Emotion und Kultur: Wie individuieren wir Emotionen und welche Rolle spielen kulturelle Faktoren dabei? - Anna Welpinghus ...
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Emotion und Kultur: Wie individuieren wir Emotionen und welche Rolle spielen kulturelle Faktoren dabei? Anna Welpinghus, LWL-Universitätsklinikum Bochum, Ruhr-Universität Bochum, Albert Newen, Ruhr-Universität Bochum
Abstract Nach wie vor ist eine philosophische Grundfrage in Verbindung mit Emotionen ungeklärt, nämlich: Wie werden Emotionen individuiert? In direktem Zusammenhang damit steht die aktuelle Debatte darum, welche Merkmale von Emotionen kulturabhängig und welche universell sind. Es wird argumentiert, dass Emotionen durch emotionale Muster individuiert werden, wobei diese Muster durch eine Reihe von charakteristischen Merkmalen bestimmbar sind, die sich näher beschreiben lassen. Die Kulturabhängigkeit lässt sich im Spannungsfeld von psychoevolutionären Theorien einerseits und linguistischem Konstruktivismus andererseits genauer eingrenzen: Wenn die charakteristischen Merkmale eines emotionalen Musters vorwiegend biologisch sind, wie es bei Basisemotionen der Fall ist, sind kulturelle Einflüsse marginal. Wenn dagegen die charakteristischen Merkmale eines emotionalen Musters stark kognitiv oder behavioral sind, dann ist es möglich, dass dieses Muster nur in einigen Gemeinschaften vorzufinden ist, da Faktoren zu seiner Entstehung und Konstitution beitragen, die nur dort auftreten. English abstract The crucial philosophical question of how emotions are individuated still awaits clarification. This question is also central to the current debate about culture-specific versus universal characteristics of emotions. In this article it is argued that emotions are individuated through emotional patterns. These patterns can be specified by several unique features, which will be listed and described. This strategy, which takes into account constraints from both evolutionary psychology and linguistic constructionism, allows us to answer the question about culture-specificity in the following way: If the characteristic aspects of an emotion pattern are primarily biological, as it is the case for basic emotions, cultural influences are marginal. By contrast, if the characteristic aspects are to a large extent cognitive or behavioral, it is possible that this pattern can only be found in some communities, because some factors which contribute to its development and constitution are only to be found there. 1. Einführung1 Eine der großen akademischen Debatten über die Beschaffenheit der Emotionen kreist darum, inwieweit Emotionen in allen menschlichen Kulturen dieselben sind und inwieweit Emotionen durch sozio-kulturelle Faktoren geprägt werden. Dies ist die auf Emotionen bezogene Variante der „Natur oder Sozialisation?“-Debatte, die sowohl in 1 Teile dieses Artikels wurden bei der European Graduate School – Philosophy of Language, Mind, and Science im Oktober 2010 in Lausanne und bei der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Philosophie im September 2011 in München vorgestellt. Unser Dank gilt Lena Kästner, Andreas Pittrich und Philipp von dem Knesebeck für Anmerkungen zu früheren Versionen des Textes. Wir danken allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe von Prof. Newen an der Ruhr-Universität und der Arbeitsgruppe von Prof. Georg Juckel an der LWL-UniversitätsklinikBochum für ihre vielfältige Unterstützung, insbesondere Herrn Juckel selbst. 2
der Psychologie als auch in angrenzenden Disziplinen geführt wird. Um die Frage zu beantworten, ob es in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Emotionen gibt, gilt es zu klären, wann zwei Entitäten, die wir zu den Emotionen zählen, tatsächlich unterschiedliche Emotionen sind und wann sie zwei Instanzen derselben Emotion sind. Wir sollten drei Dimensionen der Individuierung von Emotionen unterscheiden: 1. die Wörter als Elemente der Sprache, 2. die Kategorien bzw. Begriffe als Elemente des Denkens und 3. die Ausprägung einer Emotion (einschl, Erleben, Verhalten, physiologische und kognitive Prozesse). Trivialerweise haben nicht alle Sprachen dieselben Wörter für Emotionen. Weniger trivial ist die Tatsache, dass es in manchen Sprachen andere Kategorien für Emotionen gibt als in anderen: Der englische Begriff „anxiety“ umfasst Fälle, die im Deutschen unter „Angst“ fallen und Fälle, die unter „Ängstlichkeit“ oder unter „Besorgnis“ fallen. Da es uns nicht um die oberflächliche Dimension der Wörter geht, bleiben zwei interessante Dimensionen: die Kategorien bzw. Begriffe und die Ausprägung der Emotion. Im ersten Abschnitt werden wir anthropologische Evidenz dafür präsentieren, dass es Kategorisierungen bzw. Begriffe gibt, die quer zu denjenigen im deutschen oder britischen Sprachraum liegen. Diese Diversität in der Kategorisierung allein ist jedoch keine hinreichende Evidenz dafür, dass Menschen aus verschiedenen Sprachgemeinschaften tatsächlich unterschiedliche Emotionen haben, wie einige (sozial-)konstruktivistische Denker (etwa Lutz 1988, 1986, Heelas 1986, Harré 1986) implizieren. Wir verfolgen zwei Ziele: erstens einen Vorschlag zur Charakterisierung und Individuierung von Emotionen zu machen, und zweitens diesen für die Debatte über sozial konstruierte Emotionen fruchtbar zu machen. Dazu möchten wir im ersten Schritt zwei verschiedene Positionen kritisch beleuchten, nämlich die These der linguistischen Konstruktion (Abschnitt 2) und eine diametral entgegengesetzte psychoevolutionäre These zur Individuierung von Emotionen (Abschnitt 3). Häufig wurde die Evidenz für Vielfalt der Begriffsbildung als Argument für linguistische Konstruktion herangezogen (Lutz 1980, 1986, Heelas 1986). Wir werden hingegen zeigen, dass auch die psychoevolutionäre Herangehensweise kompatibel mit der Evidenz für Begriffsvielfalt ist. Im vierten Abschnitt entwickeln wir die These, dass Emotionen als Klassen von spezifischen Mustern individuiert werden, wobei in diese Muster die typischen Merkmale der Emotion eingehen, z. B. phänomenale Erfahrungen, physiologischen Reaktionen sowie Verhaltenstendenzen, einschließlich des Sprachverhaltens. Muster, 3
die für wissenschaftliche Zwecke fruchtbar sind, müssen nicht mit den (kulturell variablen) Alltagskategorien übereinstimmen, aber bei der Wahl wissenschaftlicher Kategorien müssen wir berücksichtigen, dass unsere Anwendung von Alltagskategorien unser Verhalten, vor allem unseren Umgang miteinander, prägt. Wissenschaftlich fundierte Kategorien müssen sich in einer hinreichenden Weise mit den (tragfähigen) Alltagskategorien in eine systematische Beziehung bringen lassen. Damit können auch wissenschaftlich fruchtbare Kategorisierungen von Emotionen für manche Gemeinschaften anders aussehen als für andere.2 Dies werden wir im fünften und sechsten Abschnitt erläutern. 2 Evidenz für kulturelle Unterschiede Wir möchten exemplarisch die sozialkonstruktivistische Arbeit der Anthropologin Catherine Lutz vorstellen, die theoretische Überlegungen mit einer Fallstudie verbindet. Lutz richtet sich besonders gegen die in der europäischen Geistesgeschichte und Alltagskultur verbreitete Auffassung, Emotionen seien „natürliche“ Reaktionen, die in Opposition zu kulturellen Errungenschaften stehen, und wendet sich damit auch gegen eine psychoevolutionäre Sichtweise von Emotionen. Sie verfolgt ein politisch motiviertes Projekt: Sie will verhindern, dass die Erfahrungen der Menschen, die nicht im westlichen Kulturkreis leben, dem westlichen Verständnis von Emotionen assimiliert werden. Forschungsprogramme, die Emotionen als natürlich betrachten, stellt sie unter den Verdacht eurozentrisch zu sein. Lutz' Ergebnisse wurden während ihres mehrmonatigen Forschungsaufenthalts auf dem mikronesischen Atoll Ifaluk gewonnen. Sie stützen sich größtenteils auf die Methode der teilnehmenden Beobachtung (Lutz 1988: 45). Außerdem ließ sie sich Begriffe in Interviews erklären, oder bat einige Ifaluk, Wörter für Emotionen nach Ähnlichkeit zu sortieren, was sie dazu nutzte, Emotionsbegriffe in Cluster einzuordnen (Lutz 1986).3 2 Das Thema bringt es mit sich, einige sprachpolitisch heikle Entscheidungen treffen zu müssen. Wenn vereinfachend von „einer Kultur“, beispielsweise „dem Westen“, geredet wird, soll das nicht implizieren, dass es einzelne monolithische Kulturen gibt, wie „die westliche Kultur“ oder „die Kultur der Mikronesier“. Lutz hat sich 1990 von der Rede von Kulturen und Kulturabhängigkeit verabschiedet (Abu-Lughod & Lutz 1990). Wir verwenden das Wort „kulturabhängig“ im Sinne von „von kulturellen Faktoren abhängig“. 3 Dabei hat Lutz gegenüber den Versuchspersonen nicht spezifiziert, in welcher Hinsicht die Emotionen ähnlich sein sollen. In den Erläuterungen der Versuchsteilnehmer wurde als Kriterium für Ähnlichkeit häufig angegeben, dass zwei Emotionen in ähnlichen Situationen vorkommen (Lutz 1986). 4
Die Lutz folgende Darstellung einiger wichtiger Emotionsbegriffe der Ifaluk zeigt, dass die dortigen Begriffe deutlich quer zu denen im Deutschen und Amerikanischen liegen.4 Es gibt das Cluster der angenehmen Emotionen, die man fühlt, wenn einem etwas Gutes widerfährt. Ihr Oberbegriff ist ker – (ungefähr) Freude. Darunter fallen auch Emotionen, die wir als Verliebtheit oder Stolz bezeichnen würden, manche dieser Begriffe beinhalten dazu sexuelle Eifersucht (Lutz 1986: 270, Figure 1). All diese Emotionen werden als soziale Gefahr betrachtet – wer sich gut fühlt, wird schnell angeberisch, was den sozialen Frieden gefährdet. Sorgende, liebende Emotionen gehören einem anderen Cluster an als Freude. Ihr wichtigster Begriff ist fago, den Lutz mit „love/sadness/compassion“ annähernd übersetzt. Fago ist eine sorgende, nährende Form von Liebe. Wenn die geliebte Person weit weg, krank oder tot ist, fühlt man sich schlecht. Diese Gefühle, die wir als Traurigkeit oder Mitgefühl bezeichnen, kennen wir als Konsequenzen unserer Liebe. Für die Ifaluk sind sie Teil von fago; deshalb ist diese sorgende Liebe – in scharfem Kontrast zur Verliebtheit – selbst eine unangenehme Emotion. Auch das intensive Trauern um ein totes Kind wird fago genannt (Lutz 1988: 125f.). Der Begriff nguch hat sowohl Ähnlichkeit zu dem europäischen Begriff der Trauer als auch zu den Emotionen des Ärgers. Er bezeichnet eine Form ungerechtfertigten Ärgers bzw. Frustration (Lutz 1986: 276). “Nguch (...) labels feelings in situations where one must accept that one's individual goals are thwarted” (Lutz 1986: 276). Das damit einhergehende Gefühl und Verhalten lässt sich als müde und reizbar beschreiben. Auch manche emotionale Reaktionen auf den Tod eines Kindes werden mit nguch bezeichnet. Lutz zitiert eine Mutter: 'These days I am often nguch because of my child that died. I think that maybe he will just walk up the path. (...) I can't sleep. I don't like people to bother me [a typical index of nguch]' (Lutz 1988: 128). Im Deutschen würden wir diesen Fall von nguch als Trauer oder als depressive Stimmung beschreiben. Die wichtigste Emotion des Clusters der ärgerlichen Emotionen ist song, die Lutz mit „justified anger“ übersetzt. Eine Person ist song, wenn ein anderer eine Regel 4 Das Deutsche und das Amerikanische sind sich unserer Ansicht nach für die hier besprochenen Fälle ähnlich genug, dass etwaige Unterschiede zwischen diesen Sprachen ignoriert werden können. 5
gebrochen hat; dadurch, dass man song auf jemanden ist, drückt man aus, dass man sein Verhalten missbilligt. Dies tut man nur, wenn die andere Person an sozialem Status mindestens ebenbürtig ist. Die Ifaluk debattieren häufig debattieren, ob sie song sind oder nicht (Lutz 1988: 155f.). „Ich bin song“ ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage „Ich billige das nicht“. Song ist klarerweise eine Emotion – wer song ist, ist innerlich aufgewühlt. Zu song gehört auch ein bestimmtes, emotionales Verhaltensrepertoire; man presst die Lippen zusammen, Bewegungen sind brüsk, man schweigt oder macht dem anderen Vorwürfe, rennt weg (Lutz 1988: 174). Bemerkenswerterweise wird eine Person, die song ist, sehr, sehr selten gewalttätig, da Gewalt bei den Ifaluk verpönt ist. Im Deutschen kennt man Debatten darüber, ob der Ärger einer Person gerechtfertigt ist oder nicht. Die Ifaluk dagegen debattieren zwar über song, haben jedoch keine Schwierigkeiten, zwischen song und nguch zu unterscheiden: Nguch verspürt man, wenn man mit den Umständen unzufrieden aber machtlos ist – song dagegen geht mit einem gewissen Maß an Einfluss einher und zielt darauf, das Verhalten des Anderen zu ändern. Ein weiterer Unterschied ist, dass song anders als Ärger als prosoziale Emotion gilt, denn es zeigt anderen an, welches Verhalten richtig ist und motiviert sie zu sozial erwünschtem Verhalten (Lutz 1988: 156). Bisher haben wir dargelegt, dass fago und song andere Kategorien emotionaler Zustände bezeichnen als Traurigkeit und Wut, fago liegt besonders deutlich quer zu den Kategorien in Europa und den USA. Haben die Ifaluk eine andere Emotion, nämlich fago statt Liebe und Trauer? Anders ausgedrückt: Ist es grundsätzlich geboten, die Emotionen der Ifaluk in andere Kategorien einzuordnen als die Emotionen der Westeuropäer? Diese Frage wird von den linguistischen Konstruktivisten mit Ja und von den evolutionären Theoretikern mit Nein beantwortet. Beide werden im Folgenden diskutiert und jeweils partiell zurückgewiesen. 3 Eine Interpretation begrifflicher Vielfalt: Die These der linguistischen Konstruktion Lutz' Studie ist ein Beleg dafür, dass wir Menschen ein gewisses Maß an Flexibilität haben, wenn es darum geht, einzelne emotionale Zustände in Kategorien einzuordnen, Begriffe für Emotionen zu bilden. Es gibt – jedenfalls auf der Ebene alltäglicher Erfahrungen – unterschiedliche kohärente Arten, einzelne emotionale Zustände in Kategorien einzuordnen. Dies nennen wir die Flexibilitätsthese. Einer Argumentation gemäß folgt aus dieser Flexibilität, dass es keine kulturübergreifend universellen Emotionen, sondern in jeder Sprachgemeinschaft 6
diejenigen Emotionen gibt, für die es dort Begriffe gibt. Lutz' Behauptung, die Emotionen seien nicht natürlich, kann so verstanden werden. Auch der Sozialkonstruktivist Paul Heelas (1986) argumentiert ähnlich. Er behauptet, dass die Begriffe, die Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft zur Verfügung stehen, zusammen mit alltagspsychologischen Überzeugungen über Emotionen die Emotionen erst erschaffen. Die Überzeugungen beiseitegelassen, bietet sich folgende Rekonstruktion des Arguments an: (1) Angenommen, es gäbe einige distinkte universelle Emotionen. (2) Dann würden die Menschen keine Alltagskategorien bilden, die quer zu diesen universellen Emotionen liegen. In sehr vielen Sprachen würde sich für jede distinkte Emotion ein Begriff und somit ein Name herausbilden. (3) Dem ist nicht so. Wir finden sehr unterschiedliche Kategorien. (4) Also gibt es keine distinkten universellen Emotionen. Der Sprung von (1) zu (2) bedarf einer zusätzlichen Prämisse, die Heelas nicht explizit macht: i. Die Unterschiede zwischen distinkten universellen Emotionen sind unserer Alltagserfahrung unmittelbar zugänglich. Wir würden daher diese Emotionen auch ohne zusätzliches vermitteltes Wissen als unterschiedliche Zustände kennen und somit Begriffe von ihnen haben. So wäre (2) zu erwarten, und aus (2) und (3) folgt die Nichtexistenz universeller distinkter Emotionen. 5 Die zusätzliche Prämisse ist jedoch höchst problematisch. Möglicherweise gibt es einige klar voneinander abgegrenzte Emotionen, obwohl wir sie nicht ohne Hilfe vermittelten Wissens als klar voneinander abgegrenzte Emotionen kennen. Dies ist keinesfalls nur eine theoretische Möglichkeit – solche Konstellationen sind in der Psychologie anzutreffen. Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis beispielsweise sind laut psychologischer Forschung zwei unterschiedliche Fähigkeiten mit verschiedenen zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen (Goldstein 2011: 146-156). Dass dem so ist, geht nicht offensichtlich aus den Erfahrungen unserer 5 Prämisse (3) wird beispielsweise durch Lutz' arbeiten gestützt, es gibt jedoch Gegenstimmen: Alonso-Arbiol et al. (2006) und Fontaine et al. (2002) vertreten die Hypothese, dass es fast überall dieselben 4 bis 5 grobkörnigen Kategorien und Unterschiede bei feinkörnigeren Aufteilungen gibt. Sie betrachten ihre vorläufigen Ergebnisse zu begrifflichen Strukturen als Evidenz dafür, dass es kulturunabhängige Basisemotionen gibt. Ihre Argumentation ist also strukturell ähnlich wie unsere Rekonstruktion von Heelas' Argument. 7
Alltagspraxis des Erinnerns und Vergessens hervor. Wir merken nicht, ob wir etwas aus unserem Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnis hervorholen, können es jedoch mit Verhaltens- und Hirnforschung und pathologischen Fällen klar aufzeigen. Vielleicht verhält es sich mit Emotionen ähnlich. Der davon nicht überzeugten Emotionstheoretikerin bleibt die Möglichkeit, diesen Fall durch einen definitorischen Zug hinsichtlich der Kategorie „Emotion“ auszuschließen. Eine Emotion sei demnach erstens – anders als im Fall des Gedächtnisses – notwendigerweise durch eine bestimmte Gefühlsqualität bestimmt. Eine spezifische Gefühlsqualität entstehe zweitens erst mit einer begrifflichen Einordnung der affektiven Reaktion. Erst wenn sich eine Person Trauer zuschreibe, erlebe sie sich als trauernd.6 Beide Thesen möchten wir zurückweisen: im fünften Abschnitt zeigen wir Fälle auf, bei denen es sehr sinnvoll ist, von Emotionen zu sprechen, auch wenn das typische phänomenale Erleben fehlt. Gegen die These, dass erst mittels Begriffen eine spezifische phänomenale Erfahrung bestimmt wird, kann man zum einen darauf verweisen, dass das phänomenale Erleben oft unterbestimmt ist (z.B. bei Scham oder Verlegenheit), d.h. selbst in Fällen, in denen Begriffe eine Emotion mitbestimmen, legen sie keine die Emotion individuierende Erfahrung fest. Zweitens hat diese These die kontraintuitive Konsequenz, dass jemand, der nicht über einen Begriff für eine bestimmte Emotion verfügt, diese Emotion nicht haben kann. Das hieße, dass kleine Kinder, die noch nicht gelernt haben, was „Angst“ bedeutet, keine Angst, sondern nur eine Vorform von Angst haben können. Diese Unterscheidung erscheint uns ob der vielen Gemeinsamkeiten von Angst und ihrer Vorform ad hoc. Wir haben gezeigt, dass aus der konzeptuellen Flexibilität nicht folgt, dass Emotionen sozial konstruiert sind. Wer mithilfe der Flexibilität argumentiert, dass es keine kulturübergreifend universellen Emotionen gibt, der setzt eine Form der linguistischen Konstruktion voraus. Gegen diejenigen, die diesen linguistischen Konstruktivismus nicht teilen, greifen die Argumente der linguistischen Konstruktivisten ins Leere. Dies werden wir im nächsten Abschnitt anhand von Paul Griffiths' (1997, 2004) psychoevolutionärem Zugang zu Emotionen ausführen. 6 Die Schriften der Basisemotion-Gegnerin Lisa Feldman-Barrett (2006a, 2006b) sind ein Beispiel für diese Position. Nach ihr sind wir mit vorbegrifflichem „core affect“ ausgestattet: dieser beinhaltet sämtliche affektive Zustände. Distinkte Emotionen entstehen genau dann, wenn core affect vom Träger des Zustands konzeptualisiert, also in begriffliche Kategorien aufgeteilt wird. 8
4 Der psychoevolutionäre Zugang: Emotionen und natürliche Arten Einen emotionstheoretischen Ansatz, bei dem die Individuierung nicht davon abhängt, wie Emotionen begrifflich erfasst werden, bietet Paul Griffiths (1997, 2004). Unsere Darstellung dieses Ansatzes ist auf die Konzeption des Verhältnisses von Emotionen und Alltagssprache fokussiert. Laut Griffiths bezeichnen einige wenige Begriffe für Emotionen natürliche Arten. Natürliche Arten sind Klassen von Entitäten (Dinge, Substanzen etc.), die mittels natürlicher Eigenschaften individuiert werden, und zwar unabhängig davon, welche Oberflächenmerkmale sich eingebürgert haben, um sie zu charakterisieren. Die Substanz Wasser ist eine natürliche Art, die wir mit den Oberflächeneigenschaften „durchsichtige, trinkbare, geschmacklose Flüssigkeit“ charakterisieren, während sie durch die Eigenschaft, aus H2O-Molekülen zu bestehen, individuiert wird. Gemäß Griffiths ist das zentrale Merkmal einer Emotion, die eine natürliche Art bildet, der gemeinsame phylogenetische Ursprung der Elemente dieser Kategorie (Griffiths 1997: 72, 202-227). So bewertet Griffiths etwa die frühen Arbeiten Paul Ekmans als ein überzeugendes Forschungsprogramm: Ekman hat viele empirische Studien zur Rolle emotionaler Gesichtsausdrücke in teils sehr isoliert lebenden Gemeinschaften durchgeführt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sechs Emotionen mit Gesichtsausdrücken einhergehen, die von Menschen überall auf der Welt korrekt erkannt werden. Diese sechs Emotionen sind Freude, Ärger, Angst, Traurigkeit, Ekel und Überraschung (Ekman 1988: 52f.). Ekman nennt sie Basisemotionen. Sie sind durch ein bestimmtes, den Herausforderungen angemessenes Verhaltens- und Informationsverarbeitungsmuster gekennzeichnet. Wichtig ist auch der kommunikative Aspekt der Ausdrücke; wir erkennen sie gewöhnlich leicht und diese Fähigkeit ist adaptiv (Ekman 1972, 1988).7 Wir akzeptieren die Idee der Basisemotionen, ohne uns damit auf die Auswahl von Ekman oder Griffith festzulegen (s. dazu Zinck/Newen 2008). Wir schlagen zudem vor, von natürlichen emotionalen Arten zu sprechen, um damit alle natürlichen Arten zu 7 Da viele emotionale Zustände zu keiner der wenigen Basisemotionen gehören und sich Ekmans Forschungsprogramm nicht einfach auf die weiteren Zustände übertragen lässt, plädiert Griffiths dafür, dass die Kategorie „Emotionen“ selbst keine natürliche Art ist. Dagegen ist einzuwenden, dass Basisemotionen und andere affektive Zustände viele Gemeinsamkeiten haben, die wir im folgenden Abschnitt vorstellen werden (vgl. auch Prinz 2004, Zinck & Newen 2008). 9
bezeichnen, die sich im Bereich der Emotionen finden lassen. Diese Redeweise lässt zu, dass es zusätzlich zu oder statt Ekmans Basisemotionen andere natürliche Arten im Bereich der Emotionen gibt.8 In scharfem Kontrast zum linguistischen Konstruktivismus helfen uns aus psychoevolutionärer Perspektive Alltagsbegriffe einer Sprachgemeinschaft nicht weiter, um zu klären, welche Emotionen in dieser vorkommen. Alltagsbegriffe können lediglich ein Ausgangspunkt der Theoriebildung sein. Wir referieren mit ihnen (im günstigen Fall) auf eine natürliche Art, von der wir wenig wissen, und deshalb können wir uns nicht darauf verlassen, dass wir die Begriffe „Angst“, „Trauer“ genau für die Fälle gebrauchen, die zu derselben natürlichen Art gehören. Zumindest in wissenschaftlichen Kontexten müssen wir die Offenheit bewahren, im Lichte besserer Theorien unsere bisherigen Einteilungen zu revidieren: Wir müssen entweder die Extension unserer Alltagsbegriffe entsprechend anpassen oder den Begriff ganz aufgeben, falls er zu sehr quer zu den Einteilungen der Natur liegt. Interessanterweise kann fago ebenso gut als Ausgangspunkt dieser Strategie fungieren. Es ist möglich, dass eine Basisemotion sowohl viele Fälle von Traurigkeit als auch fago abdeckt, und es ist nicht klar, ob sie mehr mit Traurigkeit oder mit fago gemein hat.9 Die Annahme, dass europäische Kategorien in höherem Maß deckungsgleich zu natürlichen emotionalen Arten sind als pazifische, wäre tatsächlich – in den Worten der Anthropologen – eurozentrisch.10 Wenn die hier skizzierte Offenheit in der Forschung angewandt wird, vermeidet ein psychoevolutionäres Forschungsprogramm den Eurozentrismus. Ein zentraler Einwand der Sozialkonstruktivisten ist damit zurückgewiesen. Nicht nur ist linguistische Flexibilität kompatibel mit dem psychoevolutionären Zugang, sie kann darüber hinaus zu einem Argument für diesen Zugang beitragen. Da wir eine starke Flexibilität im Zuschneiden von Kategorien für Emotionen haben, werden diese Kategorien häufig nicht deckungsgleich mit natürlichen Arten sein. 8 Ekman hat seinen Katalog von Basisemotionen in den neunziger Jahren auf 15 Emotionen erweitert (Ekman 1999). 9 Panksepp (2007) führt statt Traurigkeit beispielsweise separation distress in seiner Liste der Basisemotionen. Traurigkeit und separation distress sind nicht deckungsgleich in ihrer Extension. 10 Außerdem ist es möglich, dass eine natürliche emotionale Art nur unter bestimmten sozialen Bedingungen entsteht, die nicht in jeder Gesellschaft vorliegen (dazu mehr im siebten Abschnitt). 10
Wir müssen dazu zwei Arten von Flexibilität auseinander halten: Flexibilität besteht insofern, als es – unsere Alltagserfahrungen vorausgesetzt – mehrere kohärente Möglichkeiten gibt, Kategorien für Emotionen zuzuschneiden. Dies ist eine deskriptive These, die durch Studien wie die von Lutz gestützt wird. Es gibt dazu normative Varianten der Flexibilitätsthese, nämlich, dass verschiedene Kategorisierungen gleich legitim sind. Hier erhebt Griffiths Einspruch. Zumindest in der Wissenschaft haben wir nach Griffiths keine normative Flexibilität: Wenn es natürliche Arten von Emotionen gibt, dann soll unsere Wissenschaftssprache Begriffe nur für diese Kategorien bereithalten. Vielversprechend an Griffiths' Zugang ist, dass er die verwandten Fragen nach den Wesensmerkmalen von Emotionen und nach deren Individuierung anders angeht als Philosophen es traditionellerweise getan haben: Was eine Emotion ist, kann und muss nicht im Lehnstuhl definiert werden. Stattdessen tragen Ergebnisse und Theoriebildung empirischer Wissenschaften wesentlich dazu bei, die zentralen Eigenschaften von Emotionen festzumachen, auch dann, wenn das Objekt der Forschung nicht klar definiert ist. Die vorgestellte psychoevolutionäre Kategorisierung in wenige Basisemotionen als die einzig legitime Kategorisierung ist allerdings wenig überzeugend. Denn die grobkörnige Aufteilung in wenige Basisemotionen kann die Alltagsphänomene der Emotionen nur sehr begrenzt einfangen. Daher entwickeln wir im Folgenden eine Alternative. 5 Die Individuierung von Emotionen durch emotionale Muster Der Phänomenbereich, der mit „Emotionen“ überschrieben ist und von dem Emotionstheorien handeln, lässt sich folgendermaßen analysieren: Emotionen sind heterogene Phänomene, die durch eine Reihe von Komponenten charakterisiert werden, ohne sich auf eine dieser Komponenten reduzieren zu lassen. Bis auf wenige Ausnahmen ist ein typisches Merkmal jedoch nicht zugleich ein essentielles (unverzichtbare) für eine Emotion. Diese Idee ist vom späten Wittgenstein inspiriert, bei dem jedoch die Frage im Vordergrund steht, wie die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke konstituiert wird, während hier die Frage nach der Individuation von Emotionen als kognitiven Phänomenen gestellt wird.11 Unsere Konzeption weist klar über Wittgenstein hinaus, und zwar 1. aufgrund der prinzipiellen Dominanz der Rolle von Ergebnissen aus empirischen Studien zu Verhaltens- und Reaktionsmustern über 11 Außerdem bleibt die Idee beim späten Wittgenstein sehr unbestimmt, während wir dies auch exemplarisch konkreter ausarbeiten möchten. 11
eine natürlichsprachliche Wortwahl, 2. aufgrund des primär kognitiven Zugangs zu Emotionen, bei dem „privates“ Erleben und auch „private“ Begriffsbildungen als konstitutive Aspekte berücksichtigt werden können. Die Grundidee, dass Emotionen wesentlich durch eine variable Menge von typischen Merkmalen individuiert werden, die zugleich zumindest teilweise eine typische zeitliche Anordnung aufweisen, soll durch die Rede von Emotionsmustern eingefangen werden. Dabei wird ein Emotionsmuster als ein prototypisches Muster aufgefasst, das aus einer Reihe von charakteristischen Komponenten besteht, die für jede Emotion in einer typischen Weise ausgeprägt und (partiell) zeitlich angeordnet sind. Einerseits knüpft dies an psychologische Komponententheorien der Emotionen an (Scherer 2009), andererseits ist es inspiriert von empirischen Forschungen zum Erkennen von Emotionen: Eine Emotion zu erkennen, bedeutet demnach, ein bestimmtes Ausdrucks- und Verhaltensmuster zu erkennen, wobei dem Gesichtsausdruck, der selbst Musterstruktur aufweist, eine entscheidende Rolle zugeschrieben wird (Buck 1984, Bänzinger 2009). Die Charakterisierung von Emotionen als Muster von Komponenten ist grundsätzlich mit der Auffassung von Griffiths kompatibel – auch er beschreibt eine natürliche emotionale Art als „coordinated set of changes that constitute the emotional response“ (Griffiths 1997: 77), aber wir entwickeln eine Theorie der emotionalen Muster als eine Rahmentheorie zur Individuierung von Emotionen, die eine größere Allgemeingültigkeit aufweist. Dies wird nun näher erläutert. Im ersten Schritt wird ein solches prototypisches Muster genauer bestimmt, und zwar hinsichtlich der Merkmalstypen, die für eine Emotion relevant sind, und ihrer Komposition. Zu den relevanten Merkmalen zählen wir: a. Affektive, vegetative Körperzustände b. Verhalten und Verhaltensdispositionen mit besonderer Relevanz der sprachlichen Äußerungen einer Person c. Expressive Merkmale: Mimik, Gestik, Körperhaltung, Stimmlage, Intonation mit besonderer Relevanz des Gesichtsausdrucks d. Phänomenale Erlebnisse e. Kognitive Modi (z.B. Aufmerksamkeitsveränderungen), insbesondere kognitive Einstellungen 12
Darüber hinaus ist es konstitutiv für eine Emotion, dass diese normalerweise auf ein Objekt gerichtet ist: f. das intentionale Objekt der Emotion Damit sind unserer Meinung nach alle wichtigen Merkmalsgruppen aufgezeigt, die charakteristischerweise in einem Emotionsmuster auftreten. 12 Da nach unserer Auffassung alle Merkmale sich in neuronalen Aktivierungen niederschlagen, sind diese nicht als eigene Dimension aufgezeigt. Wir betrachten sie als eine Zugangsform für jedes Merkmal.13 Was spricht dafür, dass wir mit diesen Kriterien genau die charakteristischen Merkmalstypen von Emotionen erfasst haben? Erstens stellt sich die Frage, ob sich Emotionen nicht sparsamer charakterisieren lassen. Jedoch ermöglicht es erst die relativ komplexe Individuierung durch emotionale Muster, die vielfältigen Ausprägungsformen einer Emotionskategorie wie Angst zu erfassen. Jedenfalls ist zurzeit keine sparsamere allgemeine Theorie verfügbar. Sicherlich lassen sich bestimmte Vorkommnisse von Angst (wie die basale Angst vor Schlangen) durch wenige nicht-kognitive Faktoren vollständig beschreiben, aber bei Eifersucht benötigen wir beispielsweise weitergehende, kognitive Faktoren der Individuierung. Eine möglichst umfassende Theorie bzw. einen solchen Theorierahmen betrachten wir jedoch als eine Adäquatheitsanforderung für eine Emotionstheorie. Wir sind offen für die Entwicklung einer sparsameren Theorie, sehen aber zurzeit die Gefahr, dann statt einer Theorie der Emotionen nur eine Theorie zu haben, die für einen kleinen Ausschnitt des Phänomenbereichs adäquat und nicht verallgemeinerbar ist. Ein Argument dafür, dass all diese Merkmalsgruppen zu den charakteristischen Merkmalen beitragen, unsere Aufzählung also keine überflüssigen Elemente enthält, besteht einmal darin, dass wir für jede Emotion typische Ausprägungen der Merkmale nennen können, sobald man auch komplexe Emotionen mit berücksichtigt. Wir betrachten zunächst die Basisemotion Angst und im Anschluss Eifersucht. 12Diese Liste mag die Frage aufwerfen, wie sich die Merkmale zueinander verhalten. Sind die kognitiven Merkmale primär gegenüber dem Verhalten? Ist das phänomenale Erleben auf die Wahrnehmung von Körperreaktionen reduzierbar? Diese Fragen zu klären, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. 13 Wenn man diese Rolle neuronaler Zustände nicht akzeptiert, müsste man eine eigene Merkmalsdimension von neuronalen Aktivierungsmusters hinzufügen. 13
Angst umgebungs- enthaltene subjektrelative Merkmale bezogene Bewertungen Merkmale kognitive 5. Kognitive Einstellungen: - phänomenale 4. Phänomenales Erleben: - Angstgefühl 3. Expressive Merkmale: - Angstausdruck Gesichtsausdruck Intentionales Gestik Objekt: z.B. Körperhaltung bissiger Hund Stimmlage Vokalisierung körper- bezogene 2.Verhalten bzw. - Flucht/-reflex Verhaltensdispositionen: - Erstarren - Verteidigung 1.Affektive und vegetative - hohe Schwitzrate Merkmale: - hohe Herzfrequenz - flache Atmung Eine Reaktion wird dem Prototypen einer Emotion unähnlicher, sobald eine der Ausprägungen anders ausfällt als bei dem Prototypen. Wenn die Ausprägung gänzlich anders ausfällt, wird die Emotion häufig als ein Grenzfall des Emotionstyps bewertet, so wie in dem Fall der Verdränger von Angstgefühlen. Verdränger berichten aufrichtig, dass sie in einer Standardsituation, die paradigmatischerweise bei Menschen Angst induziert, keine Angst erleben. Zugleich lassen sich jedoch typische physiologische Merkmale von Angst (hoher Blutdruck, sehr hohe Herzfrequenz, Muskelanspannung, starkes Schwitzen etc.) messen und behaviorale sowie expressive Merkmale (Gesichtsausdruck, Sprachmuster, Reaktionszeiten etc.) beobachten (Weinberger 1990, Weinberger et al. 1994, Sparks et al. 1999). Angst ohne typisches phänomenales Erleben wird als Grenzfall eingeschätzt, der jedoch in unserer Theorie emotionaler Muster als Fall von Angst eingeordnet werden kann. Bei der Rolle der kognitiven Merkmale liegen uneinheitliche Intuitionen vor, wenn es um die Frage geht, ob eine Angst wesentlich eine Überzeugung involviert, dass eine Gefahr vorliegt: Die Studien von LeDoux (1996) zeigen, dass es reflexartige Angstreaktionen gibt, bei denen kognitive Einstellungen nicht mit im Spiel sein müssen. Er zeigt zwei Verarbeitungswege von Angst auf; darunter einen, der ohne die 14
Beteiligung des Neocortex auskommt und nach unstrittigem Verständnis über kognitive Verarbeitungen keine Einstellungen involvieren kann.14 Darüber hinaus entwickeln wir spezifische Begriffe für Angst, etwa Prüfungsangst oder Angst vor wilden Tieren. Das intentionale Objekt ist dann konstitutiv für diese spezifische Form der Angst. Damit unterstellen wir einem Träger einer spezifischen Angst, dass er das Objekt seiner Angst erfassen kann – für Angst vor Prüfungen bedarf es dazu elaborierter kognitiver Einstellungen. Das Feld der kognitiven Modi wäre für Prüfungsangst daher nicht leer. Trotzdem ist es möglich, dass jemand Angst vor einer Prüfung hat, die er für unwichtig hält. Die Charakterisierung verschiedener emotionaler Muster kann der Unterscheidung zwischen Basisemotionen und komplexeren (kognitiven) Emotionen sehr gut Rechnung tragen (Zinck & Newen 2008). Basisemotionen werden allein durch die verkörperten Merkmale individuiert. Wir müssen dem Träger der Emotion keine spezifischen kognitiven Einstellungen zuschreiben. Spezifischere Emotionen wie Bedrohung, Prüfungsangst oder Angst vor wilden Tieren werden dazu durch intentionale Objekte und häufig zudem durch kognitive Einstellungen individuiert. Dies verdeutlicht ein Schaubild für Eifersucht: 14 Auf LeDoux' subkortikalem Verarbeitungsweg können allerdings nur Bewegungen und laute Töne verarbeitet werden, Angst vor einem bissigen Hund kann auf diesem Wege nach unserem derzeitigen Stand der Neurophysiologie nicht entstehen, wie Johnson (2008) zeigt. 15
Eifersucht umgebungs- enthaltene subjektrelative Merkmale bezogene Bewertungen Merkmale 5. Kognitive Einstellungen: - Rivalen abwerten kognitive - Selbstzweifel - Partner verdächtigen 4. Phänomenales Erleben: - „Stich“, Unruhe, phänomenale Phantasien … 3. Expressive Merkmale: - ähneln Ärger, Angst, Intentionales Gesichtsausdruck manchmal Ekel oder Objekt: Gestik Verzweiflung rivalisierende Körperhaltung Beziehung Stimmlage Vokalisierung körper- bezogene 2.Verhalten bzw. - Protest (z.B. Ärger, Verhaltensdispositionen: Vorwürfe), Annäherung an geliebte Person 1.Affektive und vegetative - heterogen, ähnlich Merkmale: wie in 3. Außerdem stellt sich die Frage, ob wir zu sparsam sind: Warum müssen wir nicht noch typische Ursachen der Emotion oder spezifisches Hintergrundwissen einer Person und dabei insbesondere das Wissen über soziale Konventionen mit berücksichtigen? Auf den ersten Blick scheinen diese Komponenten wichtig für Emotionen zu sein. Um ihre Rolle einzuschätzen, ist es jedoch erstens wichtig, zwischen den typischen kausalen Rahmenbedingungen für das Entstehen einer Emotion einerseits und den konstitutiven Bedingungen für das Vorliegen einer Emotion andererseits zu unterscheiden. Es ist nicht konstitutiv für die Emotion Angst, dass sie oft entsteht, wenn Menschen beim Zahnarzt sind oder wenn sie alleine zu Hause sind, sondern dies sind nur typische kausale Entstehensbedingungen.15 Zweitens sollten die konstitutiven Bedingungen für das Haben einer Emotion von den 15 Entscheidend ist nicht eine typische kausale Ursache, sondern das intentionale Objekt, welches die Emotion mitbestimmt. Allerdings gibt es durchaus einen Unterschied zwischen der Individuierung und dem Erkennen von Emotionen. Beim Erkennen sind Ursachen für Dritte leichter erfassbar und daher oft zentral, um das intentionale Objekt zu erfassen, welches zu den konstitutiven Elementen gehört. 16
Bedingungen, die für das Erkennen einer Emotion bei anderen Personen zentral sind, abgegrenzt werden. Beim Erkennen einer Emotion haben wir oftmals nur eingeschränkten Zugang zu den konstitutiven Bedingungen, die wir idealerweise erfassen sollten: während das behaviorale und expressive Verhalten meist offen liegen, bleibt es oft schwer erfassbar, was genau das phänomenale Erleben in diesem Moment ist, welches die affektiven Körpervorgänge sind und was diese Person gerade denkt. Dadurch werden beim Erkennen das Hintergrundwissen über die Person, ihre kulturellen und sozialen Bedingungen sehr wichtig, weil sie es auch bei wenig Beobachtungsinformation ermöglichen, zu einer Einschätzung zu kommen, welche konstitutiven Bedingungen vorliegen; aber deshalb ist dieses Wissen noch nicht konstitutiv für die relevante Emotion.16 Diese Grundkonzeption einer Individuierung von Emotionen durch emotionale Muster soll im folgenden Schritt durch eine Diskussion der Adäquatheitsbedingungen für Individuierungen ausgebaut werden. Wir unterscheiden dazu zwischen alltagspsychologischen und wissenschaftlichen emotionalen Mustern. Eine Theorie der Individuierung von Emotionen sollte in der Lage sein, eine Brücke zwischen den Alltagskategorien und den wissenschaftlichen Begriffen zu schlagen. 6 Alltagspsychologische und wissenschaftliche emotionale Muster Betrachtet man das Vorliegen einer Emotion als gemeinsames Auftreten eines typischen Bündels von Merkmalen, so lassen sich verschiedene Kategorien in Form von verschiedenen Merkmalsmustern bilden. Das haben wir als begriffliche Flexibilität bezeichnet. Wie kann eine Einordnung von Griffiths' Theorie in unsere Theorie emotionaler Muster aussehen? Griffiths hat mit seinem psychoevolutionären Ansatz eine wissenschaftliche Theorie der Emotionen vorgeschlagen. Dieser Ansatz lässt sich mit Hilfe der Theorie der emotionalen Muster als ein Spezialfall einordnen und zugleich können wir mit diesem Instrument unsere Alltagsbegriffe zu den wissenschaftlichen Begriffsbildungen systematisch in Beziehung setzen. Eine solche Beziehung ist nicht nur eine nette Randerscheinung, sondern gehört mit zu den Adäquatheitsbedingungen für eine allgemeine Emotionstheorie: Unsere Alltagsbegriffe von Emotionen spiegeln teilweise 16 Beim Erkennen von Emotionen wir dann noch wesentlich, in welcher Weise die Merkmalscluster erfasst und verarbeitet werden. Dabei lassen sich eine intuitive, präreflexive und eine inferentielle, reflexive Verarbeitung der Merkmale unterscheiden. Diese Unterscheidung ist entsprechend bei einer Untersuchung zum Erkennen von Emotionen zu berücksichtigen. 17
unsere tief verankerten Verhaltens- und Reaktionsweisen wider und sie sind Teil unseres Selbst- und Fremdverständnisses als Individuen. Wenn wir die Verhaltens- und Reaktionsweisen wissenschaftlich erklären und alltagspsychologisch als Teil unseres Selbst- und Fremdverständnisses verstehen möchten, so benötigen wir eine Theorie, die eine Brücke von den Alltagsbegriffen zu den besten wissenschaftlichen Kategorien schlagen kann. Dies scheint die Kategorisierung in fünf bis sieben Basisemotionen allein nicht zu leisten. Die Kriterien, die Griffiths für eine natürliche Art angibt, sind zudem nicht unabhängig von den Erklärungen, nach denen er sucht. Griffiths' Darstellung hebt hervor, wie Emotionen in der evolutionären Psychologie (im weiten Sinne) individuiert werden sollen. Aber es ist nicht offensichtlich, dass fruchtbare Kategorien wissenschaftlicher Forschung immer einen gemeinsamen phylogenetischen Ursprung als Hauptkriterium berücksichtigen müssen. Neben den von Griffiths vorgeschlagenen Begriffen finden sich in der Wissenschaft der Emotionen auch andere Beschreibungsweisen, darunter einige feinkörnigere Aufteilungen in spezifischere Emotionen, beispielsweise in der Entwicklungspsychologie oder in der klinischen Psychologie. Ohne dass wir hier ins Detail gehen können, wäre es merkwürdig, wenn all diese Forschungsprogramme keinen Erfolg dabei hätten, wissenschaftlich fundierte Kategorien zu entwickeln. Ein Emotionsmuster, für das keine (oder noch keine) überzeugende evolutionäre Erklärung gefunden wurde, kann stabil und robust genug sein, um Gegenstand psychologischer Fragestellungen zu sein. Dies führt uns zu einem Pluralismus: Es gibt verschiedene Arten, Emotionen zu individuieren, die legitim in ihrem jeweiligen Erklärungskontext sind. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Individuierungsweisen sind emotionale Muster. Nach welchen Kriterien einzelne emotionale Zustände in Kategorien zusammengefasst werden sollen, hängt davon ab, welche Aspekte der Emotionen im Zentrum einer wissenschaftlichen Fragestellung liegen. Dabei ist nicht jede Kategorisierung fruchtbar für die jeweilige Fragestellung und welche es ist, hängt wesentlich davon ab, wie die Welt beschaffen ist, was ein wichtiger Aspekt von Griffiths' Zugang ist.17 17 Dieser Vorschlag hat einige Parallelen zu dem „promiscuous realism“ von John Dupré, gemäß dem verschiedene Taxonomien im Bereich der Lebenswissenschaften legitim sein können (Dupré 1993). Dupré behauptet, dieser Pluralismus die beste Strategie ist, weil es viele Sollbruchstellen für Kategorisierungen in der Natur selbst gibt. Es könnte jedoch sein, dass der Pluralismus nur provisorisch ist, bis wir Einteilungen gefunden haben, die für alle wissenschaftlichen Fragestellungen 18
Nachdem wir verschiedene wissenschaftliche Begriffsbildungen in den Blick genommen haben, möchten wir nun zu der Frage kommen, wie die Alltagsbegriffe sich zu den wissenschaftlichen Begriffen verhalten. Hier soll die These vertreten werden, dass die Begriffsbildungen unterschiedlichen Verwendungszwecken geschuldet sind. Im Alltag haben Emotionen vor allem den Zweck der schnellen Bewertung einer Situation und der Kommunikation; wir drücken einem Gegenüber nicht nur unsere subjektiven Befindlichkeiten, sondern in erster Linie evaluative Einstellungen und die eigene Haltung zu einer zwischenmenschlichen Beziehung aus. Emotionsmuster, die wir im Alltag nutzen, werden an anderen Kriterien gemessen als wissenschaftliche Muster. Da das Ziel ein anderes ist als die Ziele wissenschaftlicher Fragestellungen, ist es legitim, wenn wir unsere Begriffsbildung und Sprachpraxis nicht immer Erkenntnissen über fruchtbare Kategorien wissenschaftlicher Forschung anpassen. Nehmen wir an, es stellt sich heraus, dass „Eifersucht“ keine fruchtbare wissenschaftliche Kategorie bezeichnet. Trotzdem ist es von praktischem Nutzen, den Begriff der Eifersucht zur Verfügung zu haben. Der Satz: „Ich bin eifersüchtig auf deine Arbeitskollegin“ drückt einen komplexen Sachverhalt präzise und ökonomisch aus, ohne die einzelnen Elemente der Eifersucht auflisten zu müssen; er beinhaltet die wichtigsten Aspekte einer ausführlichen Beschreibung und um diese Ausdrucksmöglichkeit würden wir uns nicht bringen lassen. Dies lässt sich für weitere Emotionen verallgemeinern: Stellen wir uns eine Kategorisierung X vor, die für wissenschaftliche Zwecke besonders fruchtbar ist, aber quer zu Alltagskategorien liegt. Die Gründe, warum wir sie in wissenschaftlichen Kontexten annehmen sollen, greifen nicht für Alltagskontexte, weil es das Ziel der Alltagssprache ist, Einstellungen zu anderen Menschen kommunizieren zu können.18 Mit jeder Kategorisierung können bestimmte Einstellungen besonders ökonomisch ausgedrückt werden. Wir können erwarten, dass es von sozialen Faktoren, also davon, relevant sind, weil sie echte Einteilungen in der Natur widerspiegeln Wir verhalten uns neutral zu diesen Positionen, wir möchten nur einen pragmatischen methodischen, keinen metaphysischen Punkt machen.. 18 Die These kann mit der Überlegung, dass Gesichtsausdrücke eine kommunikative Funktion haben (Zinck & Newen 2008), zu einer kommunikativen Theorie der Emotionen ergänzt werden. Denn auch die verbalen Ausdrücke von Emotionen dienen in erster Linie kommunikativen Zwecken; es ist demnach zu erwarten, dass wir die vielfältigen Möglichkeiten, die Sprache uns bietet, nutzen, um entsprechende Haltungen zu kommunizieren. Verbale Beschreibungen unserer Emotionen haben aber auch Nachteile gegenüber nonverbalen: Lügen ist einfacher als eine glaubhafte Emotion nonverbal vorzuspielen. 19
wie zwischenmenschliche Beziehungen in einer Gesellschaft gestaltet sind, abhängt, welche Begriffe sich als besonders hilfreich für das Kommunizieren von affektiven Beziehungsaspekten und für andere relevante Bewertungen erweisen. Die Tatsache, dass wir einen Begriff für Prüfungsangst und keinen gesonderten Begriff für „Angst vor Tieren“ nutzen (wir können ihn zwar bilden, aber zumindest drücken wir ihn nicht sprachlich aus), liegt wohl darin, dass wir in einer Welt mit einem institutionalisierten Bildungssystem leben. Diese Hypothese wird durch Ergebnisse anthropologischer Arbeiten unterstützt. Die indonesischen Makassar etwa haben keine Bezeichnung für und keinen Begriff von (sexueller) Eifersucht (Röttger-Rössler 2008). 19 Röttger-Rössler führt das auf mehrere Faktoren zurück. Erstens sind die Sphären, in denen sich makassische Männer und Frauen außerhalb der Familie bewegen, stark voneinander getrennt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Ehepartner einen potenziellen Sexualpartner des anderen Geschlechts kennenlernt, ist deshalb gering. Außereheliche sexuelle Aktivitäten werden zudem streng bestraft. Außerdem ist das Liebesideal entsprechend der dort üblichen arrangierten Ehen darauf ausgelegt, keine symbiotischen Paarbeziehungen, sondern eigene emotionale Unabhängigkeit zu fördern. Die Makassar kennen laut Röttger-Rössler durchaus die Angst, den Ehepartner an eine andere Person zu verlieren. Dies stellen sie sich aber nicht als eigene Emotion vor, sondern einfach als Angst. Sie haben keine eigenen „Ausdrucks- und Verhaltensregeln“, kein „kulturelles Skript“ dafür – in unserer Terminologie klassifizieren sie Eifersucht nicht als ein eigenständiges emotionales Muster. Wie in anderen Fällen, wenn sie ihre Beziehung in Gefahr sehen, bitten sie den Magier, die Beziehung zu schützen. Das Vertrauen in derartige Zauber ist groß (Röttger-Rössler 2008). Die Makassar benötigen einen Begriff von Eifersucht also weniger dringend als Europäer. Dieses Fallbeispiel zeigt, welche sozialen und kulturellen Faktoren eine Rolle dabei spielen können, ob sich ein eigener Begriff für eine Gruppe von emotionalen Reaktionen etabliert oder nicht. Für unsere Betrachtungsweise ist es entscheidend, die Individuierung aus der Alltagsperspektive und die aus der wissenschaftlichen Perspektive zu trennen-, weil es 19 Allerdings beschreibt Röttger-Rössler (2004: 164) ein Wort, das die Makassar für eine starke Form von Wut nutzen, die Ehefrauen empfinden, wenn sie ihren Mann verdächtigen, eine Geliebte zu haben. Die Makassar unterscheiden im Allgemeinen zwischen vielen Varianten von Wut. Das Wort scheint auch in Erzählungen, in denen eifersüchtige Gefühle eine Rolle spielen, kaum genutzt zu werden (Röttger-Rössler 2004: 321-328). 20
verschiedene Ziele der Betrachtung von Emotionen gibt. Diese Ziele lassen sich nicht gegeneinander ausspielen oder ersetzen und somit auch nicht die damit verbundenen Individuierungen. Gleichzeitig soll der Bezug wissenschaftlicher zu alltagspsychologischen Kategorien sichergestellt werden. Angewandte Forschung in der klinischen Psychologie ist sogar inhärent so angelegt, dass sie Alltagskategorien einbezieht: Im therapeutischen Kontext muss mit psychologischen Alltagskategorien gearbeitet werden, denn sonst könnte den Patienten nur schwerlich alltagstaugliches Wissen über sich selbst vermittelt werden. Um Therapiemethoden wissenschaftlich zu überprüfen oder neue zu entwickeln, müssen diese Kategorien einbezogen werden. Der psychoevolutionäre Zugang bietet derzeit eine zu grobe Individuierung, um für diese angewandte psychologische Forschung angemessene Kategorien zu bieten. Gleichzeitig können klinische Psychologie und Therapie von neuen wissenschaftlichen Theorien, die auch neue Begrifflichkeiten einführen, profitieren. So können sich Alltagsbegriffe verändern und neue können entstehen. Selbst wenn sich in der klinischen Psychologie Alltags- und wissenschaftliche Kategorien nicht immer unterscheiden lassen, so folgt daraus jedoch nicht, dass diese Unterscheidung grundsätzlich hinfällig ist – es gibt trotzdem paradigmatische Fälle wissenschaftlicher Kategorien und paradigmatische Fälle von Alltagskategorien. Damit wird es möglich, das Verhalten einer Person in eine wissenschaftliche Kategorie einzuordnen, auch wenn sie selbst dieses Verhalten anders klassifiziert, ohne dass einer der Beteiligten falsche Begriffe verwendet. Diese Beziehungen können in einer Theorie der emotionalen Muster, die verschiedene Bündelungen von charakteristischen Merkmalen zu Emotionsmustern ermöglicht, eingefangen werden, ohne in Beliebigkeit zu verfallen. Damit bietet die Theorie emotionaler Muster einen interessanten neuen Rahmen, den es schrittweise näher auszufüllen gilt. 7 Begriffsbildung und die Kulturabhängigkeit von Emotionsmustern Nun haben wir die Ressourcen beisammen, die Frage nach der Kulturabhängigkeit von Emotionen präziser stellen zu können. Betrachten wir zunächst Emotionen aus der Alltagsperspektive. Dort stellt sich die Frage, welche Muster in einer Gemeinschaft begrifflich repräsentiert werden und welche Begriffe eine prominente Rolle beim Verstehen von Menschen in dieser Gemeinschaft spielen. Wir haben Evidenz dafür präsentiert, dass in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Emotionsmuster 21
prominente Alltagsbegriffe bilden und einige Muster nicht in jeder Gemeinschaft begrifflich repräsentiert werden (z.B. fago oder Eifersucht). Zweitens stellt sich die Frage, welche Emotionsmuster in einer Gemeinschaft tatsächlich ausgemacht werden können, selbst wenn sie von den Mitgliedern nicht explizit sprachlich kodiert werden. Beispielsweise finden wir das Emotionsmuster für Eifersucht bei den Makassar in einigen wenigen Fällen, auch wenn sie diese Fälle nicht als eigene Emotion auffassen. Betrachten wir dazu die Anwendung des Begriffs fago aus der Sicht der Ifaluk auf Deutsche: Ifaluk würden deutschen Eltern, die um ihr Kind trauern, fago zuschreiben, weil der affektive Ausdruck ähnlich ist. Die Ifaluk würden jedoch auch erkennen, dass fago in Deutschland seltener ist als auf Ifaluk und dass es nur in Extremsituationen wie Tod und Krankheit von Angehörigen empfunden wird. Milde Formen von fago, die das alltägliche Miteinander auf Ifaluk steuern, würden die Ifaluk in Deutschland nicht vorfinden und vielleicht würden sie zu dem Schluss kommen, dass Deutsche nur sehr eingeschränkt fähig zu fago wären.20 Wie verhält es sich mit wissenschaftlichen Mustern? Ein wissenschaftliches Muster zeichnet sich, wie dargestellt, dadurch aus, dass es die Fälle herausgreift, die die für die jeweilige Fragestellung relevanten Eigenschaften haben, dabei muss es nicht bei allen Menschen und nicht in allen Gemeinschaften vorhanden sein. Es könnte beispielsweise sein, dass fago ein wissenschaftliches Muster für manche Zwecke auf Ifaluk ist, aber kein wissenschaftliches Muster in Mitteleuropa ist. Dies wäre dann der Fall, wenn es auf Ifaluk eine – für manche wissenschaftliche Fragen – hinreichend einheitliche Klasse von Fällen bezeichnen würde, während dies in Mitteleuropa nicht der Fall sein würde.21 Diese Fragen können Anthropologen und Psychologinnen nur beantworten, wenn sie die Ausprägung der oben genannten Muster-Komponenten möglichst systematisch beobachten und ihren Untersuchungsgegenstand nicht auf die begriffliche und sprachliche Ebene beschränken22. Dieses Vorgehen ist vergleichsweise aufwendig. 20 Es ist vorstellbar, dass sie dies als erklärungsbedürftige emotionale Verarmung auffassen würden. 21 Auch könnte es sein, dass fago auf Ifaluk zwar ein guter alltagspsychologischer Begriff ist, sich aber für keine lebenswissenschaftliche oder psychologische Fragestellung als fruchtbar erweist. 22 Röttger-Rössler 2004 argumentiert ähnlich gegen Lutz und beschränkt ihre Feldstudie entsprechend nicht auf begriffliche Aspekte. 22
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