ELITESCHULEN DES SPORTS (EDS) ALS BILDUNGSORGANISATIONEN IN EINER MODERNEN, OFFENEN ZIVILGESELLSCHAFT
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Prof. Dr. Albrecht Hummel TU Chemnitz, Professur für Sportpädagogik/ -didaktik albrecht.hummel@hsw.tu-chemnitz.de Prof. Dr. Ralf Brand Universität Potsdam, Professur für Sportpsychologie ralf.brand@uni-potsdam.de Eliteschulen des Sports (EdS) als Bildungsorganisationen in einer modernen, offenen Zivilgesellschaft - Thesen und Erwiderung - in leicht veränderter Form publiziert als: Hummel, A. & Brand, R. (2010). Eliteschulen des Sports als Bildungsorganisationen in einer modernen, offenen Zivilgesellschaft. Leistungssport, 40(1), 37-42. Chemnitz und Potsdam, 23.11.2009
Vorbemerkungen Die Eliteschulen des Sports (EdS), wie sie in unterschiedlichen Ausprägungsformen im föderal strukturierten Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland existieren, werden gegenwärtig einer grundsätzlichen fundamentalen Kritik unterzogen. Weder der sportliche Ertrag noch die schulischen Ausbildungsergebnisse würden diese Einrichtungen rechtfertigen – so lautet ein zentraler Kritikpunkt in den veröffentlichten Vorwürfen. Diese Positionen werden von einer kleinen Gruppe von Sportwissenschaftlern1 auf 2 3 wissenschaftlichen Tagungen , in einschlägigen Fachzeitschriften und öffentlichwirksam in überregionalen Zeitungen4 zum Ausdruck gebracht. Die in der (Fach-)Öffentlichkeit damit erzielten Irritationen gründen unserer Auffassung nach aus der Verknüpfung von Legitimationsdiskursen und Leitbilderörterungen, die jeweils auf unterschiedlichen Ebenen angelagert sind (Legitimation des Schulsports allgemein; Legitimation des Verhältnisses von Schulsport und Vereinssport; Legitimation des Spitzensports). Außerdem wird durch nur scheinbar methodisch ausreichend abgesicherte Evaluationsstudien der Eindruck vermittelt, dass sich die Schüler der EdS hinsichtlich ihres sportlichen Erfolgsniveaus nicht von denen anderer Schulen unterscheiden und dass Schüler, die eine EdS absolviert haben, zu einem niedrigeren Anteil ein weiterführendes Studium aufnehmen als leistungssportlich engagierte Nicht-Eliteschüler. Die Leitbild- und Legitimationsdebatten werden dabei durch einseitige paradigmatische Positionierungen in der Bildungstheorie, insbesondere durch Überhöhung des neuhumanistischen Bildungsgedankens, begleitet und durch in unseren Augen polemische Überzeichnungen des Verhältnisses von „offenen“ und „geschlossenen“ Gesellschaften, die auf nachwirkende Ost-West-Differenzen in Transformationsgesellschaften rekurrieren (alte Bundesländer vs. neue Bundesländer), verstärkt. Dies begünstigt eine unserem Eindruck nach substanziell nicht vertretbare Diskreditierung der Eliteschulen des Sports (EdS) durch unangemessene Vergleiche.5 Zur Versachlichung dieser Debatte und Überwindung einseitiger paradigmatischer Positionierungen sind die nachfolgenden Thesen und Erwiderungen gedacht.6 Wir beziehen 1 Aus Gründen der Lesbarkeit wird bei der Verwendung von Gattungsbegriffen auf eine durchgängige Differenzierung zwischen den beiden Geschlechtern verzichtet. 2 Vgl. u.a. 19. Sportwissenschaftlicher Hochschultag der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft vom 16.- 18. September 2009 in Münster (AK 4.6 „Eliteschulen des Sports als Bildungsorganisationen“) 3 Vgl. Emrich, Fröhlich, Klein und Pietsch (2007), Prohl und Emrich (2009), Weise und Prohl (2009) 4 Vgl. u.a. FAZ-Artikel „Schlechtes Zeugnis für die Eliteschulen des Sports“ (FAZ vom 24.09.09, S. 27) 5 Vgl. hierzu u.a. den in die Öffentlichkeit getragenen Briefwechsel zwischen Dr. Ulf Tippelt (DOSB) und Prof. Dr. Eike Emrich 6 Vgl. im Folgenden insbesondere Prohl und Emrich (2009); Killing, Adams und Ribbecke (2009), Prohl und Lange (2004) 1
uns insbesondere auf Positionen von Fachkollegen, wie sie in der „Zeitschrift für Evaluation“ (Jg. 6, H. 2) und in der Zeitschrift „Sportwissenschaft“ (Jg. 39, H. 3) erörtert wurden. Die Punkte der Kritik und der Auseinandersetzung lassen sich ausgehend von diesen Texten und weiteren Quellen7 in folgende Fragestellungen bündeln: 1. Ist das Streben nach hohen und höchsten sportlichen Leistungen, einschließlich des Erreichens guter Platzierungen in den Länderwertungen bei sportlichen Großereignissen („Medaillenspiegel“), in modernen, offenen (Zivil-)Gesellschaften8 legitimierbar? Stimmt es, dass in der Abkehr vom „Medaillenspiegel“ der „Reifegrad“ einer Gesellschaft ablesbar ist? 2. Lässt sich die Förderung sportlicher Begabungen strategisch planen? Worin bestehen die Möglichkeiten und Grenzen der Planbarkeit sportlicher Erfolge (an Einrichtungen wie den Eliteschulen des Sports)? 3. Wie belastbar sind die vorliegenden empirischen Befunde zum Nutzen der EdS? Treffen die Folgerungen der Verfasser dieser Studien von „zentraler“ versus „dezentraler“ Nachwuchsförderung zu? 4. Welchen theoretischen und praktischen Gewinn bringt die Ablösung des Leitbildes „mündiger Athlet“ durch die Leitidee „mündiger Ästhet“? 5. Lassen sich die Bildungspotenziale des Leitungssports auf der Basis des neuhumanistischen Bildungsbegriffs (des „Humboldtschen Bildungsideals“) tatsächlich entfalten? Erlaubt dieses idealistisch-einseitige Bildungsverständnis die Realisierung des „Dreifachauftrages“ der EdS bei besonderer Berücksichtigung der körperlichen und sportlichen Dimension von Bildung? Diese emotionsbesetzte und öffentlichkeitswirksam inszenierte Debatte gewinnt für uns nicht zuletzt deshalb an Bedeutung, weil gegenwärtig an einer Fortschreibung der Qualitätskriterien der EdS gearbeitet wird und übergreifend eine Debatte zu den Bildungspotenzialen des Sports, einschließlich des Leistungssports, sowohl durch den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) als auch durch die Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) ausgelöst wurde. 7 Vgl. Literaturverzeichnis, S. 16 8 Zum Verständnis des Begriffs ‚Zivilgesellschaft’, welches Prohl und Emrich (2009) ihrer Argumentation unterlegen: „Die Zivilgesellschaft basiert auf einem politisch mündigen Bürger, der sich in freiwilligen Vereinigungen und sozialen Bewegungen (...) unter Achtung des Grundgesetztes unabhängig von staatlichen und jenseits von parteipolitischen Institutionen im öffentlichen Raum einer Gesellschaft partizipatorisch engagiert. Dieser staatsfreie Bereich ist durch vielfältige Formen der Selbstorganisation und Selbstverwaltung gestaltet, zu denen auch Verbände und Vereine gehören. Im Unterschied zur Schule ist in der Bundesrepublik Deutschland der freiwillig organisierte Sport ein solcher staatsfreier Bereich, der sich selbst organisiert, dabei aber an der gesellschaftlichen Entwicklung teilhat und diese mit trägt“ (ebd., S. 197). Zur Kritik am Dogma der strikten Trennung von Staat und Sport vgl. Krüger (2009). Spitzensport und Förderung sportlicher Begabungen sind als „staatsfreier Bereich“ nicht zu realisieren. So ist die Bundeswehr zwischenzeitlich der Hauptsponsor des deutschen Spitzensports. 2
Wir platzieren unsere Thesen und Erwiderungen in der wissenschaftlichen Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) und gegebenenfalls in der Zeitschrift „Leistungssport“.9 Dies mag mit dem Nachteil verbunden sein, dass (aufgrund der zur Drucklegung benötigten Zeit) sich in den Köpfen Mancher, die die Diskussion um die Eliteschulen des Sports (EdS) interessiert, Gedanken und Denkfiguren bereits gefestigt haben, was uns die Argumentation erschwert. Dennoch sind wir überzeugt, dass dieses Medium zum Austragen eines akademischen Diskurses dieser Relevanz das Geeignete ist. These 1: Offene Zivilgesellschaften und Hochleistungssport sind (grundsätzlich) miteinander vereinbar. Die Polemisierungen, dass der Medaillenspiegel Gefahr liefe, „zum alleinigen Merkmal für die Leistungsfähigkeit einer (Zivil-) Gesellschaft“ genommen zu werden und dass gar die „Abkehr vom Medaillenspiegel auf den Reifegrad einer Zivilgesellschaft“ verweise sind inhaltlich und der Form nach nicht vertretbar (vgl. Weise & Prohl, 2009). Eine moderne, demokratisch verfasste, pluralistische, offene (Zivil-)Gesellschaft und deren Entwicklung ist mit den Ansprüchen, Wertorientierungen und Zielen des olympischen Spitzensports und der Entfaltung seiner Förderstrukturen sowie des damit verbundenen Strebens nach hohen und höchsten sportlichen Leistungen und Erfolgen grundsätzlich vereinbar. Dieses Streben ist gesamtgesellschaftlich, staatspolitisch und zivilgesellschaftlich legitimierbar und verknüpft mit pädagogisch-ethischen Wertorientierungen – wie sie insbesondere für das Kindes- und Jugendalter Gültigkeit besitzen – verantwortbar.10 Auf die Ebene des Individuums (des Athleten, des Schülerathleten, des Kindes, des Jugendlichen) bezogen, ist Prohl und Emrich (2009) aber natürlich zuzustimmen, dass Individuen nicht als „bloße“ Mittel für die Realisierung des gesellschaftlichen Zwecks zum Erreichen guter Platzierungen im Medaillenspiegel gesehen und instrumentalisiert werden dürfen (vgl. ebd., S. 206 f.). Die Förderung sportlicher Begabungen ist zwingend an individuelle Aufklärung, Freiwilligkeit, Mündigkeit und ein bewusstes sich Zumuten des aufwendigen, mühevollen Trainings gebunden. Das ist bei Schülern der 7. Klassen von EdS jedoch ein pädagogisch durchaus erreichbares Ziel! Aus dieser (individuellen) Perspektive ist es dann auch nachvollziehbar, wenn Medaillen als symbolische Repräsentation leistungssportlicher Erfolge nicht mehr als 9 Vgl. Emrich und Güllich (2005) sowie Emrich et al. (2008a, 2008b) 10 Vgl. hierzu z.B. die Resolutionen und Grundsatzerklärungen des DSB/DOSB und der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zum Thema ’Kinder und Leistungssport’. 3
„Zweck“, sondern als erwünschte Folge individueller Bildungsprozesse betrachtet werden. 11 Auf überindividueller gesellschaftlicher Ebene entfalten sich die Mittel-Zweck-Relationen stringenter und zumindest graduell unterschiedlich zur individuellen Ebene. Die Gesellschaft richtet Institutionen ein, schafft Bildungsorganisation als Mittel zur Realisierung gesellschaftlicher Zwecke. Diese Zwecke können durchaus im Erreichen sportlicher Höchstleistungen gesehen werden. Weise und Prohl (2009, S. 193) formulieren, „dass ein Tor von Schalke 04 so schön sein kann wie der Schlussakkord der Berliner Philharmoniker“. Die diesem Satz inhärente Toleranz hinsichtlich der Rezeption ästhetischer Gegenstände steht jedoch im Widerspruch zu der apodiktischen Formulierung, wonach im „Grad der Abkehr vom Medaillenspiegel (…) die ästhetische Reife einer Zivilgesellschaft“ abgelesen werden könne (Weise & Prohl, 2009, S. 195). Im Rahmen der (notwendigen) Legitimationsdebatten zu den Sportförderstrukturen in Deutschland sind solche Formulierungen deplatziert. Denn angeblich verfügbare Maßstäbe zum Ablesen des Reifegrades von Zivilgesellschaften sind nicht gleichzeitig Beleg ihrer Offenheit. Die ästhetische Rezeption des erfolgreichen Abschneidens einer Nation bei sportlichen Großereignissen und deren Niederschlag in Nationenwertungen berührt vermutlich mehr Menschen als jene, die ein Tor von Schalke 04 so schön finden. Tatsächlich offene Zivilgesellschaften sind offen auch für Hochleistungssport und offen für Nationenwertungen. Das Ende des „Kalten Krieges“ markiert keineswegs das Ende des Strebens nach leistungssportlichen Erfolgen auf nationalstaatlicher Ebene durch sowohl kooperierende als auch konkurrierende zivilgesellschaftlich geprägte Gesellschaftssysteme im internationalen Vergleich anlässlich sportlicher Großereignisse (Olympische Sommer- und Winterspiele, Weltmeisterschaften). Dieses Streben nach sportlichen Leistungen und Erfolgen ist nach dem Ende des „Kalten Krieges“ von seinen inhumanen Merkmalen und politischen Instrumentalisierungen weitestgehend befreit und kann im Kontext moderner, offener Zivilgesellschaften auf einer qualitativ neuen, internationalen Ebene weiterverfolgt werden. Die gesellschaftliche Bereitstellung von Ressourcen für olympische Erfolge erhält durch diese Umstände vielmehr eine historisch neue, legitimatorische Qualität! Es gibt keine Veranlassung anzunehmen, dass sich die EdS nicht mit der Entwicklung moderner, offener Zivilgesellschaften vereinbaren ließen. Wenn Weise und Prohl (2009) das Konkurrieren moderner Gesellschaftssysteme auf dem Feld des sportlichen Wettkampfs lediglich als ein „Wachhalten von Reminiszenzen“ (vgl. ebd., S. 186) beschreiben 12 und versuchen, dieses sportliche Konkurrieren durch Verweis auf ein Karl-Marx-Zitat, wonach sich alle weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen zweimal ereignen – einmal als 11 Auf differenziertere, explikative Ausführungen zur Relativität der Unterscheidung von „Zweck“ und „Folge“ wollen wir hier nicht weiter eingehen. 12 Dieses Wachhalten von Reminiszenzen wird dem Leistungssportdirektor des DOSB (Dr. Ulf Tippelt) unterstellt. 4
Tragödie und einmal als Farce – ins Lächerliche zu ziehen, dann lässt sich dies auch als ein zweifaches Unverständnis bewerten: Einmal als Ignoranz gegenüber der realen internationalen Sportentwicklung (die per se nicht von jedem gutgeheißen, so aber doch angemessen reflektiert werden muss), und zum anderen als Unverständnis gegenüber dem kontextualen Bedingungsgefüge eines Zitates von Karl Marx.13 Wir bewerten Formulierungen, wie die oben Widergegebene zum „Medaillenspiegel, als alleinigen Ausdruck des ästhetischen Reifegrades von Gesellschaften“, als eine Vermischung von Unverständnis, Polemik und subtiler Diffamierung. Zumindest dann, wenn es im weiteren Kontext um die Bewertung des Engagements, zum Beispiel von EdS-Schulleitern, Lehrern, Trainern oder Schülern geht. Es gibt keinen ernst zu nehmenden Sportwissenschaftler oder Sportpolitiker in Deutschland, der den Medaillenspiegel als alleinigen Maßstab für den Erfolg einer Sportnation betrachtet oder diesen Medaillenspiegel überhaupt als gültigen Maßstab für die Leistungsfähigkeit einer Gesamtgesellschaft bewerten würde. Wer den Grad der Abkehr vom Medaillenspiegel in Beziehung zur ästhetischen Reife von Zivilgesellschaften setzt, liefert sich der gesteigerten Wiederholung des erstgenannten (tragischen) Irrtums als Farce aus. These 2: Die Förderung sportlicher Begabung ist planbar. Sie entzieht sich nicht einer wissenschaftlich fundierten Planbarkeit. Die Planung leistungssportlicher Entwicklungsförderung bewegt sich im generellen Möglichkeitsfeld der Planbarkeit von Bildungs- und Erziehungsprozessen. Prohl und Emrich (2009) bezweifeln die Planbarkeit und Steuerungsfähigkeit der Bildung von Sporteliten: „Wenn Sportelite also als Teil der Bildungselite der Zivilgesellschaft verstanden wird, dann kann diese nicht gezielt angesteuert oder gar produziert werden“ (ebd., S. 206). Das gesellschaftliche Ziel, Eliten „produzieren“ zu wollen, verbietet sich unserer Auffassung nach von selbst. Demgegenüber ist das Schaffen von Bedingungen und Möglichkeitsfeldern zur Bildung von Sporteliten im Sinne von hochleistungsfähigen Sportlern – dem wird sich kein Sportwissenschaftler verschließen wollen – möglich und rechtfertigt den Anspruch einer „gezielten Ansteuerung“. Das Streben nach leistungsbasierten Erfolgen in Form von olympischen Medaillen sowie nach guten Platzierungen im Medaillenspiegel ist auch in Zivilgesellschaften legitim und per se nicht zu verurteilen. Insbesondere nicht durch polemische Überzeichnungen, die ein derartiges Streben in die Nähe „planwirtschaftlicher Medaillenproduktion“ rücken, wie es für 13 Auch hier verzichten wir auf die nähere Ausführung dieses Kontextes, jedoch nicht ohne darauf hinzuweisen, dass wir persönlich fern jeglichen „marxistischen“ Gedankenguts argumentieren. 5
„geschlossene“, nicht-zivile Gesellschaften kennzeichnend war. Die Planung des Erbringens von hohen und höchsten Leistungen ist ein gerechtfertigtes und wissenschaftlich fundierbares Anliegen. Derartige Planungen basieren auf der grundsätzlich gegebenen, stochastisch determinierten Planbarkeit von komplexen sportbezogenen Trainingsprozessen, die – zumindest im Kinder- und Jugendbereich – als spezifische Bildungs- und Erziehungsprozesse (Lehrprozesse, Lernprozesse, Aneignungsprozesse) zu begründen sind und auch begründet werden können. Zu berücksichtigen, und von Manchem vielleicht nicht ausreichend reflektiert, ist die im planerischen Herangehen an leistungssportliche Entwicklungen formallogisch mögliche, wiederum empirisch belegbare Differenz zwischen Leistung und Erfolg. Hervorhebenswert ist unserer Auffassung zufolge außerdem der Gedanke, dass das Herausfinden der Grenzen der Planbarkeit leistungssportlicher Entwicklungsförderung als seriöse sportwissenschaftliche Aufgabe begriffen werden sollte! Wissenschaftliches Herangehen ist unvereinbar sowohl mit planerischen Allmachts- phantasien als auch unvereinbar mit einer Negierung der Planbarkeit leistungssportlicher Entwicklungen. Planbarkeitsaspekte stellen auf Mikroebene (trainingsphysiologisch) eine biologische Trivialität dar. Sportwissenschaftlich fundiertes Trainerhandeln, gleich in welchem Kontext es geschieht, entspricht der gedanklichen Weiterführung eben dieser Trivialität. Die Verknüpfung der Bemühungen um die Hochleistungssport-Förderung mit dem Etikett „planwirtschaftlicher Medaillenproduktion“ ist polemisch und ebenso zurückzuweisen wie die inflationäre Verwendung des Produkt- und Produktionsbegriffs in nahezu allen gesellschaftlichen Sphären jenseits von Wirtschaft und Marketing. Diejenigen, die den Sport als ein „Medium für die Produktion eines außergewöhnlichen Sinns“ (Weise & Prohl, 2009, S.187) auffassen, unterscheiden sich diesbezüglich nur unwesentlich von Autoren, die in der Medaillenproduktion den Sinn der Sache sehen. „Sinnproduzenten“ und „Medaillenproduzenten“ eint ihre „Produzenten-Mentalität“. Weder Sinn noch (sportliche) Medaillen gehorchen den Gesetzen der Warenproduktion. These 3: Die bisherigen Studien zur Wirksamkeit der Eliteschulen des Sports (EdS) bedürfen der Ergänzung und Korrektur durch eine gründliche Methodenkritik. Das methodische Herangehen und die Befunde aus den bisherigen empirischen Evaluationen von EdS (hinsichtlich ihrer Wirksamkeit im Vergleich zu anderen Schulen, vgl. Emrich et al., 2007)14 erlauben gleich in mehrfacher Hinsicht nicht die Ableitung derartig 14 Fragestellungen für die Evaluierung der EdS durch Emrich et al. (2007, S. 229): 1. „Inwieweit unterscheiden sich Spitzensportler aus Eliteschulen des Sports von Spitzensportlern aus anderen 6
weitreichender Schlussfolgerungen, wie sie von Emrich et al. (2007) gezogen und verbal radikalisiert dargestellt werden.15 Gerade das Wissen der Autoren dieser Studien um die Schwierigkeit, auf diesem hochkomplexen Untersuchungsgebiet methodisch belastbare Befunde zu erheben, hätte als Ermahnung zu verstärkter methodenkritischer Reflexion und darüber hinaus zu einer methodologisch angemessenen Zurückhaltung bei der Interpretation der Befunde dienen sollen. Weder die Qualität der Stichprobe (und insbesondere die im genannten Beitrag kaum angemessen reflektierten Stichproben-Grundgesamtheits- Relationen) noch die real erhobenen Fakten rechtfertigen die weitreichenden Schlussfolgerungen und Deutungen. Schon die Gültigkeit der Stichprobe (196 ausgewertete Fragebögen) von insgesamt 611 Teilnehmern der Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen und der Olympischen Winterspiele 2006 in Turin wird von den Autoren selbst lediglich mit einer Plausibilitätsannahme in Anspruch genommen und statistisch nicht weiter untersucht. 16 Insbesondere fehlen grundlegende stichprobentheoretische Einordnungen, die für ein Arbeiten im Bereich der Talentforschung kritisch sind (vgl. Hohmann, 2002): Die Anzahl entwickelbarer Talente in der Kinder- und Jugendlichen-Population, die mit größerer Wahrscheinlichkeit, aber nicht sicher zu Medaillengewinnern werden können, ist aufgrund der rational nicht zu lösenden Rekrutierungsproblematik „naturgemäß“ größer als die Stichprobe detektierter Sport-Talente, die für eine EdS gewonnen werden können. Dieser Problematik ist auf Messebene empirisch nicht beizukommen. Jedoch sollte sie auf interpretativer Ebene, wenn es um die Bewertung der statistischen Ergebnisse geht, zu vorsichtigeren Argumentationen führen. Weiterhin stützen die von den Autoren berichteten Befragungsergebnisse der Teilnehmer der Olympischen Winterspiele (Turin 2006) die Tendenz der gezogenen Schlussfolgerung (zusammengefasst: EdS lohnen nicht) ohnehin nicht. Sie halten selbst fest, dass „es einen Zusammenhang zwischen Erfolg in Wintersportarten und dem Besuch einer Eliteschule gibt“ (Emrich et al., 2007, S. 235). Erst nachdem diese Gruppe der Wintersportler mit denen der Sommersportler vermischt wurde, resultierte der statistisch nicht signifikante ! 2- Verteilungstest. Diese Vermischung ist insofern inkonsequent, als die Autoren selbst einen wahrscheinlichen Grund dafür nennen, weshalb Wintersportler an EdS erfolgreicher sein könnten: Nämlich aufgrund der unterschiedlichen Verteilungsrelationen zwischen der Talent- Schulen hinsichtlich des sportlichen Erfolgsniveaus?“ 2. „Inwieweit unterscheiden sie sich insbesondere in der Häufigkeit errungener olympischer Medaillen?“ 3. „Inwieweit unterschieden sich Spitzensportlern von Eliteschulen des Sports von Spitzensportler aus anderen Schulen hinsichtlich der erreichten Bildungsqualifikation?“ 4. „Wie werden strukturelle Rahmenbedingungen wie Unterstützungsleistungen von Eliteschülern und Schülern anderer Schulen eingeschätzt und bewertet?“ 15 Vgl. FAZ-Interview vom 24.09.09, S. 27: „Weder sportlicher Ertrag noch schulische Ausbildung rechtfertigen Kosten“. 16 Beispielsweise fehlen selbst einfach zu realisierende Responder-/Non-Responder-Vergleiche; stattdessen wird über die (Un-)Angemessenheit statistisch artifizieller Spezialverfahren aus anderen probabilistischen Denkansätzen diskutiert. 7
Grundgesamtheit mit den für sie erreichbaren Sportinfrastrukturen und den für die EdS detektierten Sommersport-Talenten mit den der Population zur Ausübung von Sommersportarten notwendigen Sportinfrastrukturen (vgl. ebd., S. 233). Weil das Training zu Sommersportarten auch außerhalb von EdS großen Populationsanteilen unter guten Bedingungen möglich ist, schlägt die oben schon erwähnte Schwierigkeit durch, dass die Anzahl tatsächlicher (unentdeckter, weil z.B. spätentwickelnder) Talente in der Population notwendiger Weise größer als in vorselektierten Schulstichproben ist. Auch dies ist auf Messebene empirisch nicht kontrollierbar, hätte aber im (argumentativen) Schluss auf die Population zur Generalisierung der Erkenntnisse gewürdigt werden müssen (in dem genannten Beitrag unterbleibt es). Jedenfalls entschließen sich Emrich et al. (2007) zur Vermischung der Befragungsergebnisse von Sommer- und Wintersportlern. Sie stellen vor dem Hintergrund der so gebildeten Untersuchungsstichprobe dann aber immerhin noch (statistisch korrekt) fest: „Zwar zeigen sich hier tendenziell höhere Anteile an Medaillenplätzen unter Eliteschülern, doch ist dieser Verteilungsunterschied statistisch nicht überzufällig“ (ebd., S. 234). Erlauben die empirischen Ergebnisse, wenn sie denn näher unter die Lupe genommen werden, tatsächlich so weitreichende Schlussfolgerungen? Neben den bisher genannten Argumenten ist besonders irritierend, dass die Autoren der Studie konsequent in Richtung der Vermeidung eines Fehlers erster Art (das Risiko, das man einzugehen bereit ist, eine Null-Hypothese fälschlich abzulehnen) argumentieren, aber keine auch nur vergleichbar begründete Strategie zum Umgang mit dem Fehler zweiter Art (das Risiko, das man einzugehen bereit ist, eine Null-Hypothese fälschlich nicht abzulehnen) reflektieren. Dieses Argument zielt unter anderem auf die an die Stichprobengröße gekoppelte geringe statistische Power der durchgeführten Untersuchung Darauf wird lediglich beiläufig in den untersuchungsvorbereitenden Überlegungen kurz eingegangen (vgl. Emrich et al., 2007, S. 232). Das Argument findet erstaunlicher Weise keinen Niederschlag mehr in den deutlich prominenteren Ergebnisformulierungen oder in den jüngst zurückliegenden Wortmeldungen in den Tages-/Wochenmedien. Angesichts all dieser methodischen Mängel, die die Kollegen zur vorsichtigen Zurückhaltung hätten ermahnen können, wird jedoch ein Argumentationsstil eingeschlagen, als ob unter den Eliteschülern nicht bloß tendenziell niedrigere Anteile an Medaillenplätzen erreicht worden wären, sondern als ob Eliteschüler generell schlechter abgeschnitten hätten. Dieses argumentative Vorgehen ist wissenschaftlich nicht haltbar und wirkt tendenziös. Legt es sogar den Verdacht nahe, dass die Untersuchungen von vornherein durch ein vorurteilsbeladenes Interesse belastet waren? Schließlich wird gar noch der Eindruck erzeugt, als ob die vorgelegte Evaluationsstudie bildungsökonomisch und sportökonomisch ausgerichtet sei. So wird auf die „überaus kostenintensive Förderstruktur“ (Emrich et al., 2007, S. 224) der EdS verwiesen und es wird 8
geschlussfolgert, dass die schulischen und sportlichen Ausbildungsergebnisse die Kosten nicht rechtfertigen. Sachlich ist jedoch festzustellen, dass diesbezüglich keine bildungs- bzw. sportökonomisch vergleichenden Analysen durchgeführt wurden. Der Verweis auf die Rechtfertigung oder Nichtrechtfertigung von Kosten im Vergleich der EdS zu anderen Schulen ist somit gegenstandslos. Ungeachtet dessen wäre es eine wissenschaftliche Frage ersten Ranges, ob zentrale Förderstrukturen (EdS) im Vergleich zu qualitativ gleichwertigen dezentralen Förderstrukturen tatsächlich „überaus kostenintensiver“ sind. Dass für die Förderung von Begabungen ein pädagogischer und finanzieller Mehraufwand betrieben werden muss, ist unbestritten. Als logisch inkonsistent erweist sich auch die vergleichende Analyse des Übergangs zu weiterführenden Bildungsabschlüssen: Die Inkonsistenz beginnt dort, wo den EdS ein niedrigerer schulischer Ausbildungsertrag im Sinne von Studierbereitschaft und Studierfähigkeit von Eliteschülern unterstellt wird; dies unter Verweis auf empirische Befunde, dass nur ein geringerer Anteil von den Eliteschülern anschließend an den Besuch der EdS ein Studium aufnimmt. Dieser Befund – sofern er tatsächlich zutrifft – ist kein Beleg für eine schlechtere Ausbildungsqualität an den EdS, sondern ist eher ein Beleg dafür, dass es für eine Weiterführung einer erfolgreichen Leistungssportkarriere nach dem Schulabschluss an einer EdS besserer Verbindungsmöglichkeiten von Studium und Spitzensport an den Hochschulen bedarf, als es die bisherigen hochschulorganisatorischen Möglichkeiten bieten. Im Rahmen der veröffentlichten Kritiken an den EdS werden zwei deutlich unterscheidbare paradigmatische Linien verfolgt: Zum einen wird versucht, durch empirische Studien die geringere Effektivität und vermeintlich verringerte Effizienz dieser zentralen Förderstrukturen im Vergleich zu dezentralen Förderstrukturen zu belegen. Ungeachtet der Qualität der dafür herangezogenen Argumente im Einzelnen, wird jedoch als zentrales Effektivitätskriterium das mehr oder weniger erfolgreiche Abschneiden bei Olympischen Sommer- und Winterspielen herangezogen.17 Zum anderen wird versucht, bei Kritisierung und Negierung gerade dieses Effektivitätskriteriums (zum Teil durch dieselben Autoren) die Kritik an den EdS durch ein geisteswissenschaftliches und bildungstheoretisches Herangehen bei Herausstellung des Leitbildes „mündiger Ästhet“ vorzunehmen (vgl. Prohl & Emrich, 2009; Weise & Prohl, 2009; differenzierter dazu in These 5). Damit geht nicht nur ein gravierender paradigmatischer Wechsel der Betrachtungsweise einher, sondern es erfolgt auch eine argumentativ erstaunliche Umbewertung der Ziel- und Funktionsstrukturen der EdS seitens ihrer Kritiker. Dieser in unseren Augen sprunghafte, nicht nachvollziehbare und von den 17 Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Erfolg und Misserfolg über den Kamm „Medaille: Ja oder Nein“ geschoren werden (vgl. These 1). 9
Autoren nicht erläuterte Paradigmenwechsel verweist auf eine Labilität und Beliebigkeit bei der Wahl der ihrer Prämissen. These 4: Der neuhumanistische Bildungsbegriff und das neuhumanistische Bildungsideal sind keine ausreichende theoretische Grundlage für die Begründung, Erklärung und Konzipierung von Prozessen der Förderung leistungssportlicher Begabungen. Um Prozesse sportlicher Begabungen als Spezialfall der Verknüpfung von allgemeiner und spezieller (schulischer) Bildung theoretisch zu fundieren, bedarf es der sachlichen Kritik und Ergänzung des neuhumanistischen Bildungsbegriffs. Das neuhumanistische Bildungsideal, wie es vor über 200 Jahren zu erarbeiten begonnen wurde (Wilhelm von Humboldt, Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel u.a.) und dessen begriffliche Fassung bietet eine wichtige, jedoch nicht ausreichend tragfähige und daher zu ergänzende Grundlage für die Begründung und Erklärung moderner Bildungsprozesse. Dabei immer zu bedenken ist, dass der Begriff ‚Bildung’, insbesondere hinsichtlich seiner Abgrenzung zu den Begriffen ‚Ausbildung’ und ‚Erziehung’, ein deutschsprachiges Solitär repräsentiert und international nicht anschlussfähig ist. Die notwendigen, gegenwartsbezogenen Ergänzungen resultieren insbesondere aus dem sogenannten „modernen, erweiterten Bildungsbegriff“.18 Das moderne, erweiterte Bildungsverständnis zeichnet sich – verkürzt dargestellt – durch drei wesentliche Merkmale aus: 1. Durch die Kompetenzorientierung und die Verknüpfung von Kompetenzbereichen mit Wirklichkeitsbezügen („Weltbezügen“); 2. durch die Beachtung unterschiedlicher Bildungsmodalitäten (verschiedener Aneignungsbedingungen und Aneignungsweisen); 3. durch die Akzeptanz verschiedener Bildungsorte (Familien, Schulen, Vereine etc.). Bildung lässt sich davon abgeleitet als ein empirisch überprüfbares „Ausgestattet sein für die Welt“ verstehen. Dieser moderne, erweiterte Bildungsbegriff erlaubt auch die Einbeziehung der physischen und sportlichen Dimension von Bildung (Nida Rümelin, 2009) und die grundsätzliche Betrachtung von Prozessen der Förderung sportlicher Begabungen als Bildungsprozesse. Es ist bezeichnend, wenn der Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB), Christoph Markschieß, anlässlich der 200-Jahrfeier der HUB eindringlich fordert, dass vermeintliche Humboldtsche Ideal nicht wie eine „Monstranz“ vor sich herzutragen und die Ideale von einst 18 Vgl. Zwölfter Kinder- und Jugendbericht 2005 (online unter http://www.bmfsfj.de/doku/kjb/data/download/kjb_060228_ak3.pdf, Zugriff am 29.09.09) 10
„plump, platt und folgenlos der Wirklichkeit von heute entgegenzusetzen“.19 Das neuhumanistische Bildungsdenken wurde von Anfang an kritisch begleitet, insbesondere durch Vertreter des Philanthropismus (vgl. Bank, 2007). Die sachlich begründete gegenwärtige Kritik am einseitigen neuhumanistischen Bildungsbegriff und Bildungsideal verweist insbesondere auf folgende Punkte: • Die „kognitive Schieflage“ (vgl. Nida Rümelin, 2009) des neuhumanistischen Bildungsideals und die damit einhergehende Vernachlässigung der physischen und sportlichen Dimension von Bildung. • Der realitätsferne, „erhabene Ton“ (vgl. Tenorth, 2007) des neuhumanistischen Bildungsideals, der den Bezug zur Bildungswirklichkeit zur Trivialität verkommen lässt und auf einem Bildungsverständnis beruht, das sich (bewusst) einer konkret inhaltlichen Bestimmbarkeit und einer empirischen Überprüfbarkeit entzieht. Ein Großteil der institutionalisierten Bildungsprozesse, einschließlich der schulischen Bildung, wird damit zu profanen „Ausbildungsprozessen“ degradiert. • Die Marginalisierung bzw. Ausklammerung von Leistungsdispositionen und leistungs- relevanten Kompetenzen aus dem neuhumanistischen Bildungsverständnis und einhergehend mit dem damit verknüpften Persönlichkeitsbild, welches wichtige Eigenschaften wie Mündigkeit, Selbstbestimmungsfähigkeit, Kritik- und Urteilsfähigkeit in den Mittelpunkt rückt, führt zu einer Vernachlässigung von Leistungsdispositionen, leistungsrelevanten Kompetenzen und realem, anforderungsbezogenem Handeln-Können. Die im neuhumanistischen Bildungsdenken so hochgeschätzte „eigentliche“ „höhere“ Bildung des Menschen findet insofern entkoppelt von der realen Leistungserbringung statt. Das Erbringen von Leistungen, einschließlich hoher und höchster sportlicher Leistungen, wird damit zur bloßen „Folge“ (vgl. Prohl & Emrich, 2009) von primär angestrebter Mündigkeit. Die Leistungserbringung im Sport wird damit zur Nebensache erklärt. Bezogen auf das hinterlegte Persönlichkeitsbild gehören die Leistungseigenschaften des Menschen somit nicht mehr zum Kernbereich von Persönlichkeit. • Die aus dem neuhumanistischen Bildungsdenken resultierende Schieflage verhält sich gewissermaßen spiegelverkehrt zu einer anderen, häufig unterstellten Schieflage, die sich in der Karikatur des unmündigen, kritiklosen, fremdbestimmten, seine Leistung nur mechanisch abrufenden Athleten äußert. Dieses Athletenbild ist ebenso abzulehnen wie das des „kritikfreudigen Nichtskönners“, der sich durch „mündige Inkompetenz“ auszeichnet. 19 Vgl. SZ vom 13.10.2009, S. 13 11
• Das neuhumanistisch geprägte Bildungsverständnis und Bildungsideal mit seiner Leistungsdistanziertheit und kognitiven Schieflage sieht den Menschen grundsätzlich nicht als biopsychosoziale Einheit. Die darauf basierten Bildungsprozesse und hinterlegten Menschenbilder werden weitestgehend „abiotisch“ konzipiert. Wenn beispielsweise biotische Aspekte berücksichtigt werden (z.B. im Rahmen der Fitnessförderung im Schulsport), so erfolgt der Vorwurf einer „biopolitischen“ Legitimation derartiger schulsportlicher Bildungsprozesse – eine „biopolitische“ Begründung, die im Kontrast zur „bildungspolitischen“ Begründung gesehen und bewertet wird (vgl. Schierz, 2009). These 5: Die Kennzeichnung „mündiger Ästhet“ ist nicht leitbildfähig. Diese begriffliche Fassung stellt einen Rückschritt gegenüber dem Leitbild des „mündigen Athleten“ dar. Der „mündige Athlet“ ist immer auch ein „mündiger Könner“. Der freudig faire Wettkämpfer wird von Prohl und Emrich (2009) „in der rhetorischen Figur mündiger Ästhet auf den Begriff gebracht“ (ebd., S. 201). Die rhetorische Figur „mündiger Ästhet“ wird als geeignet angesehen, „die Leitidee der Sportelite einer Zivilgesellschaft zu repräsentieren“ (ebd., S. 202). Ohne Not und ohne nachvollziehbare Begründung wird der leitbildfähige Begriff „mündiger Athlet“ aufgegeben – ein Begriff, der bei Sportlern, Trainern, Übungsleitern und Sportlehrern Verständnis und Zustimmung gefunden hat. Die mangelnde Leitbildfähigkeit des „mündigen Ästheten“ resultiert unseres Erachtens, und hier nur auf das Gröbste zusammengefasst, aus unterschiedlichen inhaltlichen und begrifflichen Reduktionen, Schieflagen und Einseitigkeiten: • Erstens, einer gewissen „kognitive Schieflage“ (kognitiver Reduktionismus). • Zweitens, der Marginalisierung von Leistungsdispositionen (Leistungsreduktionismus), Kompetenzen und realem Handeln-Können im Mensch- und Persönlichkeitsbild. • Drittens, der Vernachlässigung der objektiv gegebenen biotischen Mitdetermination aller Aneignungsvorgänge, einschließlich der adaptogenen Aneignung (biotischer Reduktionismus), und • Viertens, der Vernachlässigung und Trivialisierung der leistungssportlichen Trainings- und Wettkampfrealität als Bildungspotenzial (Realitätsreduktionismus). In einem praktisch und theoretisch belastbaren Leitbild des gebildeten Athleten muss die Balance von Mündigkeit und Kompetenz zum Ausdruck kommen, wie sie durch praktische 12
Beanspruchung der Wechselbeziehungen von sportlicher Allgemeinbildung und leistungs- sportlicher Spezialbildung an den EdS durchaus erreicht werden kann. Insbesondere unter einer pädagogischen Perspektive wird der „mündige Ästhet“ als Leitbild einer zivilgesellschaftlichen Sportelite von Prohl und Emrich (2009) herausgestellt: „In diesem pädagogischen Sinne scheint es zum mündigen Ästheten als Orientierung der Sportelite einer Zivilgesellschaft gegenwärtig keine verantwortbare Alternative zu geben“ (ebd., S. 208). Die alternativlose (!) Herausstellung des Leitbildes „mündiger Ästhet“ durch Prohl und Emrich (2009) ist unseres Erachtens nur nachvollziehbar und verständlich in Verbindung mit den obengenannten Reduktionen. Die Normativität der Leitbilddiskurse korreliert mit der Normativität von Prinzipiendiskursen. Diese ohnehin schwierige Debatte wird erschwert durch eine eigenwillige Reduktion des Pädagogikverständnisses von Prohl (2006), wonach sich die Pädagogik auf Sinn- und Bedeutungsfragen zu konzentrieren habe und nicht auf reale pädagogische Prozesse. Die Separierung der „Wozu-Fragen“ von den „Was-Fragen“ und den „Wie-Fragen“ markiert ein unserer Auffassung nach problematisches methodologisches Defizit im Verständnis der Sportpädagogik bei Prohl (vgl. Prohl, 2006). Denn durch diese Separierung 20 wissenschaftlicher Teildisziplinen wird der Gesamtzusammenhang von Zielen, Inhalten, Methoden und Organisationsformen realer Prozesse gestört. Die Formulierung von dementsprechend angesiedelten pädagogischen Prinzipien für die EdS löst beispielsweise nicht das Problem einer prinzipiengeleiteten Transformation des Kulturguts „Leistungssport“ in ein Bildungsgut „Leistungssport“ für die EdS. These 6: Die Förderung sportlicher Begabungen an schulischen Bildungseinrichtungen erfordert die Realisierung eines (bildungsrelevanten) Dreifachauftrages. Die Eliteschulen des Sports (EdS) bieten das Möglichkeitsfeld für eine Realisierung dieses Dreifachauftrages. Basierend auf dem modernen, erweiterten Bildungsverständnis21 ist die Fortschreibung des theoretischen Modells vom sogenannten „Doppelauftrag“ des Schulsports an den staatlichen Regelschulen hin zum sogenannten „Dreifachauftrag“ an den EdS eine durchaus plausible, bildungs- und sportpolitisch stringente und insgesamt logisch-konsequente Entwicklung (vgl. Prohl & Emrich, 2009). Der traditionelle „Doppelauftrag“ des Schulsports bezieht sich auf die ausbalancierte Verknüpfung von Beiträgen des Schulsports zur allgemeinen 20 Pädagogik: Wozu-Fragen, Didaktik: Was-Fragen, Methodik: Wie-Fragen 21 Vgl. Zwölfter Kinder- und Jugendbericht 2005 (online unter http://www.bmfsfj.de/doku/kjb/data/download/kjb_060228_ak3.pdf, Zugriff am 29.09.09) sowie Nida-Rümelin (2009) 13
Entwicklungsförderung von Kindern und Jugendlichen mit den fachspezifischen Beiträgen des Sportunterrichts, zur Ermöglichung einer selbstbestimmten Teilhabe an der gesellschaftlichen Sportkultur. Der den EdS zugewiesene „Dreifachauftrag“ geht darüber hinaus: Neben den Beiträgen zur allgemeinen Entwicklungsförderung und einem Beitrag zur Allgemeinbildung im Kontext von Bewegung und Sport sowie im Rahmen des weiteren allgemeinbildenden Fächerkanons, äußert sich der dritte Auftrag in einer damit verwobenen, speziellen sportlichen Bildung bei Orientierung an ausgewählten olympischen Sportarten. Dafür muss das Kulturgut „Spitzensport“, wie es gesellschaftlich in realen (olympischen) Sportarten existiert, für den spezialbildenden, sportartbezogenen Sportunterricht als spezielles schulisches Bildungsgut aufbereitet und programmatisch in „Schulinterne Lehrpläne“ (SILP) fixiert werden. Prohl und Emrich (2009) verweisen diesbezüglich auf einen Text des DSB (seit 2006 DOSB) aus dem Jahr 2003 zu den Qualitätskriterien der EdS (DSB, 2003). Sie heben den darin verwendeten Begriff „Bildungsinhalt Leistungssport“ hervor und unterziehen diesen einer kritischen Analyse und Bewertung: „Aussagen darüber, welche pädagogische Bedeutung mit den Zielstellungen sportliche bzw. bildungsbezogene Erfolgsperspektive oder Bildungsinhalt Leistungssport verbunden werden, sind dem Konzeptpapier jedoch nicht zu entnehmen“ (Prohl & Emrich, 2009, S.197). In der Tat wird der (wichtige) Begriff „Bildungsinhalt Leistungssport“ in den einschlägigen DSB/DOSB-Konzeptpapieren nicht bildungstheoretisch, schulpädagogisch oder allgemeindidaktisch reflektiert. Allein dadurch, dass der Leistungssport in eine Bildungsorganisation (hier EdS) „hereingeholt“ wird, ist Leistungssport noch kein Bildungsinhalt, noch kein Lehrplaninhalt, noch kein prozessierender schulischer Unterrichtsinhalt. Zum Bildungsinhalt muss das Kulturgut Leistungssport – wie er real auf gesellschaftlicher Ebene existiert – erst „gemacht“, erst aufbereitet werden! Eine platte Abbilddidaktik hilft hier nicht weiter. Die Entwicklung des schulischen Lernbereiches Leistungssport an den EdS ist zwingend an das Vollbringen entsprechender Transformationsleistungen gebunden. Der Transformationsprozess wird dadurch erschwert, dass die Kategorie „Inhalt“ im Rahmen der Trainingswissenschaft (hier „Trainingsinhalt“) unzureichend theoretisch ausgearbeitet ist. Dieser Aufbereitungsprozess, der auch als Spezialfall einer „didaktischen Abbreviatur“ bezeichnet werden kann, berührt die „Was-Fragen“ des leistungspraktischen Unterrichtens an der EdS. Die Beantwortung dieser „Was-Fragen“ wird nicht gelöst, wenn man bei der Formulierung pädagogischer Prinzipien auf der „Wozu-Ebene“ verharrt und lediglich Sinn- und Bedeutungsfragen erörtert. Für die Realisierung der sportlichen Spezialbildung auf der Grundlage der „Schulinternen Lehrpläne“ (SILP) sind im besonderen Maße doppelt qualifizierte „Lehrertrainer“ geeignet, deren Professionalisierung in der Ausprägung als besondere Fachlehrergruppe mit speziellem Bildungsauftrag zur Geltung kommt. 14
Spitzensport als schulrelevantes Kultur- und Bildungsgut zur Förderung sportlicher Begabungen an entsprechenden EdS markiert eine schulgeschichtlich und schulpolitisch neue Qualität. Die volle Entfaltung der Interdependenzen zwischen den drei Aufträgen des „Dreifachauftrages“ ist ein komplexer und langwieriger Prozess. Dieser unterstützungswürdige, aufgrund seiner Eigenkomplexität ohnehin schwierig zu steuernde Prozess, sollte nicht durch polemisch überzeichnete und möglicherweise vorurteilsbeladene Kritik noch zusätzlich belastet werden. Die Hoffnung auf Realisierung des Dreifachauftrages wird von Prohl und Emrich (2009) grundsätzlich in Frage gestellt: „Es gibt sehr gute Gründe, die Realisierbarkeit dieser Hoffnungen unter den Bedingungen des modernen Spitzensports nachdrücklich in Zweifel zu ziehen“ (ebd., S. 208). Den Funktionsträgern der EdS (Schulleitungen) wird unterstellt, dass sie den „Dreifachauftrag“ nicht als solchen „erkannt“ oder ihn nicht akzeptiert hätten (vgl. Prohl & Emrich, 2009, S. 206). Darüber hinaus meint man feststellen zu können, dass bislang noch nicht einmal der „Doppelauftrag“ der Regelschule in befriedigendem Maße erfüllt worden sei. Wie solle man dann den „Dreifachauftrag“ der EdS erfüllen können? Es gibt aber auch viele gute Gründe, die darauf verweisen, dass sowohl der „Doppelauftrag“ an den Regelschulen als auch der „Dreifachauftrag“ an EdS erfüllbar ist. Das setzt jedoch voraus, dass gesellschaftspolitische, sport- und schulpolitische Ausgangspositionen eingenommen werden und von bildungstheoretischen Prämissen ausgegangen wird, die eine Erfüllbarkeit erlauben. Nur wer dies nicht bedenkt und trotzdem „Aufträge“ erteilt, die weder individuell noch strukturell erfüllbar sind, handelt der Sache des Sports gegenüber verantwortungslos und zynisch. Wir hoffen mit den präsentierten Thesen und Widerreden zu einer versachlichten Diskussion beigetragen zu haben. Die an manchen Stellen gewählte Schärfe in der sprachlichen Darstellung erscheint uns gerade auch in der akademischen Kontroverse rhetorisch angemessen. Mit Spannung sehen wir etwaigen Reaktionen entgegen. 15
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