ETHIK DES WELTBÜRGERS - Ein Essay Alexander Görlach - Shop
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Impressum Herausgeberin Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Truman-Haus Karl-Marx-Straße 2 14482 Potsdam-Babelsberg /freiheit.org /FriedrichNaumannStiftungFreiheit /FNFreiheit Autoren Alexander Görlach Freedom Fellow 2019 der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Redaktion Liberales Institut Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Produktion COMDOK GmbH Kontakt Telefon +49 30 220126-34 Telefax +49 30 690881-02 E-Mail service@freiheit.org Stand Mai 2021 Hinweis zur Nutzung dieser Publikation Diese Publikation ist ein Informationsangebot der Friedrich-Nau- mann-Stiftung für die Freiheit. Die Publikation ist kostenlos erhält- lich und nicht zum Verkauf bestimmt. Sie darf nicht von Parteien oder von Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden (Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen sowie Wahlen zum Europäischen Parlament).
3 Inhalt PROJEKT FREEDOM FELLOW: DIE ETHIK DES WELTBÜRGERS 4 ETHIK DES WELTBÜRGERTUMS — EIN ESSAY 5 INTERVIEW MIT ... Noam Chomsky Widerstand gegen das Weltbürgertum 16 Colin Crouch Zeitalter der überstaatlichen Politik 18 Niall Ferguson Dezentralisierung der Macht 23 Francis Fukuyama Grenzen des Weltbürgertums 28 Ivan Krăstev Fluide Gesellschaften 32 Anthony Appiah Kwame Dialog über Unterschiede hinweg 35 Steven Pinker Gleichzeitig Deutscher, Europäer und Weltbürger 39 Sophia Rosenfeld Die Empathie als Beschützerin von liberaler Demokratie und Weltbürgertum 42 Thomas Weber Die Attraktivität des Kollektivismus ernst nehmen 47 Daniel Ziblatt Moderner liberaler Individualismus als ein Baustein der Demokratie 53
4 Ethik des Weltbürgers Projekt Freedom Fellow: Die Ethik des Weltbürgers Die moderne Welt steht vor einer ungewissen Zukunft: Di- Professor Dr. Dr. Alexander Görlach war im akademischen gitalisierung, Globalisierung, Migration, Klimawandel, religiö- Jahr 2018/2019 Freedom Fellow der Friedrich-Naumann- ser Fundamentalismus und Terrorismus – um nur einige der Stiftung für die Freiheit. Während dieser Zeit hat er durch großen Themen zu nennen. Aber nicht nur durch real existie- zahlreiche Gespräche und Interviews die Grundgedanken für rende Entwicklungen, sondern auch durch kulturelle Ausein- eine „Ethik des Weltbürgers“ entwickelt. In seinem Essay for- andersetzungen werden die liberalen Demokratien und die muliert er Thesen für die liberale und offene Gesellschaft in darauf beruhende Ordnung herausgefordert. der globalen Welt. Die Interviews und Gespräche mit einigen der wichtigsten aktuellen Denkerinnen und Denker unserer Populisten nutzen diese Unsicherheiten aus. Ihr Ziel ist es, Zeit zeigen mit voller Absicht eine breite Vielfalt von Meinun- die liberale und weltoffene Gesellschaft, einen empathi- gen. Denn nur, wenn die Meinungslandschaft in ihrer ganzen schen Kosmopolitismus, abzulösen durch eine sogenannte demokratischen Spannbreite Teil des Diskurses ist, können „illiberale Demokratie“, die wenig bis gar keine Unterscheid- die Chancen für einen wirklichen Konsens ausgelotet wer- barkeit von Autokratien und Despotien mehr besitzt. den. Wandel ist nichts, was schicksalhaft passiert, sondern et- was, das man selbst gestalten kann. Das gilt auch für Ver- änderungen in kultureller und ethischer Hinsicht. Statt Angst vor dem Neuen und dem Fremden sollten Mut und Offenheit prägend für Debatte und Auseinandersetzung sein.
5 Ethik des Weltbürgers — ein Essay Laut einer aktuellen Studie der Vereinten Nationen werden Für den Gegenstand dieses Papiers, „Die Ethik des Weltbür- im Jahr 2050 mehr als Zweidrittel der Menschheit in Städ- gers“, markiert diese Entwicklung, die in der Mitte des 19. ten leben.1 Das werden rund 6,4 der 9,7 Milliarden Menschen Jahrhunderts begonnen hat und ihrem Höhepunkt in dreißig sein, die dann den Erdball bevölkern werden. Ein Jahrhundert Jahren entgegengeht, die Wasserscheide: In der neuen, an- zuvor, im Jahr 1950, waren es nur 2,7 Milliarden, von denen fangs von der Industrialisierung, heute von Globalisierung 70 Prozent auf dem Lande lebten. In einhundert Jahren wird und Digitalisierung geprägten Welt wird Pluralismus der Nor- die Weltbevölkerung um 350 Prozent wachsen, mit dramati- malfall.2 Die Folgen daraus sind für die Welt immens. Städte schen Auswirkungen für das Zusammenleben der Menschen. wie New York oder Berlin werden in den zwanziger Jahren des Der Einfluss der Megacities ist enorm, ihre Wirtschaftskraft Zwanzigsten Jahrhunderts für viele außerhalb ihrer zum Inbe- macht sie zu den bestimmenden Faktoren von Politik und ge- griff eines neuen Babylon. Die Pluralität, die diese Städte ver- sellschaftlichem Leben. körpern, wird als fremd klassifiziert. Und das Fremde macht Angst. Gleichzeitig wird die Stadt attraktiver Anlaufpunkt für Das BIP der chinesischen Hafenmetropole Shanghai kann jene, für die die ländliche Homogenität nicht gemacht ist: Er- sich mit der Wirtschaftsleistung der Philippinen messen, die finder, Unternehmer, Dichter, Maler, Lebenskünstler. Auch für Wirtschaftsleistung des Großraumes Beijing ist en par mit der jene, die nicht der Heteronormativität entsprechen, werden Australiens, und das Pearl River Delta nimmt es mit ganz Süd- die Städte zum Rettungsanker. In der Unbestimmtheit der korea auf. Das ist ein Trend auch außerhalb der Volksrepublik Großstadt entstehen Nischen, von denen auf dem Land nicht China, in der heute Städte mit zwanzig, dreißig Millionen Ein- zu träumen ist. wohnern existieren, die es im Jahr 1950 noch nicht gegeben hat. So nimmt es die Wirtschaftsleitung Tokios mit der Kana- Es bedarf dieser geschichtlichen Herleitung, um zu verstehen, das auf, New York schließt zu Spanien auf, und Paris überragt warum heute, in einem Moment, wo die Verstädterung und Südafrika. die damit verbundene Veränderung des menschlichen Zu- sammenlebens unumkehrbar sind, die Frontstellung gegen Die Entwicklung zur Verstädterung beginnt in Europa mit die Stadt und was sie verkörpert, neue Fahrt aufgenommen der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die und eine globale Wucht entfaltet hat. soziale Frage widmet sich vor allem der materiellen Not, die durch diese Stadtflucht entsteht. Die damit verbundenen ge- Die Städte als ökonomische und kulturelle Taktgeber haben sellschaftlichen Veränderungen werden von da an auch in nicht nur eine hohe Wirtschaftsleistung gemeinsam. Die Le- Kunst und Literatur problematisiert. Die neue Zeit entwurzelt bensweise in Taipei, die Werte, mit denen dort Pluralismus die Menschen vom Lande und entfremdet sie von ihren kultu- gelebt wird, unterscheidet sich nicht sonderlich von der Lon- rellen Gewohnheiten und religiösen Bräuchen. In den Städten dons. Mexico City und Berlin teilen die Liebe für elektronische entsteht ein neues Bürgertum, das sich in Stadthäusern stei- Musik, Galerien und Museen. Das „Mindset“ der Stadtbewoh- nerne Symbole wirtschaftlichen Kraft setzt. In der Silhouette ner verbindet sie über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. einer typischen Stadt des 19. Jahrhunderts wird diese neue Gleiches gilt für den ländlichen Raum. Ein auf die familiären Macht sichtbar: Bahnhöfe, Krankenhäuser, Schulen, öffentli- und lokalen Bande bezogenes Zusammenleben unterschei- che Gebäude der Verwaltung und der Gerichte, sie markieren det sich nicht wirklich, nur weil in der Mitte des Dorfes eine Kir- die neuen Zentren, die sich im Laufe der Zeit mehr und mehr che, Moschee oder ein Tempel steht. Man kann diesen Trend vom Land entkoppeln und ein eigenes Leben entwickeln wer- verschieden deuten: Eine positive Lesart wird herausstellen, den. dass in dieser vernetzten Welt unterscheidende und trennen- de Faktoren der Vergangenheit, wie etwas Religion oder Spra- Die beiden Lebensräume sind geprägt von Homogenität che, in der pluralistischen Welt keine segregierende Funktion und Heterogenität: Auf dem Land leben die Menschen im mehr haben. Inklusivität wird als Wert begriffen und ange- Familienverbünden, eingebettet in den Kreislauf von Aus- nommen. Die andere Lesart problematisiert, dass es einem saat und Ernte, verwurzelt im christlichen Jahreslauf. In der Land nicht gut gehen kann, wenn Stadt und Dorf nicht mehr Stadt hingegen bestimmt nicht die Natur, sondern die Stech- miteinander sprechen können. Es wird als Nachteil gesehen, uhr. Menschen verschiedener oder keiner Konfession leben dass man als New Yorker mehr mit den Einwohnern Londons dort nebeneinander, am Wochenende mag das Amüsement oder Berlins gemein hat, denn mit der Landbevölkerung im eines Jahrmarkts oder anderer Vergnügungen jene Erbauung nahen New Jersey. Als Konsequenz daraus wird das Gemein- bringen, die anderenorts in der Kirchenbank das Singen alter same herausgestellt, das geteilte geschichtliche, religiöse, Hymnen spendet. Nicht umsonst wurde die Stadt, personifiziert kulturelle Erbe, das, aus der Sicht der Landbewohner, Vorrang in Babylon, bereits in biblischen Zeiten als große Gefahr detek- vor der Verflechtung mit anderen haben sollte: Hier wird eine tiert. Babylon ist deshalb „die Hure“, weil in ihr verschiedene, he- gewisse Exklusivität zum Angelpunkt für den Werte-Katalog. terogene Lebensstile gepflegt werden, verschiedene Sprachen gesprochen werden und vielen Göttern gehuldigt wird. 1 https://www.un.org/development/desa/publications/2018-revision-of-world-urbanization-prospects.html 2 https://www.un.org/development/desa/publications/2018-revision-of-world-urbanization-prospects.html
6 Ethik des Weltbürgers Der englische Publizist David Goodhart hat diese neue Lebensstils verhindert, dass ein von der Norm abweichendes Gegenüberstellung von inklusiv und exklusiv, von Stadt Verhalten in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wird. und Land, auf die Begriffsformel der „Anywheres“ und der Wer, beispielsweise, seine Homosexualität auf dem Land ent- „Somewheres“ gebracht.3 Für ihn sind die „Anywheres“ deckt wird weniger Optionen des Umgangs damit haben, als jene, die in Städten wohnen, gut ausgebildet sind, aus- in der Stadt. reichend Geld verdienen und mannigfaltige, verschiede- ne Kontakte haben. Es sind jene, für die die pluralistische Die „Anywheres“ leben also, in unserer vereinfachten Modell- Welt Alltag ist. Die „Somewheres“ sind jene, deren Leben welt, in der ständigen Präsenz des Pluralistischen und trainie- ausschließlich von den Bezügen zu einem einzigen Ort ge- ren sich in Toleranz und Empathie. In der Modellwelt scheint prägt ist, das Dorf, in dem sie groß werden. Findet sich der es fast unmöglich zu sein, dass ein „Somewhere“ empathisch „Anywhere“ in vielen Beziehungen wieder, familiär, kollegial, und tolerant sein kann. Dieses Papier soll zeigen, dass dem freundschaftlich, kann der „Somewhere“ auf kein solches nicht so ist. Wohl besitzen „Anywheres“ eine bessere Start- Reservoir zurückgreifen. Der für dieses Papier interviewte position, aber sie sind durch ihren Wohnort in der Stadt Professor und Buchautor Kwame Anthony Appiah be- nicht automatisch immun gegenüber Fremdenfeindlichkeit schreibt auf den ersten Seiten seines Buches „Kosmopoli- und anderen Ausdrucksformen von Angst und Unsicherheit. tismus“, wie ein Mensch, der heute die 5th Avenue in New Goodhart führt deshalb eine dritte Kategorie ein, jene der York ein paar Blocks entlang läuft, dabei mehr Menschen „Inbetweener“, solche als, die zwischen den beiden Welten sieht, als einer seiner Vorfahren in seinem ganzen Leben.4 navigieren. Diese Kategorie ist besonders relevant und inte- Dabei lernt der Großstädter, die Vielzahl derer, die ihm be- ressant für ein Land wie Deutschland: Die Bundesrepublik ist gegnen, die verschiedenen Lebensentwürfe, die sie verkör- heute eine föderale Demokratie mit starken Bundesländern, pern, und Lebensgeschichten, für die die Menschen stehen, historisch gewachsenen städtischen Zentren in der Fläche. aufzunehmen und gleichzeitig auszublenden. Das Signifi- Das bedeutet, dass Städte mit 100, 200 oder 300 tausend kante an einer Stadt, an dem Wohnort der „Anywheres“ ist Einwohnern Universitäten haben, an denen Menschen aus eben nicht eine Polymorphie menschlicher Schicksale, die dem In- und Ausland studieren oder Unternehmen mit inter- von einigen, auch den biblischen Autoren, in Zusammen- nationaler Belegschaft operieren. Zudem ist Deutschland hang mit Promiskuität und einem relativistischen „anything seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts goes“ gerückt wird, sondern die Befähigung, zuerst zu sehen mit Wirtschaftsmigration vertraut. Damals kamen Menschen und dann zu vergessen. aus Korea, Vietnam, der Türkei, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, um eine boomende Wirtschaft zu stützen. Das Wer vor der großen Pandemie einen U-Bahnwaggon in New Land hat zudem neun Nachbarstaaten, was die Menschen, York bestiegen hat, der konnte in eine Gruppe von einhun- die in den Grenzregionen leben, auch zu „halben Any-wheres“ dert Passagieren verschiedenster Ethnien eintauchen, neben macht. Es ist nur eine Vermutung, aber die hier skizzierte An- einem orthodoxen Juden einen Sitzplatz einnehmen oder lage Deutschlands mag dafür verantwortlich sein, dass sich mit einer transsexuellen Person ins Gespräch kommen. Das in Zentralstaaten wie Frankreich oder England, in denen die Wahrnehmen des Anderen mündet über die Zeit in eine Art der Hauptstädte das vitale Zentrum des Landes sind, rechtsextre- Gewöhnung, die das Ausblenden möglich macht. Ausblen- me Bewegungen wie der Front National oder die UKIP viel frü- den können ist zentral für das Zusammenleben in einer her und nachhaltiger festsetzen konnten. Der bestimmende Stadt, denn nur, wenn es die Vereinbarung gibt, dass wir Faktor für das Brexitvotum und die Wahl von Donald Trump uns untereinander nichts antun, also einander nicht gefähr- mag diese These stützen. Der Stanford-Politologe Francis lich werden, kann unser mentaler Apparat dazu übergehen, Fukuyama, der auch in dieser Publikation zu Wort kommt, das Plurale als das Normale zu verbuchen und ihm, schluss- nennt ein entscheidendes Kriterium, das den Ausschlag ge- endlich keine Bedeutung mehr beizumessen. Wenn wir über geben hat. Es sind weder Bildung noch sozio-ökonomische „Anywheres“ und „Somewheres“ sprechen, werden wir sehr Kriterien, sondern die Bevölkerungsdichte. Dort, wo wenig schnell an den Punkt kommen, wo Worte wie „Angst“ oder Menschen auf großem Raum verteilt leben, scheinen sie of- „Unsicherheit“ als Motive politischer Aktivität bei den „Some- fener für Botschaften, die den „Some-wheres“ als Antwort wheres“ angeführt werden. Angst und Unsicherheit ent- auf das Gefühl von Unsicherheit und Angst die „Anywheres“ stehen da, wo die Begegnung mit dem Neuen und Fremden, und ihre Werte als Wurzel des Übels präsentieren. In beiden seien es Personen oder Ideen, nicht eingeübt ist, weil es Ländern, den USA und England, haben Parolen gegen die „Eli- nicht eingeübt werden konnte. Entscheidend ist bei dieser te“, gegen „Globalisten“ gegen „Kosmopoliten“, die man vor Einübung, dass die Einübenden dabei die Fähigkeit zur allem in Medien und der klassischen Politik verortete, Erfolg Toleranz und zur Empathie erlernen. Es steht völlig außer gezeigt. Dass Donald Trump die Corona-Pandemie als eine Frage, dass dies auf dem Dorf genauso möglich ist wie in Erfindung der Demokraten bezeichnen konnte, war das trauri- der Stadt. Auf dem Land aber sorgen die dichten Familien- ge Ende eines Erosionsprozesses, in dem sich, durch gezielte beziehungen und andere soziale Verflechtungen dafür, dass Lenkung und Ausbeutung von Angst und Unsicherheit, „An- das Zusammenleben gelingt, noch bevor die Toleranzfrage ywheres“ und „Somewheres“ nichts mehr zu sagen haben. gestellt werden muss. Die Hegemonie eines bestimmten 3 David Goodhart, The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics (2017) 4 Kwame Anthony Appiah, Cosmopolitanism: Ethics in a World of Strangers (2006)
EIN ESSAY 7 Woher kommt nun das Gefühl der Angst und der Unsicherheit, denn dort, wo Wissenschaft und Vernunft den Ton angeben, von dem die Rede war? Was sind die Mechanismen, die es güns- kann es eigentlich keinen zu rechtfertigenden exklusivisti- tig machen, diese Gefühle auszunutzen? Und in welchem Zu- schen Rückzug auf Rasse, Nation, Religion oder Sprache ge- sammenhang stehen diese Faktoren mir der globalen Gemen- ben. Es ist wichtig, dies festzuhalten, denn das Aufkommen gelage, dem Streit zwischen Kosmopoliten, den „Anywheres“, und Aufstreben des „Somewhere“ kann nur mit der selbst- und den Isolationisten, den „Somewheres“, auf der anderen bewussten und selbstbezogenen Dominanz des „Anywhere“ Seite? erklärt werden. Die Polarisierung in Gesellschaften wie der US-amerikani- Das Streben nach der eigenen Identität, nach Abgrenzung schen oder der britischen kann in einen größeren Kontext von von Anderen wird, in all den genannten Ländern, hauptsäch- Identitätssuche gestellt werden. Zwar ähneln sich die beiden lich damit begründet, dass die eigene Geschichte und Kultur Länder in ihrer spezifischen Antwort — der radikale Bruch mit anderen überlegen sei. Xi hält den „Sozialismus mit chinesi- dem Vergangenen, der in der Wahl von Donald Trump und schen Charakteristika“ gegenüber dem Westen überlegen, dem Verlassen der Europäischen Union deutlich wurde — auf Putin behauptet, dass der brutale Kampf gegen Homosexuel- diese Suche, sie sind aber nicht allein: In der Volksrepublik le und die Stärkung der Orthodoxen Kirche den Russen, wie er China hat Präsident Xi mit seinem Amtsantritt mit den knapp es sieht, ein Schicksal wie dem „dekadenten Westen“ erspart. vierzig Jahren Reformen und Öffnen gebrochen und führt das Land in eine Autokratie, in der die ethnischen Minderheiten Wir wissen aber, dass in Wahrheit hinter solchen kulturellen diskriminiert und in Arbeitslager gesperrt werden. In Indien Konflikten, über die Samuel Huntington ein ganzes Buch ge- hat die hindu-nationalistische Regierung unter Premier Modi schrieben hat, häufig Ablenkungen sind für ökonomische mit dem Narrativ des pluralistischen, religionsfreundlichen Spannungen. Der Historiker Götz Aly hat in seinem Buch „War- und demokratischen Indien gebrochen zugunsten einer wie- um die Deutschen, warum die Juden?“ herausgestellt, dass im derbelebten Vision eines hinduistischen Landes. Die 200 Mil- Moment der Weltwirtschaftskrise jüdische und nicht-jüdische lionen Muslime in dem Land werden schikaniert und verfolgt. Abiturienten in Berlin um dieselben Jobs kämpften.8 Die Juden, In der Türkei wiederum bricht Präsident Erdogan mit den 90 so Aly, waren stets alphabetisiert, wohingegen ihre christlichen Jahren Republikgeschichte, indem er das untergegangene Nachbarn erst mit Bismarck eine flächendeckende Schulaus- Osmanentum und seine Version des Islam zu den wichtigsten bildung erhielten. Das ökonomische Desaster, das mit der Säulen des Landes erklärt. Die christliche Minderheit hat hier Jahreszahl 1929 verbunden ist, und nach Aly den Aufstieg nichts mehr zu erwarten: Kirchengut wird eingezogen, das Hitlers massiv begünstigt hat, ist somit der Grund für die Aus- von christlichen Privatleuten ebenfalls.5 Daneben hat Erdogan grenzung der Juden in diesem Moment und kein kultureller das Land gespalten in seine Anhänger und Gegner. Beide La- Konflikt und beileibe kein Kampf einer überlegenen Rasse ger sind ungefähr gleich groß, weswegen die Verwerfungen gegen eine unterlegene. in der türkischen Gesellschaft mit denen in den USA und Eng- land. vergleichbar sind. Ungarn und Polen wiederum haben Erleben, durchleben wir derzeit eine vergleichbare Zeit wie national-konservative-christliche Führer, die in „ihrem“ Land die der Weltwirtschaftskrise? Die Corona-Pandemie mag das weder Zuwanderung noch Andersgläubige wollen. nahelegen, sie ist aber als solche nicht mit dem Trend ver- bunden, den die Gesellschaften der freien Welt in den vergan- Damit verlassen sie das Wertefundament der Europäischen genen drei Jahrzehnten gesehen haben. Die Stichworte der Gemeinschaft, in dem Religionsfreiheit gilt und Staatsbürger- Globalisierung und die Digitalisierung stehen für einschnei- schaft Zugehörigkeit schafft und Rechte garantiert, nicht eine dende Veränderung: Automatisierung nimmt dem Menschen bestimmte Religion oder Abstammung. bestimmte Arbeiten ab, globale Zuliefererketten ermöglichen Produktion in günstigeren Ländern, Digitalisierung und Künst- Demokratien sind von diesem Bezug auf das eigene, das „So- liche Intelligenz zerstören Jobs und schaffen neue. In der mewhere“, genauso betroffen wie „Nicht-Demokratien“. Da Vergangenheit haben diese Prozesse am Ende zu mehr und es sich also um eine globale Erscheinung handelt, dürften neuer Arbeit geführt, die den Wegfall des Alten kompensiert die Gründe, die dazu führen, dass eine Abkehr von Bekann- hat. Meist handelte es sich dabei um manuelle Arbeit, die von tem und Bewährtem probat erscheint, ähnlich gelagert sein. Maschinen übernommen wurden. Die erzielten Fortschritte Dazu muss gesagt werden, dass in den vergangenen siebzig im Bereich der künstlichen Intelligenz fordern nun erstmals Jahren die Ideal der „Anywheres“ jene waren, die das Bil- bei den so genannten „White Collar“-Berufen einen Tribut: dungssystem der westlichen Länder favorisierten6: es sollten Rechtsanwälte, Ärzte, Banker und die, die mit ihnen arbeiten, Fremdsprachen erlernt, Informatik vermittelt, andere Kulturen werden von der schnelleren und größeren Leistungsfähigkeit verstanden werden. Die Schule und die Universität sollten von Rechnern überholt, so dass auch dort in den kommenden Kosmopoliten hervorbringen.7 Das ist nicht verwunderlich, Jahren mit dem Wegfall vieler Arbeitsplätze zu rechnen ist. 5 https://www.dw.com/de/g%C3%B6rlach-global-christen-als-willkommener-s%C3%BCndenbock-in-der-t%C3%BCrkei/a-53912517 6 http://bostonreview.net/martha-nussbaum-patriotism-and-cosmopolitanism, https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.2304/csee.2011.10.2.91 7 https://www.unesco.de/bildung/hochwertige-bildung/global-citizenship-education 8 Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933 (2011)
8 Ethik des Weltbürgers Die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess von statten geht, lernen von kritischem Denken, ganzheitlichem Verstehen, ist heute um ein Vielfaches schneller als in der Vergangenheit. empathischer Aneignung von Wissen, kurz, das Studium der Um auf die Veränderungen der Welt einzugehen, hatten Aus- Liberal Arts, Kernelement jeden Lernens, Wissens und Ver- bildungsstätten eine Generation, zwanzig bis dreißig Jahre, stehens bleiben wird. Damit steht auch fest, dass uns kein Zeit. Ob bei dieser Iteration wieder ein solcher Zeitraum zur Algorithmus abnehmen kann, miteinander umzugehen. „Any- Anpassung zur Verfügung stehen wird, bezweifeln einige. wheres“ und „Somewheres“ können es sich also nicht ge- Unabhängig davon, auf welcher Seite jemand bei dieser Dis- mütlich in ihren eigenen Zonen machen und den anderen kussion steht, wird grundsätzlich von niemandem bezweifelt, ausblenden, wenn am Ende dieses Prozesses nicht Ignoranz dass wir uns in einer Zeit großer Transformation befinden. und Unfähigkeit, die Welt in ihrer Gesamtheit zu verstehen, stehen soll. Es ist bezeichnend, dass diejenigen, die die Angst Alvin Toffler beschreibt bereits in seinem 1970 erschienenen der Menschen befeuern und ihre Unsicherheit ausnutzen, Buch „ Future Shock“, dass es in Zeiten exponentiellen Wan- Vernunft, Bildung und Wissenschaft attackieren und so die- dels zu einer Verunsicherung in der Gesellschaft kommen jenigen, die ihnen zuneigen, von dem abschneiden, was sie kann, die selbst die Eliten, also jene „Anywheres“, die eigent- als Scharlatane zu erkennen gibt. Eine demokratische Gesell- lich flexibel genug für die Bewältigung dieser Herausforde- schaft lebt davon, dass Bildung und Ausbildung als essentiel- rung sein sollten, einbezieht.9 Die Konsequenz, so Toffler, ist le Güter gleichermaßen von „Anywheres“ und „Somewheres“ ein Strudel aus Ungewissheit und Lähmung, die das ganze anerkannt werden. Land erfasst und die öffentliche Meinung bestimmt. Genau das haben wir in den vergangenen Jahren erlebt: die Unge- Das gemeinsame Erlernen kritischen Denkens, Verstehens wissheit, was die Zukunft bringen mag, führt zu einer Rückbe- und Argumentierens macht Öffentlichkeit überhaupt erst sinnung auf Identität in einem traditionellen Sinne. Nicht die begehbar. Denn Texte und Äußerungen in den Medien, die spannenden Chancen, die eine prosperierende Zukunft im die kritische Öffentlichkeit konstituieren, müssen wiede- Hinblick auf ein sich veränderndes soziales Gefüge der Ge- rum mit kritischen Augen von den Leserinnen und Lesern sellschaft bringt, stehen im Vordergrund, sondern Abwehr- angeschaut werden. In der analogen Zeit verfügten demo- kämpfe, die sich auf ein Neues richten, das sich hinter dem kratische Gesellschaften aufgrund dieses Bildungsideals Schleier der Ungewissheit verbergen mag. Dies wird gerade über ein gemeinsames Verständnis von Fakten. Heute, ein darin manifest, dass auch reiche, gut ausgebildete und ver- Blick auf die USA und England machen dies deutlich, leben netzte „Anywheres“ 2016 für Donald Trump oder das Verlas- die Anhänger bestimmter Überzeugungen in Meinungssilos sen der Europäischen Union gestimmt haben. Es ist also alles und behaupten, die andere Seite verbreite „Fake News“. Der andere als ausgemacht, dass ein sauberer ideologischer, auf Skandal um Cambridge-Analytica hat die Drastik des Kon- verschiedenen Werten basierender Schnitt zwischen „Any- flikts herausgestellt: während des Präsidentschaftswahl- wheres“ und „Somewheres“, so wie ihn Goodhart vornimmt, kampfs von Donald Trump im Jahr 2016 ist es dem Unter- tatsächlich das zu beschreiben in der Lage ist, was derzeit nehmen gelungen, Werbung mit überspitzen politischen vor sich geht. Eine schöne Loftwohnung, gute Ausbildung Botschaften gezielt und massiv an jene auszuspielen, die oder ausreichend Ersparnisse sind eben keine zureichenden man zuvor als empfänglich für solche radikalen Aussa- Schutzschilde gegen das Gefühl von Angst und Ausgeliefert- gen herausgefiltert hat. Wieder und wieder mit diesen Bot- sein. Denn wenn alte Gewissheiten nicht mehr tragen und schaften, zum Beispiel zum Thema illegale Migration, pe- sich Neues noch nicht Bahn gebrochen hat, entsteht ein Va- netriert, beginnen die Empfänger, die nur die Werbung des kuum, das heute sowohl auf individueller wie auf staatlicher Trump-Lagers und nicht zusätzlich jene Botschaften des und internationaler Ebene zu beobachten ist. politischen Mitbewerbers empfangen, die Welt mehr und mehr ausschließlich durch diese eine Brille zu betrachten. Der Einzelne wird mit dem, was zum Ausüben eines Beru- In analogen Zeiten haben Menschen auch nicht ständig die fes und zum Verständnis seines wirtschaftlichen und ge- Zeitungen und Magazine, die einem anderen politischen sellschaftlichen Kontexts in Schule und Ausbildung erlernt Spektrum zuneigten, gelesen. Aber in jener Zeit herrschte wurde, nicht mehr durch seine gesamte Erwerbsbiographie eher Einigkeit über die Fakten, gestritten wurde härter über kommen. Nur im Deutschen gibt es den Ausdruck, einer oder ihre Deutung und die angemessenen politischen Mittel. eine habe „ausgelernt“, was sich auf den erfolgreichen Ab- Durch die Polarisierung, die von interessierter Seite wie der schluss einer zwei- oder dreijährigen Berufsausbildung be- Leave-Kampagne oder dem Wahlkampfthema von Herrn zieht. „Ausgelernt“ hat heute niemand mehr. Die Forderung Trump zwischen „Anywheres“ und „Somewheres“ herbeige- nach „lebenslangem Lernen“ hat es bereits in den Jargon führt wurde, hat nahezu alle Kommunikationskanäle zum je politischer Sonntagsreden geschafft, ohne dass dabei völlig anderen Lager still gelegt. Mit der Konsequenz, dass ein An- klar wäre, was es genau zu erlernen gäbe und wozu: Welche hänger von Herrn Trump nur dessen Twitter-Account folgen Skills werden in der Zukunft benötigt und welche Jobs wird und ab und an Fox News zu sehen braucht, um völlig in diesem es noch geben? Diejenigen, die sich professionell mit diesen Milieu aufzugehen und niemals seine Vorstellung an der Wirk- Fragen beschäftigen, kommen zu dem Urteil, dass das Er- lichkeit einer echten medialen Öffentlichkeit messen muss. 9 Alvin Toffler, Future Shock (1970)
EIN ESSAY 9 Die Öffentlichkeit wurde in der analogen Zeit von Medien Für „Anywheres“ und „Somewheres“ gelten eben nicht ver- konstituiert: Zeitungen, Radio, Fernsehen. In ihren Program- schiedene Fakten. Ihre Lebenswelten sind verschieden und men wurden politische Streitfragen von verschiedenen Seiten damit auch das, was die Fakten, was die Welt für sie bedeu- diskutiert. Eine Redaktion prüfte die Aussagen, die Politiker in tet. Hier kommt ein weiteres Element der Ausbildung in den ihren Statements machten und fragte gegebenenfalls kritisch freien Künsten zum Tragen, nämlich die Fähigkeit einer em- nach. Für Journalisten, jedenfalls für die mit einem Anspruch pathischen Hermeneutik, also verstehen zu können, was den an die Ergebnisse ihrer Arbeit und an sich selbst, ist kriti- anderen aus welchen Gründen bewegt. sches Nachfragen Teil ihrer DNA. Die Debattenkultur einer offenen und demokratischen Gesellschaft ist auf Kritik- und Für „Anywheres“ und „Somewheres“ gelten eben nicht ver- Streitfreude angelegt. Die Öffentlichkeit in einer Demokratie schiedene Fakten. Ihre Lebenswelten sind verschieden und muss eine kritische sein,Nur so ist um ihren Protagonisten – damit auch das, was die Fakten, was die Welt, für sie bedeu- uns, den Bürgern die Möglichkeit gegeben, informiert und auf- tet. Hier kommt ein weiteres Element der Ausbildung in den geklärt die Geschicke des Gemeinwesens zu gestalten. Medi- freien Künsten zum Tragen, nämlich die Fähigkeit einer em- enhäuser und ihre Publikationen stellten sich in diesen Dienst pathischen Hermeneutik, also verstehen zu können, was den und wurden so selbst zum Gegenstand kritischer Reflexion anderen aus welchen Gründen bewegt. und Nachfrage. Im digitalen Zeitalter hat sich die Konstella- tion der Öffentlichkeit radikal gewandelt. Heute sind es die Die Behauptung, dass sich „Anywheres“ und „Somewheres“ großen Plattformen, die sozialen Medien, die diese Öffentlich- unversöhnlich gegenüber stehen, stellt sich so falsch heraus. keit bereit stellen. Das gilt in ländlichen und urbanen Regio- Die Kriterien und Maßgaben kritischen Denkens haben sich nen, in entwickelten wie in weniger entwickelten Ländern. durch den digitalen Wandel massiv verändert. Der Protagonist einer Plattform ist der Konsument und Die Corona-Pandemie wirkt auch hier wie ein Proxy: Die Aus- nicht der Bürger. Ein Konsument möchte so angenehm wie gangs- und Kontaktsperren und die Schließung von Schulen möglich seine Zeit auf der Plattform verbringen. Je länger und Universitäten haben an vielen Orten, auch in Deutschland, er sich dort aufhält und je mehr er von dem, was er mag offengelegt, dass Ausbilder und Ausbildungsstätten noch sieht und anklickt, desto mehr verdient der Plattformbetrei- längst nicht den erforderlichen digitalen Geist atmen. In Bra- ber. Besonders der Gigant Facebook ist für sein Verhalten silien beispielsweise sind die Schulen seit März mehr oder immens in die Kritik geraten. Der Cambridge Analytica- weniger geschlossen.10 Das Schließen von Bildungseinrich- Skandal war nur deshalb möglich, weil man sich bei der Fir- tungen lässt eine ganze „Generation Corona“ entstehen, deren ma Facebook nur dafür interessierte, viel Geld zu verdienen Bildung und damit späteren Erwerbseinkommen sich massiv und die Frage, mit welcher Metrik dies geschehen solle, völlig verschlechtern werden.11 In anderen Staaten stehen schlecht außen vor blieb. Google und Twitter stehen hier heute völlig organisierte oder finanzierte Gesundheitssysteme vor dem anders da, hatten aber für lange Zeit die selbe Auffassung Kollaps. Soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verstär- wie Facebook, nämlich „nur“ eine Plattform zu sein und daher ken sich durch die pandemiebedingten Wirtschaftskrisen. keinerlei Einfluss auf oder Verantwortung für die Inhalte zu haben, die dort geteilt werden. Zwischen einem Marktplatz, Der Politik fallen Antworten häufig schwer. Auch die Parteien einen Begriff, den die alten Medien gerne für sich verwende- standen dem Veränderungsdruck schon vor Corona häufig ten und einer Plattform gibt es einen Unterschied. Die Polari- hilflos gegenüber. sierung der Gesellschaften, in denen sich „Somewheres“ und „Anywheres“ nicht mehr gegenüber stehen, sondern für sich Die Sozialdemokratie beispielsweise sucht in Deutsch- bleiben, ist zu einem großen Teil den ökonomischen Parame- land, England und den USA nach einem Weg, ihre Agenda tern der Onlineriesen geschuldet und jenen, die bereitwillig aus dem Zeitalter der Industrialisierung in die digitale Welt diese Mechanik für ihre Zwecke ausnutzen. zu übersetzen, mit mäßigem Erfolg. In den drei genannten Ländern wird den Sozialdemokraten vorgeworfen, die Sa- Wo es keine Einigkeit mehr über die Fakten gibt, kann es auch che der Arbeiter gegen eine Politik für Minderheiten einge- keine Einigkeit mehr darüber geben, was diese Fakten bedeu- tauscht zu haben. Jene, die an einem solchen neuen Mar- ten. Wo es keine gemeinsamen Debattenräume gibt, gibt es kenkern sozialdemokratischer Politik arbeiten, werden zum auch keine gemeinsame kritische Aussprache. Ein kritischer Opfer eines Rollback innerhalb der Gesellschaft, die nicht Diskurs ist es eben nicht zu sagen, dass jeder eben seine Mei- mehr positiv nach vorne, sondern ängstlich zurückschaut. nung habe, ihm diese auch zustehe, und man sich deshalb Vision gegen Tradition. Mit dem Instrumentenkasten des permanent im Schach befinde. Kritisches Denken als Grund- aufgeklärten, kritischen Denkens könnte man schnell her- lage beispielsweise bei der Bewertung ethischer Fragen, darf leiten, dass es nicht ein Entweder-Oder sein muss, auf des- nicht auf allein Geschmack, sondern sollte auf verschiedenen sen Grundlage sich politische Wertkoordinaten entwickeln. Verhaltensoptionen auf der Grundlage vorhandener Fakten beruhen. 10 https://taz.de/Schulstart-trotz-Corona-in-Brasilien/!5710459/
10 Ethik des Weltbürgers Eine Partei kann sich zur selben Zeit um die Belange verschie- Der Konflikt zwischen den beiden Mächten ist somit, wie dener Gruppen kümmern. Da aber die Vorstellung genährt bereits für andere Beispiele konfrontativer Zuspitzung und wird, dass es die Minderheiten (in der Stadt) seien, die an der Polarisierung erwähnt, ein ökonomischer. Das Streben nach ökonomischen Misere (auf dem Land) verantwortlich seien, ökonomischer Spitzenklasse ist derart verzahnt mit unterlie- gelten die Parteien, die sich für diese Minderheiten einsetzen, genden ethischen und weltanschaulichem Werten, dass es als elitär, abgehoben und korrupt. Mehr noch, sie arbeiteten schwer wird, die beiden voneinander zu trennen. Die Volks- aktiv an der Beseitigung der „Somewheres“. republik China mit ihren 1,4 Milliarden Einwohnern wird in naher Zukunft die Wirtschaftsleistung der Vereinigten Staa- Auf der Weltbühne wiederum ist der Aufstieg der Volksre- ten, in denen 330 Millionen Menschen leben, übertreffen12. publik China zu einem Akteur, der Machtpolitik vergangener Die EU-27 mit ihrer alterernden Bevölkerung muss aufpassen, Jahrhunderte zum Stilmittel der Gegenwart und zum Takt- nicht den Anschluss zu verlieren, um neben China und den geber internationaler Beziehungen verklärt, das markanteste USA eines der drei ökonomischen Kraftzentren der Welt zu Momentum, das Veränderung aufzeigt und mit ihr die Ver- bleiben.13 unsicherung, wie damit umzugehen sei. Dass China zuneh- mend aggressiver auftritt und die USA unter Donald Trump Denn eines ist klar: Wer die Welt ökonomisch anführt, der Schritte gegen dieses Gebaren der Kommunistischen No- kann auch, wie die Vereinigten Staaten zuvor, die Standards menklatura in Peking eingeleitet haben, hat den ökonomi- für diese Welt setzen. Als wichtigster Teilnehmer in der globa- schen Konflikt zwischen der Supermacht und dem aufstre- lisierten Welt wird China die ökonomische Standards setzen, benden Riesenreich zu einem kulturellen Konflikt geadelt, ein Privileg, das bisher hauptsächlich den USA zukam. Nichts den einige Kommentatoren bereits als Wiedergänger des sollten jene, die die Freiheit lieben, mehr fürchten, als dass die Kalten Krieges sehen. Dabei greift die alte Schablone, wie Volksrepublik China diese Standards für uns setzt. vieles von dem, auf das sich Identitätspolitik heute bezieht, viel zu kurz, um die veränderte Wirklichkeit zu durchmessen Um in der für Demokratien gewünschten Weise kritisch den- und so zu angemessenen politischen Maßnahmen zu ge- ken und teilnehmen zu können, ist es für Nationen, die den langen, die am Ende auch wirklich effektiv sind. Auch hier Titel einer Demokratie verdienen, unerlässlich, dass der Zu- hilft uns kritisches Denken. Die Problematik mit China rührt gang zur Bildung frei ist. Nur wenn es ohne Rücksicht auf nicht daher, dass ein „Anywhere-Amerika“ mit einem „Some- Herkunft, das Elternhaus und dessen sozio-ökonomische Be- where-China“ in Konflikt wäre. Beide, Donald Trump und Xi dingungen, möglich ist, es in einer Gesellschaft nach oben zu Jinping, gaben an, auf ihre eigene Weise die „Some-whe- schaffen, kann wirklich von einer Demokratie die Rede sein. res“ zu vertreten. Der eigentliche Konflikt liegt darin, dass die Der liberale Denker Ralf Dahrendorf beschreibt bereits in sei- Volksrepublik die Strukturen der „Anywhere“-World, die Ver- nem 1988 erschienen Buch „Der moderne soziale Konflikt“, einten Nationen, nutzt, um dort ihre eigene Sicht auf Werte dass den Bürgerinnen und Bürgern eines Staates aufgrund — die Menschenrechte und die freie Gesellschaft — zu hinter- ihrer Staatsbürgerschaft „civil and social rights“, Bürger- legen und über die Dauer der Zeit durchzusetzen. Das auto- und soziale Rechte, zukommen.14 Die Menschenwürde, die kratische China hat kein Interesse an kritischem Denken und die Grundlage der Menschenrechte und der Rechtsordnung mündigen Bürgern. Hier liegt der eigentliche Systemkonflikt, eines demokratischen Staates ist, falten sich in diesen bei- der wenig mit der Arithmetik des Kalten Krieges gemein hat. den, den Bürgerrechten und den sozialen Rechten, aus. Das China möchte das aufgeklärte Menschenbild abräumen und Wahlrecht, so kann man mit Dahrendorf sagen, hat nur dann durch das eines willigen, dankbaren Vasallen ersetzen, der der einen Wert, wenn diejenigen, die wählen können, auch aus- staatlichen Ordnung, namentlich der KP, ein Leben lang dank- reichend zu essen haben, gekleidet sind, die Schule besuchen bar die Füße dafür küsst, dass Reis und Tee auf dem Tisch oder einen Arzt aufsuchen können, wenn sie krank sind. Die stehen. Eine Verengung der Menschenrechte auf soziale As- Menschenrechte haben also in der Tat eine „praktische“ Seite, pekte, wie es Peking vorschwebt, hat auch Auswirkungen auf ohne deren Verwirklichung die Behauptung einer allen Men- die Schlagkräftigkeit und Innovationskraft der jeweiligen Öko- schen innewohnenden Würde schal und ihre Verteidigung nomie. Peking glaubt, dass die Menschen kreativ und offen mit glühendem Eifer bigott wird. Die Menschenrechte be- sind, wenn es um berufliche und finanzielle Belange geht, sie stehen nicht nur aus Abwehrrechten gegenüber dem Staat, dafür aber keine Meinungsfreiheit und Pluralität in der Polis, sondern haben spätestens seit den 1970er Jahren auch der Öffentlichkeit, benötigen. Das US-amerikanische Modell, handfeste wirtschaftliche, soziale und kulturelle Komponen- immerhin der Motor der kapitalistischen Welt und Inspiration ten. Eine einseitige Anerkennung des Menschen und seines für viele andere Länder für Jahrzehnte, sieht nur dort das Seins auf der Grundlage dessen, was er ökonomisch leistet, Potential für Innovation und Fortkommen, wo die Freiheit also eine konditionelle Zuerkennung von Würde, hat mit der des Menschen nicht eingeschränkt wird, vor allem nicht vom Menschenwürde, die ex ante aufgrund von Geburt in einem Staat selbst. Einer Ethik der Freiheit in der demokratischen demokratischen Land jedem und jeder, der Staatsbürgerin Welt steht das Postulat eines vom Staat garantierten Wohl- ist, gewährt wird, nichts zu tun. Jedes legitime staatliche stands in der Volksrepublik China entgegen. 11 https://www.ifo.de/publikationen/2020/aufsatz-zeitschrift/folgekosten-ausbleibenden-lernens-was-wir-ueber-die-corona 12 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/981746/umfrage/ranking-der-laender-mit-dem-groessten-bruttoinlandsprodukt-in-der-zukunft/ 13 https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/PDF/Beitrag20_05_01.pdf 14 Ralf Dahrendorf, Der modern soziale Konflikt (1992)
EIN ESSAY 11 Tun setzt die Anerkennung des Bürgers als gesetztes Fak- der Entwürdigung, global eingestellt hat. Die Corona-Pande- tum, von dem das politische Handeln, ausgeht, voraus. mie hat einmal mehr hervorgehoben, wie real diese Entwür- digung ist und wie einschneidend sie auf das Leben derer Die Bürgerinnen und Bürger sind nicht Mittel zum Zweck wirkt, die davon betroffen sind: In New York kamen während für die Erreichung eines Fünfjahresplans. Ganz im Gegen- der ersten Welle der Pandemie von März bis Mai tausende teil verpflichtet ihre Existenz den Staat dazu, sein Handeln Menschen aus sozial schwächer gestellten gesellschaftli- auf sie und die volle Verwirklichung ihrer Würde in einer chen Gruppen ums Leben. Da in den USA Krankenhäuser und Ordnung aus Bürger- und sozialen Rechten auszurichten.15 Schulen aus der Vermögenssteuer finanziert werden, sind die Einrichtungen in armen Nachbarschaften viel schlechter Exakt hier liegt der Grund, warum an vielen Orten der Welt als in gut gestellten. Während der Pandemie kam es in den eine demokratische Zuversicht einer kleinteiligen Angst USA zudem zu Massendemonstrationen gegen strukturel- und Ungewissheit gewichen ist. Die Balance zwischen„ci- len Rassismus und systematische Polizeigewalt. Die USA, vil“ und „social rights“ ist aus dem Gleichgewicht. Allgemein die bis zum Amtsantritt von Donald Trump noch in der Lage ist die Tendenz, wenngleich national stark voneinander ab- waren, das Auseinanderdriften von Anspruch und Wirklichkeit weichend, die, dass die verfügbaren Haushaltseinkommen einer demokratischen Gesellschaft zu kaschieren, zerlegten in den demokratischen Gesellschaften in den vergangenen sich nun vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Das Gefühl drei Jahrzehnten häufig stagniert haben oder über die Dauer der Entwürdigung mag vereinzelt Individuen und Gruppen rückläufig war.16 In Deutschland waren die Wachstumszah- zu Gewalt und Plünderung anstacheln. Während der Proteste len schon vor Corona schwach.17 Das, was wir ökonomisch wurde häufig ein Zitat von Martin Luther King verwendet, um als Mittelklasse definieren, schrumpft.18 Das hat Auswirkun- die Ausschreitungen zu verstehen: „Riots are the language of gen auf das Lebensgefühl und den Zukunftsoptimismus.19 the unheard“, „Aufstand ist die Sprache derer, die nicht gehört werden“, der Entwürdigten, um es mit Fukuyama zu sagen.21 Der Blick auf die Generation der Kinder, die erstmals weniger als Einstiegsgehalt als ihre Eltern verdienen, verdrießt. Die Vor- Die USA sind hier besonders betroffen, da es ihrem Ethos, an- stellung ist weit verbreitet, dass sich dieser Trend fortsetzen ders als dem Westeuropas, für die längste Zeit entsprochen und verstärken wird, eine Botschaft, die vor allem jene in die hat, Ungleichheit in der Weise zuzulassen, wie alle für sich den Welt gesetzt haben, die von der Eruption der liberalen Welt- amerikanischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär er- ordnung profitieren würden. In der Bundesrepublik gab einer füllen können. Das Jahr 2020 mit der Pandemie und der Black Untersuchung der Universität Göttingen zufolge die Mehrheit Lives Matter Bewegung hat endgültig gezeigt, dass dieser der Teilnehmer an einer so genannten „Montagsdemonstra- Traum Relikt einer vergangenen Zeit ist. tion“ der selbsterklärten „Patriotischen Europäer“ gegen die Islamisierung des Abendlands“ an, dass es ihnen persönlich Wenn die Gründe für den Rückfall hinter das selbst gesteck- im Moment noch ökonomisch gut gehe, sie aber davon aus- te Ziel und Ideal einer demokratischen Gesellschaft nicht gehen, dass sich dieser Zustand in sein Gegenteil verkehren benannt werden und Abhilfe geschafften wird, wird es prob- und wo möglich sie selbst, ganz sicher aber die Generation lematisch: Noam Chomsky, einer der bedeutendsten linken ihrer Kinder, in den Abgrund reißen wird. Intellektuellen der Gegenwart, sieht vor allem das, was er als Neoliberalismus versteht, als den Grund für das Auseinander- Der Stanford-Politologe Francis Fukuyama erklärt diesen Zu- fallen von ziviler und sozialer Ordnung. Mit dem Ruf, diesen sammenhang und was aus ihm folgt, in seinem Buch „Identi- Zustand zu beenden, steht er nicht allein da. Thomas Piketty ty. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment“.20 und seine Thesen zur wirtschaftlichen Ungleicheit finden brei- Mit abnehmenden Möglichkeiten der Teilhabe in einer Gesell- tes Gehör. Und auch die Debatte, ob allein das BIP die richtige schaft, so Fukuyama, stellt sich bei den Menschen das Gefühl Messgröße für das „Wohlbefinden„ einer prosperierenden Ge- ein, abgehängt zu sein. Abgehängt sein in einem fundamen- sellschaft ist, verschwindet nicht.22 talen, elementaren Sinne: in einem Gefühl der Entwürdigung. Wenn jemand in einem Arbeitsamt eine Wartemarke ziehen Noch schwieriger als das, was man unter „Kapitalismuskri- muss, um danach für Stunden hin- und her geschoben zu tik fassen kann, ist aber eine andere Entwicklung: Wenn jene werden, um am Ende eine staatliche Zuwendung zu erhalten, Stimmen Gehör finden, die die Entwürdigung der Menschen werde dies in ihm ein Gefühl von Erniedrigung produzieren, einer elitären Klasse oder einer anderen Gruppe zuschrei- das, anhaltend, über die Dauer zu Wut und Zorn führen wird. ben und mit dieser Behauptung allein, die zurecht als eine Fukuyama wirkt hier im Verbund mit Dahrendorf erhellend, populistische bezeichnet wird, zu politischer Macht kommen. um zu verstehen, warum sich dieses Gefühl der „Indignation“, 15 https://www.lrb.co.uk/the-paper/v42/n14/pankaj-mishra/flailing-states 16 Beispielhaft: https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.550894.de/17-4-1.pdf; https://link.springer.com/content/pdf/10.1057/elmr.2008.184.pdf; http://piketty.pse.ens. fr/files/GGP2017DINAslides.pdf; https://www.statista.com/statistics/200838/median-household-income-in-the-united-states; http://www.torontocondobubble.com/2013/02/median- income-in-toronto-from-1990.html; https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Verdienste/Realloehne-Nettoverdienste/_inhalt.html. 17 https://www.iwd.de/artikel/am-rande-der-rezession-444444/ 18 https://www.oecd.org/social/under-pressure-the-squeezed-middle-class-689afed1-en.htm 19 https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2018/06/the-birth-of-a-new-american-aristocracy/559130/ 20 Francis Fukuyama, Identity: The Demand for Dignity and the Politics of Resentment (2018) 21 https://kinginstitute.stanford.edu/news/50-years-ago-martin-luther-king-jr-speaks-stanford-university 22 https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/133/1713300.pdf
12 Ethik des Weltbürgers Das Zeitalter der Identität wird vor allem von solchen geprägt, ausgemacht und beschuldigt wurden, für hunderttausende die durch das Zeigen auf einen Sündenbock Ressentiments Tote und einen wirtschaftlichen Totalschaden verantwortlich bedienen. zu sein, sollte darüber hinweg getäuscht werden, dass man selbst die Pandemie als eine „Hoax“ des politischen Gegners Der französische Philosoph Rene Girard hat zu den Mechanis- verunglimpft und der Bevölkerung geraten hat, ihr Leben ganz men gearbeitet, die aus Menschen Sündenböcke machen.23 normal weiter zu führen. Erst im Juli 2020 konnte sich US- Für den Philosophen, der für seine Arbeit zum Sündenbock Präsident Donald Trump dazu durchringen, Gesichtsmas- alle Quellen der antiken griechischen Literatur ausgewertet ken nicht völlig zu verteufeln. Da hatten die USA bereits rund hat, gilt Folgendes: Das Handeln des Menschen ist vor allem 130.000 Tote zu verzeichnen, so viele wie nirgends auf der durch Nachahmung bestimmt. Wenn Gruppe A an einer be- Welt. Ungeachtet der Tatsache, dass die Volksrepublik China sonders fruchtbaren und günstigen Stelle siedelt, kommen den Ausbruch der Pandemie mit Hilfe der Weltgesundheits- über kurz oder lang Gruppe B, C und D auf denselben Gedan- organisation zuerst verschleiern wollte, kann der katastro- ken. Es entsteht ein Konflikt aus dem Mangel um Siedlungs- phale Verlauf der Pandemie in den USA während der ersten raum, dem, so Girard, nur dadurch ein Ende gesetzt wird, dass beiden Wellen nicht der kommunistischen Nomenklatura in eine der widerstreitenden Gruppen als Grund für den Konflikt Peking in die Schuhe geschoben werden. Der Wechsel in der ausgemacht und „in die Wüste“ geschickt wird. Anders als US-Administration von Herrn Trump zu Herrn Biden während der symbolische Sündenbock aus dem Ersten Testament der der Pandemie hat gezeigt, welche Erfolge ein empathischer, Bibel ist die Wüste hier gleichbedeutend mit Eliminierung, Tö- liberaler Führungsstil im Gegensatz zu einem autoritären zei- tung. Erst durch den Tod einer dafür von den anderen, stär- tigen kann: Wollte Herr Trump nur jenen Bundesstaaten Hilfe keren Gruppen ausgewählten Sündenbock-Gruppe entsteht gewähren, deren Gouverneure ihn zu bauchpinseln pflegten, eine Balance zwischen den anderen, widerstreitenden Kräf- hat Herr Biden Kompetenzen an die Regierung in Washington ten. Die Tötung hat quasi-kultischen, reinigenden Charakter. gezogen und durch den puren Willen, koordinierend zu helfen, In den antiken Schriften haben die, die zum Sündenbock wur- die USA in ihren ersten Monaten an die Spitze der weltweiten den, ihren Tod aufgrund einer vorangegangenen Verfehlung Impfkampagne geführt. verdient. Für Girard durchbricht die Erzählung des Neuen Tes- taments diesen Zusammenhang: Jesus, so der Philosoph, sei Eine Welt mit knapper werdenden natürlichen Ressourcen, der einzige, der dem Leser in den antiken Schriften begegnet, einer Transformation des Arbeitsmarktes, die, zumindest der unschuldig zum Sündenbock geworden sei. Von daher er- kurzfristig, eine Verknappung von Arbeitsplätzen bedeuten kläre sich die negative Konnotation des Begriffs Sündenbock. könnte, sowie rückläufigen materiellen Ressourcen ist der Für den antiken Menschen verbindet sich mit dem Begriff der ideale Nährboden für die Behauptung eines Sündenbockes. Kampf um knappe Ressourcen und ein dadurch notwendiges Denn, wir erinnern uns an Girard, der Ursprung jeder Sünden- Handeln für die größtmögliche Zahl. bockgeschichte liegt in knappen Ressourcen, um die sich die Vielen streiten. Die Identitätspolitik fußt darauf, denn um ei- Stellen wir diese Erwägungen in den Zusammenhang der be- nen Sündenbock herauszustellen, muss zuerst einmal die Ge- reits aufgelisteten Opfer einer identitätsgeleiteten, exklusiven genüberstellung „wir gegen die“ vollzogen werden. Wenn wir Politik, so verstehen wir, welche Rolle die Uiguren für Xi, die in einem nächsten Schritt auf den Kosmopolitismus schauen Homosexuellen für Putin, die Europäer für Erdogan, die Immi- und die Werte, auf denen er fruchtbar wachsen kann, sehen granten aus Südamerika für Trump haben: Sie lenken von dem wir, warum er und seine Vertreter ideale Projektionsflächen Versäumnis empathischer Politik zugunsten ressentimentge- für Unsicherheit und Angst sind, die ganze Nationen in einen ladener Ersatzhandlung ab. Das Lenken der Aufmerksamkeit Ausgrenzungswahn treibt. auf einen Sündenbock kann als nichts anderes begriffen wer- den. Es wird sich von Fall zu Fall zeigen, wie lange es dauert, Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum erklärt uns bis oder ob überhaupt die betroffenen Gesellschaften aufwa- in ihrem Buch „The Cosmopolitan Tradition: A Noble but Fla- chen und erkennen, dass eine exklusive, ressentimentgelade- wed Idea“ warum: In Nussbaums Interpretation von Ciceros ne Politik letztendlich auch der von den Populisten verklärten „Von den Pflichten“ beschreibt der römische Staatsmann und Mehrheit, dem Volk, keine Besserung bringt. Redner die Grundlage des Kosmopolitismus.24 Nussbaum führt die Wichtigkeit dieses Denkers aus, sein Buch habe bis Die von der Covid-Pandemie am härtesten getroffenen Län- weit in die Neuzeit hinein auf den Nachttischen vieler Politiker der, die USA, England, Brasilien, Russland wurden allesamt einen permanenten Platz gehabt und somit das Verständnis von selbsternannten „strongmen“ geführt, die Wahlen damit des Kosmopolitismus wie kein zweites Werk geprägt. Der gewonnen haben, die Eliten, zu denen auch Ärzte und Wissen- römische Staatsmann geht darin davon aus, dass alle Men- schaftler gehören, zu diskreditieren und zu verlachen. Indem schen durch das einigende Band gemeinsamen Mensch- in den USA und Großbritannien die Chinesen als Sündenbock seins miteinander verbunden seien. Dieses Zueinander ist 23 René Girard,Le Bouc émissaire (1982) 24 Martha C. Nussbaum, The Cosmopolitan Tradition: A Noble but Flawed Ideal (2019)
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