Resilienz - oder: Die Zukunft wird ungemütlich - Ein legendäres Streitgespräch großer (Vor-)Denker 1 - BBSR

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Heft 4.2013                                                                                                                279

Resilienz – oder: Die Zukunft wird ungemütlich
Ein legendäres Streitgespräch großer (Vor-)Denker…1

Ein kühler, wolkenverhangener Tag im Mai 2013. Eingeladen hat das Bundesinstitut für
Bau-, Stadt- und Raumforschung einen illustren Kreis namhafter Experten, um in einer locke-
ren Versuchsanordnung das Thema „Resilienz“ zu diskutieren. Das experimentelle Werkstatt-
gespräch steht unter dem suggestiven Titel „Die Zukunft wird ungemütlich – können wir uns
Nachhaltigkeit noch leisten oder brauchen wir harte Resilienzkonzepte?“ Man trifft sich im
zwar repräsentativen, doch wenig behaglichen Sitzungssaal des sogenannten Schlosses in der
Bonner Deichmanns Aue. Namentlich sind sich die anwesenden Diskutanten wohlbekannt,
doch in dieser Konstellation persönlich zusammengekommen waren sie bislang nicht – und
werden es wohl nie wieder. Zu unterschiedlich sind sie in ihrer fachlichen Ausrichtung, ihrem
beruflichem und intellektuellen Selbstverständnis sowie in ihrer raum-zeitlichen Verortung,
als dass dieses Experiment wiederholbar wäre oder neue Erkenntnisse zu Tage fördern könnte.
Bemerkenswert ist, dass einige der Diskutanten es vermeiden, die Begriffe „Nachhaltigkeit“
und „Resilienz“ in den Mund zu nehmen. Gleichwohl zeigen sich die Beteiligten interessiert
und aufgeräumt – und prospektiv zufrieden mit dem ad hoc Verständigungsversuch über die
disziplinären Grenzen hinweg. Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge dieses Gesprächs.

Peter Jakubowski:                                was politisch irgendwie wünschbar sein
Moderiert und sitzt, in Anzug und Krawatte,      könnte. Es hat Eingang in Sonntagspredig-
am Kopfende des Konferenztisches. Er wirkt       ten und Haushaltsführung, in Wirtschafts-
ein bisschen nervös, weil einer der big na-      und Finanzpolitik gefunden. Doch wenn
mes sich noch grummelnd mit den Gegeben-         der Begriff nun in so vielen Kontexten
heiten vertraut macht, während zwei andere       beansprucht wird, dann ist es kein Wunder,
bereits insistierend auf ihre geplanten Abrei-   dass er mehr zur Verwirrung als zur Klärung
setermine aufmerksam machen. Guckt auf           von Sachverhalten beiträgt. Nachhaltigkeit
die Uhr und räuspert sich.                       scheint mithin Notwendigkeit, Bedürfnis
                                                 und Mythos in einem zu sein. Und weil
Dennis Meadows, Koautor der 1972 erschie-        Neues immer Neues gebiert, entzieht
nenen Studie „Grenzen des Wachstums“,            sich Nachhaltigkeit offenbar jedem festen
hat seine Ideen mit der jüngst veröffent-        Zugriff. Sie gleicht letztlich dem Hasen auf
lichten Studie „2052“ weiter vorangetrieben.     der Flucht, der im Zickzack über die Felder
Er ist davon überzeugt, dass der Overshoot,      hoppelt. Man glaubt ihn zu packen – schon
der aus der Überlastung des Planeten             ist er weg. Ändern wir deshalb unser Ziel,
entstehende Krisenzusammenhang, nicht            orientieren uns am nächsten Leitbild?
mehr abwendbar ist. Und deshalb plädiert         Nachdem wir lange Zeit der Nachhaltigkeit
er für einen harten Perspektivwechsel: weg       auf der Spur waren – jagen wir nun die
von der Politik der Nachhaltigkeit hin zu        Resilienz? Eine Art Krisenbewältigung im
einer Politik der Resilienz oder der Krisen-     doppelten Sinne?
festigkeit. Meine Herren, hat die Nachhal-
tigkeit ausgedient? Hat sie uns auf einen        Joseph Schumpeter:
allzu naiven Entwicklungspfad gelockt?
                                                 Der große Nationalökonom ist nicht mehr
                                                 so vital, wie man es sich wünschte. Als
Robert Kaltenbrunner:                            Überraschungsgast, mit dem niemand              (1)
                                                                                                 …, das leider nie stattgefunden
Würde ebenfalls gerne moderieren. Setzt sich     gerechnet hat noch rechnen durfte, fühlt er     hat. Vielmehr handelt es sich
ostentativ gegenüber, und trägt – ebenso         sich als erster angesprochen. Mit erhobenem     hier um ein fiktives Round-Tab-
                                                                                                 le-Gespräch oder, genauer ge-
ostentativ – Jeans und Hemd. Hat eine ganze      Zeigefinger und leicht zittriger Stimme, aber   sagt, um eine Textcollage auf
Sammlung an Stichwortzetteln mitgebracht.        großer Autorität.                               der Basis unterschiedlicher
                                                                                                 Quellen, die im Folgenden ein-
Man wird kaum leugnen können, dass               Wir müssen uns doch folgende Fragen be-         zeln ausgewiesen werden. Bei
                                                                                                 den kursiv gedruckten Passa-
Nachhaltigkeit längst zu einem „Gummi-           antworten: Geht nun diese ganze Entwick-        gen (Regieanweisungen, Rede-
Wort“ geworden ist, welches jeder gerne für      lung in ungebrochener Kontinuität vor sich,     beiträge usw.) hingegen han-
                                                                                                 delt es sich um Fiktionen (ver-
sich, seine Anliegen und Projekte rekla-         gleicht sie der allmählichen, organischen       fasst von Robert Kaltenbrunner
miert. Es steht mittlerweile für fast alles,     Entfaltung eines Baumes in Stamm und            und Peter Jakubowski).
Resilienz – oder: Die Zukunft wird ungemütlich
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                                   Krone? Die Erfahrung verneint diese Frage.           Ob aus der Krise Katastrophe oder Komple-
                                   Es ist eine Tatsache, daß diese Hauptbe-             xität erwächst, aus der kaputten Kindheit
                                   wegung der Volkswirtschaft nicht stetig              große Leistung oder großes Verbrechen
                                   und ungestört verläuft. Gegenbewegungen,             folgt, ist nicht immer vorhersehbar. Aber
                                   Rückschläge, Vorfälle der verschiedensten            auf lange Sicht, im evolutionären Maßstab,
                                   Art treten auf, welche diesen Zug der Ent-           ist die Wahrscheinlichkeit des Komple-
                                   wicklung hemmen, Zusammenbrüche des                  xitätsgewinns größer. Aus Millionen von
                                   volkswirtschaftlichen Wertsystems, welche           ‚Spielen’ selektiert die Geschichte immer
                                   eine solche Entfaltung stören.2                      wieder einen kleinen, aber entscheidenden
                                                                                        Strukturvorteil. Dahinter steckt ein weite-
                                   Matthias Horx:                                       res, tiefes Geheimnis der Komplexität: das
                                                                                        Wunder der Emergenz.5
                                   Als namhafter Zukunftsforscher standesge-
                                   mäß im edlen Zwirn; eloquent und selbst-
                                   bewusst, mit einem leicht sibyllinischen            Joseph Schumpeter:
                                   Lächeln.                                            Wird etwas ungeduldig.
                                   „Seit der Vertreibung des Menschen aus              Diese Krisen, wie Sie sie nennen, haben
                                    dem Paradies stellt die Krise und nicht            beträchtliche Auswirkungen. Wäre […] die
                                    die Routine den Normalfall menschlichen            Sache so, daß nachdem ein solcher Rück-
                                    Lebens dar“, sagt der Soziologe Bruno              schlag überwunden ist, die frühere Ent-
                                    Hildenbrand. Der Begriff „Krise“ ist in            wicklung wieder an dem Punkte einsetzt,
                                    unserer Wahrnehmung mit einer natürli-             an dem sie vor [der Krise, Anm. d. Red.]
                                    chen Stressreaktion verbunden. Wenn sich           angelangt war, dann wäre die prinzipiel-
                                    Dinge in unkontrollierbarer Weise verän-           le Bedeutung nicht so groß. […] [Krisen]
                                    dern, schütten unsere inneren Alarmsys-            hemmen die Entwicklung nicht bloß, sie
                                    teme Substanzen aus, die uns kampf- oder           machen dieser [Vorkrisen-]Entwicklung
                                    fluchtbereit machen. Aus der Sicht der             ein Ende. Eine Menge von Werten wird
                                    Komplexitätstheorie bedeutet „Krise“ je-           vernichtet, die Grundbedingungen und
                                    doch etwas völlig anderes als im üblichen          Voraussetzungen der Pläne der leitenden
                                    Sprachgebrauch. Krisen sind Störungen, die         Männer der Volkswirtschaft werden ver-
                                    Anreizimpulse in Richtung höherer Kom-             ändert. Die Volkswirtschaft bedarf einer
                                    plexität setzen. Die „Krise Europas“ zum           Rallierung, bevor es wieder vorwärts gehen
                                    Beispiel ist ein Hinweis darauf, dass etwas        kann, ihr Wertsystem einer Reorganisation.
                                    am europäischen Integrationsprozess nicht          Und die Entwicklung, die wieder einsetzt,
                                    stimmt. Man kann Europa entweder weiter            ist eine neue, nicht einfach die Fortsetzung
                                    und wahrhaft integrieren oder es dekons-           der alten: Wohl lehrt die Erfahrung, daß sie
                                    truieren. Dem Prinzip der Evolution, auch          sich im großen und ganzen in ähnlicher
                                    der sozialen Evolution, ist es letztlich „egal“,   Richtung bewegen wird, wie die frühere,
                                    welche Lösung sich durchsetzt (Dekon-              aber die Kontinuität des Planes ist unter-
                                    struktion heißt immer auch: neues Spiel,           brochen.6
                                    mögliche neue Komplexität).3
(2)
Schumpeter,         Josef, 2006    Das Prinzip der „Komplexitätsdissonanz“             Robert Kaltenbrunner:
(1912): Theorie wirtschaftlicher   („complexity mismatch“) findet sich in der          Können wir einer unsicheren Zukunft mit
Entwicklung. Nachdruck der 1.
Auflage von 1912, herausgege-      Logik aller ernsthaften Krisen – politischen        Resilienzkonzepten besser begegnen? Oder,
ben und ergänzt um eine Ein-       wie sozialen, persönlichen wie technischen.         negativ formuliert: Schieben wir dem Un-
führung von J. Röpke und O.
Stiller. Berlin, S. 414.           Das „Gesetz der erforderlichen Variabili-           verständlichen und Bedrohlichen nur eine
                                   tät“ („Law of Requisite Variety“; der Begriff       eigene Logik unter, sodass es uns verständ-
(3)
Horx, Matthias, 2011: Das Me-      stammt von John Casti) besagt, dass das             licher wird?
gatrend Prinzip. Wie die Welt      regelnde System mindestens so komplex
von morgen entsteht. Mün-
chen, S. 305f.                     sein muss wie das „geregelte“. Dies erklärt         Peter Jakubowski:
                                   zum Beispiel den Verlauf des Atomunglücks           Greift ein, um die Diskussion sicherheits­
(4)
Ebd., S. 306f.                     von Fukushima. Nicht nur die technischen            halber in eine andere Richtung zu lenken.
(5)                                Systeme waren unterkomplex und versag-
Ebd., S. 307.                      ten angesichts von Erdbeben und Tsunami,            Wo liegt aber nun die Bedeutung für die
(6)                                auch die Managementsysteme erwiesen                 Wissenschaft und die wissenschaftliche
Schumpeter, a.a.O., S. 415f.       sich als überfordert.4                              Politikberatung? Sollte die erkennbare
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 4.2013                                                                                                                 281

Renaissance des Krisendenkens sich nie-          klischees hereinfallen. Vernetzte Systeme
derschlagen in Konzepten und Leitbildern?        können sogar besonders instabil sein. Da in
Nehmen Sie die neuerliche Jahrhundertflut,       ihnen oftmals simple Verstärkungsmuster
die Deutschland in diesem Juni heimge-           herrschen, kann sich das System hoch-
sucht hat!                                       schaukeln, bis es einen kritischen Bereich
                                                 erreicht – und sich selbst zerstört. Börsen-
Joseph Schumpeter:                               crashs und Wirtschaftskrisen entstehen
                                                 durch unkonditional vernetzte, sprich
Ich richte meinen Blick hier nur auf die
                                                 opportunistische Marktteilnehmer. Firmen
Wirtschaft. Wäre dieses Abspringen der
                                                 schlittern in den Ruin, wenn alle Führungs-
Volkswirtschaft von jener Linie der Ent-
                                                 kräfte die gleiche Mentalität haben.10 In
wicklung […] selten, so läge darin kaum
                                                 diesem Zusammenhang will ich ein weiteres
ein Problem […]. Aber die „Gegenbewe-
                                                 Stichwort in die Diskussion werfen: Emer-
gungen“ und „Rückschläge“, von denen wir
                                                 gente Systeme. Sie kennen keinen zentralen
hier sprechen, sind häufig, so häufig, daß
                                                 Kontrolleur. Sie lassen sich auch im eigent-
sich […] eine notwendige Periodizität der
                                                 lichen Sinne nicht „steuern“ oder „kontrol­
Zusammenbrüche aufdrängt. Das macht es,
                                                 lieren“. Sie können sich, und das unter-
wenn nicht prinzipiell, so doch praktisch
                                                 scheidet sie eindeutig von mechanischen
unmöglich, von dieser Klasse von Erschei-
                                                 Prozessen, spontan reorganisieren. Das
nungen zu abstrahieren.7
                                                 heißt nicht, dass Komplexität prekär, flüch-
                                                 tig und unaufhörlich vom Zerfall bedroht
Peter Sloterdijk:
                                                 ist – eine Art unnatürliche Pestbeule an der
Der berühmte Karlsruher Philosoph mit           „natürlichen“ Ordnung des Einfachen. Sie
dem markanten Seehundbart gibt seine             ist vielmehr eine im Verlauf der Evolution
abwartende Haltung auf. So leise wie ein-        herausgebildete Robustheit gegenüber
drücklich erhebt er das Wort; absolute Stille    Veränderungen. Eine andere Beschreibung
im Raum.                                         dafür lautet: Resilienz.11
Es gehört zur Signatur der Humanitas, daß
Menschen vor Probleme gestellt werden,          Robert Kaltenbrunner:
die für Menschen zu schwer sind, ohne           Aber Herr Schumpeter, natürlich geht im
daß sie sich vornehmen können, sie ihrer        Alltag wie im Wirtschaftsleben nicht immer
Schwere wegen unangefaßt zu lassen.8 Mo-        alles glatt, es gibt Fehlschläge und Niederla-
derne Verhältnisse zeichnen sich dadurch        gen. Welchen Schluss für die wissenschaftli-
aus, daß die für sich selbst kompetenten        che Analyse ziehen Sie daraus?
Einzelnen in steigendem Maß die operative
Kompetenz der anderen für ihre Einwirkun-       Joseph Schumpeter:
gen auf sich selbst in Anspruch nehmen.9
                                                Ganz klar. Ebensowenig wie die Unter-
                                                nehmer das Stadium des Rückschlags
Robert Kaltenbrunner:                           überspringen und ihre Pläne in die nächste
Eifrig.                                         Teilentwicklung hinüberretten können,
Oder nehmen müssen! Freilich macht es           ebenso wenig kann die Theorie das tun,
einen Unterschied, ob wir vor dem Unver-        ohne die Fühlung mit den Tatsachen völlig
                                                zu verlieren.12                                  (7)
standenen der Natur stehen oder vor den                                                          Ebd., S. 415.
übergroßen menschlichen Werken, die                                                              (8)
wohl Resultat rationaler Überlegungen sind,     Peter Jakubowski:                                Sloterdijk, Peter, 1999: Regeln
                                                                                                 für den Menschenpark. Suhr-
in denen aber jederzeit Vernunft in Unver-      Nun stellen ja gerade die Tatsachen – oder       kamp, Frankfurt a.M., S. 47.
nunft umschlagen kann. Damit möchte ich         die vermeintlichen Tatsachen – etwas dar,
                                                                                                 (9)
die Aufmerksamkeit erneut auf den Begriff       das in den zeitgenössischen Debatten zum         Sloterdijk, Peter, 2009: Du mußt
der Resilienz lenken…                           Klimawandel eine große Rolle spielt. Ihnen,      dein Leben ändern. Über Anth-
                                                                                                 ropotechnik. Suhrkamp, Frank-
                                                Herr Reicholf, wird nachgesagt, Sie gehör-       furt a.M., S. 590.
Matthias Horx:                                  ten zu den sogenannten „Klimaskeptikern“.
                                                                                                 (10)
Will sich die Butter nicht vom Brot nehmen      Ist das Ganze für Sie demnach eine Ge-           Horx, a.a.O., S. 309.

lassen.                                         spensterdiskussion?                              (11)
                                                                                                 Ebd., S. 308.
Wenn wir Resilienz verstehen wollen, dür-                                                        (12)
fen wir nicht auf modische Vernetzungs-                                                          Schumpeter, a.a.O., S. 416.
Resilienz – oder: Die Zukunft wird ungemütlich
282                               Ein legendäres Streitgespräch großer (Vor-)Denker…

                                  Josef H. Reicholf:                              ähnlich intensiv gewesen sein. Damals gab
                                  Der Münchner Zoologe und Evolutions­            es aber ein System der Sieger, nämlich den
                                  biologe zögert einen Moment.                    kapitalistischen „Westen“. Kurzzeitig wurde
                                                                                  sogar das „Ende der Geschichte“ ausgeru-
                                  Ich will Ihre Frage an einem kleinen Beispiel   fen, wobei ihr angeblicher Verkünder sich
                                  etwas umlenken. Je mehr geschriebene            gründlich missverstanden sieht.
                                  Geschichte vorhanden ist, desto genauer
                                  wird das Bild der Witterungsverläufe. Aus       Heute aber ist der Diskurs von schwerwie-
                                  ihnen ergibt sich alles andere als ein stabi-   genden Zweifeln über die Durchhaltbarkeit
                                  ler Zustand, der erst in unserer Zeit durch     der herrschenden Wirtschaftslogik geprägt,
                                  die menschengemachte Erwärmung des              wie wir sie seit der großen Depression der
                                  Klimas noch mehr aus dem Gleichgewicht          dreißiger Jahre nicht erlebt haben.
                                  gebracht wurde. Tatsächlich verhält es sich     Die politischen Signale auf EU-Ebene be-
                                  eher umgekehrt. Seit den 1970er Jahren,         stätigen diese neue Nachdenklichkeit. Die
                                  dem Beginn der ‚heißen Phase des Klima-         politische Ausrichtung hat sich nach einem
                                  wandels’, traten weniger Wetterextreme als      Jahrzehnt der Fokussierung auf globale
                                  früher auf.13                                   Wettbewerbsfähigkeit („Lissabon Agenda“)
                                                                                  eher auf Werte der Nachhaltigkeit verla-
                                  Matthias Horx:                                  gert. Wachstumsziele stehen nicht mehr
                                  Hat offenkundig Bedenken, dass das Thema        im Vordergrund, nicht nur weil sich Wirt-
                                  damit zu eng gefasst wird.                      schaftswachstum im europäischen Kontext
                                                                                  realistisch gesehen ohnehin in einem be-
                                  Resilienz wird in den nächsten Jahren           scheidenen Bereich bewegen wird, sondern
                                  den schönen Begriff der Nachhaltigkeit          auch weil die Aussagekraft BIP-Vermehrung
                                  ablösen. Hinter der Nachhaltigkeit steckt       für das Wohlergehen einer Nation oder Re-
                                  eine alte Harmonie-Illusion. Dass es einen      gion immer mehr in Zweifel gezogen wird.
                                  fixierbaren, dauerhaften Gleichgewichts-        Im Kommissionspapier „Europa 2020“ wird
                                  zustand geben könnte, in dem wir uns            diese Umorientierung deutlich: Wachstum
                                  mit der „Natur“ ausgleichen können. Dass        soll sich noch stärker auf Wissen und In-
                                  wir das Lineal auf seiner schmalen Kante        novation gründen, Beschäftigung wird mit
                                  aufstellen können. Doch lebendige, evoluti-     Umweltorientierung und sozialer Integra-
                                  onäre Systeme bewegen sich immer an den         tion verbunden. Erhaltungs- und Nachhal-
                                  Grenzlinien des Chaos. Auch dort können         tigkeitsziele rücken in den Vordergrund:
                                  sie robust sein – im Wandel.14                  Europe must act to avoid decline. Natürlich
                                                                                  wird das Wort growth weiterhin verwendet
                                  Peter Jakubowski:                               (smart, sustainable and inclusive growth),
                                  Das mag ja ein interessanter gedanklicher       aber es hat sich längst von seinem rationa-
                                  Ansatz sein, aber was heißt das konkret?        len Bedeutungszusammenhang gelöst und
                                  Etwa wenn wir auf die Finanzkrise in der        erscheint als magische Formel.15
                                  EU blicken? Wie kann Wirtschaftspolitik in
                                  Resilienzpolitik überführt werden?              Peter Jakubowski:
                                                                                  Hört und sieht man genauer in internati-
                                  Robert Lukesch:                                 onale Zukunftsdiskurse hinein, kann man
                                  Der österreichische Unternehmens- und           dem Begriff der Resilienz kaum entgehen.
                                  Entwicklungsberater scheint sich, zwischen      Im deutschsprachigen Raum ist die Debat-
                                  Sloterdijk und Horx sitzend, etwas unwohl       te um eine resiliente Entwicklung bisher
(13)
Reichholf, Josef H., 2011: Kli-   zu fühlen; holt nun aus zu einer grundsätz-     allenfalls in den Fachzirkeln angekommen.
mahysterie. Schriftenreihe der    lichen Bemerkung.                               Was bedeutet Resilienz? Herr Horx, können
Vontobel-Stiftung, Nr. 2010.
Zürich, S. 67.
                                                                                  Sie hier etwas Klarheit schaffen?
                                  Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise
(14)                              hat wirtschaftspolitische Grundsatzdebat-
Horx, a.a.O., S. 309.                                                             Matthias Horx:
                                  ten ausgelöst. Die Intensität der Diskurse
(15)                              um die „richtigen“ Weichenstellungen auf        Dieser sperrige Begriff Resilienz hat sich in
Lukesch, Robert; Payer, Harald;
Winkler-Rieder, Waltraud, 2010:   globaler, EU-weiter, nationaler und regi-       den letzten beiden Jahren, angetrieben von
Wie gehen Regionen mit Krisen     onaler Ebene mag in der Zeit nach dem           unseren Krisenwahrnehmungen, langsam
um? Eine explorative Studie                                                       in Richtung Management, Politik und
über die Resilienz von Regio-     Zusammenbruch der Sowjetunion und der
nen. Wien, S. 6.                  mit ihr verbündeten Regierungssysteme           Ökonomie bewegt. Heute ist er ein Kernbe-
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 4.2013                                                                                                                  283

griff der systemischen Zukunftsforschung.        sind zwei Frage zu stellen: 1) Was steht
[…] Um die wahre Bedeutung von Resili-           uns zur Verfügung, wenn dies oder jenes
enz zu verstehen, müssen wir den Begriff         nicht funktioniert oder diese oder jene
zunächst von benachbarten Begriffen wie          Verbindung unterbrochen wird? 2) Gibt es
Robustheit und Redundanz unterscheiden.          eine Möglichkeit, diesen Prozess oder jene
Redundante Systeme können Störungen              Struktur zu beschleunigen/optimieren,
von Teilsystemen durch gestaffelte Back-         ohne die Qualität und Nachhaltigkeit der
ups kompensieren. Wenn in einem Flug-            Ergebnisse zu unterminieren?18
zeug die elektronische Steuerung für das
Seitenruder ausfällt, gibt es noch einen         Peter Jakubowski:
mechanischen Seilzug. Robustheit hinge-
                                                 Letztlich stellen neue oder zusätzliche
gen bedeutet de „Härtung“ eines Systems
                                                 Entwicklungs- oder Stabilitätsrisiken alle
gegenüber äußeren Störungen. Flugzeuge
                                                 gesellschaftlichen Akteure und Gruppen
so zu panzern, dass sie beim Absturz nicht
                                                 vor neue Abwägungsentscheidungen.
kaputtgehen, macht jedoch keinen Sinn.
                                                 Immer dann, wenn über ein Risiko und
[…] Resiliente Systeme können zwar auch
                                                 mit ihm verbundene Vorsorgeinvestitionen
robust und redundant sein, aber ihr Kern
                                                 Konsens besteht, werden sich Investitions-
ist Flexibilität. Dabei geht es eben nicht nur
                                                 pfade in Richtung Defensive verschieben.
um die Wiederherstellung des ursprüngli-
                                                 Das bedeutet, es werden mehr Ressourcen
chen Zustands. Wenn ein Fußball, nachdem
                                                 aufgewendet, um denselben Output zu er-
er getreten wurde, wieder in seine ur-
                                                 stellen und ihn zu sichern. Dieser Konsens
sprüngliche runde Form zurückfindet, mag
                                                 wird umso einfacher zu erreichen sein, je
das sinnvoll sein. Was aber, wenn er auf ein
                                                 höher das Wohlstandsniveau einer Volks-
Nachbarfeld fällt, auf dem Rugby gespielt
                                                 wirtschaft ausfällt. Zugleich sollte eine auf
wird. Ein wahrhaft guter Ball lässt sich dann
                                                 Konsens basierende Resilienzpolitik immer
etwas einfallen.16
                                                 auch eine zusätzliche Linie der gesamt-
                                                 wirtschaftlichen Produktivitätssteigerung
Robert Kaltenbrunner:                            verfolgen, um das Gewicht zunehmender
Wenn ich mir dieses Begriffsverständnis vor      Defensivausgaben in Grenzen zu halten.
Augen führe, stellt sich doch unmittelbar        Schwieriger ist ein gesellschaftlicher Vorsor-
die Frage: Wie stehen diese Überlegungen         gekonsens immer dann zu erreichen, wenn
zu Resilienzkonzepten im Einklang mit un-        die Neuallokation von Ressourcen mit als
seren allgegenwärtigen Markt- und Effizi-        einschneidend empfundenen Einkom-
enzpostulaten? Das muss sich doch beißen!        mensverlusten verbunden ist oder wenn in
                                                 der betrachteten Gesellschaft extrem große
Robert Lukesch:                                  Einkommensunterschiede bestehen.
Unter Effizienz verstehen wir die Her-
vorbringung eines Produkts oder einer            Robert Kaltenbrunner:
Leistung mit dem geringst möglichen              Wenngleich Sie, Herr Reicholf, bislang nicht
Ressourceneinsatz bzw. -verbrauch, wobei         als Propagandist des Begriffs Resilienz auf-
zwei Randbedingungen erfüllt sein müs-           gefallen sind, so kann er doch von Belang
sen: die Erzielung bestmöglicher Qualität        sein für Ihre Problembeschreibung. Wie
des Produkts oder der Leistung gemäß der         also sähe Ihre Annäherung aus?
getroffenen Vereinbarungen und Regeln,
sowie Verzicht auf Externalisierung von          Josef H. Reicholf:
Kostenanteilen.17                                                                                 (16)
                                                 Es gehört zu den ökologischen Dogmen             Horx, Matthias http://www.
Die beiden Gestaltungsprinzipien: Redun-         unserer Zeit, Gleichgewichte anzustreben         horx.com/Buchempfehlungen/
                                                                                                  Lieblingsbuecher.aspx [abgeru-
danz und Effizienz, sind Antagonisten. Es        oder wiederherzustellen, wo sie „gestört“
                                                                                                  fen am 01.10.2013]
bedarf hoher Sensibilität in der Steuerung       worden sind. Die Vorstellung, alles ins
                                                                                                  (17)
der Regionalentwicklungsförderung, um            richtige Lot zu haben, ist so verführerisch      Lukesch, a.a.O., S. 52.
die Vorteile beider zu nutzen. Es geht           eingängig, dass die Folgen kaum jemals
                                                                                                  (18)
darum, die Schnittmenge zwischen bei-            bedacht werden.19                                Lukesch, a.a.O., S. 101.
den Prinzipien zu suchen. Strukturen und                                                          (19)
                                                 Doch Gleichgewicht stellt keineswegs auch
Prozesse fehlerfreundlich und so einfach                                                          Reichholf, Josef H., 2011: Kli-
                                                 die ‚beste Lösung’ dar. […] Seit der Ent-        mahysterie. Schriftenreihe der
wie möglich zu gestalten, ist ein Weg, diese
                                                 wicklung der Landwirtschaft, deren An-           Vontobel-Stiftung, Nr. 2010.
Schnittmenge zu finden. Immer jedoch                                                              Zürich, S. 52.
Resilienz – oder: Die Zukunft wird ungemütlich
284                                Ein legendäres Streitgespräch großer (Vor-)Denker…

                                    fänge bis in das Ende der letzten Eiszeit       Robert Kaltenbrunner:
                                    zurückreichen, verändern die Menschen
                                                                                    Scheint etwas den Faden verloren zu haben,
                                    die Lebensbedingungen auf der Erde. Bei
                                                                                    will aber unbedingt etwas sagen.
                                    aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen ging
                                    und geht es dabei stets um die Verstärkung      Ich wäre überfordert zu beantworten, ob es
                                    von Ungleichgewichten zugunsten von             unsere vorrangige Aufgabe ist, Resilienz in
                                    höherer Produktion. Das Streben nach            eine Evolutionstheorie einzupassen, deren
                                    Gleichgewichten bleibt eine schöne und          Triftigkeit unter Beweis zu stellen noch
                                    (derzeit) politisch korrekte Illusion. Die      nicht gelungen ist. Insgesamt hinterlässt
                                    Menschheit muss aus Ungleichgewichten           die Debatte ja nicht den Eindruck, der
                                    leben. Nachhaltige Entwicklung setzt dies       Gedanke, auf den es ankommt, sei systema-
                                    voraus. Sie meint nicht den Weg zurück in       tisch in Gänze entwickelt und entfaltet wor-
                                    ein paradiesisches Gleichgewicht „mit der       den. Deshalb die ganz platte Frage: Braucht
                                    Natur“, das nur wenigen Menschen pro            es einen Mentalitätswandel? Haben wir es
                                    Quadratkilometer ein bescheidenes Aus-          uns zu bequem gemacht in der Welt?
                                    kommen ermöglicht, sondern hinreichend
                                    stabile Ungleichgewichte als Lebensgrund-       Peter Sloterdijk:
                                    lage für große Bevölkerungen. Nachhaltige
                                                                                    Offenkundig! Deswegen wird es verwerflich,
                                    Entwicklung meint auch Veränderung,
                                                                                    die Herstellung befriedigender Verhält-
                                    Entwicklung eben, und nicht das statische
                                                                                    nisse auf den flachen Steigungswegen der
                                    Verharren auf einem erreichten Zustand.
                                                                                    bürgerlichen Weltverbesserung erreichen
                                   „Global Change“ muss es zwangsläufig
                                                                                    zu wollen. Wer diesen Weg wählt, hat sich
                                    geben, um nachhaltige Entwicklung zu
                                                                                    im Grunde schon dafür entscheiden, alles
                                    ermöglichen.20
                                                                                    beim alten zu belassen, mögen noch so vie-
                                                                                    le Verbesserungen im Detail den Anschein
                                   Peter Jakubowski:                                erwecken, die Bejabarkeit der Verhältnisse
                                   Herr Sloterdijk, die „Provokation des            sei im Zunehmen begriffen. […] Woran
                                   Menschenwesens durch das Unumgängli-             es der Welt mangelt, sind nicht Leute, die
                                   che“ – wie Sie es nennen – ist doch m.E. im      bereit sind, Fortschritte in der Ebene mitzu-
                                   Begriff der Resilienz mit angelegt. Lässt sich   machen. Was sie braucht, sind Menschen,
                                   das auf das Alltagsverhalten des Menschen        in denen der Sinn für die Senkrechte neu
                                   übertragen? Gibt es einen positiven, einen       erwacht.23
                                   gleichsam sozialpsychologischen Zugang
                                   zur Resilienz?                                   Josef H. Reicholf:
                                                                                    Verbesserungen will jeder, aber keine Ver-
                                   Peter Sloterdijk:                                änderung. Somit ist alles, was sich verän-
                                   Ja, natürlich. Suche ich meinen Arzt auf,        dert, verdächtig. In dieser Grundhaltung,
                                   begrüße ich in der Regel auch die unange-        die sich besonders in Deutschland breitge-
                                   nehmen Untersuchungen, die er mir kraft          macht hat, erfährt die Gegenwart eine aus
                                   seiner sachlichen Kompetenz angedeihen           historischer Sicht geradezu lächerlich hohe
                                   läßt; ich unterziehe mich invasiven Be-          Bedeutung.24 Wenn beispielsweise Groß-
                                   handlungen, als täte ich sie mir letztlich       städte wie Köln weiterhin mit den Rhein-
                                   selbst an. Schalte ich einen von mir bevor-      fluten leben müssen, weil flussaufwärts die
                                   zugten Sender an, akzeptiere ich nolens          nötigen Polderflächen nicht zu bekommen
                                   volens meine Überschwemmung durch das            sind, hat das sehr wenig mit Klimawandel,
                                   laufende Programm. […] Sich-Massieren-           aber sehr viel mit der Dominanz des priva-
                                   Lassen symbolisiert die Lage all derer, die      ten Egoismus in sogenannten demokrati-
                                   auf sich einwirken, indem sie anderen            schen Gesellschaften zu tun. Jahrhundert-
(20)
Ebd., S. 58.                       erlauben, auf sie einzuwirken.21 In Wahrheit     projekte, wie sie noch bis in die Anfangszeit
                                   gehört das passivitätskompetente Verhalten       des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden,
(21)
Sloterdijk 2009, a.a.O., S. 593.   zur Spielintelligenz von Menschen in einer       sind in unserer Zeit utopisch geworden,
(22)
                                   entfalteten Netzwelt, in der man keinen ei-      weil die kleinsten Einsprüche mehr zählen
Ebd., S. 594.                      genen Zug machen kann, wenn man nicht            als die Notwendigkeiten für viele Menschen
(23)                               zugleich mit sich spielen läßt.22                und die Vorsorge für die Zukunft. Die Un-
Ebd., S. 606.                                                                       fähigkeit etwa der deutschen Politiker, das
(24)                                                                                über das sattsam bekannte Parteiengezänk
Reicholf, a.a.O., S. 61.
Informationen zur Raumentwicklung
Heft 4.2013                                                                                                                  285

hinausgehende Notwendige für die Ge-            zu verkleinern. Aber dieses quasi morali-
genwart und die nahe Zukunft in Gang zu         sche Kriterium könne bizarre Forderungen
setzen, macht den Klimawandel als poli-         nach sich ziehen. Das Verführerische an
tisches Thema so attraktiv. Man kann ihn        ihm sei, dass es klare Orientierung und
in die Welt hinaustragen, ohne im eigenen       ein gutes Gewissen in einem unübersicht-
Land den Beweis antreten zu müssen, das         lich und unsicher gewordenen Gelände
als richtig und notwendig Erkannte auch         verschaffe: großer Fußabdruck schlecht −
umsetzen zu können.25                           kleiner Fußabdruck gut! Jede Entwicklung
                                                heute impliziert augenscheinlich eine
Robert Kaltenbrunner:                           Komplexitätssteigerung; gewünscht und
                                                befördert indes wird Komplexitätsredukti-
In den Medien, immer wieder überdeckt
                                                on. Wo liegen deren Grenzen?
vom politischen Tagesgeschehen, können
wir seit einiger Zeit die Epizentren eines
Phänomens verfolgen. Beispielsweise war         Peter Sloterdijk:
der Sommer 2010 ein Zeitabschnitt der           Solange es der gemäßigten Tendenz gelingt,
Extremereignisse, und gleichwohl ver-           sich als das Vernünftige darzustellen, das
mochten die Klimaforscher es nicht, die         im Begriff ist, das Wirkliche zu werden, und
Geschehnisse eindeutig auf den Klima-           daher universelle Geltung beansprucht,
wandel zurückführen. Das wird niemals           kann man den Fortschritt der Technik
mit Sicherheit möglich sein, denn generell      einigermaßen sorglos mit dem moralischen
kann kein Einzelereignis auf den globalen       und sozialen parallelisieren, vielleicht sogar
Erwärmungstrend zurückgeführt werden.           gleichsetzen. Die Bewegung nach vorwärts
Die Frage ist: Müssen wir dieses wissen-        und aufwärts ist für den üblichen Progres-
schaftliche Kunststück vollbringen, um zu       sismus eine Wanderung, die man nicht aus
wissen, wohin die Reise geht? M.E. kann         eigener Kraft in voller Länge zurückzulegen
die Antwort „Nein“ lauten, zumal es doch        braucht; sie gleicht einem Strom, von dem
schon jetzt sicher scheint, dass wir in einer   man sich tragen lassen darf.27 Mit anderen
sich rasant erwärmenden Welt häufigere          Worten, und um jetzt nicht zu pessimistisch
und stärkere Extremereignisse zu erwarten       zu klingen: Die Definition der Politik als
haben.                                          der Kunst des Möglichen hat – so meine
                                                Prämisse – ihre historische Bewährungs-
Josef H. Reicholf:                              probe grosso modo bestanden. Der deut-
                                                sche Reichskanzler Otto von Bismarck,
Hitze wie Kälte, Nässe und Überschwem-
                                                dem die Formel zu verdanken ist, war sich
mungen und all die anderen witterungsbe-
                                                vermutlich dessen nicht bewußt, daß er
dingten Abweichungen von den rechneri-
                                                eine Wendung geprägt hatte, die ihn mit
schen Normalwerten bedeuten anderes mit
                                                den Klassikern der politischen Theorie für
Blick auf die Zukunft. Sie verweisen auf die
                                                einen Moment auf eine Ebene stellt. Wovon
Notwendigkeit, nicht die Mitte als Maß für
                                                er sprach, wußte er allerdings genau, da
das Handeln anzulegen, sondern die Extre-
                                                er die Gegenposition, die Politisierung des
me. Die Menschen früherer Jahrhunderte
                                                Unmöglichen und die Umformung von
waren den Unbilden der Witterung und
                                                Tagträumen in Parteiprogramme, in allen
dem Hunger deshalb so hilflos ausgesetzt,
                                                Abschattungen von links bis rechts täglich
weil es keine entsprechenden Vorsorge-
                                                vor Augen hatte.28 Also, wir brauchen so
maßnahmen gegeben hatte.26
                                                etwas wie eine pragmatische Utopie.

Robert Kaltenbrunner:
                                                Peter Jakubowski:                                (25)
Dass angesichts der komplexen Probleme                                                           Reichholf, a.a.O., S. 99.
                                                Zum Abschluss unserer Diskussion möchte
unserer Zeit die Versuchung groß sei, sich
                                                ich Sie nun jeweils noch um einen kurzen,        (26)
auf allzu einfache Lösungsansätze zu ver-                                                        Ebd., a.a.O., S. 98.
                                                prägnanten Satz bitten, was Resilienz für
steifen: Darauf wies unlängst der Publizist
                                                den Menschen und sein Zukunftskonzept            (27)
Eduard Kaeser am Beispiel des Klimawan-                                                          Sloterdijk, 2009, a.a.O., S. 588.
                                                bedeutet.
dels hin: Zwar sei ja gewiss nichts Schlech-                                                     (28)
tes daran, seinen ökologischen Fußabdruck                                                        Ebd., 2009, a.a.O., S. 619f.
Resilienz – oder: Die Zukunft wird ungemütlich
286                           Ein legendäres Streitgespräch großer (Vor-)Denker…

                              Peter Sloterdijk:                                Matthias Horx:
                              Ergreift sofort das Wort – vermutlich, weil er   Mit souveräner, staatsmännischer Geste.
                              seinen Bahnanschluss erreichen will.
                                                                               Wir sollten endlich eingestehen, dass es vor
                              Der Mensch: Je besser er weiß, worauf er         allem die Brüche sind, die uns in Richtung
                              verzichtet, desto kaltblütiger widmet er         Zukunft bewegen. Im Kleinen wie Großen.
                              sich seiner Mission.29 Dazu habe ich noch        Erst das Nicht-mehr-Funktionierende
                              einen zwingenden Imperativ: Du musst dein        forderte uns zu komplexerem (koordinier-
                              Leben ändern!                                    terem, strategischerem, ‚intelligenterem’)
                                                                               Verhalten heraus.32
                              Josef H. Reicholf:
                              Macht den Eindruck, als habe ihn der Ver-        Das Werkstattgespräch nimmt ein recht
                              lauf der Diskussion etwas verunsichert.          abruptes Ende. Eine Windböe kippt zwei
                                                                               Fensterflügel mit vernehmlichem Getöse.
                              Es mutet sonderbar an, dass etwas so Abs-
                                                                               Schumpeter und Lukesch greifen gleichzeitig
                              traktes wie das Klima geschützt werden soll,
                                                                               nach dem letzten cup-cake; dabei wird eine
                              während das, was vor unseren Augen kon-
                                                                               noch volle Kaffeetasse umgestoßen. Verlegen
                              kret abläuft, als bedeutungslos behandelt
                                                                               lächelnd verzichtet Lukesch auf ein abschlie-
                              wird. So hatte man sich im ausgehenden
                                                                               ßendes Statement, während Sloterdijk mit
                              Mittelalter verhalten und das (Seelen)Heil
                                                                               wehendem Mantel den Raum verlässt.
                              in den Ablasszahlungen gesucht.30

                                                                               Peter Jakubowsk:
                              Joseph Schumpeter:
                                                                               Im Versuch, eine pointierte Quintessenz zu
                              Möchte sich vielleicht ein letztes Mal in
                                                                               äußern.
                              solcher Runde aktiv einbringen.
                                                                               Wir haben uns heute verständigt über das
                              Entwicklung […] gleicht nicht ohneweiters
                                                                               ökonomische, gesellschaftliche, philoso-
                              organischem Wachstum. Sie erfolgt gleich-
                                                                               phische und geographische Umfeld des
                              sam ruckweise und trägt verschiedene
                                                                               Begriffs Resilienz. Was er für die räumliche
                              Merkmale in diesen verschiedenen Auf-
                                                                               und städtische Entwicklung impliziert,
                              schwungphasen. Jeder solche Aufschwung
(29)                                                                           muss Gegenstand weiterer Bemühungen
Ebd., S. 610.
                              stirbt gleichsam hin weg, um einem neuen
                                                                               sein.
                              Platz zu machen.31 In meinem Alter, mit
(30)
Reicholf, a.a.O., S. 65.      meiner Erfahrung – glauben Sie mir, was ich
                              Ihnen mitgebe: Was allein zählt (rhetorische     Die Anwesenden nicken beifällig. Die letzte
(31)
                              Kunstpause): Wenn wir uns allzu lang sicher      Mineralwasserflasche wird zischend geöffnet.
Schumpeter, a.a.O., S. 435.

(32)                          fühlen, im Aufschwung ausruhen, dann
Horx, a.a.O., S. 307.         verspielen wir Zukunft.
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