in Österreich, wo die größte Trend« und seinen Gegnern brach kurz europäische Takfiristenszene beheimatet ist. nach der Ausrufung des Kalifats aus. Anlass Die Schlüsselfiguren in der Debatte waren war die Forderung Abu Umar al-Kuwaitis, die Prediger Nedzad B. (alias Ebu Muham- Abu Bakr al-Baghdadi solle den al-Qaida- med) und Farhad Q. (alias Abu Hamza al- Führer Aiman al-Zawahiri exkommunizie- Afghani), die in dem Jahrzehnt zuvor Wien ren, weil dieser die Schiiten nicht als Un- zum intellektuellen Zentrum der bosnisch- gläubige betrachte und Unwissen als Ent- und deutschsprachigen Takfiristen gemacht schuldigungsgrund für Unglauben ansehe. hatten. Beide gehörten 2004/2005 zum Um- Als die IS-Führung der aus Sicht der Tak- feld der Sahaba-Moschee im 7. Wiener Be- firisten zwingenden Forderung nicht nach- zirk, die sich zu einem entscheidenden Nu- kam, gingen diese dazu über, auch Bagh- kleus des deutschsprachigen Jihadismus dadi mit dem takfir zu belegen. Dies war entwickelte. In ihrem Umfeld wurden da- zwar ideologisch konsequent, aber doch mals die ersten deutschen Übersetzungen gefährlich für Anhänger des Takfirismus, der Werke von Abu Muhammad al-Maqdisi die sich im Gebiet des IS aufhielten. gefertigt, die den deutschsprachigen Jihadis- Mitte August 2014 wurden Abu Umar ten das ideologische Rüstzeug verschafften, al-Kuwaiti und mehrere prominente takfi- das bis dahin nur auf Arabisch vorgelegen ristische Prediger unter dem Vorwurf inhaf- hatte. Doch lösten sich Ebu Muhammed und tiert, dass sie den takfir übertrieben hätten Abu Hamza rasch von den Wiener Jihadisten (»al-ghuluw fi at-takfir«). Es folgte eine regel- und vertraten ab 2006/2007 das takfiristische rechte Säuberungswelle gegen die »Über- Gedankengut Abd al-Rahman al-Mikhlifs. treiber« – wie die Takfiristen im IS-Jargon Der Bosnier Nedzad B. galt schon früh als nun hießen –, die bis mindestens 2015 Takfirist, der den Jihadisten weiterhin nahe- andauerte und auch in den Jahren danach stand. Trotz seiner Jugend (er wurde 1975 Opfer forderte. Die Anführer der takfiristi- geboren) wurde er zu einem vor allem unter schen Bewegung im IS und eine bislang un- bosnischsprachigen jungen Leuten promi- SWP-Aktuell 9 Januar 2021 6
nenten Prediger, der von Wien aus bis nach hatten. Er lobte auch den IS-Führer Abu Bosnien ausstrahlte. Dazu trug auch sein Bakr al-Baghdadi, da dieser wie die Takfiris- Studium in den Jahren 2000/2001 an der ten hart gegen vermeintliche Polytheisten Islamischen Universität von Medina bei, der vorging. für die Takfiristen ebenso wie für viele Nedzad B. und Farhad Q. gerieten in Öster- andere Salafisten wichtigsten Ausbildungs- reich unter anderem deshalb in Schwierig- stätte überhaupt. Dass Ebu Muhammed keiten, weil aus einer takfiristischen Moschee als eher gewaltaffin eingeschätzt wurde, in Graz besonders viele Personen nach Syrien ging in erster Linie auf Hinweise zurück, es ausreisten. Es ging um den Grazer Taqwa- gebe einen Zusammenhang zwischen seiner Glaubensverein, dem mehrheitlich bosnisch- Predigertätigkeit und Gewalttaten in Ex- sprachige Muslime angehörten und der na- Jugoslawien. Desgleichen kann die anhal- mentlich Ebu Muhammed und (mit einigem tende Bedeutung der Lehren Maqdisis (der Abstand) Abu Hamza als seine religiösen sich nie vom Jihadismus abwandte) für Autoritäten betrachtete. Seit seiner Grün- Ebu Muhammed als Zeichen in diese Rich- dung 2008 hatten sich die bosnischsprachi- tung gewertet werden. Dass dessen spätere gen Muslime unter der Führung von Nermin Moschee in Wien als Melit-Ibrahim-Moschee Skelic mit einigen ethnischen Albanern bekannt war, wies ebenfalls in Richtung und wenigen Türken verbunden und eine Jihadismus. Denn als »Millat Ibrahim« (dies stark sektenartige Gemeinde von einigen eine andere Schreibweise) oder »Gemein- Dutzend Mitgliedern gebildet, die jeglichen schaft Abrahams« bezeichnete Maqdisi in Kontakt zur Außenwelt, zu der auch nicht- einem seiner Hauptwerke die jihadistische takfiristische Muslime zählten, zu minimie- Bewegung. ren suchte. Infolge der Ausrufung des Kali- Der afghanischstämmige Österreicher fats entstanden rasch zwei Lager: Das eine Farhad Q. (geboren 1977) gilt bis heute war der Meinung, dass das neu ausgerufene als der weniger gewaltaffine Takfirist, der Kalifat tatsächlich ein islamischer Staat war zumindest nach außen hin auch den IS und die Ausreise nach Syrien Pflicht. Das ablehnte. Er gab zunächst vornehmlich die andere blieb bei der hergebrachten takfiristi- Ideen Mikhlifs wieder, beanspruchte später schen Position, es handele sich mitnichten aber eigenständige religiöse Autorität und um einen islamischen Staat und die Ge- veröffentlichte mehrere takfiristische Schrif- meinde habe in Österreich zu verbleiben. ten in deutscher Sprache. Zeitweise unter- Über diese Frage kam es unter den Gemein- richteten Ebu Muhammed und Abu Hamza demitgliedern zu Konflikten – wobei nie in derselben Moschee, doch scheint es Mei- ganz klar wurde, ob Ebu Muhammed für nungsverschiedenheiten gegeben zu haben, eine der beiden Seiten Partei ergriff. so dass Abu Hamza ab Januar 2013 die al- Beginnend im August 2013 reisten, ange- Iman-Moschee im 10. Wiener Bezirk über- führt von dem Taqwa-Gründer Skelic, ins- nahm. Er unterrichtete und veröffentlichte gesamt 38 Personen (einschließlich vieler überwiegend auf Deutsch und wurde fast Kinder) aus Graz nach Syrien. Überdies waren ausschließlich im deutschsprachigen Raum auch aus Wien einige Personen mit Bezügen wahrgenommen. In den Jahren 2013 und zu den Moscheen von Ebu Muhammed 2014 scheint er eine ambivalente Position nach Syrien gefahren. Unter ihnen befand vertreten zu haben. Der Bremer IS-Rück- sich der spätere Attentäter Kujtim Fejzulai. kehrer Harry S. berichtete von einem Be- In einem folgenden Mammutprozess gegen such bei Abu Hamza in Wien im Jahr 2013, Ebu Muhammed, Abu Hamza und zahl- bei dem dieser sich offen gegen den IS aus- reiche Gemeindemitglieder wurde Ebu Mu- sprach. In seinem Buch »Ein Rat an die hammed im März 2020 – allerdings Stand kämpfenden Gruppen« von 2013 dagegen Januar 2021 noch nicht rechtskräftig – zu äußerte Abu Hamza sich nicht nur positiv fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Weitere über diejenigen Takfiristen, die sich wie führende Gemeindemitglieder erhielten Abu Umar al-Kuwaiti dem IS angeschlossen mehrjährige Haftstrafen. Abu Hamza hatte SWP-Aktuell 9 Januar 2021 7
sich dem Verfahren durch Flucht ins Aus- Ein augenscheinliches Beispiel dafür ist land entzogen. das des türkischen Predigers Halis Bayancuk (alias Ebu Hanzala). Dieser galt in der Hoch- zeit des IS ab 2014 als maßgeblicher IS-Rek- Die Gefahren des Takfirismus rutierer in der Türkei, vertrat gleichzeitig aber eindeutig takfiristische Positionen – so Vor 2014 sahen einige Beobachter (ein- vor allem, weil er Unwissenheit als Entschul- schließlich des Verfassers) im Takfirismus digungsgrund für Unglauben kategorisch weniger eine neuartige Bedrohung, sondern ablehnte. Über seine Anhänger wird in Jiha- eine mögliche »Exit-Strategie« (Klaus Hum- distenkreisen berichtet, sie würden beson- © Stiftung Wissenschaft mel) aus dem Jihadismus. Eine solche kann ders viele sunnitische Muslime für ungläu- und Politik, 2021 der Takfirismus für einige seiner Anhänger big erklären. Zwar verbrachte Bayancuk in Alle Rechte vorbehalten auch weiterhin sein, doch der Fall des Wie- den letzten Jahren immer wieder längere ner Attentäters und seiner Verbindungen in Phasen in türkischen Gefängnissen. Doch Das Aktuell gibt die Auf- die takfiristische Szene sind – nach den scheint er weiterhin über viele Anhänger fassung des Autors wieder. vielen Ausreisen nach Syrien ab 2014 – ein zu verfügen, die sich nicht nur in der Tür- In der Online-Version dieser erneuter Hinweis auf deren Gefährlichkeit. kei, sondern auch in der türkischsprachigen Publikation sind Verweise Die Bindungen der Takfiristen an die Diaspora in Europa finden. Hier gibt es in auf SWP-Schriften und Jihadisten sind meist so stark, dass eine den letzten Jahren Anzeichen dafür, dass wichtige Quellen anklickbar. trennscharfe Unterscheidung von außen nur die Zahl seiner Gefolgsleute zunimmt. SWP-Aktuells werden intern schwer möglich ist. Dies trifft besonders für Der Aufstieg der Takfiristen ist sympto- einem Begutachtungsverfah- die Anhänger von Predigern wie Ebu Mu- matisch für einen Trend hin zu größerer ren, einem Faktencheck und hammed zu, die sich zwar nie offen zum IS doktrinärer Kompromisslosigkeit in der einem Lektorat unterzogen. bekannten, aber in ihren Gemeinden eine Jihadistenszene. Die enorme Attraktivität Weitere Informationen (ideologische wie personelle) Durchlässigkeit des IS für ausländische Kämpfer unterstrich zur Qualitätssicherung der ins jihadistische Milieu duldeten. Hinzu schon 2014: Al-Qaidas Zeit als die wich- SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. kommt, dass selbst scheinbar friedfertige tigste Jihadistentruppe weltweit war abge- swp-berlin.org/ueber-uns/ Prediger wie Abu Hamza auf die enorme laufen. Der IS zeigte sich weltanschaulich qualitaetssicherung/ Anziehungskraft des IS häufig nicht mit derart kompromisslos, dass er ab 2014 gegen einer klaren Abgrenzung reagierten, mög- so viele Feinde kämpfen musste, dass ein SWP licherweise um den Einfluss auf diejenigen Scheitern rasch abzusehen war. Das Auf- Stiftung Wissenschaft und Politik Takfiristen, die dem IS nahestanden, nicht treten der noch radikaleren Takfiristen Deutsches Institut für vollkommen zu verlieren. Diese Beobachtun- wiederum belegt, dass dieser Trend mit dem Internationale Politik und gen sprechen dafür, die Takfiristen ebenso IS noch nicht sein Ende erreicht hat. Er ist Sicherheit im Blick zu behalten wie die Jihadisten und ein Hinweis auf die wachsende Fragmentie- frühzeitig gegen die Bildung neuer Gemein- rung der jihadistischen Bewegung. Sie Ludwigkirchplatz 3–4 den und virtueller Plattformen vorzugehen. spaltet sich in immer kleinere Einheiten, 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Dies ist umso wichtiger, als die Takfiris- die trotz ähnlicher Ideologie keine gemein- Fax +49 30 880 07-100 ten in der jihadistischen Szene in den letz- samen Aktionsformen mehr finden. Das www.swp-berlin.org ten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. bedeutet, die Jihadisten könnten in den swp@swp-berlin.org Die Verfolgung durch den IS ab Sommer nächsten Jahren vermutlich weiter an 2014 und die hohen Verluste in den Jahren Durchschlagskraft verlieren, gleichzeitig ISSN 1611-6364 doi: 10.18449/2021A09 danach sowie das Verbot von takfiristischen aber auch unberechenbarer werden. Moscheevereinigungen und die Inhaftie- rung von takfiristischen Predigern und Akti- visten haben die Szene zunächst geschwächt. Jedoch gibt es einige Hinweise darauf, dass die Attraktivität takfiristischen Gedanken- guts ungebrochen ist. Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika. SWP-Aktuell 9 Januar 2021 8
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