ENDSTATION LIBERALISIERTE WELT - Forum Umwelt ...

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ENDSTATION
               LIBERALISIERTE
               WELT
               Treibt Corona die Probleme des Welthandels
               auf die Spitze?
               Zum Schutz vor der COVID-19-Pandemie wurden Grenzen ge-
               schlossen und wieder geöffnet. Die Arbeit an verschiedenen
               Standorten, in Fabriken, im Büro war erschwert oder unterbro-
               chen. Der Rhythmus des alltäglichen Arbeitens geriet ins Strau-
               cheln und hatte massive Auswirkungen auf den Welthandel.
               Lieferungen verspäteten sich, Engpässe entstanden. Letztlich
               verdeutlicht das nur bestehende Probleme, insbesondere die
               Abhängig- und Anfälligkeiten unseres Welthandelssystems.

14   Schwerpunkt
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Andrey Sharpil/Unsplash

D
          ie Welthandelsorganisation (World Trade Or-          Bedarf, Arzneimittel und medizinische Ausrüstung. Ei-
          ganisation, WTO) spricht im Zusammenhang             nige Regierungen dehnten die Kontrollen auf zusätzliche
          mit der Pandemie von einem erhöhten Maß an           Warengruppen aus wie Lebensmittel und Toilettenpapier.
          Unsicherheit: Sie drückt das in einem numeri-        Die meisten der als Reaktion auf die Pandemie ergriffenen
schen Indikator aus, der die Auswirkungen auf Kosten           exportbeschränkenden Maßnahmen waren entsprechend
im internationalen Handel beschreibt. Im ersten Quartal        vorübergehend, viele wurden wieder aufgehoben.
2020 beispielsweise lag das Maß der Unsicherheit 60 Pro-          Aber insbesondere im Kampf um die Verfügbarkeit eines
zent über den Werten, die durch den Irak-Krieg und den         möglichen Impfstoffs oder wirksamer Medikamente, bzw.
Ausbruch des schweren akuten Atemwegssyndroms (SARS)           um die Gewinnansprüche aus deren Produktion zeigen sich
im Jahr 2003 erreicht wurden. Die WTO ist besonders um         die wahren Machtstrukturen des Welthandelsregimes. So
die weltweit aktiven Unternehmen besorgt. Die beschrie-        beanspruchen vor allem Player wie die USA im öffentlichen
bene Unsicherheit mindere den Appetit der Wirtschaft, in       Diskurs das vermeintliche Recht des Stärkeren für sich, soll-
neue Handelsbeziehungen zu investieren. Für die WTO            te es denn tatsächlich eines Tages zur Einführung eines
stehen dabei Profitinteressen von EigentümerInnen und          Impfstoffes kommen.
AnteilseignerInnen im Vordergrund. Letzten Endes trifft
die sogenannte Unsicherheit aber vor allem ArbeiterInnen,      „Wir lagen vor Madagaskar“:
die in internationale Wertschöpfungsketten eingebunden         Seeleute unter Druck
sind, insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern.      Die COVID-19-Pandemie zeigt Anfälligkeiten des Welt-
Ihre Arbeitsplätze sind bedroht, ebenso wie ihre persönliche   handels und funktioniert in vielen Bereichen wie eine Art
Gesundheit.                                                    Verstärker bestehender Umstände. Sie verschlechtert die
   Gleichzeitig veranlasste die weltweite Verknappung meh-     meist ohnehin schon miserablen Arbeitsbedingungen,
rerer Produkte viele Regierungen dazu, bestimmte export-       unter anderem in Bereichen, denen wir immer zu wenig
beschränkende Maßnahmen zu verhängen. Bis Ende April           Aufmerksamkeit schenken, etwa dem Transport.
2020 hatten laut WTO mindestens 74 Volkswirtschaften              Güterverkehrsdienste zu Land, in der Luft und vor allem
Exportverbote, -lizenzen oder -kontrollen eingeführt – aber    über das Meer und die Wasserstraßen sind entscheidend für
auch handelserleichternde Maßnahmen, je nachdem, ob ein        die Funktionalität des Welthandels: Sie sind aber auch ein
Produkt ex- oder importiert werden sollte. Das konzent-        entscheidender Kostenfaktor, weshalb die Löhne und Ge-
rierte sich meist auf die gleichen Produkte: medizinischer     hälter, aber auch die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich

                                                         Forum Umwelt & Entwicklung –Rundbrief
                                                                                      Rundbrief1/3/2020
                                                                                                    2020                             15
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unter großem Druck stehen. See- und Landverkehr blieben         erhöht die Pandemie die Dringlichkeit der sozialen Frage –
     während der Krise weitgehend funktionsfähig, auch wenn          global, regional und national.
     sie zum Teil erhebliche Verspätungen zu verzeichnen hatten.
         Über 90 Prozent unserer Waren erreichen uns per Schiff.     Gerät die EU-Handelspolitik ins Wanken?
     Seit Anfang dieses Jahrs wurden weltweit große Teile der        Grundsätzlich befinden sich die EU, aber auch die interna-
     Seeleute auf ihren Schiffen festgehalten. Teils strandeten      tionale Handelspolitik insgesamt, derzeit in einer schwie-
     Schiffe in großen Häfen, die Seeleute bekamen aber kei-         rigen Lage. Nicht nur verlässt der aktuelle WTO-Direktor
     nen Landgang. Häufig waren sie über Wochen auf dem              Roberto Azevêdo die Organisation in Richtung PepsiCo,
     Schiff auf beengtem Raum eingeschlossen, konnten keine          Inc. Auch EU-Handelskommissar Phil Hogan trat in der
     notwendigen Dinge für den privaten Gebrauch besorgen,           Sommerpause zurück. In Deutschland wackelt unterdessen
     adäquate medizinische Versorgung in Anspruch nehmen             das seit nun fast zwei Jahrzehnten verhandelte Freihandels-
     oder mit ihren Familien Kontakt aufnehmen. Teils konn-          abkommen mit den Mercosur-Staaten. Bundeskanzlerin
     ten Crews nicht getauscht werden; die sehr ausgedehnten         Angela Merkel sieht sich unter anderem unter Druck der
     Arbeitseinsätze der Seeleute wurden nochmals verlängert.        kritischen Klimabewegung (siehe dazu Beitrag von
     Transporteure auf dem Festland konnten Grenzen nur noch         Anne Bundschuh, Seite 50; Anm. der Red.).
     unter erschwerten Bedingungen überqueren und standen               Doch all das summiert sich nicht zu einer grundlegen-
     unter Genrealverdacht.                                          den Wende in der globalen, europäischen oder deutschen
                                                                     Handelspolitik. Zum einen befindet sich eine Vielzahl an
     Falsche Flucht ins Digitale                                     Abkommen in der Pipeline oder vor der Ratifizierung. Zum
     Der sogenannte E-Commerce, der Handel mit digitalen             anderen häufen sich die privaten Schiedsgerichtsklagen (die
     Dienstleistungen und Gütern, ist vor allem in wohlhaben-        sogenannten Investor-State-Dispute-Settlement bzw. ISDS-
     den Ländern und Bevölkerungsschichten angestiegen und           Fälle) und haben zu Beginn der Pandemie die 1.000-Fälle-
     als vermeintliche Lösung für den Welthandel in Zeiten ei-       Marke (der bekannten Fälle) überschritten. Auch bestehen
     ner Pandemie verkauft worden. Dabei handelt es sich meist       Befürchtungen, dass es zu einer Reihe von Klagen gegen
     nur um einen Online-Einkauf. Das Produkt, das erworben          staatliche Maßnahmen im Zuge der Pandemie kommen
     wird, ist oft nicht digital, sondern sehr physisch, wird von    könnte. Wer also auf einen Kurswechsel durch COVID-19
     Menschen hergestellt, verpackt und zugestellt. Die Online-      hofft, wird enttäuscht werden, egal wie offensichtlich die
     Verkäufe haben aufgrund der COVID-19-Pandemie einen             Perversität eines durchliberalisierten Handelssystems in der
     enormen Nachfrageschub bei bestimmten Produkten erfah-          Krise zu Tage tritt. Die Lösungsangebote der regierenden
     ren. Viele Unternehmen und VerbraucherInnen reagierten          Parteien und die Wunschzettel der deutschen Großkonzer-
     auf den Ausbruch von COVID-19 mit einer Aufstockung             ne vertrauen auf das business as usual: Um die Wirtschaft
     ihrer Lagerbestände. Die Liste der gehamsterten Produkte        wieder anzukurbeln, brauche man mehr denn je Freihan-
     führten medizinisches Verbrauchsmaterial, darunter Hand-        delsabkommen wie etwa EU-Mercosur oder EU-Mexiko.
     und Flächendesinfektionsmittel und Gesichtsmasken, sowie        Da in solchen Situationen gerne bestimmte Phrasen den
     bestimmte Haushaltswaren wie Toilettenpapier und nicht          Diskurs prägen, darf man sich nun zu Recht fragen, ob
     verderbliche Lebensmittel an.                                   „Krise als Chance“ nicht endlich auf einen Neuanfang oder
        Der Nachfrageschub sorgte für zusätzliche Belastungen        ein Umlenken hinweisen sollte, anstatt einfach so weiter zu
     der sowieso schon gestressten MitarbeiterInnen des Logis-       machen wie bisher.
     tikbereichs. Schon im März traten in verschiedenen Län-
     dern Amazon-ArbeiterInnen in den Streik. Sie prangerten                                                Nelly Grotefendt
     die Mehrbelastung und teils unzureichende Versorgung mit
     Schutzausrüstung an. Der Amazon-Konzern verzeichnete            Die Autorin ist Referentin für Politik beim Forum Umwelt und
     noch enormere Gewinne, die auf dem Rücken der Arbei-            Entwicklung
     terInnen erwirtschaftet, aber keinesfalls mit diesen geteilt
     werden.

     Leave no one behind –                                              Die AG Handel im Forum Umwelt
     es trifft nicht alle gleichermaßen.                                und Entwicklung arbeitet derzeit an
     Die Pandemie zeigt deutlich, dass der im ersten Quartal            einem AutorInnenpapier zu konkreten
     in der Politik bemühte Slogan „Es trifft uns alle“ leider          Anforderungen an den Richtungswechsel
     nicht heißt, dass es uns alle gleichermaßen trifft. Getroffen      aus der Krise. Nach Veröffentlichung
                                                                        online verfügbar unter: forumue.de
     werden eben zuerst und vor allem diejenigen, die eh schon
     schwer zu tun haben.
        Das Schicksal der ArbeiterInnen und NäherInnen aus
     Bangladesch und anderen Textil-Hubs erreichte auch die
     deutschen Medien. Aber es trifft eben auch Kleinbäuerin-
     nen und -bauern im globalen Süden, die ihre Absatzmärkte
     nicht mehr erreichen und damit ihr Einkommen verlieren,
     oder ArbeiterInnen deutscher Großunternehmen, die nun
     in Folge von Einsparungen entlassen werden. Unterm Strich

16   Schwerpunkt
RUNDBRIEF
Forum Umwelt und Entwicklung                                                      3/2020

                                N O N E W N ORM A L
                                DIE WELT PROBT DEN
                                AUSNAHMEZUSTAND
                                                    COVID-19 & DIE            UNTERBEZAHLT,
   GESUNDHEIT VOR        ENDSTATION
                                                    KRISENANFÄLLIGKEIT        UNPOPULÄR, WEIBLICH
   SCHULDENDIENST        LIBERALISIERTE WELT                                  In der Krise verhärten
                         Treibt Corona die          DES GLOBALEN
   Die globale Corona-                                                        sich Ungleichheiten
                         Probleme des Welthandels   ERNÄHRUNGSSYSTEMS
   und Schuldenkrise                                                          › Seite 29
                         auf die Spitze?            Chance für grundlegende
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                                                    Veränderungen?                       ISSN 186 4-0 982
                                                    › Seite 17
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