Emotion und Kultur: Wie individuieren wir Emotionen und welche Rolle spielen kulturelle Faktoren dabei? - Anna Welpinghus ...

 
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Emotion und Kultur: Wie individuieren wir Emotionen und welche
      Rolle spielen kulturelle Faktoren dabei?
Anna Welpinghus, LWL-Universitätsklinikum Bochum, Ruhr-Universität Bochum,
                  Albert Newen, Ruhr-Universität Bochum
Abstract
Nach wie vor ist eine philosophische Grundfrage in Verbindung mit Emotionen
ungeklärt, nämlich: Wie werden Emotionen individuiert? In direktem Zusammenhang
damit steht die aktuelle Debatte darum, welche Merkmale von Emotionen
kulturabhängig und welche universell sind. Es wird argumentiert, dass Emotionen
durch emotionale Muster individuiert werden, wobei diese Muster durch eine Reihe
von charakteristischen Merkmalen bestimmbar sind, die sich näher beschreiben lassen.
Die Kulturabhängigkeit lässt sich im Spannungsfeld von psychoevolutionären Theorien
einerseits und linguistischem Konstruktivismus andererseits genauer eingrenzen: Wenn
die charakteristischen Merkmale eines emotionalen Musters vorwiegend biologisch
sind, wie es bei Basisemotionen der Fall ist, sind kulturelle Einflüsse marginal. Wenn
dagegen die charakteristischen Merkmale eines emotionalen Musters stark kognitiv
oder behavioral sind, dann ist es möglich, dass dieses Muster nur in einigen
Gemeinschaften vorzufinden ist, da Faktoren zu seiner Entstehung und Konstitution
beitragen, die nur dort auftreten.

                                       English abstract
The crucial philosophical question of how emotions are individuated still awaits
clarification. This question is also central to the current debate about culture-specific
versus universal characteristics of emotions. In this article it is argued that emotions are
individuated through emotional patterns. These patterns can be specified by several
unique features, which will be listed and described. This strategy, which takes into
account constraints from both evolutionary psychology and linguistic constructionism,
allows us to answer the question about culture-specificity in the following way: If the
characteristic aspects of an emotion pattern are primarily biological, as it is the case for
basic emotions, cultural influences are marginal. By contrast, if the characteristic
aspects are to a large extent cognitive or behavioral, it is possible that this pattern can
only be found in some communities, because some factors which contribute to its
development and constitution are only to be found there.

    1. Einführung1
Eine der großen akademischen Debatten über die Beschaffenheit der Emotionen kreist
darum, inwieweit Emotionen in allen menschlichen Kulturen dieselben sind und
inwieweit Emotionen durch sozio-kulturelle Faktoren geprägt werden. Dies ist die auf
Emotionen bezogene Variante der „Natur oder Sozialisation?“-Debatte, die sowohl in

1 Teile dieses Artikels wurden bei der European Graduate School – Philosophy of Language, Mind,
  and Science im Oktober 2010 in Lausanne und bei der Tagung der Deutschen Gesellschaft für
  Philosophie im September 2011 in München vorgestellt. Unser Dank gilt Lena Kästner, Andreas
  Pittrich und Philipp von dem Knesebeck für Anmerkungen zu früheren Versionen des Textes. Wir
  danken allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe von Prof. Newen an der Ruhr-Universität und der
  Arbeitsgruppe von Prof. Georg Juckel an der LWL-UniversitätsklinikBochum für ihre vielfältige
  Unterstützung, insbesondere Herrn Juckel selbst.

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der Psychologie als auch in angrenzenden Disziplinen geführt wird. Um die Frage zu
beantworten, ob es in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Emotionen gibt, gilt
es zu klären, wann zwei Entitäten, die wir zu den Emotionen zählen, tatsächlich
unterschiedliche Emotionen sind und wann sie zwei Instanzen derselben Emotion sind.
Wir sollten drei Dimensionen der Individuierung von Emotionen unterscheiden: 1. die
Wörter als Elemente der Sprache, 2. die Kategorien bzw. Begriffe als Elemente des
Denkens und 3. die Ausprägung einer Emotion (einschl, Erleben, Verhalten,
physiologische und kognitive Prozesse). Trivialerweise haben nicht alle Sprachen
dieselben Wörter für Emotionen. Weniger trivial ist die Tatsache, dass es in manchen
Sprachen andere Kategorien für Emotionen gibt als in anderen: Der englische Begriff
„anxiety“ umfasst Fälle, die im Deutschen unter „Angst“ fallen und Fälle, die unter
„Ängstlichkeit“ oder unter „Besorgnis“ fallen. Da es uns nicht um die oberflächliche
Dimension der Wörter geht, bleiben zwei interessante Dimensionen: die Kategorien
bzw. Begriffe und die Ausprägung der Emotion.

Im ersten Abschnitt werden wir anthropologische Evidenz dafür präsentieren, dass es
Kategorisierungen bzw. Begriffe gibt, die quer zu denjenigen im deutschen oder
britischen Sprachraum liegen. Diese Diversität in der Kategorisierung allein ist jedoch
keine hinreichende Evidenz dafür, dass Menschen aus verschiedenen
Sprachgemeinschaften tatsächlich unterschiedliche Emotionen haben, wie einige
(sozial-)konstruktivistische Denker (etwa Lutz 1988, 1986, Heelas 1986, Harré 1986)
implizieren.
Wir verfolgen zwei Ziele: erstens einen Vorschlag zur Charakterisierung und
Individuierung von Emotionen zu machen, und zweitens diesen für die Debatte über
sozial konstruierte Emotionen fruchtbar zu machen. Dazu möchten wir im ersten
Schritt zwei verschiedene Positionen kritisch beleuchten, nämlich die These der
linguistischen Konstruktion (Abschnitt 2) und eine diametral entgegengesetzte
psychoevolutionäre These zur Individuierung von Emotionen (Abschnitt 3). Häufig
wurde die Evidenz für Vielfalt der Begriffsbildung als Argument für linguistische
Konstruktion herangezogen (Lutz 1980, 1986, Heelas 1986). Wir werden hingegen
zeigen, dass auch die psychoevolutionäre Herangehensweise kompatibel mit der
Evidenz für Begriffsvielfalt ist.
Im vierten Abschnitt entwickeln wir die These, dass Emotionen als Klassen von
spezifischen Mustern individuiert werden, wobei in diese Muster die typischen
Merkmale der Emotion eingehen, z. B. phänomenale Erfahrungen, physiologischen
Reaktionen sowie Verhaltenstendenzen, einschließlich des Sprachverhaltens. Muster,

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die für wissenschaftliche Zwecke fruchtbar sind, müssen nicht mit den (kulturell
variablen) Alltagskategorien übereinstimmen, aber bei der Wahl wissenschaftlicher
Kategorien müssen wir berücksichtigen, dass unsere Anwendung von
Alltagskategorien unser Verhalten, vor allem unseren Umgang miteinander, prägt.
Wissenschaftlich fundierte Kategorien müssen sich in einer hinreichenden Weise mit
den (tragfähigen) Alltagskategorien in eine systematische Beziehung bringen lassen.
Damit können auch wissenschaftlich fruchtbare Kategorisierungen von Emotionen für
manche Gemeinschaften anders aussehen als für andere.2 Dies werden wir im fünften
und sechsten Abschnitt erläutern.

    2   Evidenz für kulturelle Unterschiede
Wir möchten exemplarisch die sozialkonstruktivistische Arbeit der Anthropologin
Catherine Lutz vorstellen, die theoretische Überlegungen mit einer Fallstudie
verbindet. Lutz richtet sich besonders gegen die in der europäischen Geistesgeschichte
und Alltagskultur verbreitete Auffassung, Emotionen seien „natürliche“ Reaktionen,
die in Opposition zu kulturellen Errungenschaften stehen, und wendet sich damit auch
gegen eine psychoevolutionäre Sichtweise von Emotionen. Sie verfolgt ein politisch
motiviertes Projekt: Sie will verhindern, dass die Erfahrungen der Menschen, die nicht
im westlichen Kulturkreis leben, dem westlichen Verständnis von Emotionen
assimiliert werden. Forschungsprogramme, die Emotionen als natürlich betrachten,
stellt sie unter den Verdacht eurozentrisch zu sein.
Lutz' Ergebnisse wurden während ihres mehrmonatigen Forschungsaufenthalts auf dem
mikronesischen Atoll Ifaluk gewonnen. Sie stützen sich größtenteils auf die Methode
der teilnehmenden Beobachtung (Lutz 1988: 45). Außerdem ließ sie sich Begriffe in
Interviews erklären, oder bat einige Ifaluk, Wörter für Emotionen nach Ähnlichkeit zu
sortieren, was sie dazu nutzte, Emotionsbegriffe in Cluster einzuordnen (Lutz 1986).3

2 Das Thema bringt es mit sich, einige sprachpolitisch heikle Entscheidungen treffen zu müssen. Wenn
  vereinfachend von „einer Kultur“, beispielsweise „dem Westen“, geredet wird, soll das nicht
  implizieren, dass es einzelne monolithische Kulturen gibt, wie „die westliche Kultur“ oder „die
  Kultur der Mikronesier“. Lutz hat sich 1990 von der Rede von Kulturen und Kulturabhängigkeit
  verabschiedet (Abu-Lughod & Lutz 1990). Wir verwenden das Wort „kulturabhängig“ im Sinne von
  „von kulturellen Faktoren abhängig“.

3 Dabei hat Lutz gegenüber den Versuchspersonen nicht spezifiziert, in welcher Hinsicht die
  Emotionen ähnlich sein sollen. In den Erläuterungen der Versuchsteilnehmer wurde als Kriterium für
  Ähnlichkeit häufig angegeben, dass zwei Emotionen in ähnlichen Situationen vorkommen (Lutz
  1986).

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Die Lutz folgende Darstellung einiger wichtiger Emotionsbegriffe der Ifaluk zeigt,
dass die dortigen Begriffe deutlich quer zu denen im Deutschen und Amerikanischen
liegen.4

Es gibt das Cluster der angenehmen Emotionen, die man fühlt, wenn einem etwas
Gutes widerfährt. Ihr Oberbegriff ist ker – (ungefähr) Freude. Darunter fallen auch
Emotionen, die wir als Verliebtheit oder Stolz bezeichnen würden, manche dieser
Begriffe beinhalten dazu sexuelle Eifersucht (Lutz 1986: 270, Figure 1). All diese
Emotionen werden als soziale Gefahr betrachtet – wer sich gut fühlt, wird schnell
angeberisch, was den sozialen Frieden gefährdet. Sorgende, liebende Emotionen
gehören einem anderen Cluster an als Freude. Ihr wichtigster Begriff ist fago, den Lutz
mit „love/sadness/compassion“ annähernd übersetzt. Fago ist eine sorgende, nährende
Form von Liebe. Wenn die geliebte Person weit weg, krank oder tot ist, fühlt man sich
schlecht. Diese Gefühle, die wir als Traurigkeit oder Mitgefühl bezeichnen, kennen wir
als Konsequenzen unserer Liebe. Für die Ifaluk sind sie Teil von fago; deshalb ist diese
sorgende Liebe – in scharfem Kontrast zur Verliebtheit – selbst eine unangenehme
Emotion. Auch das intensive Trauern um ein totes Kind wird fago genannt (Lutz 1988:
125f.).
Der Begriff nguch hat sowohl Ähnlichkeit zu dem europäischen Begriff der Trauer als
auch zu den Emotionen des Ärgers. Er bezeichnet eine Form ungerechtfertigten Ärgers
bzw. Frustration (Lutz 1986: 276). “Nguch (...) labels feelings in situations where one
must accept that one's individual goals are thwarted” (Lutz 1986: 276). Das damit
einhergehende Gefühl und Verhalten lässt sich als müde und reizbar beschreiben. Auch
manche emotionale Reaktionen auf den Tod eines Kindes werden mit nguch
bezeichnet. Lutz zitiert eine Mutter:
        'These days I am often nguch because of my child that died. I think that maybe he will
        just walk up the path. (...) I can't sleep. I don't like people to bother me [a typical index
        of nguch]' (Lutz 1988: 128).

Im Deutschen würden wir diesen Fall von nguch als Trauer oder als depressive
Stimmung beschreiben.
Die wichtigste Emotion des Clusters der ärgerlichen Emotionen ist song, die Lutz mit
„justified anger“ übersetzt. Eine Person ist song, wenn ein anderer eine Regel

4 Das Deutsche und das Amerikanische sind sich unserer Ansicht nach für die hier besprochenen Fälle
  ähnlich genug, dass etwaige Unterschiede zwischen diesen Sprachen ignoriert werden können.

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gebrochen hat; dadurch, dass man song auf jemanden ist, drückt man aus, dass man
sein Verhalten missbilligt. Dies tut man nur, wenn die andere Person an sozialem Status
mindestens ebenbürtig ist. Die Ifaluk debattieren häufig debattieren, ob sie song sind
oder nicht (Lutz 1988: 155f.). „Ich bin song“ ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage
„Ich billige das nicht“. Song ist klarerweise eine Emotion – wer song ist, ist innerlich
aufgewühlt. Zu song gehört auch ein bestimmtes, emotionales Verhaltensrepertoire;
man presst die Lippen zusammen, Bewegungen sind brüsk, man schweigt oder macht
dem anderen Vorwürfe, rennt weg (Lutz 1988: 174). Bemerkenswerterweise wird eine
Person, die song ist, sehr, sehr selten gewalttätig, da Gewalt bei den Ifaluk verpönt ist.
Im Deutschen kennt man Debatten darüber, ob der Ärger einer Person gerechtfertigt ist
oder nicht. Die Ifaluk dagegen debattieren zwar über song, haben jedoch keine
Schwierigkeiten, zwischen song und nguch zu unterscheiden: Nguch verspürt man, wenn
man mit den Umständen unzufrieden aber machtlos ist – song dagegen geht mit einem
gewissen Maß an Einfluss einher und zielt darauf, das Verhalten des Anderen zu
ändern. Ein weiterer Unterschied ist, dass song anders als Ärger als prosoziale Emotion
gilt, denn es zeigt anderen an, welches Verhalten richtig ist und motiviert sie zu sozial
erwünschtem Verhalten (Lutz 1988: 156).
Bisher haben wir dargelegt, dass fago und song andere Kategorien emotionaler
Zustände bezeichnen als Traurigkeit und Wut, fago liegt besonders deutlich quer zu
den Kategorien in Europa und den USA. Haben die Ifaluk eine andere Emotion,
nämlich fago statt Liebe und Trauer? Anders ausgedrückt: Ist es grundsätzlich geboten,
die Emotionen der Ifaluk in andere Kategorien einzuordnen als die Emotionen der
Westeuropäer? Diese Frage wird von den linguistischen Konstruktivisten mit Ja und
von den evolutionären Theoretikern mit Nein beantwortet. Beide werden im Folgenden
diskutiert und jeweils partiell zurückgewiesen.

   3   Eine Interpretation begrifflicher Vielfalt: Die These der linguistischen
       Konstruktion
Lutz' Studie ist ein Beleg dafür, dass wir Menschen ein gewisses Maß an Flexibilität
haben, wenn es darum geht, einzelne emotionale Zustände in Kategorien einzuordnen,
Begriffe für Emotionen zu bilden. Es gibt – jedenfalls auf der Ebene alltäglicher
Erfahrungen – unterschiedliche kohärente Arten, einzelne emotionale Zustände in
Kategorien einzuordnen. Dies nennen wir die Flexibilitätsthese.
Einer Argumentation gemäß folgt aus dieser Flexibilität, dass es keine
kulturübergreifend universellen Emotionen, sondern in jeder Sprachgemeinschaft

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diejenigen Emotionen gibt, für die es dort Begriffe gibt. Lutz' Behauptung, die
Emotionen seien nicht natürlich, kann so verstanden werden. Auch der
Sozialkonstruktivist Paul Heelas (1986) argumentiert ähnlich. Er behauptet, dass die
Begriffe, die Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft zur Verfügung stehen, zusammen
mit alltagspsychologischen Überzeugungen über Emotionen die Emotionen erst
erschaffen. Die Überzeugungen beiseitegelassen, bietet sich folgende Rekonstruktion
des Arguments an:
    (1) Angenommen, es gäbe einige distinkte universelle Emotionen.

    (2) Dann würden die Menschen keine Alltagskategorien bilden, die quer zu diesen
        universellen Emotionen liegen. In sehr vielen Sprachen würde sich für jede
        distinkte Emotion ein Begriff und somit ein Name herausbilden.

    (3) Dem ist nicht so. Wir finden sehr unterschiedliche Kategorien.
    (4) Also gibt es keine distinkten universellen Emotionen.
Der Sprung von (1) zu (2) bedarf einer zusätzlichen Prämisse, die Heelas nicht explizit
macht:
    i. Die Unterschiede zwischen distinkten universellen Emotionen sind unserer
       Alltagserfahrung unmittelbar zugänglich. Wir würden daher diese Emotionen
       auch ohne zusätzliches vermitteltes Wissen als unterschiedliche Zustände
       kennen und somit Begriffe von ihnen haben.

So wäre (2) zu erwarten, und aus (2) und (3) folgt die Nichtexistenz universeller
distinkter Emotionen. 5 Die zusätzliche Prämisse ist jedoch höchst problematisch.
Möglicherweise gibt es einige klar voneinander abgegrenzte Emotionen, obwohl wir
sie nicht ohne Hilfe vermittelten Wissens als klar voneinander abgegrenzte Emotionen
kennen. Dies ist keinesfalls nur eine theoretische Möglichkeit – solche Konstellationen
sind in der Psychologie anzutreffen. Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis beispielsweise
sind laut psychologischer Forschung zwei unterschiedliche Fähigkeiten mit
verschiedenen zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen (Goldstein 2011:
146-156). Dass dem so ist, geht nicht offensichtlich aus den Erfahrungen unserer

5 Prämisse (3) wird beispielsweise durch Lutz' arbeiten gestützt, es gibt jedoch Gegenstimmen:
  Alonso-Arbiol et al. (2006) und Fontaine et al. (2002) vertreten die Hypothese, dass es fast überall
  dieselben 4 bis 5 grobkörnigen Kategorien und Unterschiede bei feinkörnigeren Aufteilungen gibt.
  Sie betrachten ihre vorläufigen Ergebnisse zu begrifflichen Strukturen als Evidenz dafür, dass es
  kulturunabhängige Basisemotionen gibt. Ihre Argumentation ist also strukturell ähnlich wie unsere
  Rekonstruktion von Heelas' Argument.

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Alltagspraxis des Erinnerns und Vergessens hervor. Wir merken nicht, ob wir etwas aus
unserem Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnis hervorholen, können es jedoch mit
Verhaltens- und Hirnforschung und pathologischen Fällen klar aufzeigen. Vielleicht
verhält es sich mit Emotionen ähnlich.
Der davon nicht überzeugten Emotionstheoretikerin bleibt die Möglichkeit, diesen Fall
durch einen definitorischen Zug hinsichtlich der Kategorie „Emotion“ auszuschließen.
Eine Emotion sei demnach erstens – anders als im Fall des Gedächtnisses –
notwendigerweise durch eine bestimmte Gefühlsqualität bestimmt. Eine spezifische
Gefühlsqualität entstehe zweitens erst mit einer begrifflichen Einordnung der
affektiven Reaktion. Erst wenn sich eine Person Trauer zuschreibe, erlebe sie sich als
trauernd.6 Beide Thesen möchten wir zurückweisen: im fünften Abschnitt zeigen wir
Fälle auf, bei denen es sehr sinnvoll ist, von Emotionen zu sprechen, auch wenn das
typische phänomenale Erleben fehlt. Gegen die These, dass erst mittels Begriffen eine
spezifische phänomenale Erfahrung bestimmt wird, kann man zum einen darauf
verweisen, dass das phänomenale Erleben oft unterbestimmt ist (z.B. bei Scham oder
Verlegenheit), d.h. selbst in Fällen, in denen Begriffe eine Emotion mitbestimmen,
legen sie keine die Emotion individuierende Erfahrung fest. Zweitens hat diese These
die kontraintuitive Konsequenz, dass jemand, der nicht über einen Begriff für eine
bestimmte Emotion verfügt, diese Emotion nicht haben kann. Das hieße, dass kleine
Kinder, die noch nicht gelernt haben, was „Angst“ bedeutet, keine Angst, sondern nur
eine Vorform von Angst haben können. Diese Unterscheidung erscheint uns ob der
vielen Gemeinsamkeiten von Angst und ihrer Vorform ad hoc.

Wir haben gezeigt, dass aus der konzeptuellen Flexibilität nicht folgt, dass Emotionen
sozial konstruiert sind. Wer mithilfe der Flexibilität argumentiert, dass es keine
kulturübergreifend universellen Emotionen gibt, der setzt eine Form der linguistischen
Konstruktion voraus. Gegen diejenigen, die diesen linguistischen Konstruktivismus
nicht teilen, greifen die Argumente der linguistischen Konstruktivisten ins Leere. Dies
werden wir im nächsten Abschnitt anhand von Paul Griffiths' (1997, 2004)
psychoevolutionärem Zugang zu Emotionen ausführen.

6 Die Schriften der Basisemotion-Gegnerin Lisa Feldman-Barrett (2006a, 2006b) sind ein Beispiel für
  diese Position. Nach ihr sind wir mit vorbegrifflichem „core affect“ ausgestattet: dieser beinhaltet
  sämtliche affektive Zustände. Distinkte Emotionen entstehen genau dann, wenn core affect vom
  Träger des Zustands konzeptualisiert, also in begriffliche Kategorien aufgeteilt wird.

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4   Der psychoevolutionäre Zugang: Emotionen und natürliche Arten
Einen emotionstheoretischen Ansatz, bei dem die Individuierung nicht davon abhängt,
wie Emotionen begrifflich erfasst werden, bietet Paul Griffiths (1997, 2004). Unsere
Darstellung dieses Ansatzes ist auf die Konzeption des Verhältnisses von Emotionen
und Alltagssprache fokussiert.
Laut Griffiths bezeichnen einige wenige Begriffe für Emotionen natürliche Arten.
Natürliche Arten sind Klassen von Entitäten (Dinge, Substanzen etc.), die mittels
natürlicher Eigenschaften individuiert werden, und zwar unabhängig davon, welche
Oberflächenmerkmale sich eingebürgert haben, um sie zu charakterisieren. Die
Substanz Wasser ist eine natürliche Art, die wir mit den Oberflächeneigenschaften
„durchsichtige, trinkbare, geschmacklose Flüssigkeit“ charakterisieren, während sie
durch die Eigenschaft, aus H2O-Molekülen zu bestehen, individuiert wird. Gemäß
Griffiths ist das zentrale Merkmal einer Emotion, die eine natürliche Art bildet, der
gemeinsame phylogenetische Ursprung der Elemente dieser Kategorie (Griffiths 1997:
72, 202-227).
So bewertet Griffiths etwa die frühen Arbeiten Paul Ekmans als ein überzeugendes
Forschungsprogramm: Ekman hat viele empirische Studien zur Rolle emotionaler
Gesichtsausdrücke in teils sehr isoliert lebenden Gemeinschaften durchgeführt und ist
zu dem Ergebnis gekommen, dass sechs Emotionen mit Gesichtsausdrücken
einhergehen, die von Menschen überall auf der Welt korrekt erkannt werden. Diese
sechs Emotionen sind Freude, Ärger, Angst, Traurigkeit, Ekel und Überraschung
(Ekman 1988: 52f.). Ekman nennt sie Basisemotionen. Sie sind durch ein bestimmtes,
den         Herausforderungen             angemessenes        Verhaltens-        und
Informationsverarbeitungsmuster gekennzeichnet. Wichtig ist auch der kommunikative
Aspekt der Ausdrücke; wir erkennen sie gewöhnlich leicht und diese Fähigkeit ist
adaptiv (Ekman 1972, 1988).7
Wir akzeptieren die Idee der Basisemotionen, ohne uns damit auf die Auswahl von
Ekman oder Griffith festzulegen (s. dazu Zinck/Newen 2008). Wir schlagen zudem vor,
von natürlichen emotionalen Arten zu sprechen, um damit alle natürlichen Arten zu

7 Da viele emotionale Zustände zu keiner der wenigen Basisemotionen gehören und sich Ekmans
  Forschungsprogramm nicht einfach auf die weiteren Zustände übertragen lässt, plädiert Griffiths
  dafür, dass die Kategorie „Emotionen“ selbst keine natürliche Art ist. Dagegen ist einzuwenden, dass
  Basisemotionen und andere affektive Zustände viele Gemeinsamkeiten haben, die wir im folgenden
  Abschnitt vorstellen werden (vgl. auch Prinz 2004, Zinck & Newen 2008).

                                                  9
bezeichnen, die sich im Bereich der Emotionen finden lassen. Diese Redeweise lässt
zu, dass es zusätzlich zu oder statt Ekmans Basisemotionen andere natürliche Arten im
Bereich der Emotionen gibt.8

In scharfem Kontrast zum linguistischen Konstruktivismus helfen uns aus
psychoevolutionärer Perspektive Alltagsbegriffe einer Sprachgemeinschaft nicht
weiter, um zu klären, welche Emotionen in dieser vorkommen. Alltagsbegriffe können
lediglich ein Ausgangspunkt der Theoriebildung sein. Wir referieren mit ihnen (im
günstigen Fall) auf eine natürliche Art, von der wir wenig wissen, und deshalb können
wir uns nicht darauf verlassen, dass wir die Begriffe „Angst“, „Trauer“ genau für die
Fälle gebrauchen, die zu derselben natürlichen Art gehören. Zumindest in
wissenschaftlichen Kontexten müssen wir die Offenheit bewahren, im Lichte besserer
Theorien unsere bisherigen Einteilungen zu revidieren: Wir müssen entweder die
Extension unserer Alltagsbegriffe entsprechend anpassen oder den Begriff ganz
aufgeben, falls er zu sehr quer zu den Einteilungen der Natur liegt.

Interessanterweise kann fago ebenso gut als Ausgangspunkt dieser Strategie fungieren.
Es ist möglich, dass eine Basisemotion sowohl viele Fälle von Traurigkeit als auch
fago abdeckt, und es ist nicht klar, ob sie mehr mit Traurigkeit oder mit fago gemein
hat.9 Die Annahme, dass europäische Kategorien in höherem Maß deckungsgleich zu
natürlichen emotionalen Arten sind als pazifische, wäre tatsächlich – in den Worten der
Anthropologen – eurozentrisch.10 Wenn die hier skizzierte Offenheit in der Forschung
angewandt wird, vermeidet ein psychoevolutionäres Forschungsprogramm den
Eurozentrismus. Ein zentraler Einwand der Sozialkonstruktivisten ist damit
zurückgewiesen.
Nicht nur ist linguistische Flexibilität kompatibel mit dem psychoevolutionären
Zugang, sie kann darüber hinaus zu einem Argument für diesen Zugang beitragen. Da
wir eine starke Flexibilität im Zuschneiden von Kategorien für Emotionen haben,
werden diese Kategorien häufig nicht deckungsgleich mit natürlichen Arten sein.

8 Ekman hat seinen Katalog von Basisemotionen in den neunziger Jahren auf 15 Emotionen erweitert
  (Ekman 1999).

9 Panksepp (2007) führt statt Traurigkeit beispielsweise separation distress in seiner Liste der
  Basisemotionen. Traurigkeit und separation distress sind nicht deckungsgleich in ihrer Extension.

10 Außerdem ist es möglich, dass eine natürliche emotionale Art nur unter bestimmten sozialen
   Bedingungen entsteht, die nicht in jeder Gesellschaft vorliegen (dazu mehr im siebten Abschnitt).

                                                  10
Wir müssen dazu zwei Arten von Flexibilität auseinander halten: Flexibilität besteht
insofern, als es – unsere Alltagserfahrungen vorausgesetzt – mehrere kohärente
Möglichkeiten gibt, Kategorien für Emotionen zuzuschneiden. Dies ist eine deskriptive
These, die durch Studien wie die von Lutz gestützt wird. Es gibt dazu normative
Varianten der Flexibilitätsthese, nämlich, dass verschiedene Kategorisierungen gleich
legitim sind. Hier erhebt Griffiths Einspruch. Zumindest in der Wissenschaft haben wir
nach Griffiths keine normative Flexibilität: Wenn es natürliche Arten von Emotionen
gibt, dann soll unsere Wissenschaftssprache Begriffe nur für diese Kategorien
bereithalten.
Vielversprechend an Griffiths' Zugang ist, dass er die verwandten Fragen nach den
Wesensmerkmalen von Emotionen und nach deren Individuierung anders angeht als
Philosophen es traditionellerweise getan haben: Was eine Emotion ist, kann und muss
nicht im Lehnstuhl definiert werden. Stattdessen tragen Ergebnisse und Theoriebildung
empirischer Wissenschaften wesentlich dazu bei, die zentralen Eigenschaften von
Emotionen festzumachen, auch dann, wenn das Objekt der Forschung nicht klar
definiert ist. Die vorgestellte psychoevolutionäre Kategorisierung in wenige
Basisemotionen als die einzig legitime Kategorisierung ist allerdings wenig
überzeugend. Denn die grobkörnige Aufteilung in wenige Basisemotionen kann die
Alltagsphänomene der Emotionen nur sehr begrenzt einfangen. Daher entwickeln wir
im Folgenden eine Alternative.

    5   Die Individuierung von Emotionen durch emotionale Muster
Der Phänomenbereich, der mit „Emotionen“ überschrieben ist und von dem
Emotionstheorien handeln, lässt sich folgendermaßen analysieren: Emotionen sind
heterogene Phänomene, die durch eine Reihe von Komponenten charakterisiert
werden, ohne sich auf eine dieser Komponenten reduzieren zu lassen. Bis auf wenige
Ausnahmen ist ein typisches Merkmal jedoch nicht zugleich ein essentielles
(unverzichtbare) für eine Emotion. Diese Idee ist vom späten Wittgenstein inspiriert,
bei dem jedoch die Frage im Vordergrund steht, wie die Bedeutung sprachlicher
Ausdrücke konstituiert wird, während hier die Frage nach der Individuation von
Emotionen als kognitiven Phänomenen gestellt wird.11 Unsere Konzeption weist klar
über Wittgenstein hinaus, und zwar 1. aufgrund der prinzipiellen Dominanz der Rolle
von Ergebnissen aus empirischen Studien zu Verhaltens- und Reaktionsmustern über

11 Außerdem bleibt die Idee beim späten Wittgenstein sehr unbestimmt, während wir dies auch
  exemplarisch konkreter ausarbeiten möchten.

                                               11
eine natürlichsprachliche Wortwahl, 2. aufgrund des primär kognitiven Zugangs zu
Emotionen, bei dem „privates“ Erleben und auch „private“ Begriffsbildungen als
konstitutive Aspekte berücksichtigt werden können.

Die Grundidee, dass Emotionen wesentlich durch eine variable Menge von typischen
Merkmalen individuiert werden, die zugleich zumindest teilweise eine typische
zeitliche Anordnung aufweisen, soll durch die Rede von Emotionsmustern eingefangen
werden. Dabei wird ein Emotionsmuster als ein prototypisches Muster aufgefasst, das
aus einer Reihe von charakteristischen Komponenten besteht, die für jede Emotion in
einer typischen Weise ausgeprägt und (partiell) zeitlich angeordnet sind. Einerseits
knüpft dies an psychologische Komponententheorien der Emotionen an (Scherer
2009), andererseits ist es inspiriert von empirischen Forschungen zum Erkennen von
Emotionen: Eine Emotion zu erkennen, bedeutet demnach, ein bestimmtes Ausdrucks-
und Verhaltensmuster zu erkennen, wobei dem Gesichtsausdruck, der selbst
Musterstruktur aufweist, eine entscheidende Rolle zugeschrieben wird (Buck 1984,
Bänzinger 2009). Die Charakterisierung von Emotionen als Muster von Komponenten
ist grundsätzlich mit der Auffassung von Griffiths kompatibel – auch er beschreibt eine
natürliche emotionale Art als „coordinated set of changes that constitute the emotional
response“ (Griffiths 1997: 77), aber wir entwickeln eine Theorie der emotionalen
Muster als eine Rahmentheorie zur Individuierung von Emotionen, die eine größere
Allgemeingültigkeit aufweist. Dies wird nun näher erläutert.
Im ersten Schritt wird ein solches prototypisches Muster genauer bestimmt, und zwar
hinsichtlich der Merkmalstypen, die für eine Emotion relevant sind, und ihrer
Komposition. Zu den relevanten Merkmalen zählen wir:
           a. Affektive, vegetative Körperzustände
           b. Verhalten und Verhaltensdispositionen mit besonderer Relevanz der
              sprachlichen Äußerungen einer Person
           c. Expressive Merkmale: Mimik, Gestik, Körperhaltung, Stimmlage,
              Intonation mit besonderer Relevanz des Gesichtsausdrucks
           d. Phänomenale Erlebnisse
           e. Kognitive Modi (z.B. Aufmerksamkeitsveränderungen), insbesondere
              kognitive Einstellungen

                                          12
Darüber hinaus ist es konstitutiv für eine Emotion, dass diese normalerweise auf ein
Objekt gerichtet ist:
            f. das intentionale Objekt der Emotion

Damit sind unserer Meinung nach alle wichtigen Merkmalsgruppen aufgezeigt, die
charakteristischerweise in einem Emotionsmuster auftreten. 12 Da nach unserer
Auffassung alle Merkmale sich in neuronalen Aktivierungen niederschlagen, sind diese
nicht als eigene Dimension aufgezeigt. Wir betrachten sie als eine Zugangsform für
jedes Merkmal.13

Was spricht dafür, dass wir mit diesen Kriterien genau die charakteristischen
Merkmalstypen von Emotionen erfasst haben? Erstens stellt sich die Frage, ob sich
Emotionen nicht sparsamer charakterisieren lassen. Jedoch ermöglicht es erst die
relativ komplexe Individuierung durch emotionale Muster, die vielfältigen
Ausprägungsformen einer Emotionskategorie wie Angst zu erfassen. Jedenfalls ist
zurzeit keine sparsamere allgemeine Theorie verfügbar. Sicherlich lassen sich
bestimmte Vorkommnisse von Angst (wie die basale Angst vor Schlangen) durch
wenige nicht-kognitive Faktoren vollständig beschreiben, aber bei Eifersucht benötigen
wir beispielsweise weitergehende, kognitive Faktoren der Individuierung. Eine
möglichst umfassende Theorie bzw. einen solchen Theorierahmen betrachten wir
jedoch als eine Adäquatheitsanforderung für eine Emotionstheorie. Wir sind offen für
die Entwicklung einer sparsameren Theorie, sehen aber zurzeit die Gefahr, dann statt
einer Theorie der Emotionen nur eine Theorie zu haben, die für einen kleinen
Ausschnitt des Phänomenbereichs adäquat und nicht verallgemeinerbar ist.

Ein Argument dafür, dass all diese Merkmalsgruppen zu den charakteristischen
Merkmalen beitragen, unsere Aufzählung also keine überflüssigen Elemente enthält,
besteht einmal darin, dass wir für jede Emotion typische Ausprägungen der Merkmale
nennen können, sobald man auch komplexe Emotionen mit berücksichtigt. Wir
betrachten zunächst die Basisemotion Angst und im Anschluss Eifersucht.

12Diese Liste mag die Frage aufwerfen, wie sich die Merkmale zueinander verhalten. Sind die
   kognitiven Merkmale primär gegenüber dem Verhalten? Ist das phänomenale Erleben auf die
   Wahrnehmung von Körperreaktionen reduzierbar? Diese Fragen zu klären, würde den Rahmen dieses
   Artikels sprengen.
13 Wenn man diese Rolle neuronaler Zustände nicht akzeptiert, müsste man eine eigene
   Merkmalsdimension von neuronalen Aktivierungsmusters hinzufügen.

                                              13
Angst
                                                                     umgebungs-
 enthaltene                   subjektrelative Merkmale               bezogene
 Bewertungen                                                         Merkmale
 kognitive      5. Kognitive Einstellungen: -

 phänomenale     4. Phänomenales Erleben:     - Angstgefühl

                3. Expressive Merkmale:       - Angstausdruck
                Gesichtsausdruck
                                                                      Intentionales
                Gestik
                                                                      Objekt: z.B.
                Körperhaltung
                                                                      bissiger Hund
                Stimmlage
                Vokalisierung
 körper-
 bezogene        2.Verhalten bzw.             - Flucht/-reflex
                 Verhaltensdispositionen:     - Erstarren
                                              - Verteidigung

                 1.Affektive und vegetative   - hohe Schwitzrate
                 Merkmale:                    - hohe Herzfrequenz
                                              - flache Atmung

Eine Reaktion wird dem Prototypen einer Emotion unähnlicher, sobald eine der
Ausprägungen anders ausfällt als bei dem Prototypen. Wenn die Ausprägung gänzlich
anders ausfällt, wird die Emotion häufig als ein Grenzfall des Emotionstyps bewertet,
so wie in dem Fall der Verdränger von Angstgefühlen. Verdränger berichten aufrichtig,
dass sie in einer Standardsituation, die paradigmatischerweise bei Menschen Angst
induziert, keine Angst erleben. Zugleich lassen sich jedoch typische physiologische
Merkmale von Angst (hoher Blutdruck, sehr hohe Herzfrequenz, Muskelanspannung,
starkes Schwitzen etc.) messen und behaviorale sowie expressive Merkmale
(Gesichtsausdruck, Sprachmuster, Reaktionszeiten etc.) beobachten (Weinberger 1990,
Weinberger et al. 1994, Sparks et al. 1999). Angst ohne typisches phänomenales
Erleben wird als Grenzfall eingeschätzt, der jedoch in unserer Theorie emotionaler
Muster als Fall von Angst eingeordnet werden kann.
Bei der Rolle der kognitiven Merkmale liegen uneinheitliche Intuitionen vor, wenn es
um die Frage geht, ob eine Angst wesentlich eine Überzeugung involviert, dass eine
Gefahr vorliegt: Die Studien von LeDoux (1996) zeigen, dass es reflexartige
Angstreaktionen gibt, bei denen kognitive Einstellungen nicht mit im Spiel sein
müssen. Er zeigt zwei Verarbeitungswege von Angst auf; darunter einen, der ohne die

                                              14
Beteiligung des Neocortex auskommt und nach unstrittigem Verständnis über kognitive
Verarbeitungen keine Einstellungen involvieren kann.14
Darüber hinaus entwickeln wir spezifische Begriffe für Angst, etwa Prüfungsangst oder
Angst vor wilden Tieren. Das intentionale Objekt ist dann konstitutiv für diese
spezifische Form der Angst. Damit unterstellen wir einem Träger einer spezifischen
Angst, dass er das Objekt seiner Angst erfassen kann – für Angst vor Prüfungen bedarf
es dazu elaborierter kognitiver Einstellungen. Das Feld der kognitiven Modi wäre für
Prüfungsangst daher nicht leer. Trotzdem ist es möglich, dass jemand Angst vor einer
Prüfung hat, die er für unwichtig hält.
Die Charakterisierung verschiedener emotionaler Muster kann der Unterscheidung
zwischen Basisemotionen und komplexeren (kognitiven) Emotionen sehr gut
Rechnung tragen (Zinck & Newen 2008). Basisemotionen werden allein durch die
verkörperten Merkmale individuiert. Wir müssen dem Träger der Emotion keine
spezifischen kognitiven Einstellungen zuschreiben. Spezifischere Emotionen wie
Bedrohung, Prüfungsangst oder Angst vor wilden Tieren werden dazu durch
intentionale Objekte und häufig zudem durch kognitive Einstellungen individuiert.
Dies verdeutlicht ein Schaubild für Eifersucht:

14 Auf LeDoux' subkortikalem Verarbeitungsweg können allerdings nur Bewegungen und laute Töne
   verarbeitet werden, Angst vor einem bissigen Hund kann auf diesem Wege nach unserem derzeitigen
   Stand der Neurophysiologie nicht entstehen, wie Johnson (2008) zeigt.

                                               15
Eifersucht
                                                                                    umgebungs-
 enthaltene                        subjektrelative Merkmale                         bezogene
 Bewertungen                                                                        Merkmale
                    5. Kognitive Einstellungen: - Rivalen abwerten
 kognitive                                      - Selbstzweifel
                                                - Partner verdächtigen

                    4. Phänomenales Erleben:      - „Stich“, Unruhe,
 phänomenale
                                                  Phantasien …

                    3. Expressive Merkmale:        - ähneln Ärger, Angst,
                                                                                     Intentionales
                    Gesichtsausdruck               manchmal Ekel oder
                                                                                     Objekt:
                    Gestik                         Verzweiflung
                                                                                     rivalisierende
                    Körperhaltung
                                                                                     Beziehung
                    Stimmlage
                    Vokalisierung
 körper-
 bezogene           2.Verhalten bzw.               - Protest (z.B. Ärger,
                    Verhaltensdispositionen:       Vorwürfe),
                                                   Annäherung an
                                                   geliebte Person

                     1.Affektive und vegetative    - heterogen, ähnlich
                     Merkmale:                     wie in 3.

Außerdem stellt sich die Frage, ob wir zu sparsam sind: Warum müssen wir nicht noch
typische Ursachen der Emotion oder spezifisches Hintergrundwissen einer Person und
dabei insbesondere das Wissen über soziale Konventionen mit berücksichtigen? Auf
den ersten Blick scheinen diese Komponenten wichtig für Emotionen zu sein. Um ihre
Rolle einzuschätzen, ist es jedoch erstens wichtig, zwischen den typischen kausalen
Rahmenbedingungen für das Entstehen einer Emotion einerseits und den konstitutiven
Bedingungen für das Vorliegen einer Emotion andererseits zu unterscheiden. Es ist
nicht konstitutiv für die Emotion Angst, dass sie oft entsteht, wenn Menschen beim
Zahnarzt sind oder wenn sie alleine zu Hause sind, sondern dies sind nur typische
kausale Entstehensbedingungen.15
Zweitens sollten die konstitutiven Bedingungen für das Haben einer Emotion von den

15 Entscheidend ist nicht eine typische kausale Ursache, sondern das intentionale Objekt, welches die
   Emotion mitbestimmt. Allerdings gibt es durchaus einen Unterschied zwischen der Individuierung
   und dem Erkennen von Emotionen. Beim Erkennen sind Ursachen für Dritte leichter erfassbar und
   daher oft zentral, um das intentionale Objekt zu erfassen, welches zu den konstitutiven Elementen
   gehört.

                                                  16
Bedingungen, die für das Erkennen einer Emotion bei anderen Personen zentral sind,
abgegrenzt werden. Beim Erkennen einer Emotion haben wir oftmals nur
eingeschränkten Zugang zu den konstitutiven Bedingungen, die wir idealerweise
erfassen sollten: während das behaviorale und expressive Verhalten meist offen liegen,
bleibt es oft schwer erfassbar, was genau das phänomenale Erleben in diesem Moment
ist, welches die affektiven Körpervorgänge sind und was diese Person gerade denkt.
Dadurch werden beim Erkennen das Hintergrundwissen über die Person, ihre
kulturellen und sozialen Bedingungen sehr wichtig, weil sie es auch bei wenig
Beobachtungsinformation ermöglichen, zu einer Einschätzung zu kommen, welche
konstitutiven Bedingungen vorliegen; aber deshalb ist dieses Wissen noch nicht
konstitutiv für die relevante Emotion.16

Diese Grundkonzeption einer Individuierung von Emotionen durch emotionale Muster
soll im folgenden Schritt durch eine Diskussion der Adäquatheitsbedingungen für
Individuierungen ausgebaut werden. Wir unterscheiden dazu zwischen
alltagspsychologischen und wissenschaftlichen emotionalen Mustern. Eine Theorie der
Individuierung von Emotionen sollte in der Lage sein, eine Brücke zwischen den
Alltagskategorien und den wissenschaftlichen Begriffen zu schlagen.

    6   Alltagspsychologische und wissenschaftliche emotionale Muster
Betrachtet man das Vorliegen einer Emotion als gemeinsames Auftreten eines
typischen Bündels von Merkmalen, so lassen sich verschiedene Kategorien in Form
von verschiedenen Merkmalsmustern bilden. Das haben wir als begriffliche Flexibilität
bezeichnet. Wie kann eine Einordnung von Griffiths' Theorie in unsere Theorie
emotionaler Muster aussehen?
Griffiths hat mit seinem psychoevolutionären Ansatz eine wissenschaftliche Theorie
der Emotionen vorgeschlagen. Dieser Ansatz lässt sich mit Hilfe der Theorie der
emotionalen Muster als ein Spezialfall einordnen und zugleich können wir mit diesem
Instrument unsere Alltagsbegriffe zu den wissenschaftlichen Begriffsbildungen
systematisch in Beziehung setzen. Eine solche Beziehung ist nicht nur eine nette
Randerscheinung, sondern gehört mit zu den Adäquatheitsbedingungen für eine
allgemeine Emotionstheorie: Unsere Alltagsbegriffe von Emotionen spiegeln teilweise

16 Beim Erkennen von Emotionen wir dann noch wesentlich, in welcher Weise die Merkmalscluster
  erfasst und verarbeitet werden. Dabei lassen sich eine intuitive, präreflexive und eine inferentielle,
  reflexive Verarbeitung der Merkmale unterscheiden. Diese Unterscheidung ist entsprechend bei einer
  Untersuchung zum Erkennen von Emotionen zu berücksichtigen.

                                                  17
unsere tief verankerten Verhaltens- und Reaktionsweisen wider und sie sind Teil
unseres Selbst- und Fremdverständnisses als Individuen. Wenn wir die Verhaltens- und
Reaktionsweisen wissenschaftlich erklären und alltagspsychologisch als Teil unseres
Selbst- und Fremdverständnisses verstehen möchten, so benötigen wir eine Theorie,
die eine Brücke von den Alltagsbegriffen zu den besten wissenschaftlichen Kategorien
schlagen kann. Dies scheint die Kategorisierung in fünf bis sieben Basisemotionen
allein nicht zu leisten.
Die Kriterien, die Griffiths für eine natürliche Art angibt, sind zudem nicht
unabhängig von den Erklärungen, nach denen er sucht. Griffiths' Darstellung hebt
hervor, wie Emotionen in der evolutionären Psychologie (im weiten Sinne) individuiert
werden sollen. Aber es ist nicht offensichtlich, dass fruchtbare Kategorien
wissenschaftlicher Forschung immer einen gemeinsamen phylogenetischen Ursprung
als Hauptkriterium berücksichtigen müssen.
Neben den von Griffiths vorgeschlagenen Begriffen finden sich in der Wissenschaft der
Emotionen auch andere Beschreibungsweisen, darunter einige feinkörnigere
Aufteilungen     in      spezifischere   Emotionen,     beispielsweise     in     der
Entwicklungspsychologie oder in der klinischen Psychologie. Ohne dass wir hier ins
Detail gehen können, wäre es merkwürdig, wenn all diese Forschungsprogramme
keinen Erfolg dabei hätten, wissenschaftlich fundierte Kategorien zu entwickeln. Ein
Emotionsmuster, für das keine (oder noch keine) überzeugende evolutionäre Erklärung
gefunden wurde, kann stabil und robust genug sein, um Gegenstand psychologischer
Fragestellungen zu sein.

Dies führt uns zu einem Pluralismus: Es gibt verschiedene Arten, Emotionen zu
individuieren, die legitim in ihrem jeweiligen Erklärungskontext sind. Der kleinste
gemeinsame Nenner dieser Individuierungsweisen sind emotionale Muster. Nach
welchen Kriterien einzelne emotionale Zustände in Kategorien zusammengefasst
werden sollen, hängt davon ab, welche Aspekte der Emotionen im Zentrum einer
wissenschaftlichen Fragestellung liegen. Dabei ist nicht jede Kategorisierung fruchtbar
für die jeweilige Fragestellung und welche es ist, hängt wesentlich davon ab, wie die
Welt beschaffen ist, was ein wichtiger Aspekt von Griffiths' Zugang ist.17

17 Dieser Vorschlag hat einige Parallelen zu dem „promiscuous realism“ von John Dupré, gemäß dem
   verschiedene Taxonomien im Bereich der Lebenswissenschaften legitim sein können (Dupré 1993).
   Dupré behauptet, dieser Pluralismus die beste Strategie ist, weil es viele Sollbruchstellen für
   Kategorisierungen in der Natur selbst gibt. Es könnte jedoch sein, dass der Pluralismus nur
   provisorisch ist, bis wir Einteilungen gefunden haben, die für alle wissenschaftlichen Fragestellungen

                                                   18
Nachdem wir verschiedene wissenschaftliche Begriffsbildungen in den Blick
genommen haben, möchten wir nun zu der Frage kommen, wie die Alltagsbegriffe sich
zu den wissenschaftlichen Begriffen verhalten. Hier soll die These vertreten werden,
dass die Begriffsbildungen unterschiedlichen Verwendungszwecken geschuldet sind.
Im Alltag haben Emotionen vor allem den Zweck der schnellen Bewertung einer
Situation und der Kommunikation; wir drücken einem Gegenüber nicht nur unsere
subjektiven Befindlichkeiten, sondern in erster Linie evaluative Einstellungen und die
eigene Haltung zu einer zwischenmenschlichen Beziehung aus. Emotionsmuster, die
wir im Alltag nutzen, werden an anderen Kriterien gemessen als wissenschaftliche
Muster. Da das Ziel ein anderes ist als die Ziele wissenschaftlicher Fragestellungen, ist
es legitim, wenn wir unsere Begriffsbildung und Sprachpraxis nicht immer
Erkenntnissen über fruchtbare Kategorien wissenschaftlicher Forschung anpassen.
Nehmen wir an, es stellt sich heraus, dass „Eifersucht“ keine fruchtbare
wissenschaftliche Kategorie bezeichnet. Trotzdem ist es von praktischem Nutzen, den
Begriff der Eifersucht zur Verfügung zu haben. Der Satz: „Ich bin eifersüchtig auf
deine Arbeitskollegin“ drückt einen komplexen Sachverhalt präzise und ökonomisch
aus, ohne die einzelnen Elemente der Eifersucht auflisten zu müssen; er beinhaltet die
wichtigsten Aspekte einer ausführlichen Beschreibung und um diese
Ausdrucksmöglichkeit würden wir uns nicht bringen lassen. Dies lässt sich für weitere
Emotionen verallgemeinern: Stellen wir uns eine Kategorisierung X vor, die für
wissenschaftliche Zwecke besonders fruchtbar ist, aber quer zu Alltagskategorien liegt.
Die Gründe, warum wir sie in wissenschaftlichen Kontexten annehmen sollen, greifen
nicht für Alltagskontexte, weil es das Ziel der Alltagssprache ist, Einstellungen zu
anderen Menschen kommunizieren zu können.18
Mit jeder Kategorisierung können bestimmte Einstellungen besonders ökonomisch
ausgedrückt werden. Wir können erwarten, dass es von sozialen Faktoren, also davon,

   relevant sind, weil sie echte Einteilungen in der Natur widerspiegeln Wir verhalten uns neutral zu
   diesen Positionen, wir möchten nur einen pragmatischen methodischen, keinen metaphysischen
   Punkt machen..

18 Die These kann mit der Überlegung, dass Gesichtsausdrücke eine kommunikative Funktion haben
   (Zinck & Newen 2008), zu einer kommunikativen Theorie der Emotionen ergänzt werden. Denn
   auch die verbalen Ausdrücke von Emotionen dienen in erster Linie kommunikativen Zwecken; es ist
   demnach zu erwarten, dass wir die vielfältigen Möglichkeiten, die Sprache uns bietet, nutzen, um
   entsprechende Haltungen zu kommunizieren. Verbale Beschreibungen unserer Emotionen haben aber
   auch Nachteile gegenüber nonverbalen: Lügen ist einfacher als eine glaubhafte Emotion nonverbal
   vorzuspielen.

                                                  19
wie zwischenmenschliche Beziehungen in einer Gesellschaft gestaltet sind, abhängt,
welche Begriffe sich als besonders hilfreich für das Kommunizieren von affektiven
Beziehungsaspekten und für andere relevante Bewertungen erweisen. Die Tatsache,
dass wir einen Begriff für Prüfungsangst und keinen gesonderten Begriff für „Angst
vor Tieren“ nutzen (wir können ihn zwar bilden, aber zumindest drücken wir ihn nicht
sprachlich aus), liegt wohl darin, dass wir in einer Welt mit einem institutionalisierten
Bildungssystem leben. Diese Hypothese wird durch Ergebnisse anthropologischer
Arbeiten unterstützt. Die indonesischen Makassar etwa haben keine Bezeichnung für
und keinen Begriff von (sexueller) Eifersucht (Röttger-Rössler 2008). 19
Röttger-Rössler führt das auf mehrere Faktoren zurück. Erstens sind die Sphären, in
denen sich makassische Männer und Frauen außerhalb der Familie bewegen, stark
voneinander getrennt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Ehepartner einen potenziellen
Sexualpartner des anderen Geschlechts kennenlernt, ist deshalb gering. Außereheliche
sexuelle Aktivitäten werden zudem streng bestraft. Außerdem ist das Liebesideal
entsprechend der dort üblichen arrangierten Ehen darauf ausgelegt, keine
symbiotischen Paarbeziehungen, sondern eigene emotionale Unabhängigkeit zu
fördern.
Die Makassar kennen laut Röttger-Rössler durchaus die Angst, den Ehepartner an eine
andere Person zu verlieren. Dies stellen sie sich aber nicht als eigene Emotion vor,
sondern einfach als Angst. Sie haben keine eigenen „Ausdrucks- und
Verhaltensregeln“, kein „kulturelles Skript“ dafür – in unserer Terminologie
klassifizieren sie Eifersucht nicht als ein eigenständiges emotionales Muster. Wie in
anderen Fällen, wenn sie ihre Beziehung in Gefahr sehen, bitten sie den Magier, die
Beziehung zu schützen. Das Vertrauen in derartige Zauber ist groß (Röttger-Rössler
2008). Die Makassar benötigen einen Begriff von Eifersucht also weniger dringend als
Europäer. Dieses Fallbeispiel zeigt, welche sozialen und kulturellen Faktoren eine
Rolle dabei spielen können, ob sich ein eigener Begriff für eine Gruppe von
emotionalen Reaktionen etabliert oder nicht.
Für unsere Betrachtungsweise ist es entscheidend, die Individuierung aus der
Alltagsperspektive und die aus der wissenschaftlichen Perspektive zu trennen-, weil es

19 Allerdings beschreibt Röttger-Rössler (2004: 164) ein Wort, das die Makassar für eine starke Form
   von Wut nutzen, die Ehefrauen empfinden, wenn sie ihren Mann verdächtigen, eine Geliebte zu
   haben. Die Makassar unterscheiden im Allgemeinen zwischen vielen Varianten von Wut. Das Wort
   scheint auch in Erzählungen, in denen eifersüchtige Gefühle eine Rolle spielen, kaum genutzt zu
   werden (Röttger-Rössler 2004: 321-328).

                                                 20
verschiedene Ziele der Betrachtung von Emotionen gibt. Diese Ziele lassen sich nicht
gegeneinander ausspielen oder ersetzen und somit auch nicht die damit verbundenen
Individuierungen.

Gleichzeitig soll der Bezug wissenschaftlicher zu alltagspsychologischen Kategorien
sichergestellt werden. Angewandte Forschung in der klinischen Psychologie ist sogar
inhärent so angelegt, dass sie Alltagskategorien einbezieht: Im therapeutischen Kontext
muss mit psychologischen Alltagskategorien gearbeitet werden, denn sonst könnte den
Patienten nur schwerlich alltagstaugliches Wissen über sich selbst vermittelt werden.
Um Therapiemethoden wissenschaftlich zu überprüfen oder neue zu entwickeln,
müssen diese Kategorien einbezogen werden. Der psychoevolutionäre Zugang bietet
derzeit eine zu grobe Individuierung, um für diese angewandte psychologische
Forschung angemessene Kategorien zu bieten. Gleichzeitig können klinische
Psychologie und Therapie von neuen wissenschaftlichen Theorien, die auch neue
Begrifflichkeiten einführen, profitieren. So können sich Alltagsbegriffe verändern und
neue können entstehen.
Selbst wenn sich in der klinischen Psychologie Alltags- und wissenschaftliche
Kategorien nicht immer unterscheiden lassen, so folgt daraus jedoch nicht, dass diese
Unterscheidung grundsätzlich hinfällig ist – es gibt trotzdem paradigmatische Fälle
wissenschaftlicher Kategorien und paradigmatische Fälle von Alltagskategorien.
Damit wird es möglich, das Verhalten einer Person in eine wissenschaftliche Kategorie
einzuordnen, auch wenn sie selbst dieses Verhalten anders klassifiziert, ohne dass einer
der Beteiligten falsche Begriffe verwendet.

Diese Beziehungen können in einer Theorie der emotionalen Muster, die verschiedene
Bündelungen von charakteristischen Merkmalen zu Emotionsmustern ermöglicht,
eingefangen werden, ohne in Beliebigkeit zu verfallen. Damit bietet die Theorie
emotionaler Muster einen interessanten neuen Rahmen, den es schrittweise näher
auszufüllen gilt.

   7   Begriffsbildung und die Kulturabhängigkeit von Emotionsmustern
Nun haben wir die Ressourcen beisammen, die Frage nach der Kulturabhängigkeit von
Emotionen präziser stellen zu können. Betrachten wir zunächst Emotionen aus der
Alltagsperspektive. Dort stellt sich die Frage, welche Muster in einer Gemeinschaft
begrifflich repräsentiert werden und welche Begriffe eine prominente Rolle beim
Verstehen von Menschen in dieser Gemeinschaft spielen. Wir haben Evidenz dafür
präsentiert, dass in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Emotionsmuster

                                          21
prominente Alltagsbegriffe bilden und einige Muster nicht in jeder Gemeinschaft
begrifflich repräsentiert werden (z.B. fago oder Eifersucht).
Zweitens stellt sich die Frage, welche Emotionsmuster in einer Gemeinschaft
tatsächlich ausgemacht werden können, selbst wenn sie von den Mitgliedern nicht
explizit sprachlich kodiert werden. Beispielsweise finden wir das Emotionsmuster für
Eifersucht bei den Makassar in einigen wenigen Fällen, auch wenn sie diese Fälle nicht
als eigene Emotion auffassen. Betrachten wir dazu die Anwendung des Begriffs fago
aus der Sicht der Ifaluk auf Deutsche: Ifaluk würden deutschen Eltern, die um ihr Kind
trauern, fago zuschreiben, weil der affektive Ausdruck ähnlich ist. Die Ifaluk würden
jedoch auch erkennen, dass fago in Deutschland seltener ist als auf Ifaluk und dass es
nur in Extremsituationen wie Tod und Krankheit von Angehörigen empfunden wird.
Milde Formen von fago, die das alltägliche Miteinander auf Ifaluk steuern, würden die
Ifaluk in Deutschland nicht vorfinden und vielleicht würden sie zu dem Schluss
kommen, dass Deutsche nur sehr eingeschränkt fähig zu fago wären.20

Wie verhält es sich mit wissenschaftlichen Mustern? Ein wissenschaftliches Muster
zeichnet sich, wie dargestellt, dadurch aus, dass es die Fälle herausgreift, die die für die
jeweilige Fragestellung relevanten Eigenschaften haben, dabei muss es nicht bei allen
Menschen und nicht in allen Gemeinschaften vorhanden sein. Es könnte beispielsweise
sein, dass fago ein wissenschaftliches Muster für manche Zwecke auf Ifaluk ist, aber
kein wissenschaftliches Muster in Mitteleuropa ist. Dies wäre dann der Fall, wenn es
auf Ifaluk eine – für manche wissenschaftliche Fragen – hinreichend einheitliche
Klasse von Fällen bezeichnen würde, während dies in Mitteleuropa nicht der Fall sein
würde.21
Diese Fragen können Anthropologen und Psychologinnen nur beantworten, wenn sie
die Ausprägung der oben genannten Muster-Komponenten möglichst systematisch
beobachten und ihren Untersuchungsgegenstand nicht auf die begriffliche und
sprachliche Ebene beschränken22. Dieses Vorgehen ist vergleichsweise aufwendig.

20 Es ist vorstellbar, dass sie dies als erklärungsbedürftige emotionale Verarmung auffassen würden.

21 Auch könnte es sein, dass fago auf Ifaluk zwar ein guter alltagspsychologischer Begriff ist, sich aber
   für keine lebenswissenschaftliche oder psychologische Fragestellung als fruchtbar erweist.

22 Röttger-Rössler 2004 argumentiert ähnlich gegen Lutz und beschränkt ihre Feldstudie entsprechend
  nicht auf begriffliche Aspekte.

                                                   22
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