Die Rolle der Pflege in Public Health/ Gesundheitsförderung - Versuch einer Systematisierung
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© Verlag Hans Huber Bern 2003 Pflege 2003; 16:66–74 Evangelische Fachhochschule Darmstadt Die Rolle der Pflege in Public Health/ Gesundheitsförderung – Versuch einer Systematisierung Marianne Brieskorn-Zinke Zusammenfassung Summary Die beiden Disziplinen Public Health und Pflege be- The Role of Nursing in Public Health and Health Pro- gegnen sich vorwiegend in den Arbeitsfeldern Versor- motion – Presentation of a Systematic Approach gungsgestaltung und Gesundheitsförderung. Im Zuge Public health and nursing meet mainly in the fields of neuerer Entwicklungen von Public Health in den care managing processes and health promotion. Since deutschsprachigen Ländern sind auch pflegerische An- there is a new development of Public Health in the Ger- sätze zur Gesundheitsförderung wieder bedeutungs- man speaking countries also the role of nurses in health voller geworden. Alte und neue Ansätze stehen aber education and health promotion has become more im- bisher relativ unverbunden nebeneinander. In diesem portant. But traditional fields and new conceptions of Artikel wird eine Systematisierung möglicher Arbeits- public health nursing are still unmethodical. I present felder und entsprechender Interventionsstrategien vor- a systematic approach of different fields and different genommen und zur Diskussion gestellt. strategies of health promotion in nursing which has to Hervorgehoben wird die Gesundheitsförderung in be discussed further on. der Pflege differenziert nach einem verhaltensbezoge- Health promotion in nursing is differentiated in a nen Ansatz (Kompetenzförderung auf verschiedenen behavioural approach (empowerment of patients on pflegerischen Ebenen) und einem verhältnisbezogenen different levels of nursing) and an approach which Ansatz, in welchem die Förderung sozialer Unterstüt- focuses on the conditions for health, mainly those for zung, die gemeindebezogene Gesundheitsförderung better social support, for better health in the commu- sowie Gesundheitsförderung in anderen Settings the- nity and in other settings. matisiert werden. 1. Allgemeine Einführung zu Public Health m. E. allerdings inhaltsleer ist. Das ist bei dem Begriff als Wissenschaft in Deutschland «Public Health» anders, mit ihm verbinden sich mittler- weile Konzepte, und er macht zugleich auch die Interna- Die Diskussion um Public Health – zu Deutsch öffentliche tionalisierung deutlich, die ein wesentliches Kennzeichen Gesundheit – ist seit ungefähr zehn Jahren in Deutschland dieses Fachgebietes ist. wieder aufgelebt. Der Begriff Public Health wurde aus Unabhängig von den Begriffen hat das Aufgabengebiet dem angloamerikanischen Raum übernommen und sorgt – also die Gesunderhaltung der Bevölkerung – natürlich bei den Praktikern eher für Distanz als für Identifizierung auch in Deutschland Tradition. Gedacht sei dabei an die in mit einem so wichtigen Aufgabengebiet. Allerdings wer- der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aktiven sozialisti- den wir diesen Begriff aller Voraussicht nach beibehalten schen Sozialpolitiker, wie Rudolf Virchow oder Salomon und uns an ihn gewöhnen müssen, denn die Suche nach Neuman. Ihnen ging es um die Aufhebung von Armut, Not einer deutschen Bezeichnung ist bisher unbefriedigend und Elend als Hauptquellen von Krankheiten der damali- geblieben. Mit dem ursprünglichen Begriff «Volksge- gen Zeit. Daneben entwickelte sich die Mikrobiologie, die sundheitspflege» verbinden sich in Deutschland schreck- in Verbindung mit der Epidemiologie die Abhängigkeit der liche Gedanken aus der Zeit des Nationalsozialismus, in Seuchenentstehung von der Beschaffenheit der mensch- dem Volksgesundheitspflege unter anderem auch Rassen- lichen Umgebung erforschte. Für diese Gebiete stehen hygiene beinhaltete. Stattdessen wird heute auch häufig berühmte Namen, wie Max von Pettenkofer oder auch der Begriff «Bevölkerungsgesundheit» verwendet, der Robert Koch. Und auch damals schon gab es – wie heute – den Streit zwischen den klassischen Medizinern und den eher sozialhygienischen Reformern. Alfred Grotjahn for- Manuskript erstmals eingereicht am 26.8.2002 derte vehement dazu auf, Soziale Hygiene an den Univer- Endgültige Fassung eingereicht am 1.11.2002 sitäten zu etablieren, um die Einwirkungen der gesell- 66
M. Brieskorn-Zinke Die Rolle der Pflege in Public Health/Gesundheitsförderung Pflege 2003; 16:66–74 schaftlichen Verhältnisse und des sozialen Milieus auf die wiegend mit der Reparatur von Gesundheitsschäden zu be- Wirkung von Krankheit und Gesundheit zu untersuchen fassen, häufig Schäden, die bei angemessener Gesund- (Grotjahn, 1923). Fülgraff fasst den Kern dessen, was man erhaltung vermeidbar gewesen wären. Sicher ist die Pfle- in den 20er Jahren «Soziale Medizin» nannte, in Stich- ge des einzelnen Patienten im Moment einer Erkrankung worten zusammen: «die Sozialepidemiologie der Tuber- eine dankbare Aufgabe, aber macht die alleinige Konzen- kulose, der Geschlechtskrankheiten oder Alkoholismus, tration auf diese Aufgabe Sinn? die Gewerbehygiene, die Organisation des Gesundheits- Eine zweite Begründung liegt in der internationalen wesens, die Soziale Pädiatrie und Gynäkologie, Ernäh- Professionalisierungsgeschichte der Pflege: Public health rungslehre, Wohnungshygiene oder Versicherungs- und nursing – so uneindeutig der Begriff auch sein mag (siehe Begutachtungsmedizin» (Fülgraff, 1999, S. 635). dazu Edgecombe, 2001) – ist ein Bestandteil der pflegeri- Public Health war und ist also ein relativ weites theo- schen Profession und hat in Europa in unterschiedlichen retisches und praktisches Arbeitsfeld, dessen Aufgaben Regionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten bereits ei- sich mit den Verschiebungen des Krankheitspanoramas ne lange Tradition. und mit dem Wissensstand der beteiligten Disziplinen wan- Eine dritte, sehr zentrale Begründung liegt jedoch auch delt. Die beiden Haupterkenntnisinteressen richten sich in den klaren Gemeinsamkeiten – also Schnittmengen der heute zum einen auf den Gesundheitszustand der Bevöl- beiden Disziplinen Public Health und Pflegewissenschaft kerung, zum anderen auf den Zustand des Gesundheits- (siehe dazu Schaeffer et al., 1994 und Brieskorn-Zinke, wesens. 2000). Letztlich sind es diese Gemeinsamkeiten, aus de- Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Public nen heraus auch die gesundheitspolitischen Forderungen Health hat im November 2000 folgende Definition ver- gewachsen sind, den Beitrag der Pflege und der Pflege- fasst: wissenschaft zum interdisziplinären Aufgabenbereich «Public Health ist die Wissenschaft und die Praxis der Public Health stärker als bisher zu akzentuieren. Gesundheitsförderung und der Systemgestaltung im Ge- Während die ersten beiden Thesen in sich schlüssig sundheitswesen» (der Vorstand der Deutschen Gesellschaft sind, werde ich im Folgenden die aktuelle gesundheits- für Public Health, 2001, S. 5). politische Diskussion kurz nachzeichnen. Bei aller Vielfältigkeit der Aufgabenbereiche, der Wis- senschaften, der kontroversen Standpunkte und der Pro- fessionen, die derzeit auf diesem Gebiet arbeiten, hat der 2.2 Aspekte der gesundheitspolitischen Diskussion Vorstand einen Konsens in folgenden Grundannahmen be- schrieben: Die Pflegeberufe in Europa bekommen durch internatio- – «Sozioökonomische Einflüsse sind für die Dauer und nale Erklärungen immer wieder politischen Auftrieb, sich die Qualität des Lebens bestimmend. in die Bereiche Public Health/Gesundheitsförderung ver- – Dem Ausbau der Gesundheitsförderung und der Krank- stärkt einzubringen. Das begann mit der ersten euro- heitsprävention gebührt der Vorrang vor der Behand- päischen Pflegekonferenz 1987 in Wien und fand seinen lung, Pflege und Rehabilitation. bisherigen Höhepunkt im Sommer 2000 in München auf – Rationalisierung gebührt der Vorrang vor Rationie- einer WHO-Ministerkonferenz zum Pflege- und Hebam- rung. menwesen in Europa. Die Gesundheitsminister der Mit- – Die Entwicklung von Qualitäts- und Risikomanage- gliedstaaten der europäischen Region unterzeichneten dort ment in der Versorgung bildet eine zentrale Herausfor- eine Erklärung mit folgendem Eingangstext: derung für alle Betroffenen. «Die Teilnehmer der WHO-Ministerkonferenz Pflege- – Es besteht die Notwendigkeit einer europäischen Pu- und Hebammenwesen in Europa befassen sich mit der ein- blic Health Community». zigartigen Rolle, die die sechs Millionen Pflegenden und (ebenda, S. 6ff.). Hebammen von Europa in der gesundheitlichen Entwick- lung und der Erbringung gesundheitlicher Leistungen spielen, und mit dem einzigartig wichtigen Beitrag, den sie 2. Zum Verhältnis von Public Health dazu leisten. und Pflege Wir sind der Überzeugung, dass den Pflegenden und Hebammen im Rahmen der gesellschaftlichen Bemühun- 2.1 Warum beschäftigen auch wir uns in der gen um eine Bewältigung der Public Health-Herausforde- Professionalisierung der Pflege mit Public Health? rungen unserer Zeit sowie bei der Sicherstellung einer hochwertigen, allen zugänglichen Gesundheitsversorgung Im Zuge der Professionalisierung der Pflege und der Neu- eine Schlüsselrolle zufällt, die zudem immer wichtiger etablierung von Public Health in Deutschland ist die Frage wird.» nach dem Beitrag der Pflege zu diesem interdisziplinären Arbeitsfeld wieder aufgetaucht. Das hat unterschiedliche Auch die EU sieht in den Pflegeberufen ein wichtiges Gründe. Potenzial zur Lösung der Public Health-Aufgaben in der Aus der Pflegepraxis heraus lässt sich dazu eine erste Europäischen Union. Sie hat deshalb von Experten aus These formulieren: Public Health-Gedanken sind der Pfle- allen Mitgliedstaaten ein europäisches Fortbildungspro- ge immanent. Irgendwann im Berufsleben einer jeden gramm erarbeiten lassen: «Development of a Continuous Krankenschwester oder eines jeden Krankenpflegers Professional Training Programme for Nurses in Public 67 taucht die Frage auf, ob das alles ist, sich jeden Tag vor- Health within the European Union», welches zur Zeit in
M. Brieskorn-Zinke Die Rolle der Pflege in Public Health/Gesundheitsförderung Pflege 2003; 16:66–74 fast allen Mitgliedstaaten umgesetzt wird. Auch in der einerseits und Prävention und Gesundheitsförderung an- Schweiz überlegt man, dieses Trainingsprogramm in der dererseits. Natürlich gibt es hier auch Überschneidungen, Fort- und Weiterbildung zu implementieren. aber m. E. ist es für die weiteren Orientierungen in der Pfle- Nun sind solche internationalen Erklärungen nicht ge wichtig, diese Bereiche zunächst auseinander zu halten. national gesetzgeberisch bindend, aber immerhin hat die In der Versorgungsforschung und -gestaltung geht es um damalige Gesundheitsministerin der BRD als Vertreterin Themen wie z. B. Pflegebedarfserhebungen, Entwicklung des Gastgeberlandes diese Erklärung unterschrieben, in neuer Versorgungspfade, Übernahme von Kooperations- der ebenfalls von einem verpflichtenden Engagement der aufgaben. Im Bereich Prävention und Gesundheitsförde- Länder die Rede ist, das Pflegewesen so zu stärken, dass rung werden zwar immer wieder Denkansätze entwickelt, für die zukünftigen spezifisch pflegerischen Aufgaben in sowohl für ambulante, gemeindenahe Felder (z. B. Fami- der Gesundheitsversorgung die notwendigen gesetzlichen liengesundheitsschwester) als auch für stationäre Einrich- und regulatorischen Rahmenbedingungen geschaffen tungen (z. B. Patienteninformationsstellen), aber wirklich werden. Ansätze dazu werden jetzt auch in Deutschland in Angriff genommen erscheint mir dieser Bereich noch gemacht, z.B. in der Neuregelung des Gesetzes über die nicht. Berufe in der Krankenpflege. Im letzten Entwurf heißt es: Meines Erachtens besteht hier weiterhin eher ein «Deshalb sind im Zusammenhang mit der schwerpunkt- «Nichtverhältnis», welches auch mit Berührungsängsten mäßig auf die Heilung von Krankheiten ausgerichteten und Konkurrenzphantasien der beiden Disziplinen zu tun Pflege auch präventive, gesundheitsfördernde, rehabilita- hat. Anders ist es kaum verständlich, dass Strategien und tive und palliative Maßnahmen für die Wiedererlangung, Handlungsfelder pflegerischer Gesundheitsförderung im die Verbesserung, die Förderung und die Erhaltung von deutschsprachigen Public Health-Bereich bisher so wenig Gesundheit der Patientinnen und Patienten zu erbringen» berücksichtigt wurden. In der nun folgenden Systemati- (BMG 13. Mai 2002). Auch in der geplanten Veränderung sierung möchte ich zunächst einmal verdeutlichen, wie viel der Berufsbezeichnung von Krankenschwester/Kranken- pflegerisches Know-how bereits jetzt in die Bewältigung pfleger zu Gesundheits- und Krankenpflegerin/Gesund- der Public Health-Aufgaben unserer Zeit einfließt und dar- heits- und Krankenpfleger, die sich an die bereits beste- über hinaus möchte ich aufzeigen, an welchen Stellen neue henden Bezeichnungen in Österreich und der Schweiz Handlungsfelder erschlossen werden können. Eine große anschließt, wird diese neue Schwerpunktsetzung deutlich. Herausforderung bei einem solchen Versuch systematisch Vom Entwurf über die Umsetzung zur Verankerung in der zu werden ist der Umgang mit Begriffen. Trotz vieler Ausbildung und zur Umsetzung in den Pflegealltag ist nationaler und internationaler Glossare werden die Be- allerdings sicherlich noch ein langer Weg zu gehen. griffe Prävention, Gesundheitsförderung, Gesundheitser- Vor dem Hintergrund der kontinuierlichen Entwick- ziehung, Gesundheitsbildung, Gesundheitsberatung im- lung der Pflegewissenschaften zeichnen sich aber bereits mer noch sehr wenig konturiert gebraucht. Auf zwei Annäherungen zwischen Pflege und Public Health ab. wichtige begriffliche Festlegungen, über die in der Public Health-Diskussion Konsens besteht, möchte ich hier aller- dings verweisen: 2.3 Was geschieht in Deutschland auf dem Gebiet 1. auf die Unterscheidung von Prävention und Gesund- Public Health und Pflege? heitsförderung: Präventionsstrategien sind nahe an der Medizin orientiert. Es geht in erster Linie um Krank- Schaeffer, Moers und Rosenbrock schrieben vor acht Jah- heitsverhütung. Gesundheitsförderungsstrategien da- ren, als beide Wissenschaften sich in Deutschland zu eta- gegen beziehen ihre theoretischen Grundlagen ver- blieren begannen, zum Verhältnis von Public Health und mehrt aus den Sozialwissenschaften. Es geht weniger Pflege: um spezifische Krankheitsverhütung als mehr um die «Trotz dieser sehr ähnlichen Ausgangsvoraussetzun- allgemeine Förderung von gesundheitsrelevanten gen und der zeitgleich einsetzenden Akademisierung ist Ressourcen; das Verhältnis von Public Health und Pflege derzeit mehr 2. die übliche Unterscheidung nach den Zeitpunkten der oder weniger ein Nichtverhältnis. Beide Disziplinen sind Interventionen wie Primärprävention, Sekundärprä- mit der Erörterung interner Fragen beschäftigt und grei- vention und Tertiärprävention. fen die fraglos gegebenen Gemeinsamkeiten nur punktuell auf.» (Schaeffer et al., 1994, S. 18.) Für die Arbeit in der Pflege ist zwar das Wissen um diese Public Health-Begriffe wichtig, gerade weil es in vielen Was hat sich seither getan? Arbeitsfeldern auch um Interdisziplinarität geht, aber die- Das Bundesministerium für Forschung und Bildung hat se Trennungen sind für die praktische Arbeit in der Pflege in den letzten zehn Jahren Forschungsverbünde für Public häufig kontraproduktiv. Ich greife deshalb in meiner Sys- Health gegründet und finanziert, in denen in ersten Ansät- tematisierung auf ein sehr bewährtes Ordnungssystem zen auch Bezüge zwischen Pflege und Public Health her- zurück, in dem Gesundheitsförderung das gesamte Ar- ausgearbeitet wurden. In diesem Jahr ist das Ministerium beitsgebiet umschreibt und die Strategien darin nach ge- dabei, die Initiierung von Pflegeforschungsverbünden zu sundheitsrelevanten Veränderungen auf der Verhaltens- unterstützen. Die wichtigsten übergeordneten Felder, in und auf der Verhältnisebene unterschieden werden. denen Pflege und Public Health in der Bundesrepublik sich begegnen bzw. bereits in Projekten zusammenarbeiten, sind Versorgungsforschung und Versorgungsgestaltung 68
M. Brieskorn-Zinke Die Rolle der Pflege in Public Health/Gesundheitsförderung Pflege 2003; 16:66–74 3. Pflegerische Handlungsfelder und technikintensive Beherrschung somatischer Prozesse oder Strategien zur Veränderung auf komplizierte Reparaturleistungen, und es sind die des Gesundheitsverhaltens Pflegenden, die die Folgen von Diagnose, Krankheit und Behandlung mit den Patienten und ihren Angehörigen zu 3.1 Persönliche Kompetenzen stärken – ein zentraler bearbeiten haben. Eine ressourcenorientierte Sichtweise, Ansatz der pflegerischen Gesundheitsförderung auf wie ich sie in meinem Aufsatz «Die pflegerische Relevanz unterschiedlichen Ebenen der Grundgedanken des Salutogenese-Konzepts» (Bries- korn-Zinke, 2000) beschrieben habe, bietet hier den Pfle- In der Gesundheitsförderung wird unter Kompetenz die Fä- genden die Möglichkeit, Patienten bei ihrer Auseinander- higkeit von Menschen verstanden, erworbene Fähigkeiten, setzung mit Krankheit und Gesundheit zu begleiten und soziale Regeln und Wissensbestände so sach- und situa- zu unterstützen. Patienten können dabei ein besseres Ver- tionsgerecht einzusetzen, dass z. B. gesundheitsbezogene ständnis für Zusammenhänge entwickeln, was möglicher- Ziele selbst verfolgt werden können. Es ist eine wichtige weise zu einer akzeptierenden Einstellung zur Erkrankung Erkenntnis heute, dass gerade auch kranke oder gesund- führt, was wiederum eine Grundvoraussetzung dafür ist, heitsgefährdete Menschen sich ihre eigenen Erfahrungen so gesund wie möglich auch mit Einschränkungen oder gesundheitsförderlich nutzbar machen können. Durch ge- Behinderungen leben zu können. plante, bewusste und konstruktiv begleitete Lernprozesse Auch Ursula Koch-Straube gibt in ihrem Buch «Bera- können die Menschen sich aktiv mit ihrer jeweiligen Le- tung in der Pflege» (2001) professionsspezifische An- benswirklichkeit auseinander setzen und dabei nicht nur regungen, mittels derer die interaktiven und kommunika- ihre gesundheitlichen Risiken mindern, sondern vor allem tiven Kompetenzen der Pflegenden von einer intuitiven auf auch ihre Fähigkeiten neu entdecken und entfalten, um eine systematische Ebene gehoben werden können. Und selbstbestimmend mit einer chronischen Erkrankung oder hier liegt auch die wesentliche Voraussetzung dafür, dass Einschränkung umgehen zu lernen. Pflegende können Pflegende den Lernprozess der Patienten zur Krankheits- hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten, denn in jeder bewältigung professionell unterstützen können oder den Interaktion mit dem Menschen, der Pflege braucht, geht es Patienten und Angehörigen dabei helfen können, be- auch darum, Lernprozesse zu initiieren und zu begleiten, stimmte schmerzhafte Lebensereignisse in das eigene angefangen bei der Verbesserung der Körperwahrnehmung Selbstbild zu integrieren. bis hin zur Lebensplanung und Lebensgestaltung unter den Bedingungen chronischer Krankheit. Dazwischen liegen Kognitive Ebene weitere Ebenen: Kompetenzförderung auf der kognitiven Ebene meint die Stärkung der Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit den Ebene der Körperwahrnehmung Wissensbeständen über eine Erkrankung und die Befähi- Durch die Vermittlung von Körpergefühl haben Pflegende gung zur rechtzeitigen und gezielten Inanspruchnahme spezifische Möglichkeiten, Gesundheit zu fördern. Sen- professioneller Hilfen. Patienten brauchen medizinisch- sible Körperwahrnehmung bildet schließlich die Grund- pflegerisches Wissen zum Umgang mit einer chronischen lage für Selbstvertrauen und Eigenverantwortung. Nur wer Erkrankung und zur Erhaltung und Ausweitung der ver- selber wahrnehmen und beurteilen kann, was gut tut bzw. bliebenen Gesundheitspotenziale. Hier ist die Weitergabe was stört, kann eigene Entscheidungen treffen. Die Medi- qualitativ guter Patienteninformationen gefragt, um die zin und in ihrem Gefolge auch die Pflege hat in den letz- Rolle der Patienten als Konsumenten von Versorgungs- ten Jahrzehnten ein objekthaftes Verhältnis vieler Men- leistungen für Gesundheit und Krankheit zu stärken. Pfle- schen zu ihrem Körper gefördert, indem sie vor allem gende können Patienten und ihre Angehörigen sehr wohl Messwerten ihre Aufmerksamkeit schenkten. Damit wur- dabei unterstützen, die verschiedenen Angebote gesund- de das, was ein Mensch fühlt, häufig zweitrangig. Be- heitlicher Versorgungsleistungen souveräner als bisher wusste Ermutigung zur Körperwahrnehmung beim Wa- nutzen zu lernen. Gezielte Aufklärung über verschiedene schen, bei Einreibungen, beim Lagern und Mobilisieren Alternativen, zu denen sie jeweils auch die Informationen und zur Wiederentdeckung des eigenen Körpers als Orien- über Nutzen und mögliche Risiken mitteilen, ermöglichen tierungspunkt sind spezifische pflegerische Möglichkei- den Patienten, ein für sie geeignetes Angebot auszuwäh- ten, hier gesundheitsförderlich tätig zu werden (siehe dazu len. Wichtig dabei ist, das dieser Entscheidungs- und Aus- Brieskorn-Zinke, 1996, S. 113ff.). Aber auch die Kin- wahlprozess durch die Prioritäten und individuellen Wer- ästhetik und die Bobathmethode sind hier zwei wichtige te des Patienten oder der Patientin gesteuert wird, damit körperbezogene Pflegeansätze, die direkt auf Köperwahr- der Patient/die Patientin sich in einer partnerschaftlichen nehmung und Förderung der Selbstkompetenz ausgerich- Entscheidungsfindung aufgehoben fühlt. tet sind. Erste sehr positiv verlaufende Ansätze zur Realisierung einer solchen pflegerischen Gesundheitsförderung sind Psychisch-emotionale Ebene Patienten-Informations-Zentren, z. B. am Kreiskranken- Hier geht es vorrangig um eine konstruktive und profes- haus Lüdenscheid, die in Zusammenarbeit mit der Pflege- sionell begründete Unterstützung bei der Bewältigung kri- wissenschaftlerin Angelika Zegelin-Abt von der Univer- tischer Lebenssituationen, wie plötzliche akute Krankheit, sität Witten/Herdecke konzipiert wurden. Dort entwickeln Eintritt chronischer Gesundheitsprobleme, Umgang mit heute Pflegende auf hohem Qualitätsniveau gezielte Pa- den Folgen des Alters, Eintritt von Pflegebedürftigkeit usw. tienteninformationsmöglichkeiten, die Angehörige und 69 Die Medizin konzentriert sich heute immer mehr auf die Patienten gleichermaßen nutzen können.
M. Brieskorn-Zinke Die Rolle der Pflege in Public Health/Gesundheitsförderung Pflege 2003; 16:66–74 Ebene der Fertigkeiten dernd zu handeln ist, sondern erst die gezielte Bezugnah- Diese Ebene betrifft den traditionellen pflegerischen Auf- me auf die Ausgestaltung von pflegerischen Aktivitäten zur gabenbereich der Anleitung und Schulung. Dabei geht es Kompetenzförderung professionelles gesundheitsfördern- um das Vermitteln bestimmter Verhaltensweisen bzw. des Handeln begründet. Hier ist natürlich auch die Ein- Techniken, die den selbstbestimmten Umgang mit krank- bindung pflegerischer Gesundheitsförderung in ein aus- heitsbedingten Einschränkungen ermöglichen. Schulun- gewähltes Pflegemodell unerlässlich. Auch wenn an dieser gen sind auf sehr konkrete Lernziele, meistens spezielle Stelle nicht weiter darauf eingegangen wird, ist es selbst- Pflegetechniken ausgerichtet. Dabei kann es um Selbstin- verständlich notwendig, dass Pflegende ihren gesund- jektionen und Wundversorgung gehen oder um selbstän- heitsförderlichen Interventionen immer eine pflegetheo- dige Blutdruckmessung und Medikamenteneinnahme, retische Basis geben, die allein erst die Zielrichtung des aber auch um so komplexe Lernziele, wie z. B. den selb- professionellen Handelns begründet. ständigen Umgang mit dem Tracheostoma. Über den Er- werb der Fähigkeiten in speziellen Pflegetechniken hinaus gehört zur Anleitung auch, dass Pflegende Patienten dahin 3.2 Pflegerische Interventionsstrategien zur führen, Krisenphasen oder Notfallsituationen rechtzeitig Kompetenzförderung erkennen zu lernen. Dazu könnten sie Patienten auch er- mutigen, ihr soziales Umfeld so zu strukturieren, dass es Analog zu den Differenzierungen im vorhergehenden Ka- ebenfalls lernt, mit der Erkrankung und deren Auswirkun- pitel, in dem es um die unterschiedlichen Ebenen und gen umzugehen. Ansatzpunkte zur Kompetenzförderung ging, werde ich jetzt nochmals auf verschiedene pflegerische Handlungs- Psychosoziale Ebene strategien oder Methoden eingehen, die bei der personen- Hier geht es um die Förderung sozialer Kompetenz im Sin- zentrierten Gesundheitsförderung Anwendung finden ne des Geben- und Annehmenkönnens von Hilfe. Pflegen- können. de erhalten dabei die Fähigkeit der Patienten zur Aufrecht- Es geht mir dabei um Präzisierungen, die deutlich ma- erhaltung und Nutzung von sozialen Kontakten im Falle chen sollen, dass Begriffe, die Vorgehensweisen in der von Lebenskrisen, Krankheit und Behinderung. Sehr kon- Pflege beschreiben, mit Begriffen, die Vorgehensweisen kret geht es darum, Patienten und Angehörige in Krank- in der Gesundheitsförderung benennen, abgeglichen wer- heitssituationen oder auch bei andauernder Pflegebedürf- den müssen, um Verwirrungen zu vermeiden. Auch wenn tigkeit so zu beraten, dass sie sich gegenseitig nicht noch es bei den vorgestellten Strategien Überschneidungen gibt, zusätzlich das Leben schwer machen. Pflegende merken soll das Spezifische der einzelnen Vorgehensweisen deut- im Pflegealltag, wenn Angehörige und Patienten sich so lich gemacht werden. verstricken, dass sie sich gegenseitig nicht mehr unter- stützen können. Sie können dann ihr Augenmerk bewusst Anleiten auf die Beziehungsstrukturen und -qualitäten lenken, in de- Patienten und/oder Angehörigen bestimmte Pflegetech- nen die Patienten leben, und so versuchen, soziale Unter- niken lehren, die nötig sind, um möglichst selbstbestimmt stützung zu fördern. Dabei kann es um das Erhalten und handeln zu können. Konkrete Lernziele – in der Regel Verändern von sozialen Unterstützungssystemen gehen handwerkliche Fertigkeiten – bestimmen auf der Basis oder auch darum, neue Unterstützungssysteme mit zu ent- lerntheoretischer Grundlagen das Vorgehen. wickeln wie z. B. Nachbarschaften oder Selbsthilfegrup- pen. Im Bewusstsein um die zentrale Bedeutung sozialer Schulen Unterstützung bei der Bearbeitung von Gesundheitspro- Schulen hat die gleiche Zweckbestimmung wie Anleiten, blemen können Pflegende hier wichtige erste Schritte an- wird jedoch vermehrt im Zusammenhang mit Gruppen ver- leiten, allerdings ohne den Anspruch, psychotherapeutisch wendet. Hier müssen lerntheoretische Grundlagen um die werden zu wollen bzw. zu müssen. Richard E. Pearson gibt Möglichkeiten des sozialen Lernens in der Gruppe erwei- in seinem Buch «Beratung und soziale Netzwerke» (1997) tert werden. Mein Vorschlag ist, den Begriff der Patien- eine wie ich finde sehr gelungene Praxisanleitung zur För- tenschulung um den Begriff der Gesundheitsbildung zu derung sozialer Unterstützung. Er zeigt Hindernisse in den erweitern und damit auch aus pflegerischer Sicht die ge- Personen oder ihren Lebenswelten auf, die Unterstützung sundheitsförderliche Dimension dieser traditionellen pfle- be- oder verhindern, und wo und wie Beratung ansetzen gerischen Aktivität zu betonen. kann, um diese Hindernisse beseitigen zu helfen. Es ist in diesen Ausführungen deutlich geworden, dass Bilden (Gesundheitsbildung) Kompetenzförderung in der Pflege sehr unterschiedliche In Anlehnung an die Ziele der Ottawa-Charta können pfle- Ansatzpunkte haben kann. Im Pflegealltag erscheinen die- gerische Patientenschulungen neben der Vermittlung von se von mir differenzierten Ebenen zur Unterstützung per- Fertigkeiten Elemente der modernen Gesundheitsbildung sönlicher Kompetenzen häufig nicht so getrennt, sind viel- aufnehmen. Gesundheitsbildung zielt auf allgemeine, für mehr überlappend, da Patienten und Pflegende sich nicht die Teilnehmer erst noch zu übertragende Fragen der ge- scheibchenweise annähern, sondern als Persönlichkeiten sundheitlichen Lebensführung. Methodisch orientiert man gegenübertreten. Ich halte diese Differenzierungen auf sich dabei an den Prinzipien der Partizipation und des so- einer theoretischen Ebene jedoch trotzdem für sehr hilf- zialen Lernens, dass heißt, das Expertenwissen wird mit reich, da auch bei der Gesundheitsförderung in der Pflege dem Teilnehmerwissen konfrontiert. Gesundheitsbildung nicht einfach nur patientenorientiert oder ganzheitlich för- beinhaltet dann soziales Lernen in der Gruppe, und das 70
M. Brieskorn-Zinke Die Rolle der Pflege in Public Health/Gesundheitsförderung Pflege 2003; 16:66–74 nicht nur als Organisationsform, sondern als regelrechter Ziel psychosozialer Beratung ist es, die Entfaltung von konzeptioneller Bestandteil. Eine gesunde Lebensweise ist Einzelnen in formellen und informellen sozialen Systemen eben nicht unmittelbar lehrbar, erst recht nicht unter den zu ermöglichen; selbstbestimmtes und selbstkontrolliertes Bedingungen chronischer Beeinträchtigungen. Es gibt kei- Gestalten von Alltag und Leben, die Bearbeitung ihrer An- ne objektiven Kriterien für eine gesunde Lebensweise. Die forderungen und die Nutzung ihrer Entwicklungschancen Teilnehmer brauchen die Möglichkeit, ihr Erfahrungswis- zu sichern sowie Belastungen und Krisen zu verhindern, sen mit dem pflegerischen Expertenwissen abzugleichen. möglichst früh anzugehen sowie deren Folgen für Person Ihre subjektiven Probleme und Bedingungen sowie ihre und Systeme konstruktiv zu bewältigen.» (Nestmann, Selbsttätigkeit bestimmen die Lehr- und Lernsituation in 1997, S. 174) einem solchen Gesundheitsseminar. Deshalb geht es in In der Pflege findet Beratung unter anderem im Kon- der Gesundheitsbildung um Vermittlungs- und Ermögli- takt zwischen Pflegenden und Gepflegten statt. «Dieser chungsdidaktik, verbunden mit den Stichworten Subjekt- Kontakt entsteht», wie Koch-Straube es formuliert: ‹in orientierung, positiver Gesundheitsbegriff, gesundheitli- einer Phase akuter Erkrankung oder chronischer Belas- che Mündigkeit (siehe dazu Papenkort, 2000). So können tungen, in der Stress und Angst erlebt werden und vieler- die Forderungen aus der Ottawa-Charta nach Vermitteln lei Versuche, diese Belastungen zu überwinden. Es ist und Vernetzen und nach Empowerment ganz praktisch um- eine Phase hoher Irritation und Sensibilität, in der ein Teil gesetzt werden. der Erlebens- und Verhaltensmuster vorübergehend oder In Zukunft wäre es also möglich und wünschenswert, dauerhaft unbrauchbar geworden sind und neue erst ent- Schulungen mit Gesundheitsbildungsseminaren so zu kop- wickelt werden müssen› (Koch-Straube, 2001, S. 75). Die- peln, dass nicht wie bisher Patientenedukation das Ziel ist, ser wichtige Teil pflegerischer Beratung ist aber in diesem sondern die gesundheitliche Mündigkeit der Teilnehmer. Zusammenhang nicht gemeint. Hier geht es um Gesund- Darüber hinaus sollten Pflegende in Zukunft auch unab- heitsberatung als eine verhaltenspräventive Strategie. Ziel hängig von Schulungen Gesundheitsbildungsseminare für ist es, Kompetenzen im selbstbestimmten Umgang mit Ge- alle Interessierten anbieten und sich damit als Gesundheits- sundheit zu fördern und konkrete Verhaltensänderungen profession profilieren. Die klassischen Gesundheitsthemen zu erleichtern. Im Zentrum stehen das Individuum (der unserer Zeit wie gesundes Schlafen, Essen, Verdauen, Be- Patient, aber auch die Angehörigen) und das Thema Ge- wegen sollten ins alltägliche Angebot pflegerischer Institu- sundheit bzw. die Beratungspartner mit ihren Wünschen, tionen integriert werden. Auch in Krankenhäusern und Al- unter bestimmten persönlichen Bedingungen so gesund tenheimen ist eine solche Tätigkeitserweiterung pflegerischer wie möglich leben zu können. Aufgaben möglich und ohne großen Aufwand umsetzbar. Anleiten, schulen, bilden, informieren bzw. aufklären und beraten setzen als pflegerische Strategien der Gesund- Informieren, aufklären heitsförderung also jeweils unterschiedliche Akzente in Beim Informieren und Aufklären werden in erster Linie den Vorgehensweisen und in den entsprechend angestreb- Kenntnisse und Wissen vermittelt, sei es über die Wirkung ten Zielen. von Medikamenten, oder die Notwendigkeit von Flüssig- Im Sinne von Public Health lassen sich die übergeord- keitsaufnahme oder hygienischen Maßnahmen. Informa- neten Ziele pflegerischer Gesundheitsförderung im Hin- tion kann persönlich vermittelt werden, aber auch durch blick auf die Kompetenzstärkung von Patienten und Klien- eine sorgfältige Auswahl von Büchern, Broschüren oder ten nochmals folgendermaßen zusammenfassen: Gesundheitsmagazinen oder durch Zugang zum Internet. Pflegende unterstützen und befähigen ihre Patienten/ Auch Ausstellungen zu Gesundheitsthemen können in Klienten so, Sozialstationen oder stationären Einrichtungen informie- – dass sie aufgeklärt, informiert, selbstbestimmt und rende und aufklärende Wirkung entfalten. selbstbewusst ihr gesundheitsbezogenes und krank- heitsbezogenes Verhalten steuern können Beraten – dass sie therapeutische und rehabilitative Versor- Die Unterscheidung zwischen informieren/aufklären und gungsentscheidungen mit beeinflussen können (selb- beraten ist sehr wichtig. In einem Beratungsgespräch wer- ständige und selbstbewusste Ausübung der Patienten- den keine Ratschläge gegeben, wird nicht angeleitet oder rolle) überzeugt. Es geht vielmehr darum, mit der zu beratenden – dass sie in geeigneter Weise ihre verbliebenen Gesund- Person individuelle Lösungsstrategien zu erarbeiten. Be- heitspotenziale erhalten und gegebenenfalls auch ge- dürfnisse und Erfordernisse werden herauskristallisiert, sundheitsbezogene Veränderungen in Angriff nehmen Möglichkeiten und Ressourcen aufgezeigt. Als eine inter- können. disziplinäre Verständigungsgrundlage über Beratung (nach Hurrelmann, 2000, S. 120) schält sich die Definition von Nestmann heraus: «Beratung ist eine professionelle Unterstützungsleis- Wie oben bereits erwähnt, richten sich die bisher aufge- tung, die in einem gemeinsamen Prozess der Orientierung, führten Handlungsmöglichkeiten für Gesundheitsförde- Planung, Entscheidung und Handlung versucht, bio- rung in der Pflege eher auf das Verhalten von Menschen. psychosoziale Ressourcen und sozialökologische und Gesundheitsförderung erhebt aber den Anspruch, nicht nur ökonomische Ressourcen von Umweltsystemen (soziale verhaltensorientiert zu agieren, sondern auch verhältnis- Beziehungen und Netzwerke; Organisationen und Institu- orientiert. Dabei geht es um Strategien zur Veränderung tionen; gebaute und natürliche Umwelt) zu entdecken, zu der Gesundheitsbedingungen. Die Rolle der Pflegenden in 71 fördern, zu erhalten und aufeinander zu beziehen. diesen Bereichen ist heute nicht sehr stark ausgeprägt.
M. Brieskorn-Zinke Die Rolle der Pflege in Public Health/Gesundheitsförderung Pflege 2003; 16:66–74 4. Pflegerische Strategien zur Veränderung z. B. in Bezug auf Verkehrssicherheit oder Gewaltpräven- der Gesundheitsbedingungen tion. Andererseits ist der Fokus auch darauf gerichtet, die Im Zentrum stehen hier die Strukturen der sozialen und Einflussnahme von Bürgern, Versicherten und Patienten materiellen Umwelt, die es für mehr Gesundheit zu ver- auf die Organisation und die Gestaltung gesundheitsbezo- ändern gilt. Aus diesen Strukturen leiten sich viele Deter- gener Dienstleistungen zu verbessern. Die Stichworte da- minanten für soziale Benachteiligung im Gesundheitswe- zu sind Bürgerbeteiligung und Empowerment. Pflegende sen ab. Pflegeberufe haben in unterschiedlicher Art immer könnten hier in ihrer Rolle als Gemeindeschwester als zen- auch auf Armut, soziale Ungleichheit und Mängel in der trale Anlaufstelle (starting point) für jegliche Fragen ge- Basisgesundheitsversorgung reagiert. Letztlich liegt hier sehen werden, die mit Gesundheit und Gesundheitsbedin- sogar der Ursprung von Public Health Nursing (siehe da- gungen in Zusammenhang gebracht werden. Als diejenige zu Edgecombe, 2001). Um hier aber die aktuellen pflege- Profession, die über ihre originäre pflegerische Arbeit dem rischen Handlungsmöglichkeiten innerhalb der heutigen privaten Leben von Patienten am nächsten ist, erkennt und Gesundheitsförderungsdiskussion aufzuzeigen, greife ich dokumentiert sie Gesundheitsbedürfnisse von Individuen, drei Bereiche heraus, die für Public Health-orientierte, Familien und dem Gemeinwesen und ist dann entspre- pflegerische Arbeit wichtig sind. chend der jeweiligen Notwendigkeiten selbst aktiv oder handelt als Koordinatorin für interdisziplinäre Gesund- heitsarbeit. 4.1 Förderung von unterstützenden sozialen Netzwerken Hier ist das Ziel, bestehende soziale Bindungen zu stär- 4.3 Gesundheitsförderung in einzelnen Settings ken, neue Netzwerkbindungen zu entwickeln und Nach- barschafts- und Gemeindeintegration fördern. Die bereits Bei dieser Strategie, die vor 15 Jahren von der WHO ins im vorigen Kapitel angesprochene psychosoziale Kompe- Leben gerufen wurde, steht die Verbindung von Arbeit an tenzförderung wird hier von der Förderung des persön- gesellschaftlichen Strukturen mit Lernmöglichkeiten für lichen Verhaltens auch auf die Förderung von Strukturen die Personen in sozial abgrenzbaren Systemen im Zentrum. gelenkt, die ebenso da sein müssen, damit soziale Netz- Ziel dieses gesundheitsförderlichen Ansatzes ist es, Ein- werke entstehen können. Pflegende übernehmen hier fluss zu nehmen auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Aufgaben in der Mobilisierung und Stabilisierung von Voraussetzungen für Gesundheit. Auch die Spitzenver- Laienpflege – also Pflege durch Familienangehörige, Le- bände der Krankenkassen in der BRD heben in einer ge- benspartner sowie informelle Helfer (Ehrenamtliche). meinsamen Erklärung die Möglichkeiten dieses Vorgehens Allein das Feld der Zusammenarbeit mit Angehörigen, gerade zum Nutzen sozial Benachteiligter hervor: «Gerade nicht nur in der ambulanten Pflege, sondern gerade auch sozial benachteiligte Zielgruppen sind in der Regel über- in stationären Einrichtungen wie Krankenhäusern, Reha- fordert, aus eigener Kraft Verhaltensänderungen in ihren bilitationskliniken, Altenheimen bietet so vielfältige und Alltag zu integrieren. Sie sind besonders darauf angewie- wichtige Ansatzpunkte zur Förderung sozialer Unterstüt- sen, dass ungünstige Bedingungen, Strukturen bzw. soziale zungssysteme für Patienten, dass es sich lohnen würde, Bezüge, in denen sie leben, mit Hilfe von außen verändert auch hier ein Zentrum pflegerischer Gesundheitsförderung werden.» (Die Spitzenverbände der Krankenkassen, zu sehen. Daneben arbeiten Pflegende an der Vernetzung 2000). von Laiensystemen mit professionellen Helfersystemen, In Settings wie z. B. Betrieben, Schulen, Kindergärten indem sie z. B. mit den örtlichen Selbsthilfegruppen und oder Krankenhäusern soll durch diesen Ansatz eine Ver- Selbsthilfekontaktstellen zusammenarbeiten. besserung der Organisationskultur in Richtung Gesundheit Über den Versorgungsauftrag hinaus kann in der am- erreicht werden. Im Deutschen Netz Gesundheitsfördern- bulanten pflegerischen Arbeit die Gesundheitsförderungs- der Krankenhäuser haben sich solche Krankenhäuser zu- strategie des Vermittelns und Vernetzens so Platz finden, sammengeschlossen, die konkrete Projekte durchführen. dass Pflegende soziale Unterstützungsmöglichkeiten und In diesen Projekten spielen Pflegende zum Teil eine große gesundheitsrelevante Angebote in der Gemeinde ausfindig Rolle, wie z. B. in Projekten zur Arbeitszeitgestaltung, zur machen, und sie ihren PatientInnen und Angehörigen nahe gesundheitsgerechten Verwendung von Arbeitsmitteln, zur bringen (Selbsthilfegruppen, Sportvereine, Volkshoch- Gestaltung von Arbeitsprozessen und Kooperationsbezie- schulkurse, Bürgerinitiativen, Gesprächskreise usw.) oder hungen. Aber auch in Betrieben und Kindergärten könn- umgekehrt die örtlichen Institutionen auf die Notwendig- ten Pflegende sich in Zukunft an so einem interdisziplinä- keit spezifischer Unterstützungsleistungen bedürftiger ren Ansatz beteiligen. Menschen aufmerksam machen. 5. Fazit 4.2 Gemeindebezogene Gesundheitsförderung Gesundheitsförderung in der Pflege hat in Europa eine lan- In der gemeindebezogenen Gesundheitsförderung geht es ge Tradition. Seit Beginn ihrer professionellen Entwick- wie oben bereits angedeutet darum, gesundheitsbezogene lung haben Pflegende sich nie nur um die Pflege einzelner Aktionen zu unterstützen oder zu initiieren, die z. B. be- Kranker gekümmert, sondern immer auch um die Gesund- sonders gefährdete Gruppen in der Gemeinde betreffen, erhaltung besonders vulnerabler gesellschaftlicher Grup- 72
M. Brieskorn-Zinke Die Rolle der Pflege in Public Health/Gesundheitsförderung Pflege 2003; 16:66–74 pen. Im Zuge der medizinischen Entwicklung und der Literatur Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung sind diese prä- ventiven pflegerischen Tätigkeiten gerade in den mittel- Brieskorn-Zinke, M.: Gesundheitsförderung in der Pflege. Ein Lehr- europäischen Ländern in den Hintergrund getreten. Heute, und Lernbuch zur Gesundheit. Stuttgart, 1996. Brieskorn-Zinke, M.: Die Bedeutung gesundheitswissenschaft- im beginnenden 21. Jahrhundert, werden diese pflegeri- licher Erkenntnisse für die Pflege. Pflege 11, 1998, 129–134. schen Aufgabengebiete wieder zentral, allerdings entspre- Brieskorn-Zinke, M.: Die pflegerische Relevanz der Grundgedan- chend der Veränderungen von Krankheiten und Gesund- ken des Salutogenese-Konzepts. Pflege 13, 2000, 373–380. heitssystemen in völlig anderer Art und Weise. In diesem Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Public Health. In: Zeit- Beitrag wurde aufgezeigt, wie diese neue Rolle der Pfle- schrift für Gesundheitswissenschaften, 9. Jg. 2001, 5–7. Die Spitzenverbände der Krankenkassen: Gemeinsame und ein- ge in Public Health/Gesundheitsförderung aussehen könn- heitliche Handlungsfelder und Kriterien der Spitzenverbände te, welche pflegespezifischen Aufgabenfelder sich ergeben der Krankenkassen zur Umsetzung von § 20 Abs. 1 und 2 SGB und mit welchen Strategien Pflegende diesen gesundheit- 5 vom 21. Juni 2000. In: Prävention 3/2000; 23. Jahrgang: 80– lichen Herausforderungen begegnen können. Selbstver- 90. ständlich kann und soll ein solcher Beitrag nichts fest- Edgecombe, G.: Public Health Nursing: Past and Future. A review of the Literature. Ed. WHO Regional Office for Europe, 2001. klopfen, sondern vielmehr dazu anregen, die notwendige Fülgraff, G.: Public Health heute. Gesundheitswesen 61, 1999, 634– Diskussion über die Ausgestaltung dieser Rolle in Gang 639. zu setzen. Grotjahn, A.: Soziale Pathologie. 3. Aufl. Berlin 1923 (Reprint Orte, an denen pflegerische Gesundheitsförderung 1977). stattfinden kann, sind einerseits die traditionellen pflege- Hurrelmann, K.: Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozial- wissenschaftliche Theorien von Krankheitsprävention und Ge- rischen Einrichtungen wie Krankenhaus, Altenheim oder sundheitsförderung. Weinheim, 2000. Sozialstation. Aber auch neue Arbeitsfelder in Kranken- Koch-Straube, U.: Beratung in der Pflege. Bern, 2001. kassen, ambulanten Beratungsstellen, in der Verbraucher- Nestmann, Frank (Hrsg.): Beratung – Bausteine für eine interdiszi- beratung, in Selbsthilfekontaktstellen und in Verbänden plinäre Wissenschaft und Praxis. Tübingen, 1997. gilt es für die Zukunft mit pflegerischem Know-how zu Papenkort, U.: Gesundheitsbildung. In: Gesundheit: Strukturen und Handlungsfelder. Neuwied 2000. VI. 3 (Loseblattsammlung). besetzen. Erst mit einer solchen Ausweitung des profes- Pearson, R.: Beratung und soziale Netzwerke. Eine Lern- und sionellen Handlungsfeldes wird die Relevanz der Public Praxisanleitung zur Förderung sozialer Unterstützung. Wein- Health für die Pflege wirklich offensichtlich werden. heim, 1997. Um allerdings gezielte pflegerische Beiträge zur Be- Schaeffer, D.; Moers, M.; Rosenbrock, R.: Zum Verhältnis von völkerungsgesundheit leisten zu können, sowohl auf der Public Health und Pflege. In: Schaeffer, D.; Moers, M.; Rosen- brock, R. (Hrsg.): Public Health und Pflege – Zwei neue ge- Verhaltensebene als auch auf der Ebene der Verhältnisse, sundheitswissenschaftliche Disziplinen. Berlin, 1994, 7–24. brauchen wir langfristig natürlich auch entsprechende Ver- WHO: Erklärung von München: Pflegende und Hebammen – ein änderungen in den jeweiligen gesetzlichen Rahmenbedin- Plus für Gesundheit. EUR/00/5019309/6 00602 – 17. Juni 2000. gungen. Die Zeit dafür scheint gekommen zu sein. Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Marianne Brieskorn-Zinke, Evangelische Fachhochschule Darmstadt, Zweifalltorweg 12, D-64293 Darmstadt E-mail: Brieskorn@aol.com 73
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